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Von der Veranda seiner Ranch blickt Lincoln Donovan den Comanche Canyon entlang auf die mächtigen Rücken und Kuppen der Berge ringsum. Er betrachtet seine Pferderudel, die im geschützten Canyon grasen. Und er genießt die stille Stunde vor dem Sonnenuntergang.
Ja, das Land ist schön. Es ist ein Land für einen Mann, den man den »Harten Donovan« nennt und der der Held vieler Legenden geworden ist.
Das hier ist seine Pferderanch. Er ist hier König. Nach vielen Kämpfen, langen Fährten und rauen Wegen ist er hier zur Ruhe gekommen.
Er beobachtet schon eine ganze Weile den Reiter unten im Canyon. Pferd und Mann sind noch winzig klein. Sie kommen aus dem dunklen Schatten des Canyons in den Teil, auf den die Sonne noch ihren letzten Schein wirft. Lincoln Donovan erkennt den Reiter nun. Und weil er ihn erkennt, wird sein dunkles Gesicht noch härter.
Je näher der Reiter dem Ranchhaus kommt, umso mehr erkennt man, dass es sich um einen nur mittelgroßen, sehnigen, lederhäutigen und spitzbärtigen Mann handelt.
Es ist Colonel Jack Grant, der US Marshal von Wyoming ...
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Seitenzahl: 157
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Die letzte Stadt
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Impressum
Die letzte Stadt
Von der Veranda seiner Ranch blickt Lincoln Donovan den Comanche Canyon entlang auf die mächtigen Rücken und Kuppen der Berge ringsum. Er betrachtet seine Pferderudel, die im geschützten Canyon grasen. Und er genießt die stille Stunde vor dem Sonnenuntergang.
Ja, das Land ist schön. Es ist ein Land für einen Mann, den man den »Harten Donovan« nennt und der der Held vieler Legenden geworden ist.
Das hier ist seine Pferderanch. Er ist hier König. Nach vielen Kämpfen, langen Fährten und rauen Wegen ist er hier zur Ruhe gekommen.
Er beobachtet schon eine ganze Weile den Reiter unten im Canyon. Pferd und Mann sind noch winzig klein. Sie kommen aus dem dunklen Schatten des Canyons in den Teil, auf den die Sonne noch ihren letzten Schein wirft. Lincoln Donovan erkennt den Reiter nun. Und weil er ihn erkennt, wird sein dunkles Gesicht noch härter.
Je näher der Reiter dem Ranchhaus kommt, umso mehr erkennt man, dass es sich um einen nur mittelgroßen, sehnigen, lederhäutigen und spitzbärtigen Mann handelt.
Es ist Colonel Jack Grant, der US Marshal von Wyoming ...
Jack Grant reitet nun im Schritt auf den Hof und wirft einen schnellen Blick zum Schlafhaus hinüber, vor dem die drei Reiter dieser Ranch auf den Ruf zum Abendbrot warten. Er hält vor der Veranda des Ranchhauses.
Seine Falkenaugen betrachten den Rancher. Da er noch im Sattel sitzt, befinden sie sich ungefähr in gleicher Höhe. Und sie betrachten sich schweigend und prüfend. Sie haben sich länger als ein Jahr nicht mehr gesehen, aber es gab eine Zeit, da kämpften sie Seite an Seite in wilden Städten und verschafften dem Gesetz Geltung.
Colonel Jack Grant bewegt sich nur wenig im Sattel.
»Nun«, sagt er sanft, »du hast dir eine schöne Ranch aufgebaut, mein Junge. Und dies hier ist ein schönes Land, etwas wild und rau zwar, aber ein Land für Männer und Pferde. Es ist ein guter Ort, um sich auszuruhen, nicht wahr?«
Lincoln Donovan erhebt sich. Jetzt sieht man, dass er in den Stiefeln über sechs Fuß misst und sicherlich für jeden Inch seiner Länge auch ein Pfund Gewicht auf die Waage bringt.
