1,99 €
Die kleine Stadt am Pecos hieß Amity. Früher hieß der Ort Amistad, und beides bedeutet so viel wie Freundschaft.
Nun, ich konnte Freunde gebrauchen, denn ich hatte unterwegs mein Pferd verloren. Ich schleppte meinen alten Sattel und mein weniges Gepäck auf meinem Buckel.
Zum Glück war der Pecos River mal wieder fast ausgetrocknet, sodass ich ihn durchwaten konnte, ohne mir die Stiefel ausziehen zu müssen.
Es waren gute Stiefel, denn ich hatte sie erst vor einem halben Jahr einem Yankee-Offizier abgenommen. Das war, bevor ich nach Westen ritt, um nicht mit meiner fast aufgeriebenen Einheit in Gefangenschaft zu geraten. Dann plötzlich war der Krieg aus gewesen. Der Süden hatte kapituliert.
Nun, ich watete also durch den Pecos und hoffte, dass in dieser Stadt, von der ich früher schon den Namen hörte, freundliche Menschen waren.
Andernfalls nämlich ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 153
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Texas-Richter
Vorschau
Impressum
Texas-Richter
Die kleine Stadt am Pecos hieß Amity. Früher hieß der Ort Amistad, und beides bedeutet so viel wie Freundschaft.
Nun, ich konnte Freunde gebrauchen, denn ich hatte unterwegs mein Pferd verloren. Ich schleppte meinen alten Sattel und mein weniges Gepäck auf meinem Buckel.
Zum Glück war der Pecos River mal wieder fast ausgetrocknet, sodass ich ihn durchwaten konnte, ohne mir die Stiefel ausziehen zu müssen.
Es waren gute Stiefel, denn ich hatte sie erst vor einem halben Jahr einem Yankee-Offizier abgenommen. Das war, bevor ich nach Westen ritt, um nicht mit meiner fast aufgeriebenen Einheit in Gefangenschaft zu geraten. Dann plötzlich war der Krieg aus gewesen. Der Süden hatte kapituliert.
Nun, ich watete also durch den Pecos und hoffte, dass in dieser Stadt, von der ich früher schon den Namen hörte, freundliche Menschen waren.
Andernfalls nämlich ...
Oha, was dann sein würde, darüber wollte ich nicht nachdenken.
An einem der großen Wasserlöcher, welche sich hinter den Landvorsprüngen bildeten, weil sich bei Hochwasser dort die Strudel drehten, hockte ein alter Mann und angelte. Das Strudelloch hatte gewiss an die zehn Yards Durchmesser und war tief. So tief, dass man den Grund nicht sehen konnte. Denn solch ein Strudel wirkte wie ein gewaltiger Bohrer, der den Boden aufwirbelte, sodass an dieser Stelle ein tiefes Loch entstand.
Ich hielt bei dem alten Angler an, legte vorsichtig mein Gepäck zu Boden und nickte stumm.
Der Alte betrachtete mich mit seinen scharfen Falkenaugen.
Nach einer Weile sagte er: »Das ist keine gute Stadt für Tramps ohne Geld in der Tasche – und ohne Pferd. Gar keine gute Stadt. Aber du hast wohl keine andere Wahl, mein Junge – oder?«
»Nein«, erwiderte ich. Und ich protestierte nicht, dass er mich »mein Junge« nannte. Denn er war ein sehr alter Bursche und hätte fast mein Großvater sein können.
Er sagte: »Ich habe für meine Augen zu kurze Arme. In der Büchse dort sind einige Angelhaken. Vielleicht kannst du mir einige an den seidenen Vorfächer binden. Du siehst so aus, als könntest du das. Weißt du, in diesem Loch sind schlaue Forellen. Die bekomme ich nur mit farblosen Seidenvorfächern. Oder kannst du keine Angelhaken anbinden?«
Er fragte es zuletzt mit einem schon recht verächtlichen Klang in der Stimme.
