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Als Bob Fuller im Morgengrauen die ersten Häuser der Stadt vor sich auftauchen sieht, stößt er auf seinem wild galoppierenden Pferd einen triumphierenden Schrei aus. Denn nun ist er ziemlich sicher, dass er entkommen ist.
Vor dem Palace Hotel reißt er sein schweißnasses Pferd auf die Hinterhand und schwingt sich aus dem Sattel. Mit einigen Sätzen erreicht er den Plankengehsteig und stößt die Tür auf. Der Nachtmann hinter dem Anmeldepult schreckt in seinem Schaukelstuhl hoch, aber Bob Fuller springt bereits die Treppe hinauf.
Er ist ein geschmeidiger, wild und verwegen wirkender, noch recht junger Bursche. Er hämmert wenig später an eine Zimmertür und ruft dabei: »He, Marshal! He, Orrin Adams! Sie sind hinter mir her! Sie sind gleich hier und wollen mich hängen! Komm heraus und sag ihnen, dass sie in deiner Stadt niemanden hängen dürfen!«
Er muss nicht lange warten. Dann öffnet sich die Tür.
Orrin Adams steht in der Unterhose und mit nacktem Oberkörper vor ihm, in der Hand einen schweren Colt. Sie betrachten sich einige Sekunden im schwachen Schein der Flurlampe. Dann sagt Orrin Adams grimmig: »Aaah, du bist der Brüllaffe! Wer ist hinter dir her?«
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Seitenzahl: 155
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Warbow City
Vorschau
Impressum
Warbow City
Als Bob Fuller im Morgengrauen die ersten Häuser der Stadt vor sich auftauchen sieht, stößt er auf seinem wild galoppierenden Pferd einen triumphierenden Schrei aus. Denn nun ist er ziemlich sicher, dass er entkommen ist.
Vor dem Palace Hotel reißt er sein schweißnasses Pferd auf die Hinterhand und schwingt sich aus dem Sattel. Mit einigen Sätzen erreicht er den Plankengehsteig und stößt die Tür auf. Der Nachtmann hinter dem Anmeldepult schreckt in seinem Schaukelstuhl hoch, aber Bob Fuller springt bereits die Treppe hinauf.
Er ist ein geschmeidiger, wild und verwegen wirkender, noch recht junger Bursche. Er hämmert wenig später an eine Zimmertür und ruft dabei: »He, Marshal! He, Orrin Adams! Sie sind hinter mir her! Sie sind gleich hier und wollen mich hängen! Komm heraus und sag ihnen, dass sie in deiner Stadt niemanden hängen dürfen!«
Er muss nicht lange warten. Dann öffnet sich die Tür.
Orrin Adams steht in der Unterhose und mit nacktem Oberkörper vor ihm, in der Hand einen schweren Colt. Sie betrachten sich einige Sekunden im schwachen Schein der Flurlampe. Dann sagt Orrin Adams grimmig: »Aaah, du bist der Brüllaffe! Wer ist hinter dir her?«
»Nun, wer schon? Hogjaw Staretter natürlich mit einem großen Rudel! Sie haben Fred Yankton vom Pferd geschossen und Tom Barney ...«
Die Stimme versagt ihm nun. Und er wird von der nackten, heißen Angst geschüttelt.
Er ist um sein Leben geritten und wusste keinen anderen Ort als diesen hier.
Orrin Adams betrachtet ihn immer noch. Er kennt ihn gut genug, und noch besser kennt er Bob Fullers Schwester.
Er wendet sich plötzlich ins Zimmer zurück und knurrt fast böse: »Komm herein! Und wenn deine Furcht zu groß ist, dann kriech unter mein Bett!«
Nach diesen Worten beginnt er sich anzukleiden. Seine Kleidung ist überall im Zimmer verstreut, und so wandert er darin herum und vervollständigt sein Äußeres sehr schnell. Als er seine Stiefel anzieht, fällt auf, dass die Sporen angeschnallt sind.
Er ist ein Stadtmarshal. Und dennoch trägt er Sporen, so als wollte er auf seine Herkunft hinweisen. Auf seinem Handrücken sind alte Lassonarben.