Er sagt: »Ich ahne etwas, Jack, und deshalb weiß ich nicht, ob ich über deinen Besuch erfreut sein soll. Nun, steig ab, Colonel!«
Er hebt die Hand. Vom Schlafhaus kommt einer seiner Reiter und übernimmt das Pferd des Besuchers. Der Colonel geht auf die Veranda. Als er vor Lincoln Donovan anhält, sieht man, dass er einen vollen Kopf kleiner als dieser ist.
Er setzt sich auf die Bank und holt Tabaksbeutel und eine alte Pfeife hervor.
»Setz dich neben mich, Linc«, brummt er, »ich habe mit dir zu reden.«
Lincoln setzt sich neben ihn und lehnt seine Schulterblätter an die Hauswand.
»Jack«, sagt er, »die Zeit ist vorbei. Ich kämpfe nicht mehr mit wilden Städten. Das ist vorbei.«
Colonel Grant pafft eine Weile schweigend. Dann murmelt er sanft: »In den Wind-River-Bergen gibt es eine wilde Stadt. Sie ist wie ein Giftpilz aus dem Boden geschossen, und es gibt dort noch kein Gesetz. Die Stadt nennt sich Opal City, und sie ist der Ort allen Übels auf hundert Meilen in der Runde.«
»Was kümmert mich das«, erwidert Lincoln ebenso sanft. »Ich lebe hier.«
Colonel Grant sieht ihn von der Seite an. »Linc, ich brauche dich.«
»Bist du selbst in Not?«
»Nein, aber ich will einen großen Krieg verhindern.«
»Du hast genügend tüchtige Jungs zur Hand. Schick sie hin, und sie werden die Arbeit verrichten. Meine Zeit ist vorbei. Ich bin dreißig Jahre alt geworden, und ich habe Glück gehabt. Ich möchte dieses Glück nicht nochmals auf die Probe stellen.«
Wieder schweigen sie eine Weile und beobachten die sinkende Sonne. Sie verschwindet purpurfarben im Westen und färbt den Himmel rot. Sie verabschiedet sich mit ihrer ganzen mächtigen, glutvollen Schönheit und lässt die Schatten in den vielen Schluchten und Canyons undurchdringlich werden.
Der Wind strömt von unten herauf und bringt den Duft warmer Erde, von Gras, Wald und Wasser mit. Überall ist es still. Nur in der Ferne kreisen zwei mächtige Adler im roten Licht der Sonne.
Colonel Grant klopft seine Pfeife aus.
»Keiner meiner Jungs ist gut genug für Opal. Ich hatte zuletzt Jim Ward dort. Jetzt ist er tot. Jim Ward war dein Freund, Linc. Sie haben ihn mit Schrot erledigt.«
»Wer?«
Colonel Grant beantwortet Lincolns Frage mit einem Seufzer. Dann hebt er die eckigen Schultern, und die hundert Fältchen in seinem lederhäutigen Gesicht vertiefen sich.
»Die ganze Auswahl ist in Opal«, sagt er bitter. »Alle großen und schlimmen Burschen sind dort. Russ Rockstone und Peak Denver, Hack Stage und Flush Sands.«
Er schweigt wieder eine Weile und beobachtet Lincoln von der Seite her.
»Es wird viel Blut fließen, und es wird viele Tote geben«, sagt er bitter, »denn sie kämpfen um die Macht. Russ Rockstone und Peak Denver beherrschen die Stadt und beschützen die Viehdiebe und Maverickjäger. Hack Stage und Flush Sands stehen auf der anderen Seite. Und wer zwischen diese beiden Gruppen gerät, der wird einfach wie ein Käfer zerquetscht. Linc, wir müssen das Gesetz nach Opal bringen, damit alle friedlichen und guten Menschen, die zwischen dem Machtkampf der beiden feindlichen Gruppen leben müssen, nicht zertreten werden. Du kennst sie alle, Linc. Und ich brauche dich. Vielleicht ist Opal die letzte wilde Stadt ohne Gesetz hier in Wyoming. Sie muss gebändigt werden.«
Er verstummt trocken. Seine Stimme hat zuletzt jenen harten Klang, den Lincoln so gut kennt.
Er zögert mit der Antwort, und dann murmelt er unwillig: »Warum soll ich sie bändigen?«
Aber er spricht diese Worte mechanisch. Seine Gedanken sind schon mit anderen Dingen beschäftigt. Er denkt an Jim Ward, und die Erinnerung an viele Dinge wird mächtig in ihm.