»Ich kann«, erwiderte ich. »Das hat mir mein Vater schon beigebracht, bevor ich Lesen und Schreiben lernte.«
Er nickte zufrieden, und ich machte mich an die Arbeit.
Wieder schwiegen wir eine Weile.
Er zog indessen eine zappelnde Forelle aus dem Wasserloch, löste sie vom Haken und warf sie zu den drei anderen.
»Noch zwei«, er grinste mit braunen Zahnreihen, »dann langt es. Und du bist eingeladen, mein Junge, damit du wenigstens eine gute Erinnerung an diese Stadt behalten kannst.«
Ich hatte indes seine Angelhaken an seidenen Vorfächern befestigt und in ein weiches Stück Holz gehakt.
»Das Schlimme ist«, sagte ich, »dass ich kein Geld habe, mir ein Pferd zu kaufen. Wie sollte ich von hier wegkommen können ohne Pferd?«
Er nickte ernst.
»Ja, das ist ein Problem«, sagte er. »Denn wir haben einen Richter in der Stadt. Und der lässt Pferdediebe aufhängen. In dem Punkt kennt er keine Gnade. Pferdediebstahl ist für ihn wie Mord. Schon von Richter Rufus Parker gehört?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte ich. »Vor einem halben Jahr kämpfte ich noch in Virginia und entkam knapp der Gefangenschaft. Ich war seitdem ständig unterwegs nach Texas. Meinem Pferd bekam das nicht, obwohl ich zuletzt fast nur noch zu Fuß lief. Nein, ich hörte noch nie etwas von Richter Rufus Parker.«
»Er übt zugleich das Amt des Sheriffs aus.« Der Alte grinste und zog dann wieder eine Forelle aus dem Wasserloch. Während er sie zu den vier anderen warf, fügte er hinzu: »Denn niemand will hier Sheriff sein, weil das zu gefährlich ist. Manchmal wirbt er einige Deputys an. Auf diese Weise könntest du vielleicht zu einem Pferd kommen, mein Junge.«
»Am besten wäre es, wenn Sie mich nicht mehr 'mein Junge', sondern einfach nur Joey nennen, denn Joey Marwin, das ist mein Name«, sagte ich.
Er sah mich etwas schräg von unten her an. Aber dann nickte er.
»O ja«, sagte er, »ich wusste gleich, dass du ein stolzer Bursche bist. Was für einen Rang hattest du denn in der Texas-Brigade?«
»Ach«, grinste ich, »das hab ich glatt vergessen.«
Er grinste schief zurück. Aber dann holte er die sechste Forelle aus dem Wasserloch. Als Köder hatte er stets einen bunten Wollfaden benutzt, den er wie eine schillernde Fliege über der Wasseroberfläche kreisen ließ.
»Jetzt können wir zum Abendessen gehen«, sprach er. »Ich habe eine kleine Hütte am Rande der Stadt.«
Ich hörte meinen Magen knurren und fragte: »Könnten wir nicht noch einige Forellen dazu fangen?«
Wieder grinste er mit seinen braunen Zahnreihen.
»Ich habe in meiner Hütte aus meinem Garten auch noch andere essbare Dinge. Ich werde dich satt bekommen, Joey Marwin.«
Da nahm ich meinen Sattel und das andere Gepäck auf und folgte ihm.
✰✰✰
Seine Hütte lag in einem Garten am Rande der Stadt. Als ich meinen Sattel in den Schuppen brachte, sah ich dort ein Prachtstück dieser Art. Es war ein silberbeschlagener Sattel, welcher gewiss an die dreihundert Dollar wert war, ein Meisterstück von einem Sattel. Auf einer kleinen Silberplatte konnte ich lesen, dass dies der 1. Rodeo-Preis des Jahres 1845 von San Antonio war.
