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Als Lily erwacht, steht der Mann an ihrem Bett.
Die Petroleumlampe brennt auf niedrigem Docht. Im schummrigen Licht des Hotelzimmers mustert Lily den Mann eher gelassen. Sie ist keine Frau, die gleich zu kreischen beginnt, und so sagt sie ruhig: »Vielleicht haben Sie sich nur im Zimmer geirrt, Bruder.«
Sie liegt verführerisch auf der Schlafdecke. Das dünne Nachthemd lässt mehr erkennen, als es verbirgt. Sie macht nicht den Versuch, die Lage ihres geschmeidigen Körpers zu verändern. Well, die begehrenswerte Lily Ballard ist sich ihrer »Waffen« durchaus bewusst.
Und der große Mann vor dem Bett gefällt ihr. Ja, er gehört zu jener Sorte, die sie von jeher anzog. Der Bursche ist dunkel wie ein Indianer, trägt einen Sichelbart und hat graue Augen und ein paar Narben an Stirn und Kinn.
Sie muss unwillkürlich an einen Wolf denken. Und sie kennt sich aus mit Wölfen. Denn dort, wo sie aufwuchs, da heulten nachts die Wölfe um die Hütte. Aber das ist lange her. Jetzt besitzt die schöne Lily teure Kleider und Schuhe - und noch eine Menge mehr. Sie trägt auch eine wertvolle Goldkette mit einem hübschen Anhänger. Dessen Stein ist ein großer Rubin. Er bildet zu ihrer weißen Haut einen starken Kontrast ...
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Seitenzahl: 149
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Der letzte Wolf
Vorschau
Impressum
Der letzte Wolf
Als Lily erwacht, steht der Mann an ihrem Bett.
Die Petroleumlampe brennt auf niedrigem Docht. Im schummrigen Licht des Hotelzimmers mustert Lily den Mann eher gelassen. Sie ist keine Frau, die gleich zu kreischen beginnt, und so sagt sie ruhig: »Vielleicht haben Sie sich nur im Zimmer geirrt, Bruder.«
Sie liegt verführerisch auf der Schlafdecke. Das dünne Nachthemd lässt mehr erkennen, als es verbirgt. Sie macht nicht den Versuch, die Lage ihres geschmeidigen Körpers zu verändern. Well, die begehrenswerte Lily Ballard ist sich ihrer »Waffen« durchaus bewusst.
Und der große Mann vor dem Bett gefällt ihr. Ja, er gehört zu jener Sorte, die sie von jeher anzog. Der Bursche ist dunkel wie ein Indianer, trägt einen Sichelbart und hat graue Augen und ein paar Narben an Stirn und Kinn.
Sie muss unwillkürlich an einen Wolf denken. Und sie kennt sich aus mit Wölfen. Denn dort, wo sie aufwuchs, da heulten nachts die Wölfe um die Hütte. Aber das ist lange her. Jetzt besitzt die schöne Lily teure Kleider und Schuhe – und noch eine Menge mehr. Sie trägt auch eine wertvolle Goldkette mit einem hübschen Anhänger. Dessen Stein ist ein großer Rubin. Er bildet zu ihrer weißen Haut einen starken Kontrast ...
Der Mann streckt seine Hand aus und winkt mit dem Zeigefinger.
»Ich möchte die Kette mit dem Anhänger. Gib her, Schwester. Ich möchte sie dir nicht vom Hals reißen. Verstehst du?«
»He – also nur ein ganz gewöhnlicher Bandit, der sich nachts in die Zimmer schleicht und stiehlt?«, fragt sie enttäuscht.
Er grinst ohne jede Freundlichkeit. »Kein Dieb, Schwester. Das Ding gehörte meiner Mom. Und der Bursche, der es ihr wegnahm, ist wahrscheinlich ihr Mörder, zumindest aber beteiligt am Mord an meinen Eltern ...«
Sie bekommt für einen Moment große Augen. Es sind recht bemerkenswerte Augen. Sie sind etwas schräg, grün und wirken katzenhaft. Als sie sich aufsetzt, geschieht das mit einer geschmeidigen Bewegung.