Jim und er waren Freunde und Sattelpartner. Jack Grant war ihr Lehrmeister. Damals! Sie waren Satteltramps, die nach dem Krieg nirgendwo eine Heimat finden konnten, als Jack Grant sie zu sich nahm. Und er gab ihnen Ziele und Aufgaben. Sie wurden seine besten Hilfsmarshals. Er zeigte ihnen, wie man zu kämpfen hat, wenn man einen Stern trägt. Und ihre Treue zu ihm und dem Gesetz machte sie unbestechlich und verantwortungsbewusst.
Eines Tages aber hatte Lincoln Donovan genug. Er wollte keinen Colt mehr tragen, nicht mehr auf Männer schießen – und nicht mehr töten. Er nahm seinen Abschied und baute diese Ranch auf.
Jim Ward aber blieb US Deputy Marshal.
Und jetzt ist er tot.
Lincoln wird sich in diesen Sekunden darüber klar, dass Jim, wenn er an Lincs Stelle wäre, alles aufgeben und sich auf ein Pferd setzen würde, um den oder die Mörder zu suchen.
Ja, das würde Jim tun.
Lincoln Donovan denkt auch an das ungeschriebene Gesetz aller US Marshals. Es ist ein Gesetz, auf das sie nicht vereidigt wurden – das aber dennoch besteht.
Noch niemals blieb der Mord an einem US Marshal ungesühnt!
Immer wurden die Mörder überführt und dem Gesetz übergeben.
Colonel Grant bewegt sich neben dem brütenden Mann.
»Linc«, murmelt er, »ich will nicht, dass du ausreitest, um Jim zu rächen. Ich will, dass du das Gesetz nach Opal bringst. Das ist deine Aufgabe. Dabei wirst du natürlich auf Jims Mörder stoßen. Aber nicht Rache, sondern der Auftrag des Gesetzes soll dich leiten. Hast du mich verstanden?«
Linc gibt noch keine Antwort. Sein Blick schweift in die Runde. Es ist schon dunkel geworden. Im Schlafhaus brennt eine Lampe. Auch aus dem Küchenhaus fällt Licht. Die Schatten der Cowboys bewegen sich manchmal drüben auf der Bank.
Dann tritt der Chinese aus der Küchentür heraus und ruft mit seiner Fistelstimme: »Essen feltig! Alle Leitel essen kommen! Viel gutes Essen heute!«
Die Schatten der Cowboys bewegen sich, Sporen klirren. Die Männer erscheinen nacheinander im Lichtstreifen und verschwinden im Speiseraum.
Linc beugt sich vor, legt seine Unterarme auf die Knie und knetet seine Hände.
»Jack«, sagt er heiser, »wenn ich nach Opal gehe, dann werde ich wieder töten müssen. Ich werde auf Russ Rockstone, Peak Denver, Hack Stage und Flush Sands stoßen – und sicherlich auch noch auf andere Burschen, die mich genau kennen, die mich hassen, weil ich sie damals aus anderen Städten gejagt habe – und die mich töten wollen. Ich werde wieder töten müssen, um am Leben bleiben zu können. Das ist schwer. Auch mit einem Stern an der Weste ist es schwer, an die Rechtlichkeit der eigenen Taten zu glauben. Das eigene Gewissen setzt einem zu. Man fragt sich lange Nächte lang ständig, ob man richtig gehandelt hat – oder ob man nur ein blutiger Mörder ist. Man fragt sich, ob man das Recht dazu hat, Menschen wie Raubwild zu jagen. Jack, ich habe meine beiden Colts in eine Schublade gelegt. Und ich habe Angst, sie wieder hervorzuholen. Dann geht alles wieder los. Jack, wenn ich jetzt nein sage, was wirst du dann tun? Wen wirst du dann nach Opal schicken?«
Jack Grants Stimme klingt ruhig: »Als du den Stern ablegtest, Linc, war Jim Ward mein bester Mann«, murmelte er. »Ich schickte ihn nach Opal, und er schaffte es nicht, sich dort zu behaupten. Meine anderen Jungs sind nicht so gut. Sie sind nicht gut genug für die raue Bande dort. Überdies habe ich keinen Mann mehr zur Verfügung. Alle sind irgendwo eingesetzt. Ich bin knapp an Leuten, denn du weißt ja, dass ich nicht jeden nehme. Linc, wenn du nicht reitest, dann muss ich selbst nach Opal. Ich kann es nicht verantworten, einen meiner Jungs hinzuschicken, denn sie sind diesen Tigern in Opal ganz einfach nicht gewachsen. Ich würde sie in den Tod schicken. Nun, ich bin ein alter Tiger. Vielleicht schaffe ich es noch einmal.«
Lincoln Donovan atmet langsam aus.