Der Sattel war also älter als zwanzig Jahre, aber erstklassig gepflegt. Heiliger Rauch, dachte ich. Das war ja noch ein Jahr, bevor Texas in die Union aufgenommen wurde. Vor mehr als einundzwanzig Jahren gewann dieser Bursche da den ersten Preis bei einem der großen Rodeos, welche damals von den mexikanischen Reiterspielen, den »Jaripeos«, übernommen wurden, nachdem Texas eine Republik geworden war. Heiliger Rauch, was musste dieser alte Bursche leiden, wenn er seinen Erinnerungen nachhing.
Ich wusch mich dann am Brunnen und schlug, so gut ich konnte, den Staub aus meiner abgerissenen Kleidung.
Dann ging ich in die Adobehütte, welche nur zwei Räume hatte.
Der Alte stand am Herd und ließ es in der Pfanne zischen.
»Hast du ihn gesehen?« So fragte er über die Schulter.
»Yes, Sir«, erwiderte ich.
»Ja, das war ich mal.« Er grinste wehmütig. »Zuerst hieß ich nur Shorty Brownhaker, dann aber bald schon Wild Shorty Brownhaker. Und jetzt bin ich ein alter Hund. So geht es einem, wenn man keine Reichtümer angesammelt hat, weil man nie ans Alter denkt.«
Er brachte die Pfanne auf den Tisch, in der er die Forellen gebraten hatte mit Mandeln und mexikanischem Gemüse.
Wir aßen schweigend.
Und dann, als wir beim Kaffee waren, sagte er: »Also, dann geh los und sieh dir die Stadt an. Und wenn dich jemand fragt, ob du ein Satteltramp bist ohne Geld in den Taschen, dann sag ihnen, dass du bei Shorty Brownhaker wohnst. Vielleicht dulden sie dich dann in dieser Stadt – vielleicht.«
Ich erhob mich, nickte und ging.
Denn ich war begierig, diese Stadt kennen zu lernen.
Würde sie mir Glück oder Pech bringen?
Ich versuchte mit meinem Instinkt eine Antwort zu bekommen, ein Gefühl, eine Vorahnung. Aber ich spürte nichts.
Indes ich vom Fluss her auf der staubigen Wagenstraße in die Stadt ging, kam die Nacht. Überall brannten nun Lichter.
Einige Male hielt ich an, witterte, lauschte und sog die Stimmung von Amity in mich auf. Ich wünschte mir, hier einen Job zu bekommen. Vielleicht sollte ich es bei der Post- und Frachtagentur versuchen – oder beim Schmied.
Ich konnte Pferde zureiten, sechsspännige Postkutschen durch raues Land fahren, aber auch gute Schmiedearbeit leisten.
Besonders gut konnte ich mit einem Revolver und einem Gewehr umgehen. Doch auf einen Job in dieser Richtung war ich nicht scharf.
Ich erreichte den kleinen Platz, der von vier großen Häusern begrenzt wurde. Das eine Gebäude war eine Mischung von Fonda, Bodega und Saloon. Das zweite Gebäude war der Generalstore mit den Magazinen und Lagerschuppen. Das dritte Haus war leicht als ein Hotel zu erkennen.
Und vor dem vierten Haus verhielt ich eine Weile und sah es mir an.
Überall leuchteten Laternen oder Lampen.
Im Schein zweier Lampen konnte ich auf dem großen Schild über der Veranda die Worte lesen:
Judge Rufus Parker
LAW WEST OF THE PECOS
Nun wusste ich es genau. Dort war der Gerichtshof westlich des Pecos River. Und der Judge, der Richter, hieß Rufus Parker.
Ich erinnerte mich an die Worte des alten Shorty Brownhaker, der mir gesagt hatte, dass dieser Richter Pferdediebe hängen ließ. Doch das tat nicht nur dieser Richter. Pferdediebe wurden fast überall aufgeknüpft. Ich stand noch etwas staunend da, als ich Hufschlag hörte. Reiter kamen von Norden her in die Stadt geritten, mehr als ein halbes Dutzend, denen ein leichter Wagen folgte.