Zum Schluss zieht er den Mantel an und setzt den Hut auf.
Als er das Gewehr in die Hand nimmt, lädt er es auf eine besondere Art durch, nämlich mithilfe eines besonderen Schwungs einhändig.
Der große Colt im Holster, den er links vorne trägt, ist jedoch seine hauptsächliche Waffe.
Als er das Zimmer verlässt, sieht er sich nach Bob Fuller gar nicht mehr um. Draußen vor dem Hotel sind nun viele Reiter. Sie lassen ihre schnaubenden Pferde tanzen. Sie haben Bob Fullers Pferd vor dem Hotel gesehen und sofort angehalten. Nun wirbelt Staub. Als der Lärm sich etwas legt, tönt Hogjaw Staretters tiefe, kehlige Stimme.
»Hoiii, Adams! Ist er bei dir untergekrochen? Dann bring ihn heraus! Oder wir holen ihn! Heraus mit ihm!«
In Hogjaw Staretters Stimme ist ein wildes, böses Frohlocken.
Er hat ein knappes Dutzend Reiter bei sich.
Und alle Pferde tragen das Brandzeichen der Warbow Ranch, einen Kriegsbogen mit aufgelegtem Pfeil.
Denn Hogjaw Staretter ist der Erste Vormann der Warbow-Mannschaft.
Orrin Adams tritt nun aus dem Hotel – ein großer, hagerer Mann, ziemlich langhaarig, mit einem Schnurrbart und hellen Augen. Da er den Mantel offen trägt, sieht man seinen Colt und ein Stück darüber den Stern auf der Weste. Das Gewehr hält er, lässig um den Kolbenhals gepackt, in der Rechten.
Er tritt vom Plankengehsteig in den Staub des Platzes und bewegt sich einige Schritte nach vorn.
Als zwei der Reiter ihre Pferde hinter ihm zwischen ihn und das Hotel lenken wollen, winkt er nur mit dem Gewehr – und es geht etwas von ihm aus, was die Reiter von ihrem Vorhaben ablassen lässt.
Ja, es geht etwas von ihm aus.
Man muss es besonders erwähnen. Selbst die hartbeinigen und wilden Reiter der Warbow Ranch spüren es, obwohl sie sonst vor niemandem Respekt haben außer vor ihrem Boss George Jessup und ihrem Vormann Hogjaw Staretter.
Letzterer will sich vom Pferd schwingen.
Doch Orrin Adams sagt scharf: »Bleib oben, Staretter! Bleib oben auf deinem Gaul!«
Staretter gehorcht wahrhaftig.
Aber er lacht kehlig. Und er beugt sich etwas vor und spricht über die Ohren seines Pferdes hinweg: »Orrin, wir haben ihn mit einigen anderen beim Viehdiebstahl erwischt. Ich will ihn haben – und ich bekomme ihn, so oder so. Also werden wir ihn aus diesem Hotel dort holen wie eine Ratte aus dem Loch. Du kannst hier warten.«
Und wieder will er vom Pferd.
Doch abermals sagt Orrin Adams: »Bleib oben, Hogjaw!«
Nun staunt dieser ganz offensichtlich.
»He«, sagt er dann langsam und schwer, »he, Mister, willst du einen Viehdieb beschützen? Willst du uns daran hindern, ihn zu hängen, wie man es in diesem Lande mit Vieh- und Pferdedieben tut?«
In Hogjaw Staretters Stimme ist ein staunender Klang, der ganz und gar zum Ausdruck seines runden Gesichtes passt. Staretter ist ein bulliger Bursche, bärenstark und ständig angriffslustig wirkend, ein Bursche, dem man zutraut, dass er jedes Hindernis frontal angreift.
Nun staunt er und wirkt dadurch einen Moment unsicher. Doch als er sich dessen bewusstwird, steigt auch schon der Zorn in ihm hoch.
Der Atem bevorstehender Gewalt weht nun im kalten und grauen Morgen hier vor dem Palace Hotel.
Die Stadt schläft noch. Zumindest tut sie so.
Es ist eine Stadt, deren Bürger sich von einem Revolvermarshal beschützen lassen. Und weil sie ihm einen hohen Revolverlohn dafür zahlen, ist er jetzt allein.
