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Es beginnt in Saint Louis, als Ben Yates nach jahrelanger Suche einem Spieler gegenübersitzt, auf dessen linkem Handrücken ein Skorpion eintätowiert ist.
Der Spieler hat wie tot und leblos wirkende Fischaugen, ein hartes Gesicht und eine fahle Hautfarbe, so wie fast all diese Kartenhaie, die ihre Nächte an den Pokertischen verbringen und die Tage im Bett, sich also selten Licht und Sonne aussetzen.
Seine Hände sind geschmeidig. Sie sind das einzige Ausdrucksvolle an ihm.
Denn diese Hände können gewiss zaubern.
Der Mann gewinnt immer wieder, obwohl die vier anderen Spieler - darunter auch Ben Yates - erfahrene und mit allen Wassern gewaschene Männer sind, die sich bisher in jeder Pokerrunde behaupten konnten.
Aber gegen diesen Mann verlieren sie stetig.
Und so löst sich die Pokerrunde kurz nach Mitternacht auf.
Nur Ben Yates bleibt bei dem bleichen Spieler am Tisch sitzen, lehnt sich weit zurück und dreht sich eine Zigarette ...
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Seitenzahl: 155
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Die Chancenlosen
Vorschau
Impressum
Die Chancenlosen
Es beginnt in Saint Louis, als Ben Yates nach jahrelanger Suche einem Spieler gegenübersitzt, auf dessen linkem Handrücken ein Skorpion eintätowiert ist.
Der Spieler hat wie tot und leblos wirkende Fischaugen, ein hartes Gesicht und eine fahle Hautfarbe, so wie fast all diese Kartenhaie, die ihre Nächte an den Pokertischen verbringen und die Tage im Bett, sich also selten Licht und Sonne aussetzen.
Seine Hände sind geschmeidig. Sie sind das einzige Ausdrucksvolle an ihm.
Denn diese Hände können gewiss zaubern.
Der Mann gewinnt immer wieder, obwohl die vier anderen Spieler – darunter auch Ben Yates – erfahrene und mit allen Wassern gewaschene Männer sind, die sich bisher in jeder Pokerrunde behaupten konnten.
Aber gegen diesen Mann verlieren sie stetig.
Und so löst sich die Pokerrunde kurz nach Mitternacht auf.
Nur Ben Yates bleibt bei dem bleichen Spieler am Tisch sitzen, lehnt sich weit zurück und dreht sich eine Zigarette ...
Der bleiche Spieler betrachtet ihn mit stumpf wirkenden Augen, in deren Hintergrund jedoch ein Glitzern stärker zu werden beginnt. Ja, sein Fischblick, der bisher während des Spiels keine Empfindungen verriet, wird immer funkelnder.
Nach einer Weile fragt er Ben Yates: »Sie haben an mich am wenigsten verloren, nicht wahr? Aber Sie gehören nicht zu meiner Gilde?«
»Nein«, erwidert Ben Yates.
Mehr sagt er nicht.
Er betrachtet den Spieler noch einmal ernst und lässt dabei nichts erkennen, weder Abneigung noch die Bereitschaft zu Freundlichkeit.
Dennoch verspürt der Spieler etwas. Er vermag es noch nicht zu bestimmen, aber seine Nasenflügel vibrieren, so als würde er Witterung zu nehmen versuchen.
Sein Instinkt beginnt ihn zu warnen, obwohl er noch keine Anhaltspunkte für eine Gefahr erkennen kann.
Ben Yates erhebt sich plötzlich und verharrt mit der Zigarette zwischen den harten Lippen. Seine Hände hat er mit den Daumen hinter den Hosengürtel gehakt.
Er ist ein großer Mann von mehr als sechs Fuß und zwei Zoll. Bei aller Hagerkeit wiegt er an die hundertachtzig Pfund, denn er besteht aus starken Knochen und sehnigen Muskeln. Sein braunes Gesicht wirkt indianerhaft, ebenso sein schwarzes Haar.
Vielleicht ist ein Viertel Indianerblut in ihm.
Nur seine Augen sind hellgrau.