Sie nestelt an der Schließe im Nacken und reicht ihm die Kette samt Anhänger.
»Tut mir leid«, sagt sie dabei. »Aber das konnte ich nicht wissen. Ich kenne den Mann, der sie mir schenkte, erst drei Wochen. Du wirst lachen, Bruder – wenn du in diesem Zusammenhang überhaupt lachen kannst –, aber ich glaube dir jedes Wort. Ich weiß fast immer, wenn ein Mann die Wahrheit sagt. Es tut mir leid.«
Er nimmt Kette und Anhänger, behält beides in der Hand, schließt diese fest, so als wollte er damit auch noch etwas anderes festhalten. Dann nickt er.
Schließlich dreht er die Flamme der Lampe etwas höher, sodass die Helligkeit bis in den letzten Winkel des noblen Hotelzimmers fällt. Er sieht sich um.
»Vielleicht kann ich dir helfen, Bruder«, sagt Lily Ballard.
Er betrachtet sie kritisch. Ja, sie ist eine von diesen Abenteurerinnen, die oftmals mit einem Partner durch die Welt ziehen, ein Pärchen bilden, welches ständig auf der Jagd ist nach irgendwelcher Beute.
Der Mann, mit dem sie dieses Zimmer bewohnt, sitzt drüben in der Spielhalle und spielt jetzt schon die zweite Nacht mit einigen anderen harten Burschen Poker. Und die Einsätze sind hoch. Es gibt kein Limit.
Diese Raubkatze da im Bett konnte nicht mehr wach bleiben. Sie zog sich zurück. Aber sie erwachte bald schon, so müde sie auch war. Ihr Instinkt warnte sie vor dem Fremden im Zimmer.
Nun sagt er: »Dieser Bursche, dem du gehörst, muss noch etwas anderes bei sich haben. Hübsche Schachfiguren aus Gold. Wo hat er die Dinger?«
Sie schließt einen Moment die Augen, schluckt etwas mühsam und nickt dann. »Der Koffer ...«, sie deutet in die Ecke, »... hat einen doppelten Boden. Da sind so ein paar Dinger drin. Aber es sind nur die kleinen Bauern.«
Er erwidert nichts. Aber er holt den Koffer aus der Ecke, stellt ihn auf den Tisch und öffnet ihn.
Bald schon hält er die Figuren in der Hand. Sie sind klein und schwer. Ja, sie sind aus purem Gold. Es sind die kleinen Bauern eines Schachspiels.
Er sieht Lily Ballard an.
»Dieses Schachspiel gehörte meinem Vater«, sagt er. »Guerillas überfielen unsere Ranch in Texas. Sie töteten fast alle Menschen und raubten, was sie nur bekamen an Wertsachen, die man leicht mitnehmen konnte. Es war schon einige Wochen nach dem Krieg. Wie ein Wolfsrudel kamen sie – und ebenso verschwanden sie wieder. Ich habe lange gebraucht, die Fährte zu finden.«
Er macht eine kleine Pause.
»Wie heißt du, Schwester?«
Sie sitzt jetzt kerzengerade im Bett und hat ihre festen Brüste vorgeschoben. Sie leckt die Lippen und erwidert: »Lily – Lily Ballard. Und was wirst du mit Bac McGill tun? Du weißt natürlich schon, dass er drüben beim Poker sitzt. Dieser Anhänger von deiner Mom und die Schachfiguren deines Vaters sind für dich Beweise, nicht wahr?«
Er nickt.
»Sein Name ist nicht Bac McGill«, sagt er. »Er hieß damals anders. Aber was sind schon Namen?«
Er wendet sich zur Tür.
»Und was wirst du mit ihm tun?«
Er hält inne, blickt über die Schulter, und er scheint ihre körperlichen Reize gar nicht zu bemerken.