In dieser Minute jetzt wird es sich entscheiden, ob Warbow City seine Stadt bleiben wird oder nicht.
Adams sagt zu Hogjaw Staretter empor: »Pass auf, Hogjaw, ich will es dir erklären. Dies ist meine Stadt. Bis zu den Stadtgrenzen vertrete ich die Stadtgesetze. Was dort draußen auf der Weide geschieht, geht mich nichts an. Er hat deshalb hier den gleichen Anspruch auf Schutz und Sicherheit wie jeder andere Mensch. Und schon gar nicht lasse ich ihn zu einer Lynchpartie entführen. Jetzt kennst du meinen Standpunkt, Hogjaw Staretter. Und nun hau ab mit deiner Mannschaft. Ihr stört hier die Morgenruhe. Hau ab!«
Hogjaw Staretter, der Erste der Warbow Ranch, und seine Reiter auf dem Platz vor dem Hotel – sie können es zuerst nicht glauben.
Und sicherlich wären Orrin Adams' Worte ein Witz gewesen, wären sie von einem anderen Mann gesprochen worden.
Aber es ist nicht irgendein Mann. Es ist Orrin Adams. Und das, was von ihm ausgeht, verstärkt sich nun noch, und sie alle spüren es deutlich. Es ist der Anprall von Gefahr, der wie ein kalter Hauch kommt – oder wie die Witterung eines Raubtiers. Und vielleicht spüren sie auch deutlich, dass hinter diesem kalten Atem die Bereitschaft zum Sterben vorhanden ist. Sie erinnern sich wieder an den Ruf dieses Mannes. Und plötzlich begreifen sie, dass Orrin Adams die Sache hier auskämpfen wird, sollte es notwendig sein. Denn tut er es nicht, dann unterwirft auch er sich der Warbow Ranch – und damit tut es auch die Stadt.
»He«, grollt Hogjaw Staretter, »he, für wie groß hältst du dich denn eigentlich, Orrin Adams?«
»Das wird sich herausstellen, wenn du absitzen solltest, um Bob Fuller aus der Stadt zu schleifen.«
Die Stimme des Town Marshals klingt noch lässiger, dabei aber spröder, kälter und unversöhnlicher.
Ja, er ist bereit. Dies lässt er sie glaubhaft spüren.
Und so zögert der Erste von der Warbow Ranch. Ja, zum ersten Mal seit vielen Jahren ertappt sich Staretter bei einem Zögern.
Das irritiert ihn. Er befürchtet plötzlich, er könnte den Glauben an sich selbst verlieren.
Dies ist der Augenblick, in der sich alles entscheidet. Entweder bricht jetzt die Gewalttat aus – oder jemand kneift.
In dieser Sekunde klirren drüben auf der anderen Seite des Platzes einige Fenster. Sie werden zu heftig geöffnet.
Im oberen Stockwerk des Longhorn Saloons zeigen sich in den Fenstern und auf dem Balkon die Mädchen. Es gibt mehr als ein halbes Dutzend Mädchen im Longhorn Saloon. In den Häusern rings um den Platz wusste man Bescheid.
Nun gellt Sue Fullers Stimme über den Platz: »Haut ab, ihr Stinker! Haut nur ab, ihr Pfeifen!«
Ihr schrilles Keifen wird nun unterstützt von den gellenden Rufen der anderen Mädchen, die sich mit ihrer »Kollegin« sofort solidarisch erklären.
Und weil sie Bob Fuller mögen, fällt ihnen das nicht mal schwer.
»Bei uns habt ihr endgültig ausgegeigt!«
»Mit euch Stinkern geht keine mehr hinauf!«
»Euch merken wir uns!«
Dieses und anderes mehr tönt keifend herüber.
Die Reiter hinter Hogjaw Staretter werden nervös. Er spürt es. Die ganze Stadt wird jetzt gewiss bis in die entferntesten Winkel wach, dies begreift er ebenfalls.
Und Orrin Adams ist bereit für alles.
Hogjaw Staretter spürt plötzlich, dass er nicht mehr den Nerv hat, weiterzumachen.