Er nickt dem Spieler noch einmal zu und verlässt den Pokertisch.
Der Spieler aber bleibt sitzen, streicht die Karten zusammen und beginnt eine Patience auszulegen, so als hoffte er auf eine Antwort der Karten auf seine Fragen, die nun aus seinem Kern aufsteigen.
Aber die Patience will nicht aufgehen.
Sie will keine Fragen beantworten, und so steigt in ihm die Unsicherheit an.
Der Mann heißt Jack Donovan.
Er blickt wieder auf seine Hände, die jetzt abermals die Karten zusammenstreichen. Dabei sieht er natürlich auch die Tätowierung auf seinem linken Handrücken, aber er bringt sie nicht in Zusammenhang mit den leisen Warnsignalen seines Instinkts.
Da keine weiteren Spieler an seinen Tisch treten und sich deshalb keine neue Pokerrunde bilden kann, erhebt er sich mit einem Ruck, geht zum Schanktisch hinüber und lässt sich noch einen Drink geben.
Dabei überlegt er, durch welche Tür er die Spielhalle des Saloons verlassen soll.
Es gibt da drei Möglichkeiten für ihn.
Er wählt den unscheinbaren Seitenausgang in die schmale Gasse.
Bevor er diese Tür öffnet und in die dunkle Nacht hinaustritt, verharrt er drei Atemzüge lang mit geschlossenen Augen, sodass sich die Augen schneller an die Dunkelheit gewöhnen können.
Doch es nützt ihm nichts. Als er die Tür hinter sich schließt, da bekommt er es erbarmungslos auf den Hut.
Und dann weiß er eine Weile nicht, was mit ihm geschieht.
✰✰✰
Jack Donovan erwacht etwa eine halbe Stunde später und bleibt erst einmal bewegungslos liegen, so als wäre er immer noch ohne Besinnung.
Doch er lauscht mit immer wacher werdenden Sinnen, hört also nicht nur den Strom rauschen, sondern riecht ihn auch.
Ja, er riecht den Missouri, nicht den Mississippi.
Wer ihn auch in der Gasse niedergeschlagen hat, er schaffte ihn weiter stromauf. Und der Missouri riecht anders als der Mississippi. Jack Donovan weiß es längst.
Er hört nun den Mann neben sich sagen: »Du hast die Wahl, mein Freund.«
Das letzte Wort klingt nicht freundlich, denn der Klang der Stimme verrät eine böse Gnadenlosigkeit.
Jack Donovan hat die Stimme sofort wiedererkannt. Er versucht herauszufinden, ob er noch bewaffnet ist. Doch er spürt die Waffe im Schulterholster und auch den kleinen Derringer im Ärmel nicht mehr. Und so weiß er, dass auch das Messer im Stiefelschaft unter der Hose nicht mehr vorhanden sein wird.
Erst nach einer Weile fragt er: »Welche Wahl habe ich?«
»Ob ich dich schnell und schmerzlos oder langsam und schmerzvoll umbringen werde. Oder ob ich dir die Gnade eines fairen Duells zubillige.«
Als Jack Donovan dies hört, beginnen seine Gedanken zu jagen.
Denn eines weiß er nun: Etwas aus seiner Vergangenheit muss ihn eingeholt haben. Der Mann neben ihm hätte ihn schon in der Gasse ausrauben können.
Was also hat ihn jetzt eingeholt?
Und da wäre eine Menge möglich.
Und so fragt er: »Was hätte ich zu tauschen?«
Der Mann neben ihm lacht grimmig. Dann sagt er: »Es geschah vor fünf Jahren im letzten Kriegsjahr. Ich bin sicher, dass du dich nun erinnern kannst.«
Als Jack Donovan das hört, da atmet er schneller.
Dann fragt er: »Und so lange hast du nach einem von uns gesucht? Oder bin ich der letzte Mann von uns?«
»Nein, der Erste. Und ich will die anderen. Verrate mir, wo ich sie finden kann. Dann gebe ich dir eine Chance.«
Jack Donovan schweigt einige lange Atemzüge.