»Du wirst bald einen anderen Gefährten finden«, sagt er. »Und du hast gewiss schon mehr als einen dieser Burschen unerwartet verloren, nicht wahr? Rechne nicht mehr mit ihm. Als Witwe betrachtest du dich wohl nicht, wenn er tot ist.«
Er geht hinaus.
Und sie sitzt still im Bett.
Dann seufzt sie und sagt: »Verdammt! Warum falle ich mit diesen Burschen nur immer rein? Stets glaube ich, dass ich an einen ewigen Sieger gerate – und irgendwann ist er dann plötzlich ein Verlierer.«
Sie überlegt, ob sie versuchen soll, Bac McGill zu warnen oder gar Partei für ihn zu ergreifen. Sie kann mit einer Waffe recht gut umgehen. Ja, sie könnte sehr wohl etwas für ihren Partner tun.
Doch sie schüttelt den Kopf. Nein, diesem Texaner möchte sie nicht in den Rücken schießen, um McGill zu retten – nein.
Sie wendet den Kopf und blickt aus dem Fenster.
Draußen ist der graue Morgen. Bald wird die Nachtpost hier durchkommen, um das Gespann zu wechseln.
Sie könnte, wenn sie ihre Siebensachen rasch zusammenpackt, diese Postkutsche noch erreichen.
Für einen Moment spürt sie ein Bedauern.
Bac McGill war ein Spieler. Doch sie verstand sich gut mit ihm. Er war ein stattlicher zweibeiniger Wolf, ein zärtlicher Liebhaber. Auch befand er sich offenbar in einer Glückssträhne. Es ging ihnen gut. Sie konnten sich eine Menge leisten. Ja, sie verspürt ein Bedauern. Und sie wusste die ganze Zeit, dass es in seiner Vergangenheit ein paar schlimme Dinge gab und er schwarze Schatten auf seiner Fährte hatte. Denn nirgendwo blieben sie lange.
Dass er jetzt schon die zweite Nacht am Pokertisch sitzt, war gewiss sein Fehler.
Sie überlegt, ob er gegen diesen Texaner, dessen Namen sie nicht mal kennt, eine Chance hat. Oh, sie weiß, dass McGill schnell ist mit dem Colt, so schnell wie ein Zauberkünstler.
Doch dieser Texaner wird ihn töten.
Ein untrüglicher Instinkt sagt es ihr.
Und so beeilt sie sich, fortzukommen aus dieser Stadt.
Sie gibt Bac McGill einfach auf, wie schon oftmals irgendwelche Weggefährten. Ja, sie ist vielleicht doch nichts anderes als eine streunende Katze.
✰✰✰
Die kleine Stadt heißt Warbow.
Der Texaner betritt den Spielsaloon, durchquert den großen Hauptraum und betritt das Hinterzimmer.
Fünf Mann sitzen hier beim Poker.
Es sind gewiss wichtige und einflussreiche Männer, denn sie spielen ohne Limit. Auf einem kleinen Nebentisch sind Getränke und kalte Speisen aufgebaut.
Die Spieler blicken auf den Eintretenden.
Jemand sagt: »Dies ist eine geschlossene Partie, Mister.«
Aber der Neuankömmling achtet nicht auf diese Mahnung. Er sieht nur einen der Spieler an und sagt: »Roy Harker – du warst damals einer der Brazos-Lobos, nicht wahr? Hier!«
Er wirft mit der Rechten die goldenen Schachfiguren auf den Tisch. Es gab auch noch silberne zu diesem Spiel. Doch diese waren den Banditen nicht wertvoll genug.
»Auch den Anhänger meiner Mutter habe ich gefunden«, spricht er wieder. »Die Frau, mit der du zusammen bist, trug ihn. Nun, steh auf und zieh!«
Das tut jener Bac McGill, der in Wirklichkeit Roy Harker heißt.
Er erhebt sich mit einer geschmeidigen Bewegung und umfasst mit seinen Fingern leicht seine Jackenaufschläge.
»Du bist Ben Garylord?«, fragt er. Dann setzt er hinzu: »Ja, ich hörte schon, dass du hinter uns Brazos-Lobos her bist. Einer von uns, den du in der Klemme hattest, erzählte dir eine Menge über jeden von uns. Na gut, dann ...«
Weiter spricht er nicht.
