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Obwohl es bis Dodge City nur noch zehn Meilen waren, musste ich noch einmal anhalten, damit unsere Pferde verschnaufen konnten.
Ich hatte den Mörder Jeffrey Tylord gejagt und eingeholt, und nun befand ich mich mit ihm auf dem Rückweg. Als ich seine Hände vom Sattelhorn band und auch die Leine löste, die seine Füße unter dem Pferdebauch miteinander verband, setzte er noch einmal alles auf eine Karte.
Doch auch diesmal hatte er Pech.
Ich kannte ein paar Tricks mehr als er und ließ ihm keine Chance.
Mein Name ist Stapp Sinclair. Damals gab es da und dort Männer zwischen Texas und Montana, die fluchten, sobald sie meinen Namen hörten.
Während unsere Pferde verschnauften, verdaute Jeffrey Tylord die erhaltenen Prügel. Ich warf ihm die Wasserflasche zu, in der noch ein kleiner Rest war.
Nachdem er getrunken hatte, sagte er mit tiefer Überzeugung: »Du Hundesohn! Was hast du eigentlich gegen mich? Wir hatten doch niemals miteinander Verdruss, obwohl wir uns schon da und dort begegneten.«
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Seitenzahl: 145
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Der einsame Rebell
Vorschau
Impressum
Der einsame Rebell
Obwohl es bis Dodge City nur noch zehn Meilen waren, musste ich noch einmal anhalten, damit unsere Pferde verschnaufen konnten.
Ich hatte den Mörder Jeffrey Tylord gejagt und eingeholt, und nun befand ich mich mit ihm auf dem Rückweg. Als ich seine Hände vom Sattelhorn band und auch die Leine löste, die seine Füße unter dem Pferdebauch miteinander verband, setzte er noch einmal alles auf eine Karte.
Doch auch diesmal hatte er Pech.
Ich kannte ein paar Tricks mehr als er und ließ ihm keine Chance.
Mein Name ist Stapp Sinclair. Damals gab es da und dort Männer zwischen Texas und Montana, die fluchten, sobald sie meinen Namen hörten.
Während unsere Pferde verschnauften, verdaute Jeffrey Tylord die erhaltenen Prügel ... Ich warf ihm die Wasserflasche zu, in der noch ein kleiner Rest war.
Nachdem er getrunken hatte, sagte er mit tiefer Überzeugung: »Du Hundesohn! Was hast du eigentlich gegen mich? Wir hatten doch niemals miteinander Verdruss, obwohl wir uns schon da und dort begegneten.«
Ich gab ihm nicht sogleich eine Antwort. Denn seine Frage ließ mich nachdenken.
Ich hatte nichts gegen ihn persönlich. Er war ein Revolverheld und Kartenhai wie so viele. Aber es waren tausend Dollar Belohnung auf seine Einbringung ausgesetzt. Das war es.
»Ich habe nichts gegen dich persönlich«, sagte ich. »Du bist ein Wolf unter vielen. Aber du weißt ja, wie das so ist im Leben mit Burschen unserer Sorte. Man gehört entweder zu den Jägern oder den Gejagten. Ich brauche die tausend Dollar, die es für dich gibt.«
»Aber ich habe doch fast fünftausend Dollar in meinen Satteltaschen – warum nimmst du dieses Geld nicht und lässt mich laufen? Ich schwöre dir, dass ich keinem Menschen ein Wort davon sagen würde, dass du mich eingefangen, mir das Geld abgenommen und mich dann wieder laufen gelassen hättest. Ich schwöre es dir, Stapp Sinclair!«
Er rief die letzten Worte schrill, und er legte all seine Überzeugungskraft hinein. Er wollte, dass ich ihm glaubte.
Aber ich schüttelte den Kopf.
»Nein, dieses Geld will ich nicht. Du hast es Golden Rose gestohlen. Das Mädchen aber hat drei Jahre hart in den schlimmsten Tingeltangels dafür gearbeitet. Es war dann keine gute Idee von dir, ihr den Hals zuzudrücken, als sie dich dabei überraschte, wie du es aus dem Versteck in ihrem Zimmer nehmen wolltest. Nein, Jeffrey Tylord, da sind mir schon tausend Dollar für deine Einbringung lieber. Und wenn ich dich jetzt wieder auf dem Pferd festbinde und du mir dabei noch mal Schwierigkeiten machen solltest, dann wirst du was erleben. Hast du mich verstanden?«
»Ja«, sagte er heiser. »Ich habe dich verstanden, du großspuriger Schuft. Für hundert Dollar würdest du deiner alten Großmutter den Schädel einschlagen. Aber ich sage dir, dass es auch mit dir abwärts gehen wird.«
Dann ritten wir weiter.