Dann setzt er sich stöhnend auf und hält sich den Kopf, wo seine tastenden Fingerspitzen eine dicke Beule berühren.
»Wie hast du mich gefunden?«
»Zufällig, mein Freund, zufällig. Ich hatte die Suche schon vor zwei Jahren aufgegeben. Doch dann saß ich an deinem Spieltisch und sah die Tätowierung auf deinem linken Handrücken. Ich weiß, dass es nur noch fünf von euch gibt. Wo finde ich die anderen?«
Wieder denkt Jack Donovan nach, und er weiß, dass er es mit einem harten Mann zu tun hat. Er saß ihm ja einige Stunden beim Poker gegenüber und konnte ihn studieren und abschätzen. Also gibt er sich keinen Illusionen hin. Überdies brummt ihm der Schädel.
Aber nach einer Weile fragt er: »Und du gibst mir die Chance zu einem Duell?«
»Wenn du mir verrätst, wo ich die anderen finde.«
»Und du würdest mir glauben? Ich könnte dir sonst was erzählen.«
Wieder schweigen sie eine Weile, hören nur den Fluss neben sich und riechen das schlammige Wasser, welches aus den Bergen von Montana kommt, fast dreitausend Meilen weit stromauf.
Aber man nennt den Oberen Missouri ja auch Big Muddy, also Großer Schlammfluss. Und diesen Geruch hat er auch hier an der Mündung in den Mississippi noch, wenn auch viel schwächer.
Im Strom plätschern Fische, und der Geruch des schlammigen Wassers mischt sich mit dem der Erde, des Grases und der Büsche. Auch Holz vom letzten Hochwasser liegt da und dort.
Jack Donovan wird sich in diesen Minuten all dieser Düfte und Gerüche bewusst. Denn sie lassen ihn begreifen, wie prächtig doch das Leben ist, wenn man davonkommen könnte. Er möchte dieses Leben nicht verlieren. Und vor allen Dingen will er noch oft mit Frauen im Bett liegen, ganz gleich, ob er sie sich kaufen muss oder sie es freiwillig tun, weil sie einen Mann wollen.
Er fand immer welche, die sich mit ihm einließen. Denn er war stets ein erfolgreicher Spieler, der den Frauen etwas bieten konnte.
Jetzt wird er sich in der sterbenden Nacht bewusst, wie sehr er dieses Leben liebte.
Ben Yates murmelt nun neben ihm: »Wenn du mich im Duell schlagen kannst, kann es dir gleich sein, dass du deine Kumpane verraten hast. Und wenn du von mir getötet wirst, dann kannst du ziemlich sicher sein, dass sie dir in die Hölle folgen. Also?«
Abermals schweigt Jack Donovan lange. Nun sieht er die Bilder von damals vor seinen Augen. Er hatte das schreckliche Geschehen schon fast vergessen und hätte niemals gedacht, dass es ihn nach fünf Jahren wieder einholen würde.
Endlich fragt er: »Und woher weißt du, dass du uns an den Tätowierungen erkennen kannst? Es gab doch keine Überlebenden damals, als wir in das prächtige Herrenhaus der Plantage eindrangen, in dem deine Familie lebte. Wir ließen damals keine Lebenden zurück. Wie konntest du alles erfahren? Ich will und muss das wissen.«
»Es gab einen kleinen Küchenjungen, der unserer Köchin half. Der war so klein, dass er sich verstecken konnte, wo niemand einen Menschen vermutete, nämlich hinter der Holzkiste neben dem Ofen. Er sah und hörte alles. Ihr wart ja so stolz darauf, dass ihr die letzten fünf überlebenden Skorpione wart. Und der Krieg war beendet. Ihr wolltet alle nach Norden, wo man euch nicht kannte. Also, wo sind die anderen?«
Jack Donovan stößt nun einen seltsamen Laut aus.