Denn die kleinen Revolver schnellen aus den Sprungholstern fast von selbst in seine Hände. Er musste nur mit der Innenseite seiner Oberarme fest dagegen drücken, um die Federn ausrasten zu lassen. Solche Sprungholster sind raffinierte Dinger.
Dennoch ist er nicht schnell genug.
Schon die erste Kugel Ben Garylords trifft ihn ins Herz.
Die Entfernung beträgt ja auch nur vier Yards.
Er fällt über den Tisch.
Pulverrauch breitet sich aus.
»Es tut mir leid, Gentlemen«, sagt Ben Garylords Stimme heiser, »dass ich Ihre Pokerrunde stören musste. Doch dieser Mann gehörte zu einer Bande von zweibeinigen Wölfen, die unsere Ranch überfielen und meine Eltern töteten. Sie werden sicherlich verstehen, Gentlemen, dass er mir Genugtuung zu geben hatte – oder?«
Sie starren ihn an, und sie sind harte Burschen, die es in einem wilden und oft gnadenlosen Land zu etwas brachten.
Nacheinander nicken sie.
Einer sagt: »Ja, er war ein gestellter Mann, der sich den Weg freischießen wollte. Wir hätten nur gern herausgefunden, ob er auch ein Falschspieler ist.«
Ben Garylord gibt ihnen keine Antwort. Er nimmt die Schachfiguren vom Tisch und wendet sich zur Tür.
Erst dort verhält er noch einmal.
»Wenn er so viel gewonnen hat«, sagt er, »wird wohl Geld übrig sein für die Beerdigung.«
✰✰✰
Ben Garylord ist kurz vor Mitternacht gekommen auf seinem müden Pferd. Er stellte es im Mietstall ein, ließ es abreiben und füttern.
Als er nun den Nachtmann weckt, ist der graue Morgen da. Der Nachtmann brummt unwillig. Aber Ben Garylord scheint es gar nicht zu hören.
Er reitet auf die staubige Wagenstraße und schwenkt nach Süden ein. Er muss durch die ganze Stadt reiten.
In Ben Garylord ist Bitterkeit. Nein, er verspürt keine Genugtuung.
Er hat getötet.
Und er weiß, dass er noch weitere Männer töten wird, es sei denn, er will die Mörder seiner Eltern und anderer unschuldiger Menschen davonkommen lassen.
Manchmal ist er schon versucht, dies zu tun. Denn er kommt sich manchmal wie Richter und Henker in einer Person vor.
Aber dann wieder sagt er sich, dass er diese Brazos-Lobos nicht davonkommen lassen darf.
Sein Pferd hat sich in den drei oder vier Stunden im Mietstall gut erholt. Er sitzt zusammengesunken im Sattel.
Als er das Hotel erreicht, kommt Lily Ballard heraus. Sie schleppt schwer an zwei Koffern und geht die paar Schritte zur Bank an der Hauswand. Denn hier wird die Morgenpost aus Santa Fe halten, nachdem sie im Wagenhof beim Mietstall und der Schmiede binnen weniger Minuten ein frisches Gespann bekam.
Lily Ballard stellt die Koffer neben die Bank und sieht sich nach dem einsamen Reiter im Morgengrauen um. Sie erkennt ihn wieder.
Er hält an und blickt vom Sattel aus auf sie nieder.
»Ist er tot?«, fragt Lily mit belegter Stimme. »Hat er gekämpft wie ein Mann – oder haben Sie ihn einfach abgeknallt?«
»Er ist tot«, erwidert er. »Und er hat nicht viel getaugt, Schwester.«
»Vielleicht habe ich deshalb so gut zu ihm gepasst«, sagt sie trotzig.
Er zieht seine Schultern hoch.
»Vielleicht«, murmelt er, »was weiß ich schon über dich, Schwester. Viel Glück!«
Er will weiter, hebt schon die Zügel. Aber sie fragt schnell: »Und hinter wie vielen bist du noch her?«
Zuerst sieht es so aus, als wolle er nicht antworten.