Der aufgewirbelte Staub hüllte mich ein, als sie vor dem Gerichtsgebäude anhielten. Und nachdem sich der Staub wieder lichtete und ich bessere Sicht hatte, da sah ich, dass ein Mann aus dem Gerichtsgebäude auf die Veranda getreten war, ein nur mittelgroßer, fast schmächtig wirkender Mann, der auf der dunkelblauen Weste unter seinem schwarzen Gehrock einen Stern trug, wie ihn auch die Sheriffs trugen, nur schien mir dieser Stern etwas größer geraten zu sein. Auf dem Kopf trug er einen hellgrauen Stetson.
Von überall strömten Leute herbei.
In einiger Entfernung hörte ich eine heisere Stimme rufen: »Hoiii, kommt auf die Plaza! Richter Parker wird Gericht halten!«
Ich sah nun, dass einer der Reiter gefesselt auf dem Pferd hockte. Sogar seine Fußgelenke waren unter dem Pferdebauch mit einem Strick zusammengebunden.
Ich trat zu den anderen, und so bildeten wir um die Reiter und den Wagen vor der großen Veranda des Gerichtsgebäudes eine Art Volksversammlung.
Ich war gespannt auf das, was jetzt kommen würde.
In die entstandene Stille hörte ich die Stimme eines der Reiter fragen: »Sind wir hier richtig bei Richter Rufus Parker dem einzigen Vertreter des Gesetzes westlich des Pecos?«
»Ja, da seid ihr richtig, Leute. Ich bin Richter Rufus Parker und Tag und Nacht für das Gesetz zuständig. Was kann ich für euch tun, Leute?« Nach diesen Worten war es wieder einige Atemzüge lang still.
In diese Stille hinein sagte der Gefangene von seinem Pferd herunter mit heiserer Stimme: »Zur Hölle, was soll dieses ganze Theater? Wenn ihr mich aufhängen wollt, dann tut es schnell und ohne Brimborium! Ich hab ja doch keine Chance mehr. Also veranstaltet nicht noch ein Theater, ihr verdammten Arschlöcher!«
Wieder wurde es still.
Dann fragte Richter Rufus Parker: »Was hat er verbrochen?«
Der Sprecher der Ankömmlinge erwiderte: »Euer Ehren, wir sind Siedler vom Saint Joseph's Creek. Dieser Bursche kam zur Hütte von Mrs Chandler, als deren Mann auf dem Feld arbeitete, und tat ihr Gewalt an. Als Mister Chandler die Hilferufe vernahm und seiner Frau zu Hilfe kam, wurde er erstochen. Aber indes die Männer kämpften, ergriff Mrs Chandler die gusseiserne Pfanne und schlug diese dem Mörder auf den Kopf. Sie konnte ihn fesseln, bevor er wieder zur Besinnung kam. Und nun sind wir hier, damit Recht gesprochen wird. Wir hätten ihn selbst aufhängen können. Doch wir wollen, dass ihn das Gesetz verurteilt und richtet. Deshalb kamen wir fünfzig Meilen weit vom Saint Joseph's Creek hierher. Wann werden Sie die Verhandlung eröffnen, euer Ehren?«
»Sofort«, erwiderte Rufus Parker. »Sie ist hiermit eröffnet.«
Er deutete auf die Frau im leichten Wagen.
»Ist das Mrs Chandler?«
»Die bin ich, Richter«, erwiderte die Frau mit spröder Stimme. »Und ich kam her, weil ich an die Gerechtigkeit glauben möchte.«
Wieder wurde es still.
Wir alle hielten den Atem an.
Richter Rufus Parker trat an den Rand der Veranda.
»Bringt den Angeklagten zu mir herauf«, verlangte er. »Ich will die Beule auf seinem Kopf sehen.«
Ein Raunen des Staunens wurde hörbar. Doch die Siedler vom Saint Joseph's Creek gehorchten. Sie holten den Gefangenen vom Pferd und stießen ihn die Stufen der Veranda hinauf. Oben musste der Gefangene niederknien. Der Richter nahm eine Lampe vom Tisch, der neben ihm auf der Veranda stand. Jemand hatte sie inzwischen angezündet. Er leuchtete damit, indes seine Finger das wirre Haar des Angeklagten auseinander strichen.