Dann murmelt er: »Es ging uns eine lange Zeit dreckig. Wir konnten lange keine Beute mehr machen. Als wir von den Goldfunden in Montana hörten, wollten wir hin. Aber ich blieb hier bei einer Frau hängen und habe nie wieder etwas von den vier anderen gehört. Du musst sie weiter im Norden suchen, vielleicht im Goldland oder als Büffeljäger irgendwo auf der Prärie – oder gar bei der Armee. Wir waren damals völlig abgebrannt und wurden gesucht im Süden. Damals gingen viele von unserer Sorte zur Armee. Die nahm jeden Mann, der gegen die Indianer kämpfen konnte, und fragte nicht nach seiner Vergangenheit. Mehr kann ich dir nicht sagen. Ich wurde in den fünf Jahren ein erfolgreicher Spieler.«
»Und die Frau, bei der du geblieben bist?«
»Die gebar mir einen toten Sohn und starb selbst dabei.«
Jack Donovan verstummt kalt, fast mit einem verächtlichen Klang in der Stimme. Dann fügt er hinzu: »Aber sie vererbte mir mehr als tausend Dollar, die sie sich als Hure verdiente, bevor sie mich traf und ich sie von meinen Einkünften als Spieler unterhielt. Ich trage jetzt fast fünftausend Dollar mit mir herum, teils in meinem Geldgürtel, aber auch in meinen Taschen verteilt. Du kannst alles haben, wenn du mich vergisst.«
»Das kann ich auch so«, murmelt Ben Yates. »Ihr habt meine Familie getötet und zuvor meine Frau und meine Schwester vergewaltigt.«
Er erhebt sich nach diesen Worten und wirft den kurzläufigen Revolver, den er aus Jack Donovans Schulterholster nahm, zu Boden.
Dann tritt er einige Schritte zurück und lässt seine Revolverhand neben seiner Waffe hängen. Sein Daumen berührt leicht den Revolverkolben.
So wartet er.
Jack Donovan aber zögert noch.
Er fragt sich, ob er eine Chance hat oder chancenlos ist gegen diesen Mann aus Alabama, der damals noch nicht daheim war, als sie die Plantage mit dem schönen Herrenhaus überfielen, deren Sklaven weggelaufen waren, weil sie ja die Freiheit besaßen.
Jack Donovan möchte nicht sterben.
Aber dann muss er das Duell gewinnen.
Und so erhebt er sich und hebt dabei den Revolver vom Boden auf.
Er starrt auf Ben Yates und sieht, dass dieser seine Hand immer noch neben dem Revolverkolben hängen hat.
Jack Donovan richtet sich auf, hält den Revolver neben seinem Bein mit dem Lauf nach unten, sodass die Mündung zu Boden zeigt. Er muss den Revolverlauf nun nur noch heben und die Mündung auf Yates richten.
Aber Yates muss ziehen und ist scheinbar im Nachteil.
Und da wagt es Jack Donovan.
Als er abdrückt, stößt ihn die Kugel des Gegners schon. Er stirbt stehend und drückt dabei noch ab, schießt aber daneben.
Die Schüsse hallen nicht, denn aus dem Strom steigen Nebel.
Ben Yates blickt stromauf zur Stadt hin. Dort werden die Lichter im Morgengrauen wieder zahlreicher.
In Ben Yates ist kein Gefühl des Triumphes, eher ein Gefühl der Bitterkeit.
Er hat getan, was ein Mann tun muss, wenn er keine Chance auf die Hilfe des Gesetzes hat. Durch Zufall – oder war es der Wille des Schicksals? – stieß er auf einen der Mörder seiner Familie.
Was konnte er anderes tun?
Auch ihn hat die Vergangenheit eingeholt und in die Pflicht genommen.
Ja, er spürt immer stärker die Pflicht, auch die vier anderen Mörder nicht davonkommen zu lassen. Das darf nicht sein.
Er holt sich nun das viele Geld aus den Taschen des Toten, und er verspürt keine Gewissensbisse dabei, fühlt sich nicht als Leichenfledderer.
Denn diese Mordbande ist ihm mehr schuldig. Schon allein der wertvolle Familienschmuck, den sie mitnahmen, war sehr viel mehr wert.
Er wirft den Toten über das Ufer in den Strom, wo ihn die Strömung mitnimmt.