Doch es gibt offenbar etwas zwischen ihnen – etwas, was man nicht beschreiben kann, irgendeine gemeinsame Empfindung.
»Noch fünf«, sagt er langsam. »Es waren sieben. Und ich werde die Jagd erst nach dem letzten Wolf beenden. Der erste hat mir viel über das böse Rudel erzählt. Ich kenne sie alle genau und werde sie finden. Viel Glück, Schwester.«
Er reitet weiter.
»Du tust mir leid, Mister! He, du tust mir verdammt leid! Deine Mom würde nicht wollen, dass du dich aus Rache zum Richter und Henker machst!«, ruft sie ihm nach.
Aber er sieht sich nicht mehr um.
Er reitet aus der Stadt. Vor dem Saloon steht der Town Marshal und betrachtet ihn. Aber er sagt nichts. Er lässt ihn reiten. Der Town Marshal hat jetzt eine Menge Geld in der Tasche, nämlich ein Fünftel vom Geld des Toten. Er verspürt sogar eine gewisse Dankbarkeit gegenüber diesem Fremden.
✰✰✰
Die Sonne steht noch nicht hoch, als die Postkutsche den Reiter überholt. Lily Ballard schaut durch das Fenster. Ihr Blick begegnet dem des Reiters. Aber sie sehen sich nur an, lächeln nicht.
Wahrscheinlich, so glauben sie, werden sie sich nie wieder begegnen.
Als die Postkutsche in der Ferne verschwindet, denkt Ben noch eine Weile über diese junge und reizvolle Frau nach.
Was hat sie dazu gebracht, solch ein Leben zu führen? Warum zieht sie mit solchen Burschen wie diesem Roy Harker durch die Welt, Burschen, deren richtigen Namen sie manchmal nicht mal kennt? Und an was für einen Kerl wird sie nun geraten?
Der Wagenweg führt nach Süden zu durch das ganze Rio Grande Valley nach El Paso.
Ob sie bis El Paso in der Kutsche bleibt?
Eine Stunde später sieht er die Kutsche wieder.
Sie liegt umgekippt in einem Hohlweg zwischen Felsen und Dornenbüschen.
Der Fahrer und sein Begleitmann sind tot, ebenso zwei männliche Fahrgäste. Ein alter Mann und zwei Frauen sind noch am Leben. Eine der beiden Frauen ist Lily Ballard.
Sie tritt ihm entgegen.
»Dies ist ein Mistland«, sagt sie, »voller Strolche und Mörder. Das war eine üble Bande. Sie sagten, dass sie Hunger hätten und niemand ihnen Arbeit gäbe. Sie haben auch die Pferde ausgespannt und mitgenommen, dazu unser ganzes Gepäck. Sie sagten, dass sie alles gebrauchen könnten, selbst meine Unterhosen. Denn für alles bekämen sie einen Gegenwert. Sie haben alle Männer getötet, die sich zur Wehr setzten. Oh, diese Schweine! Man müsste sie hängen, sobald ...«
Nun hielt sie inne. Jäh bekommt sie sich wieder unter Kontrolle.
Sie macht eine leichte Handbewegung.
»Ach, was jammere ich hier herum«, spricht sie verächtlich zu sich selbst. »Jammern hilft nichts, gar nichts. Ich komme schon wieder auf die Beine. Zwei Koffer voller Zeug bekomme ich schnell wieder zusammen. Und mehr verlor ich ja nicht – nur zwei Koffer. Werden Sie uns helfen, Mister?«
Sie redet ihn nun sehr förmlich an.
Er betrachtet den alten Mann und die andere Frau. Letztere ist offenbar die Tochter des Alten und dennoch älter als Lily Ballard.
»Die nächste Pferdewechsel-Station kann nicht mehr weit sein«, sagt er zu dem alten Mann. »Nur noch ein paar Meilen. Ich reite hin und schicke euch jemanden. Oder ich komme selbst mit einem Wagen und hole euch. Ihr könnt euch darauf verlassen.«
»Ich könnte hinter dem Sattel mitreiten«, sagt Lily Ballard.