Es war später Nachmittag, fast schon Abend.
Und ich wusste, ich würde mich wieder einmal betrinken. Denn nur so würde ich mich besser leiden können.
✰✰✰
Um Mitternacht, als ich so betrunken war, dass ich nicht mehr gerade hätte gehen können, war mein Kopf dennoch seltsam klar.
Aber dann kam Lily Garradine.
Lily hielt im Spielsaloon der Gentlemen Hall die Bank. Sie war dort nicht angestellt, sondern hatte ihren Spieltisch gegen Gewinnbeteiligung gemietet. Und sie machte hohen Gewinn.
Sie nahm mir das Glas aus der Hand.
Und dann sagte sie: »Tausend Dollar für Jeffrey Tylords Einbringung. Und jetzt betrinkst du dich, weil du sie irgendwie für einen schmutzigen Lohn hältst. Golden Roses Geld, welches du zurückbringen konntest, geht morgen schon an ihre Leute ab. Der Kleine ist versorgt, bis er groß genug ist, um für sich selbst sorgen zu können. Und nichts anderes wollte Golden Rose. Hilft es dir?«
Ich nickte.
Und dann trank ich aus der Flasche, weil sie mein Glas in den Händen hielt.
»Das Schlimmste ist«, sagte ich, »dass ich ihn für tausend Dollar an den Galgen geliefert habe. Lily, ich muss mich wahrhaftig betrinken.«
»Nein«, sagte sie. »Wir werden eines von zwei Dingen tun, und du kannst es dir aussuchen. Wir können uns meinen Wagen aus dem Mietstall holen und damit zum Fluss fahren – du weißt schon, dort an unseren Platz. Und wir können dort bleiben bis gegen Mittag. Oder ...«
Sie brauchte mir nicht zu sagen, wie die zweite Möglichkeit war.
Aber heute wollte ich nicht.
»Ich will mich betrinken«, sagte ich zu ihr. »Ich muss jetzt endlich einmal allein mit mir zurechtkommen, Lily. Du bist lieb. Ein Goldstück, ein Engel.«
Da ging sie. Nur einmal legte sie mir kurz die Hand auf die Schulter. Und ihr Parfüm blieb noch eine Weile bei mir.
Aber dann war ich wieder allein, betrank mich und dachte über mich nach.
Ich sah mich in dieser Nacht so klar wie noch nie.
✰✰✰
Ich war gegen Morgen, mit dem Oberkörper auf dem Tisch liegend, eingeschlafen.
Charly, einer der beiden Barmänner, die Frühdienst hatten, brachte mir einen Topf Kaffee, nicht einfach nur eine Tasse. Charly wusste, was ein Mann wie ich jetzt brauchte.
Er sagte: »Der ist stark genug, um einen drei Tage toten Indianer wieder aufzuwecken. Wir hätten dich auch in ein Bett gebracht, Sinclair. Doch Miss Lily sagte, dass man dich nicht anrühren dürfe.«
Ich nickte ihm zu, und er sah, dass ich mit dem Kaffee allein sein wollte. Er ging hinter die Bar zurück. Ich schlürfte den Kaffee, und er machte mich wach, regte meine Lebensgeister wieder an und trieb mir den Schweiß aus den Poren – Whiskyschweiß.
In mir war alles klar.
Ich hatte mich in meiner Trunkenheit mit seltener Klarheit und kritischer Nüchternheit betrachten können.
Ich wusste, dass ich aufhören musste, mir mit dem Colt den Lebensunterhalt zu verdienen. Denn sonst würde es mir eines Tages so ergehen wie jenem Jeffrey Tylord, den ich gestern für tausend Dollar abgeliefert hatte.
Ich wusste an diesem Morgen in Dodge City nach jener Nacht, dass ich ab sofort mein Leben anders führen musste.
Aber wie?
Sollte ich Rinder treiben? Oder sollte ich irgendwo einen Stern nehmen? Es gab einige Städte, die mich als Marshal genommen hätten. Auch bei der Wells Fargo hätte ich einen Job bekommen. Sogar bei der Kansas-Eisenbahn.
Nein, das war alles nichts.
Ich begann zu begreifen, dass ich etwas aufbauen wollte.
Und als ich noch darüber nachdachte, kam mein Bruder Bill herein.