Sein Instinkt sagt ihm, dass er aufhören soll.
Er muss mühsam schlucken, und es ist ihm, als müsste er eine große Kröte herunterwürgen. Seine Stimme klingt heiser, als er sagt: »Orrin, das hättest du nicht tun sollen. Bob Fuller ist schon so gut wie tot. Und du ...«
Er spricht nicht weiter.
Etwas scheint ihm die Kehle zuzuschnüren.
Er zieht sein Pferd herum und reitet aus der Stadt.
Die Warbow-Reiter folgen ihm.
Und die Mädchen vom Longhorn Saloon rufen ihnen triumphierend Schmähungen nach.
Der graue Morgen weicht dem heller werdenden Tag.
Im Osten kommt die Sonne über die Hügel des Warbow River. Orrin Adams verharrt noch einige Atemzüge lang unbeweglich.
Dann kehrt er ins Hotel zurück.
Bob Fuller kam in die Diele herunter. Nun grinst er erleichtert und schon wieder verwegen.
»Dem hast du es aber gezeigt, Orrin«, sagt er.
Der tritt vor ihn hin und tippt ihn hart mit dem Zeigefinger gegen die Brust.
»Pass auf, Bob, mein Junge«, sagt er, »ich will dir etwas sagen. Du taugst nichts und wirst nie etwas taugen. Ich hab dies nicht wegen dir getan. Ich hätte es auch für jeden anderen Drecksack und Mistkerl getan, weil dies meine Stadt ist und ich sie nicht der Warbow Ranch überlassen will. Und nun hau ab hier! Deine Schwester und die anderen Honeybees werden dich schon erwarten.«
Er schiebt ihn zur Seite und geht die Treppe hinauf. Bob Fuller sieht ihm regungslos nach.
Der Nachtmann des Hotels sagt hinter dem Pult: »Glück gehabt, Bob Fuller. Aber er ist nicht dein Freund. Er mag nur die Warbow Ranch nicht.«
»Ja, er mag George Jessup nicht – wegen Mae Thorne. Jeder weiß das. Nun, ich hab noch immer Glück gehabt – noch immer!« Bob Fullers Stimme klingt schrill, wild verwegen. Lachend geht er hinaus und nimmt draußen sein Pferd.
Er führt es quer über den Platz zum Saloon hinüber.
Die Mädchen winken ihm aus den Fenstern und vom Balkon aus zu. Sie alle sind nur wenig bekleidet. Und er ist bei ihnen der Hahn im Korb.
✰✰✰
Der Tag vergeht ereignislos in Warbow City. Die kleine Town an der einzigen Furt des Warbow River wirkt verschlafen, untätig, müßig. Es bewegt sich nur wenig in Warbow City, und so wirkt das Wort »City« fast wie ein Witz auf jeden Fremden, der hier durchkommt.
City, das war damals der Wunsch und Traum der Städtegründer. Denn die Idee war nicht schlecht.
Hier ist die einzige Furt des tief eingeschnittenen Warbow River. Hier musste logischerweise jeder Verkehr durchkommen. Das Land in weiter Runde war gutes Weideland. Eigentlich musste dieser Ort eine aufblühende Stadt werden. Aber es kam anders. Und es blieb anders.
Am späten Mittag geht Marshal Orrin Adams in den Speiseraum zum Mittagessen. Es sind außer ihm nur wenige Gäste da, zwei Handelsvertreter, ein durchreisender Spieler und eine ältere Frau mit einer fast erwachsenen Tochter, die nach Santa Fe wollen.
Orrin Adams ist mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
Es ist ihm klar, dass sein Verhalten heute im Morgengrauen noch Konsequenzen haben wird. Er hat die selbstherrliche Macht der großen Warbow Ranch unmissverständlich gestoppt.
Er weiß, dass George Jessup das nicht hinnehmen wird. Und so wird er seinen Vormann Hogjaw Staretter handeln lassen. Hogjaw Staretter hat schon immer die raue und schmutzige Arbeit für George Jessup erledigt.
Er schlingt sein Essen ohne Appetit hinunter. Wieder einmal fragt er sich, warum er hier Marshal ist und nicht einfach fortreitet.