Dann sagt er bitter: »Nun gut, Jack, du hast gewonnen. Ich gehe nach Opal. Aber ich schwöre dir jetzt schon, dass es die letzte Stadt sein wird, die ich bändige und der ich das Gesetz bringe. Komm nie mehr wieder zu mir, Jack. Es ist die letzte Stadt!«
»Yeah«, sagt Jack Grant rau und erhebt sich. Er greift in die Tasche und holt ein kleines Päckchen heraus. Er drückt es Linc in die Hand und murmelt: »Hier! Das ist die Plakette – und die neue Bestallung. Du bist wieder Captain Lincoln Donovan. Dein Eid gilt wieder. Wenn du es nicht schaffen kannst, dann wird der Gouverneur in Opal den Ausnahmezustand verhängen und ein Kommando der Armee in der Stadt stationieren. Viel Glück, Linc.«
Der erhebt sich langsam.
»All right, Jack! Danke! Geh nur zum Abendbrot. Ich komme später.«
Er geht um den alten Kämpen herum und in sein Ranchhaus hinein.
Es sind zwei alte, schwere Waffen, die er aus dem Schubfach nimmt. Ihre einfachen Walnussholzkolben sind abgegriffen.
Er legt sich den Gürtel um. Die Holster hängen tief unter den Hüften. Er tritt wieder vor den Spiegel, öffnet das kleine Päckchen und holt die Plakette eines US Marshals hervor. Er steckt sie sich an die gelbe Lederweste und sieht sich wieder im Spiegel an.
»Zum Teufel«, sagt er. »So oder so wird es meine letzte Stadt sein.«
✰✰✰
Lincoln Donovan benutzt die Überlandpost. Die ständig rollenden Postkutschen, die unterwegs immer wieder ihre Gespanne wechseln, bringen ihn in den nächsten achtundvierzig Stunden genau dreihundertsechzig Meilen weit nach Nordwesten.
Am Abend hält die Postkutsche vor der letzten Pferdewechselstation. »Zwanzig Meilen noch bis Opal!«, ruft der Fahrer und schwingt sich vom Bock. »Zehn Minuten Aufenthalt für einen Drink und ein frisches Gespann!«
Die Fahrgäste klettern steif aus der Kutsche. Die Fahrt durch das Sweet Water River Valley war heiß. Der Berufsspieler in seiner dunklen Tracht, der Whiskyreisende, das Saloonmädchen und die Farmerfrauen – alle verschwinden sie in der Station, die zugleich Handelsstore, Hotel, Schänke und Restaurant ist.
Lincoln Donovan folgt ihnen langsam.
Drinnen in der Wirtschaft stehen die Reisenden um ein kaltes Büfett herum, kauen belegte Brote und trinken Kaffee oder Whisky. Ein junges, hässliches, mageres und verbittert wirkendes Mädchen bedient sie schweigsam.
Linc stellt sich ruhig ans Tischende und wartet. Als das Mädchen ihn ansieht, greift er höflich an die Hutkrempe und fragt: »Madam, könnte ich ein richtiges Abendbrot bekommen, vielleicht ein Steak oder sonst etwas Handfestes?«
Die blassblauen Augen des Mädchens betrachten ihn erstaunt. Wahrscheinlich hat hier noch nie ein Mensch so höflich zu ihr gesprochen. Sie ist genau das, was man als »Hässliches Entlein« bezeichnet, und ihr Leben hier auf dieser einsamen Station ist bestimmt hart und bitter.