Ich erkannte ihn sofort im Sonnenlicht. Solch einen bulligen Kopf gab es nur einmal. Seine grauen Augen standen weit auseinander wie meine. Diese Augen waren die einzige Ähnlichkeit zwischen uns.
Er sah kurz zu mir in die Ecke, doch er erkannte mich nicht.
Bill trug abgerissene Weidetracht. Ich wusste sofort, dass er zu einer Herde gehörte, die den langen Treibweg von Texas heraufgekommen war, um hier verladen zu werden.
Bill sah so aus wie all die vielen anderen Treiber, wenn sie mit ihren Rindern nach etwa fünf Monaten hier ankamen. Er hatte sich noch nicht baden und einkleiden können. Er war noch nicht beim Barbier gewesen.
Das Glas Bier leerte er in einem Zug. Dann machte er »Ah«, wischte sich mit dem Handrücken den Schaum aus dem Schnurrbart und sagte zu Charly: »Noch einmal, Bruder – noch einmal.«
Als Bill sein zweites Bier bekam, erschien ein weiterer Gast. Und diesen Hombre kannte ich.
Das war Bat Fuller, und er hatte sieben Kerben am Coltkolben. Aber er hatte mehr als sieben Männer getötet. Denn Indianer, Mexikaner, Neger und Chinesen zählte er nicht, wie ich ihn einmal sagen hörte.
Ich wusste auch, dass man Bat Fuller mieten konnte – oder besser gesagt, seinen Colt.
Als er zum anderen Ende der langen Bar ging, wusste ich, dass er es auf Bill abgesehen hatte. Er sah auch zu mir her, und er kannte mich wie ich ihn.
Er schenkte mir nur einen kurzen Blick und war jetzt sicher, dass ich mich nicht einmischen würde.
Wahrscheinlich hätte ich dies sonst auch nicht getan. Aber Bill war mein Bruder. Und das wusste Bat Fuller nicht.
Es war schließlich sein Pech – und dieses Pech hat jeder Killer und Revolverschwinger von seiner Sorte früher oder später mit Sicherheit einmal.
Er sah zu Bill hin, der das Glas ansetzen wollte, und sagte zu ihm: »He, du Bulle! Du hast den ganzen Gestank von Texas hereingebracht. Schleich dich und nimm erst ein Bad!«
Bill erstarrte und setzte sein Glas langsam wieder ab.
Und es war ihm sonnenklar, dass ein Revolverheld mit ihm Streit suchte.
Doch jetzt hatte er keine Chance.
Bat Fuller war schnell mit dem Colt – unheimlich schnell. Er konnte es sich leisten, den Gegner zuerst nach der Waffe greifen zu lassen. Und deshalb konnte man ihn auch niemals verklagen.
Er sagte: »Glotz mich nicht so dämlich an, du Texasbulle! Du sollst verschwinden, habe ich gesagt. Du stinkst!«
Mein Bruder Bill trat etwas vom Schanktisch weg und brachte seine Rechte in die Nähe seines Revolverkolbens.
Er fragte: »Wer hat dich angeworben, du Giftpilz? War es ein eisgrauer, starrgesichtiger Bursche mit einer Sterntätowierung auf der linken Wange? Was zahlt er dir, Revolverschwinger?«
Bat Fuller ging nicht darauf ein.
»Raus«, sagte er, »bevor ich dir Beine mache. Du stinkst! Charly, halte dich nur heraus. Du weißt ja, dass ich eine Menge Freunde in der Stadt habe. Also los, du Bulle!«
Nun mischte ich mich ein.
»Bat«, sagte ich, »weißt du zufällig, wie dieser Rotkopf heißt?«
Er wusste es. Denn jetzt zuckte er leicht zusammen. Gleichzeitig ging ihm ganz plötzlich ein Licht auf.
Er wusste, dass der Rotkopf ein Sinclair war.
Und zugleich erinnerte er sich daran, dass auch ich diesen Namen trug.
Meine Frage aber sagte ihm, dass die Namensähnlichkeit kein Zufall war.
Ich sagte: »Schluck es runter, Bat, und hau ab. Du bist eine Nummer zu klein für mich. Schleich dich, Hombre.«
Er wusste, dass er keine Chance gegen mich hatte.
Dann war er draußen.
Mein Bruder Bill aber nahm das Bierglas vom Schanktisch und kam zu mir in die Ecke. Er betrachtete mich, ging im Halbkreis um den Tisch herum, um mich auch von der Seite ansehen zu können.