Er zögert, sieht auf den alten Mann und dessen Tochter. Diese nicken beide.
»Sicher«, sagt der Alte. »Die haben vielleicht nur einen kleinen Wagen. Und wir müssen doch wohl auch die Toten mitnehmen. Ich kannte den Fahrer. Er war ein braver Bursche. Wenn sein Begleitmann nicht versucht hätte, die Schrotflinte abzufeuern, hätten diese Mistkerle nicht zu schießen begonnen. Nehmen Sie die Lady nur mit, Mister. Wir sind Ihnen sehr dankbar.«
Er wendet sich ab und geht zu einem Stein, um sich niederzusetzen. Seine Tochter sagt etwas bitter: »Sicher, Fremder – die da haben Sie gewiss lieber auf Tuchfühlung hinter sich. Ich bin ja wohl nicht mehr Ihr Jahrgang.«
Nach diesen Worten wendet auch sie sich ab.
Ben Garylord macht einen Steigbügel frei und hält Lily Ballard eine Hand hin. Was er scheinbar so unhöflich tut, ist eine Probe. Er will herausfinden, ob sie sich auskennt wie eine Reiterin. Dies lässt Rückschlüsse zu, wie sie einst aufwuchs.
Sie rafft ihre Röcke bis weit über die Knie.
Er blickt auf ihre Beine, und diese sind makellos.
Dann hebt sie ihren Fuß, schiebt ihn in den Steigbügel und ergreift seine Hand. Sie stand dabei mit Blickrichtung zum Hinterteil des Pferdes. Nun schwingt sie das äußere Bein über den Pferderücken, dreht dabei den Steigbügel, indes sie sich hochstemmt und von ihm zugleich auch hochgezogen wird.
Ja, sie versteht das Aufsitzen hinter einem Reiter wie ein erfahrener Cowboy. Als sie hinter ihm sitzt, nimmt sie den Fuß aus dem Steigbügel, sodass dieser sich wieder zurückdrehen und Garylord seinen Fuß hineinschieben kann.
Er spürt die Hände der schönen Lily. Sie hält sich an seinem Gürtel fest.
Als er anreitet, passt sie sich sofort den Bewegungen des Pferdes an.
Eine Weile reiten sie schweigend auf der staubigen Wagenstraße weiter.
Dann sagt er über die Schulter: »Schwester, mir scheint, dass du zurzeit in einer Pechsträhne steckst.«
»Das scheint mir auch so«, erwidert sie hinter ihm dicht an seinem Ohr. »Und diese Pechsträhne begann in jenem Moment, als du bei mir im Zimmer an meinem Bett gestanden hast wie ein Einbrecher.«
»An eurem Bett«, verbessert er. »In eurem Zimmer und an eurem Bett. Ich war hinter ihm her, nicht hinter dir. Du hattest dir nur den falschen Mann ausgesucht.«
»Diesen Fehler mache ich immer«, erwidert sie. »Dafür habe ich eine ganz besondere Begabung. Das ist, als wenn einer in einen Korb voller Nüsse greift und die einzige taube erwischt. Das ist mein Schicksal. Aber du musst doch zugeben, dass dieser Bac McGill ...«
»Er hieß Roy Harker«, verbessert er sie, aber sie spricht ungerührt weiter: »... recht stattlich und beeindruckend aussah, ganz wie ein Mann, der mehr als nur durchschnittlich ist. Mit dem konnte man sich überall sehen lassen. Und als ich ihn damals kennenlernte in Denver, hatte er gerade die große Glückssträhne. Wir konnten uns eine Menge leisten. Wie fandest du überhaupt seine Fährte und schließlich ihn?«
Er schweigt noch eine Weile, so als wolle er gar nicht antworten. Sie sagt deshalb etwas schnippisch: »Aaah, was geht mich das an? Du hast schon recht, wenn du mir keine Antwort gibst, Mister.«