»Die Kutsche fährt in fünf Minuten wieder ab, Mister«, sagt sie zögernd. »In dieser kurzen Zeit kann ich nicht ...«
»Oh, ich bleibe hier, wenn ich hier ein Pferd kaufen kann«, unterbricht Linc sie sanft.
»Das wird gehen«, murmelt sie und starrt ihn seltsam an.
Linc geht hinaus zur Kutsche und holt seinen Sattel vom Dach herunter.
»Nanu?«, fragt der Kutscher, der mit dem Stationsagent dort steht.
»Ich bleibe hier«, sagt Linc und sieht den Stationsagent an – ein starker, massiger Mann mit einem runden Schädel und einem Vollbart. Seine kleinen Augen funkeln seltsam im Schein der Laterne.
Er nickt, sieht Linc fest an und sagt: »Sicher. Dies ist ein Unterkunftshaus. Und da Sie einen Sattel bei sich haben, werden Sie wohl auch ein Pferd kaufen wollen. Auch das können Sie hier bekommen.«
Er geht ins Haus hinein. Der Fahrer klettert auf den Bock, knallt mit der Peitsche und ruft: »Es geht weiter! Es geht weiter! Kommt heraus, bevor ich abfahre!«
Die Fahrgäste eilen herbei, klettern in die Kutsche. Der Schlag knallt zu. Der Stallhelfer lässt die beiden Führungstiere los, und die Kutsche fährt in die Nacht hinein.
Linc geht in den Stall. Dort brennt eine Laterne. In den Boxen stehen Pferde. Der Stallmann deutet auf die linke Seite.
»Suchen Sie sich einen Gaul aus. Jeder dieser Böcke kostet fünfzig Dollar.«
Linc tritt in die erste Box und legt dem Tier den Sattel auf. Es ist ein brauner Wallach. Linc weiß, dass auch die anderen Pferde nicht besser, aber auch nicht schlechter sind. Er will nur unbemerkt in die Stadt kommen und ist deshalb nicht sehr wählerisch.
Er ist bald mit dem Pferd fertig. Er führt das Tier hinaus und bis zur Haltestange vor dem Stationshaus. Bevor er eintritt, lauscht und wittert er nochmals in die Runde.
In der Ferne hört er noch das Rollen der Kutsche. Sie arbeitet sich zu einem Pass hinauf, hinter dem die Stadt Opal liegen soll.
Und in der näheren Umgebung ist nichts – gar nichts.
Lincoln atmet langsam aus. Seine wachsame Bereitschaft lässt nun etwas nach. Er tritt vom Pferd weg und öffnet die Tür. Der Raum ist leer, aber durch die offene Tür hört er das Mädchen in der Küche hantieren. Er hört sein Steak in der Pfanne braten, und er verspürt Hunger in sich und Müdigkeit in den Gliedern. Aber er darf hier nicht übernachten. Die Postkutsche wird noch vor Mitternacht in Opal sein. Und da Linc Russ Rockstone und Peak Denver genau kennt, rechnet er auch damit, dass der Postkutscher von ihnen für gewisse Tipps Geld bekommt. Und da Jim Ward tot ist, erwartet man in Opal sicherlich einen neuen US Marshal. Es ist anzunehmen, dass der Postfahrer in der Stadt von jenem hart aussehenden Fremden erzählt, der hier ausstieg. Und wenn Russ Rockstone sich dann eine Beschreibung des Fremden geben lässt, dann wird er etwas unternehmen.
Linc muss also sofort nach dem Abendbrot losreiten und in die Stadt kommen, bevor Russ Rockstone nach ihm suchen lässt.
In der Küche klirrt Geschirr. Das Mädchen schürt auch den Ofen.
Wahrscheinlich sind die Geräusche daran schuld, dass Lincoln Donovan etwas anderes überhört.
Denn plötzlich reißt ihn ein Alarmsignal, das wie ein Schmerz durch seinen Körper zuckt, aus seiner brütenden Nachdenklichkeit. Er hebt den Kopf.