Dann tritt er an das Pferd, auf welchem er den Toten aus der Gasse und ein Stück weit weg aus der Stadt schaffte.
Es ist nicht sein Pferd. Das Tier stand in der Gasse neben einem betrunken schlafenden Mann, der es nicht mehr in den Sattel schaffte.
Yates sitzt auf und reitet zurück.
Der Schläfer in der Gasse schnarcht immer noch und wird bei seinem Erwachen gar nicht merken, dass sich jemand sein Tier für etwas mehr als eine Stunde ausgeliehen hatte.
Das Dampfhorn eines Steamers prustet den gewaltigen Ton in die sterbende Nacht hinaus. Nach dem dritten, gewaltigen Dröhnen wird er ablegen.
Ben Yates macht sich auf den Weg und verzichtet darauf, sein weniges Gepäck aus der kleinen Kammer des billigen Hotels zu holen.
Er kann an den Landebrücken leicht jenen Steamer erkennen, der sogleich losmachen und ablegen wird. Denn aus den beiden Schornsteinen des Dampfbootes fliegen Funken.
Von der Stadt kommen einige eilige Passagiere angelaufen.
Und eine junge Frau am Ende der Schlange schleppt einen Koffer und eine Reisetasche. Sie bleibt immer mehr zurück, doch Ben Yates holt sie ein und nimmt ihr wortlos das Gepäck ab, sieht sie jedoch nur flüchtig von der Seite an und eilt ihr mit langen und geschmeidigen Schritten voraus.
Das mächtig brüllende Dampfhorn erfüllt zum dritten Mal den nebligen Morgen. Doch weit im Osten gibt es schon die ersten Lichtexplosionen der Sonne am Himmel.
Die junge Frau, welche hinter Yates herhastet und mit ihren eleganten Schuhen immer wieder stolpert, hält plötzlich inne, lässt einen deftigen Fluch hören und entledigt sich der unbequemen Fußbekleidungen, nimmt sie in die Hände.
Dann aber kann sie wie ein Reh laufen und springen. Sie holt Yates schnell ein und stößt etwas keuchend hervor: »Ich bin Ihnen sehr dankbar, Mister.«
Sie erreichen die Landebrücke und sind die letzten Passagiere, die an Bord gelassen werden. Zwei Decksmänner ziehen die Gangway hoch.
Und das Dampfboot lässt das Schaufelrad am Heck patschend drehen und geht schräg in den Strom.
Die junge Frau und Yates warten geduldig, bis der Zahlmeister sich ihrer annehmen kann und höflich fragt: »Haben Sie Ihre Passage schon bezahlt im Office der Reederei oder ...?«
»Für mich wurde von der Armee eine Kabine gebucht«, unterbricht ihn die junge Frau. »Mein Name ist Judy Logan.«
Der Zahlmeister legt seine Hand an den Mützenschirm und gibt einem der Decksmänner einen Wink. Dieser nimmt das Gepäck der jungen Frau auf.
»Folgen Sie dem Mann, Lady«, spricht der Zahlmeister höflich. »Willkommen an Bord der ›General Grant‹.«
Sie nickt dankend, aber bevor sie dem Mann und ihrem Gepäck folgt, sieht sie Ben Yates kurz an.
Und auch dieser blickt nun endlich voll in ihr Gesicht und bekommt ein Lächeln geschenkt, welches ihn für Sekunden all das Bittere dieser Nacht vergessen lässt.
Denn es ist ein Gesicht, welches den grauen Morgen schöner macht. Selbst nach diesen wenigen Sekunden, in denen sie ihm ihr Lächeln schenkt, wird er dieses Gesicht nicht mehr vergessen, selbst wenn er es nie wieder sehen sollte.
Sie wendet sich ab.
Der Zahlmeister tritt zu ihm.
»Und Sie?« So fragt er.
»Wenn Sie keinen Kabinenplatz haben, bin ich auch mit einem Decksplatz zufrieden«, spricht Yates ruhig.