Aber da ist das Bild von Mae Thorne vor seinen Augen.
Als er fertig ist, erhebt er sich und schiebt den Stuhl mit den Kniekehlen zurück. Und dann geht er hinaus.
Die Sommerhitze flimmert auf dem staubigen Platz.
Aus der Schmiede klingen Hammerschläge. Ein Hund schleicht müde über den Platz.
Drüben vor dem Longhorn Saloon stehen drei Sattelpferde am Wassertrog. Als Orrin Adams hinübergeht, wirft er einen Blick auf die Brandzeichen der Tiere. Doch es sind fremde Brandzeichen. Er kennt sie nicht.
Aber er weiß, dass es in den Hügeln, dort, wo das Land tausend verborgene Winkel bildet, einige Camps gibt, in denen sich Reiter verbergen, die in beständigem Hass gegen die ganze Welt leben, Reiter, welche geächtet wurden oder aus anderen Gründen vor Feindschaft und Verfolgern flüchten mussten.
Aus diesen Camps kommen manchmal schweigende Reiter, um lebensnotwendige Einkäufe zu tätigen. Die meisten nehmen auch einen Drink im Saloon und besuchen die Mädchen. Dann verschwinden sie wieder in der Abenddämmerung, wenn niemand ihre Fährten verfolgen kann.
Orrin tritt langsam ein.
Tim Hackett, der alte Barmann, der bei seinem Anblick an einen alten, narbigen Wolf denken lässt, steht hinter der Bar und putzt Gläser.
Von den drei Reitern, deren Pferde vor dem Saloon stehen, ist nur einer zu sehen. Die beiden anderen befinden sich offenbar mit Mädchen oben in deren Zimmern. Auch von Bob Fuller ist nichts zu sehen.
Doch seine Schwester Sue steht bei dem Fremden an der Bar. Sie ist hübsch, und ihr silberhelles Lachen ist ein Geschenk für jeden Reiter, der aus der Einsamkeit der Hügel, von der weiten Weide oder mit Schatten auf der Fährte hereingeritten kam nach Warbow City.
Denn von Frauen und solch einem Lachen träumen sie oftmals.
Der Fremde aber lacht jetzt nicht mit. Sein Blick ist fest auf den eintretenden Marshal gerichtet. Doch dieser beachtet ihn kaum. Er nickt dem Barmann zu.
Dieser stellt ihm ein Glas und eine besondere Flasche hin.
Orrin Adams bedient sich selbst. Er nimmt dann auch eine Zigarre aus der hingehaltenen Kiste. Und zwischen dem alten Revolvermann Tim Hackett, der jetzt als Barmann arbeitet, und dem jungen Revolvermann, der hier Marshal ist, besteht ein stillschweigendes Einverständnis.
Sue Fuller kommt nun von dem Fremden die paar Schritte zu Orrin Adams. Sie berührt mit den Fingerspitzen seinen Arm. In ihren dunkelblauen Augen ist ein guter, warmer und herzlicher Ausdruck.
»Danke, Orrin«, sagt sie leise. »Er ist mein kleiner, wilder Bruder. Er gehört zu den Verwegenen, zu den Rebellen. Er gehört zu jener Sorte, die sich manchmal aus Trotz Salz statt Zucker in den Kaffee tun muss, nur um anders zu sein. Er wird irgendwann zu sich kommen und ein ...«
»Nein, Sue«, unterbricht er sie ruhig, »das wird er nicht. Er wird niemals zur Vernunft kommen. Der gehört zu der Sorte, die ihr Glück zu sehr strapaziert. Irgendwann ist es aus damit. Irgendwann – vielleicht schon diese Nacht – wird er dein Zimmer verlassen und aus der Stadt reiten. Dort draußen warten sie auf ihn.«
Sie blickt ihn verstört an.
Gewiss liebt sie ihren jüngeren Bruder sehr. Ihr Verstand sagt ihr sicherlich auch, wie richtig Orrin Adams die ganze Sache beurteilt. Doch sie möchte es nicht glauben.
Sie muss mühsam schlucken.