»Ja, diese Beule wurde gewiss vom Schlag mit einer gusseisernen Bratpfanne verursacht.« Er nickte und ließ den Gefangenen aufstehen.
Dann trat er langsam zurück, stellte die Lampe auf den Tisch und setzte sich.
Auf dem Tisch lag ein dickes rotes Buch. Und auf dem Buch lag ein Revolver.
Er rührte beides nicht an, aber die Faust daneben krampfte sich zusammen und ließ einen Moment lang erkennen, wie sehr er sich mit aller Kraft beherrschte.
Er nahm dann endlich den Revolver vom dicken Buch, ergriff ihn am Lauf und klopfte mit dem Griff auf den Tisch, so als hielte er einen Hammer in der Hand.
Und dann sprach er laut und klar: »Wie du auch heißen magst, und woher du auch gekommen bist, bevor du diese Untat begangen hast – ich bestrafe dich nach Recht und Gesetz mit dem Tode durch Erhängen. Ich übergebe dich jetzt dem Henker, der dich am Halse aufhängen wird, bis du tot bist. Die Verhandlung ist geschlossen.«
Wieder klopfte er mit dem Colt wie mit einem Hammer.
Und dann trat der riesige Mann, welcher zuvor schon die Tischlampe angezündet und sich dann wieder in den Hintergrund zurückgezogen hatte, vor.
Ich begriff, dass dieser Riese der Henker war und dass nun alles auf der Stelle seinen Gang gehen würde ohne jeden Aufschub.
Dieser Richter, der sich als das einzige Gesetz westlich des Pecos betrachtete, schob nichts auf die lange Bank.
Der Henker packte den Gefangenen hinten am Kragen und stieß ihn vor sich her von der Veranda hinunter.
Die Siedler, welche den Gefangenen brachten, folgten ihm.
Nur die Frau blieb im Wagen sitzen.
Mitten auf der Plaza stand ein großer Baum mit weit ausladenden Ästen. Dort hängte jemand zwei Laternen auf, und die Ansammlung der Zuschauer bewegte sich hinter dem Henker und dessen Gefangenen her.
Ich ging nicht mit.
Denn ich war nicht begierig, einen Mann hängen zu sehen – nein, ich hatte schon genug Tote gesehen während des Krieges, die auf alle nur denkbare Arten zu Tode gekommen waren.
Ich war an solchen Schauspielen nicht interessiert.
Doch ich war überzeugt, dass der Bursche das Hängen verdient hatte. Er hatte einer Frau Gewalt angetan und ihren Mann ermordet.
Ich wandte mich wieder dem Richter zu, der noch auf der Veranda verhielt. Kaum mehr als ein Dutzend Schritte trennten uns. Der Laternen- und Lampenschein reichte noch bis zu mir. Er konnte mich sehen, so wie ich ihn sah. Und er kam hinter dem Tisch hervor bis zum Rand der Veranda. Ich aber trat einige Schritte näher. Wir betrachteten uns.
»Nun, haben Sie etwas auf dem Herzen – oder warum verharren Sie hier und gingen nicht mit, um den Henker bei der Arbeit zu sehen?« Seine Stimme klang kühl. Doch ich wusste, dass er sich der Gefahr bewusst war.
Denn wenn ich ein Freund des Verurteilten war, dann hatte er nicht viele Chancen. Der Tisch mit dem Colt darauf stand drei Schritte hinter ihm. Er sah, dass ich einen tief geschnallten Colt trug.
Aber er ließ keine Furcht erkennen. Ich spürte seine Furchtlosigkeit. Er strömte sie aus wie einen Atem.