»Sie hatten es wohl sehr eilig, denn Sie sind ohne Gepäck.«
Die Stimme des Zahlmeisters verrät eine Spur von Argwohn und Misstrauen.
Ben Yates erwidert ruhig: »Es gibt immer wieder einen Mitspieler, der beim Poker nicht verlieren kann.«
»Aha«, macht der Zahlmeister. »Wohin wollen Sie?«
»Bis nach Fort Lincoln.«
»Da habe ich noch einen Kabinenplatz frei. Den müssen Sie sich mit einem anderen Spieler teilen.«
»Wenn er nicht schnarcht«, sagt Yates und grinst, »ist mir das recht.«
✰✰✰
Er sieht Judy Logan etwa eine Stunde später beim Frühstück im Salon wieder. Inzwischen hat er sich im Bord-Store mit einigen notwendigen Dingen versehen, wozu auch Rasierzeug und ein frisches Hemd gehören.
Auch den anderen Kabinenpassagier lernte er kennen. Es ist ein ziemlich kleiner, rothaariger und irgendwie fuchsgesichtiger Mann unbestimmbaren Alters, der sich als Jim Spears vorstellte und Ben Yates dabei forschend anblickte, so als erwartete er etwas von ihm, irgendeine Reaktion – zum Beispiel ein Staunen oder eine Frage.
Aber Ben Yates hat den Namen Jim Spears noch nie gehört. Und überdies wirkt der Mann auf den ersten Blick ziemlich unscheinbar.
Ben Yates vergisst Jim Spears jedoch vorerst. Denn am langen Tisch der Kabinenpassagiere sitzt ihm die junge Frau, die dem Zahlmeister der »General Grant« ihren Namen nannte, genau gegenüber.
Judy Logan heißt sie also, denkt Ben Yates.
Er kann sie nun so richtig in Ruhe betrachten, ihr voll ins Gesicht sehen und dabei nach all den Zeichen suchen, die ihm mehr über sie verraten können.
Denn fast jede Frau lässt für einen erfahrenen Mann Zeichen erkennen. Und sein Instinkt sagt ihm, zu welcher Sorte sie gehört.
Sie erwidert seinen Blick mit blaugrün leuchtenden Augen. Es ist ein gerader und fester Blick, der ihm ihr Selbstbewusstsein verrät. Also ist sie eine Frau, die sich unter Männern behaupten lernte. Er spürt ihre kraftvolle Vitalität und traut ihr eine Menge nüchterne, praktische Klugheit zu.
Dabei ist sie mehr als nur hübsch, sie ist eine Schönheit. Aber nicht nur das. Denn sie besitzt eine Ausstrahlung, welche ahnen lässt, dass tief in ihr die Fähigkeit zu starken Gefühlen vorhanden ist.
Ja, das alles spürt er irgendwie mit seinem Instinkt, indes er sie ansieht.
Sie löffelt die Suppe wie eine Lady, und manchmal fährt ihre Zungenspitze über ihre vollen Lippen. Ihr Mund ist lebendig und ausdrucksvoll. Doch gewiss kann er auch hart und beherrscht sein, sodass die Lippen schmal werden.
Ihr Haar ist von einem besonderen Rotgoldschimmer.
Ben Yates fragt sich nun, welchem Mann sie wohl gehört. Oder sollte sie frei sein?
Wenn Letzteres der Fall sein sollte, dann nur, weil sie sich getrennt hat. Denn eine Frau wie sie gehört zumeist einem besonderen Burschen.
Außer ihnen sitzen noch ein Dutzend Kabinenpassagiere am langen Tisch. Doch sie wirken alle irgendwie missmutig und verdrossen, verschlafen noch in der grauen Morgenstunde. Es ist eine zusammengewürfelte Gesellschaft, zu der auch zwei junge Frauen gehören, denen man ihr Gewerbe ansehen kann, die aber dennoch nicht zu der primitiven Sorte gehören, sondern zu der »gehobenen«, die man Edelhuren nennt.
Judy Logan lässt nun den Löffel in den leeren Teller sinken und lächelt Ben Yates an. Es ist ein wissendes und zugleich nachsichtiges Lächeln.