Dann ließ er sich mir gegenüber nieder und sagte: »Du bist das also, Kleiner. Da habe ich ja Glück gehabt.«
Er sagte es ganz ruhig, obwohl er wusste, dass ihn vor einer Minute noch der Tod angegrinst hatte.
In seinen Augen erkannte ich das Glänzen der Freude.
Er freute sich, mich zu sehen.
Ich prostete ihm mit meinem Kaffee zu. Er erwiderte mit dem Bierglas. Und dann tranken wir, wobei wir uns in die Augen sahen.
Ich sagte: »Erzähl mir von euch. Bist du allein hier? Oder seid ihr mit einer Herde gekommen?«
»Sie brüllt schon in den Verladecorrals«, sagte er. »Vater und Jim sind noch dort, damit uns die Verlademannschaft nicht um die Stückzahl betrügen kann. Wir brachten eintausendsiebenundfünfzig Tiere durch, obwohl uns Cash Riley unterwegs überall Schwierigkeiten machte und allerlei Steinchen in den Weg rollte.«
Weiter kam er nicht. Denn draußen in der Seitengasse krachte ein Gewehr.
Der Schütze stand an einem Fenster. Ich sah nur wenig von ihm – nur ein Stück Hut, ein Stück Schulter und die Gewehrmündung.
Es war ein Büffelgewehr. Und die Kugel schlug von der Seite in Bill hinein und stieß ihn vom Stuhl.
Ich machte mich auf den Weg und sauste los. Der Heckenschütze wollte um eine Hausecke verschwinden, als ich ihn anrief. Er blieb stehen, warf sich herum, und er hielt bereits seinen Colt in der Faust. Ich traf den Kerl mitten ins Herz.
Es war Saline Pete, ein Halbblut, welches man noch billiger kaufen konnte als Bat Fuller.
Aber Bill war tot. Ich sah es sofort, als ich wieder in den Saloon trat.
✰✰✰
Als ich das Camp der Sinclair-Mannschaft erreichte, waren mein Vater und mein Bruder Jim dabei, die Pferde der Remuda zu verkaufen. Auch das Maultiergespann, welches den Küchenwagen gezogen hatte, sollte nicht mit zurück nach Texas.
Mein Vater war grau geworden – noch hagerer, lederner und dunkelhäutiger.
Und er wirkte noch beharrlicher und härter als damals. Diese starrsinnige Härte war einer der Gründe, warum ich meine Familie verlassen hatte.
Wie mochten meine älteren Brüder das all die Jahre mit ihm ausgehalten haben?
Ich hörte meinen Vater zu einem Mann, der sich für die Maultiere interessierte, sagen: »Die sind den Preis wert. Ich kann das sagen, denn ich habe sie den ganzen Weg von Texas her vor dem Küchenwagen gehabt. Entweder Sie kaufen sie zu diesem Preis – oder Sie lassen es bleiben. Aber ich sage Ihnen, dass es ein fairer Preis ist.«
Ja, diese Worte waren typisch für John Sinclair.
Nicht einen einzigen Cent würde er jetzt noch heruntergehen, selbst dann nicht, wenn er keinen Käufer fand.
Er war davon überzeugt, dass der Preis fair war. Und deshalb war es sein letztes Wort.
Nicht weit von ihm entfernt verkaufte mein Bruder Jim die Pferde der Remuda.
Von uns Sinclair-Jungens war Jim der dem Vater ähnlichste Sohn. Und er sprach soeben: »Unsere Pferde mögen zurzeit nicht besonders gut aussehen, das gebe ich zu. Doch dies sind die Überlebenden eines harten Treibens. Alles, was schwach war, blieb auf der Strecke. In zwei Wochen sehen diese Biester wieder anders aus. Und ich gebe mein Wort, dass jedes dieser Tiere ein gutes Rinderpferd ist. Habt ihr gehört, Leute? Das sind erstklassige Rinderpferde! Die wissen von selbst, was ein verrückter Stier machen wird. Also, wir nehmen vierzig Dollar das Stück!«
Oho, das war ein stolzer Preis. Denn Pferde bekam man für zwanzig Dollar. Aber wenn es gute Rinderpferde waren, waren sie vierzig Dollar das Stück wert.
Ich saß im Sattel meines Pferdes und sah mir das alles an.
Da war mein Vater – und da war mein Bruder Jim. Ein paar von ihren Treibern und auch der Koch waren noch im Camp. Wahrscheinlich kamen sie soeben vom Verladebahnhof herüber, um sich hier ihre Siebensachen und den Lohn zu holen.