Er wartete auf meine Antwort. Ich zuckte vorerst nur mit den Schultern. Aber dann erwiderte ich: »Oooh, ich habe schon zu viele Menschen sterben sehen, gute und böse. Sir, Sie sind ein furchtloser Mann. Ich bin fremd hier in dieser Stadt und hätte nicht erwartet, dass es westlich des Pecos einen Richter gibt.«
Ich wollte mich abwenden, doch er fragte hart: »Sind Sie ein Tramp, ein Satteltramp? Woher kommen Sie? Können Sie hier in Amity Ihren Lebensunterhalt bestreiten?«
»Ich komme aus dem Krieg«, erwiderte ich, »geradewegs aus Virginia. Und ich wohne bei Shorty Brownhaker und suche einen Job.«
Er nickte. »Wenn Sie innerhalb von drei Tagen keinen finden, verlassen Sie die Stadt. Wie ist Ihr Name?«
Seine Stimme klang hart.
Ich begriff, dass er keine Gnade kannte und unbeirrbar seinen Weg ging. Dieses Land hier westlich des Pecos war voller Flüchtlinge mit Schatten auf den Fährten.
»Joey Marwin ist mein Name«, erwiderte ich und wollte mich abwenden.
Doch da trat jemand hinter ihm aus dem Haus und kam ins Lampen- und Laternenlicht.
Es war ein Mädchen oder eine junge Frau. Ihr blondes Haar leuchtete im Lichtschein wie Gold. Sie trat mit leichten und geschmeidigen Bewegungen neben den Richter und sah von der Veranda auf mich nieder.
Ich griff an die Hutkrempe und verbeugte mich leicht. Sie hielt eine Hand mit dem halben Arm hinter sich verborgen. Ich ahnte plötzlich, dass sie mit einer Waffe aus dem Haus gekommen war und diese auf dem Rücken verbarg.
»Vater, was will er?« So fragte sie spröde und nickte nur unmerklich dankend.
»Ach, das ist ein Tramp«, sagte er. »Geh nur wieder ins Haus, April. Geh nur.«
Sie hieß also April. Was für ein Name für ein Mädchen? Ob sie im April geboren wurde? Oder hieß sie so, weil der April bei den Indianern der Monat des jungen Lebens war? Irgendeinen Grund würde es gewiss geben für ihren Namen.
Ich wandte mich ab und ging schräg über den Platz zum Saloon hinüber.
Dort, wo der große Hängebaum war, tönte nun das Raunen der Zuschauer, das Aufstöhnen und Murmeln der Befreiung. Ich wusste, der Verurteilte hing nun und war tot. Und die Anspannung der Zuschauer löste sich.
Ich besaß noch einen Dollar und zwanzig Cent.
Vielleicht bekam ich für zwanzig Cent ein Bier und musste den Dollar nicht wechseln. Langsam ging ich hinüber und überlegte, ob ich in den mexikanischen Teil – also in die Fonda oder Bodega – oder in den Saloon gehen sollte, in dem ich sicherlich Gäste meiner Abstammung finden würde, also Angloamerikaner.
Ich entschied mich für den Saloon.
Als ich eintrat, war noch alles leer – bis auf einen einzigen Stuhl an einem runden Tisch in der Ecke dicht neben der Treppe nach oben.
Auf diesem Stuhl saß Lily Principal.
Dass sie dort saß, bewies wieder einmal mehr, wie klein doch die Welt ist. Denn Lily Principal kannte ich. Und weil ihr Haar so rot und ihre Augen so grün waren, erkannte ich sie sofort, obwohl sie einige Jahre älter geworden war, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten.
Sie saß am Tisch und legte sich Karten aus.
Als ich eintrat, sagte sie, ohne den Blick von den Karten zu nehmen: »Na, habt ihr die Sensation genossen? War es schön nervenkitzelnd, einen Mann hängen zu sehen?«
»Für mich nicht, Lily«, sagte ich. »Denn ich habe nicht zugesehen.«