Doch dann lächelt sie wieder. »Ich danke dir dennoch, Orrin«, murmelt sie. »Obwohl du es wahrscheinlich nicht wegen ihm oder wegen mir getan hast – ich danke dir dennoch. Ich bin in deiner Schuld.«
»Nein, Sue«, erwidert er, »du wirst nie in meiner Schuld sein. Allein dein Lachen macht diese Welt wärmer, fröhlicher, freundlicher.«
Sie sieht ihn überrascht an.
Ihr Mund öffnet sich. Ihre Lippen zucken. Aber dann hält sie letztlich doch die Worte zurück, die sie sagen wollte.
Sie wendet sich ab und kehrt zu jenem Fremden an das Ende der Bar zurück und leert dort das Glas mit einem langen Zug, so als wollte sie sich betäuben. Denn es ist Whiskey im Glas, guter, starker Bourbon.
Tim Hackett, der alte Barmann, sieht den Marshal an.
»Dieses Mädchen würde für dich betteln gehen«, murmelt er. »Weißt du das, Orrin Adams?«
Orrin Adams nickt.
»Ja, das weiß ich«, murmelt er und leert sein Glas, saugt dann an der Zigarre.
Dabei erinnert er sich wieder an jene Zeit, da die Geschwister Fuller noch bei den Eltern auf der kleinen Ranch lebten.
Als Sam Fuller von einem wilden Pferd fiel und sich das Genick brach, war Bob noch ein halbwüchsiger Junge. Ihre Mutter hatten die Geschwister schon vorher verloren. Sie konnten die kleine, verschuldete Ranch nicht halten.
Es gab damals auch keine Absatzmärkte für Rinder.
Also ging Sue nach Warbow River in den Longhorn Saloon. Nur so konnte sie für sich und den kleinen Bruder sorgen. Doch sie vermochte sich nicht genug um ihn zu kümmern.
Der Saloon gehörte damals noch John Thorne, einem Spieler, der mit seiner schönen Frau Mae hier sein Geld anlegte, weil er endlich sesshaft werden wollte.
Später wurde er von einem Revolverschwinger bei einem Streit erschossen.
An all dieses erinnert sich Orrin Adams wieder.
Als er gehen will, sagt Tim Hackett: »Mae will dich sehen. Geh nur hinein. Ich sollte dich aber erst den Drink nehmen lassen. Sie will dich sehen.«
Orrin Adams, der sich schon halb umgedreht hatte, hielt inne. Nun starrt er auf die unauffällige und mit der gleichen Tapete beklebte Tür am Schanktischende.
Einen Moment sieht es so aus, als wollte er ablehnen.
Doch dann bewegt er sich und tritt bald darauf in Mae Thornes Privaträume ein.
Mae sitzt hinter dem Schreibtisch über irgendwelchen Listen und Eintragungen.
Als er eintritt und sich von innen gegen die Tür lehnt, legt sie den Federhalter weg und lehnt sich zurück.
Eine Weile betrachten sie sich stumm.
Dann sagt Mae Thorne: »Orrin, sie werden dich irgendwann töten. Denn du bist so verdammt allein. Diese Stadt zahlt dir deshalb Revolverlohn, weil sie zu feige ist, selbst zu kämpfen. Oh, ich weiß, dass du nicht wegen des Revolverlohns hier den Stern trägst. Ich weiß es genau! Aber du kannst George Jessup nicht aufhalten. Eines Tages übernimmt er die Stadt ...«
»Und dich«, sagt Orrin Adams hart. »Und dich, Mae. Wenn er diese Stadt besitzt, musst du dich ihm ergeben, ganz und gar. Oder du musst wieder raue Wege wandern, die gleichen Wege, die du gehen musstest, bevor du John Thornes Frau wurdest und er dir einen festen Platz schuf hier in Warbow City. Ist es nicht so?«
Sie schweigt eine Weile, senkt ihre dunklen Wimpern.
Ihr Haar ist so glänzend wie poliertes Rotgold. Und ihre Augen, welche nun unter den Wimpern verborgen sind, haben eine grüne Farbe. Sie ist eine junge Frau, welcher nichts mehr fremd ist auf dieser Erde.