Ich fragte mich, ob Vater und Bruder mich erkennen würden.
Und ich zögerte immer noch, mich bemerkbar zu machen. Mir saß irgendwie ein Kloß im Hals. Da traf ich sie plötzlich alle nach neun Jahren wieder – aber es war ein trauriger Tag.
Bill war vor meinen Augen erschossen worden.
Und ich war hier, um die Todesbotschaft zu überbringen.
Einen Moment dachte ich wieder an Cash Riley, der Abe Kingmeads rechte Hand war. Und ich wusste, dass ich ihn suchen würde, um ihn zu töten.
Vor einer halben Stunde noch hatte ich geglaubt, keine Revolverarbeit mehr übernehmen zu dürfen, wollte ich meinem Lebensweg eine andere Richtung geben.
Doch jetzt würde ich bald wieder einen Mann jagen.
Das wusste ich.
Ich sah um den Küchenwagen ein Mädel kommen. Aber so ganz jung war sie doch nicht, wie ich mit dem zweiten Blick erkannte. Sie war gewiss schon eine junge Frau.
An ihren grünen Augen erkannte ich sie plötzlich.
Und mit diesem Erkennen holte mich abermals ein Stück Vergangenheit ein.
Denn das da war Jennifer Miles.
Bevor ich damals fortritt, hatte ich sie noch einmal besucht. Ich war neunzehn und sie sechzehn. Ich hatte ihr damals gesagt, dass sie nicht auf mich zu warten brauche, denn ich könnte ihr nichts versprechen und würde in eine schwarze Ungewissheit reiten. Und sie hatte kratzbürstig erwidert, dass wir ja schließlich nicht verlobt wären und die zwei oder drei Küsse gar nichts zu bedeuten hätten, sodass ich mich auch ebenso gut hätte davonschleichen können, ohne mich zu verabschieden.
Aber zum Abschied hatte sie mich dann doch noch einmal geküsst und nasse Augen bekommen.
An dies alles erinnerte ich mich wieder, als sie um den Küchenwagen herum so plötzlich auftauchte.
Erkennen und Erinnern war in mir ein Gedanke.
Und sie?
Oh, ich sah, dass es ihr schon nach dem zweiten Hersehen ebenso erging.
Starr stand sie da und sah mich an.
Ich nahm meinen alten Hut ab. Und zugleich spürte ich, dass mich nun auch mein Vater und Bruder Jim ansahen. Sie waren aufmerksam geworden und hatten zuerst auf Jennifer und dann von dieser auf mich gesehen. Als ich den Hut abnahm, erkannten sie mich mit dem sicheren Instinkt, den die eigene Sippe nun mal für eines ihrer Mitglieder hat.
Aber es war Jennifer Miles, die Tochter unseres nächsten Nachbarn, die ganz plötzlich rief: »Das ist ja Stapp! Oh, das ist wahrhaftig Stapp!«
»Ja, das ist Stapp«, wiederholte mein Bruder Jim langsamer und bedächtiger. Jim war weißblond, hager und knochig, ganz und gar einer dieser scheinbar kühlen und lässigen Texaner, die stets langsam wirken. Er sah etwas älter aus, als er nach Jahren war. Doch er hatte stets wie ein Sklave schuften müssen. Er war die beste Hilfe unseres Vaters gewesen.
Nun verhielt er sich abwartend, sah mich nur an.
Mein Vater aber fragte: »Stapp, was willst du hier?«
Diese Frage traf mich wie ein Schlag ins Gesicht.
Und sie war typisch für meinen harten Alten.
Ich hatte damals ihn und die Brüder verlassen. Damit gehörte ich nicht mehr zu ihnen. Wahrscheinlich betrachtete er mich nicht mehr als seinen Sohn. In seinem Herzen war nichts mehr für mich vorhanden. Von seiner Sicht aus war ich ein Deserteur. Ich hatte die Familie im schlimmsten Existenzkampf verlassen.
Oh, ich konnte ebenso sein. Ich konnte alles tief in meinem innersten Kern verbergen und so sein wie er.
Ich sagte: »Bill wurde erschossen. Von einem angeworbenen Killer, der hundert Dollar in der Tasche hatte, obwohl er sonst zumeist blank war. Ich kam her, um euch das zu sagen. Denn es sieht so aus, als wäret auch ihr in Gefahr und könnte man euch wie Hammel abknallen lassen. Warum ist Bill überhaupt allein in die Stadt gegangen?«