Und da sieht er den grinsenden Mann hinter dem Schanktisch. Nur der Oberkörper und der Doppellauf einer Schrotflinte sind zu sehen. Und der Mann sagt grinsend: »Willkommen, Linc Donovan! Russ Rockstone ist schlau. Er hat sich ausgerechnet, dass du nicht bis Opal fahren würdest. Wir warten schon drei Tage hier auf dich. Und wir wussten, dass du kommen würdest, weil Jim Ward dein Freund war.«
Das sagt der grinsende Bursche.
Linc kennt ihn. Das ist Peak Denvers jüngerer Bruder Chip. Damals in Abilene war Chip Denver noch eine kleine Giftkröte von knapp achtzehn Jahren. Heute ist er zweiundzwanzig und inzwischen zu einem Wolf herangewachsen. Dann und wann hat Linc in den letzten zwei Jahren etwas von Chip Denver gehört.
Er erhebt sich langsam.
Chip Denvers Stimme wird sofort schrill.
»Keine Bewegung, Donovan! Du siehst, dass ich eine Schrotflinte habe!«
»Yeah«, murmelt Linc. Er steht nun aufrecht und sieht den Burschen an. Chip Denver ist klein und drahtig. Er hat schwarze, dreieckig wirkende Augen. Sein blauschwarzer Haarwuchs bildet über seiner niedrigen Stirn eine seltsame Spitze, die fast bis zur Nasenwurzel reicht. Er hat ein dreieckiges Gesicht mit einem spitzen Kinn.
Linc starrt den Burschen zwingend an.
»Junge«, sagt er ruhig, »ist das die Schrotflinte, mit der du Jim Ward getötet hast?«
Der Bursche gibt keine Antwort, aber er beginnt zu grinsen, voll böser Freude und Furcht zugleich. Er schluckt mühsam. Und das ist für Lincoln Donovan auch ohne Worte eine deutliche Antwort.
»Chip«, sagt er bitter, »dein Bruder und Russ Rockstone lassen dich also die schmutzige Arbeit verrichten. Sie wollen eines Tages nicht für einen Mord an einem US Marshal hängen. Du wirst es sein, du Narr.«
Eine kleine Seitentür öffnet sich, und der Stationsagent und sein Gehilfe treten ein – wortlos und voll düsterer Entschlossenheit. Sie sehen Linc an, atmen einige Male tief ein, und dann sagt der Agent mit schwerer Stimme: »Ich dachte mir gleich, dass er es ist. Zum Teufel, Donovan, warum mussten Sie hier die Kutsche verlassen?«
Linc sieht den Mann fast mitleidig an. »Mister«, sagt er, »Russ Rockstone ist wohl sehr mächtig, was?«
Der Stationsagent nickt fast stumpfsinnig.
»Yeah«, sagt er schwerfällig, »Rockstone ist mächtig. Wir alle arbeiten für ihn. Und wir tun, was er uns aufträgt.«
Chip Denver stößt jetzt ein heiseres Lachen aus. Aber es klingt nicht wie ein Lachen – es ist der Laut eines Mannes, der sich Mut macht und den Anschein erwecken will, er wäre den kommenden Dingen gewachsen und könnte sie auf überlegene Art beherrschen und unter Kontrolle behalten.
Aber es ist ganz klar. Dem Banditen hinter dem Schanktisch sitzt die Furcht in den Knochen. Chip Denver ist sich sehr genau darüber klar, dass er dem großen, harten Lincoln Donovan gegenübersteht. Und vielleicht hat er auch wirklich das Gefühl, dass er nicht groß genug für diese Sache sein könnte. Trotz der Schrotflinte.
Er sagt plötzlich schrill: »Los, Phil! Hol dir seine Colts! Vorwärts, Phil!«
Der große, knochige Stationsgehilfe bewegt sich langsam. Er biegt nach rechts aus, schiebt sich an der Wand entlang und kommt so hinter Linc.
Der sieht über die Entfernung hinweg in Chip Denvers Augen. Er erkennt dort das unruhige Flackern, und er weiß, dass Chip Denver abdrücken wird, wenn er sich jetzt auch nur leicht bewegt. Denver würde bestimmt abdrücken, auch dann, wenn sich der Stationsgehilfe in der Schusslinie befinden würde.