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Drei der Fremden sind in der Bank verschwunden - und der Vierte steht bei den Pferden, dreht sich eine Zigarette und beobachtet mit deutlich erkennbarer Aufmerksamkeit die Umgebung. Das genügt für Town Marshal Jim Callaghan. Er überquert schnell den Platz und sieht, wie der kleine, schiefrückige Bursche, der bei den Pferden steht, seine Zigarette achtlos fallen lässt und den geöffneten Mantel zurückschlägt. Er erkennt, dass der Mann unter dem Mantel zwei Colts in Schulterholstern trägt. Er sieht ihn grinsen, und als er bis auf zwanzig Schritte heran ist, hört er ihn heiser rufen: »Bleib stehen, Langer! Bleib nur stehen! Jim Callaghan bleibt auch stehen, aber da sagt der kleine Bursche giftig: »Lass jetzt den Waffengurt fallen. Sonst zerschieße ich dir den Blechstern, Langer!« Callaghan weiß nun genau Bescheid. Er zieht den Colt. Er zieht ihn so schnell, dass sein großer Bruder Jesse, der ihm dieses Ziehen beigebracht hat, sehr zufrieden gewesen wäre. Aber der kleine Bandit ist um einen winzigen Sekundenbruchteil schneller. Ihre Schüsse krachen dicht aufeinander. Jim Callaghan spürt nur noch einen Schmerz in der Brust und fällt auf die Knie ...
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Seitenzahl: 154
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Callaghan
Vorschau
Impressum
Callaghan
Drei der Fremden sind in der Bank verschwunden – und der Vierte steht bei den Pferden, dreht sich eine Zigarette und beobachtet mit deutlich erkennbarer Aufmerksamkeit die Umgebung.
Das genügt für Town Marshal Jim Callaghan.
Er überquert schnell den Platz und sieht, wie der kleine, schiefrückige Bursche, der bei den Pferden steht, seine Zigarette achtlos fallen lässt und den geöffneten Mantel zurückschlägt. Er erkennt, dass der Mann unter dem Mantel zwei Colts in Schulterholstern trägt. Er sieht ihn grinsen, und als er bis auf zwanzig Schritte heran ist, hört er ihn heiser rufen: »Bleib stehen, Langer! Bleib nur stehen!«
Jim Callaghan bleibt auch stehen, aber da sagt der kleine Bursche giftig: »Lass jetzt den Waffengurt fallen. Sonst zerschieße ich dir den Blechstern, Langer!«
Callaghan weiß nun genau Bescheid. Er zieht den Colt. Er zieht ihn so schnell, dass sein großer Bruder Jesse, der ihm dieses Ziehen beigebracht hat, sehr zufrieden gewesen wäre. Aber der kleine Bandit ist um einen winzigen Sekundenbruchteil schneller. Ihre Schüsse krachen dicht aufeinander.
Jim Callaghan spürt nur noch einen Schmerz in der Brust und fällt auf die Knie ...
Als die Schüsse krachen, wird es in der Stadt natürlich lebendig. Aber Jorge Earp ist trotz seiner Verwundung, die ihm Jim Callaghan zufügte, noch sehr lebendig. Er beginnt jetzt, aus beiden Colts zu schießen – und er sorgt dafür, dass in der näheren Umgebung niemand einen Kopf oder gar einen Flintenlauf aus dem Fenster steckt und dass auch die Haustüren geschlossen bleiben.
Auch in der Bank wird jetzt geschossen. Und dann kommen die drei anderen Gentlemen mit einigen gefüllten Leinenbeuteln heraus. Sie werfen sich geschmeidig auf die Pferde und reiten an. Nur Jorge Earp zieht sich mühsam in den Sattel und keucht dabei: »Dieser verdammte Marshal! He, ich habe eine Kugel in der Schulter. Dieser Junge konnte schnell ziehen.«
Hay Haynes hört es, indes er auf einem tanzenden Tier darauf wartet, dass Jorge Earp endlich anreitet. Auch er flucht bitter, denn er weiß genauso gut wie Jorge Earp, wie höllisch es für diesen unterwegs werden wird.
Aber als Jorge dann anreitet und dabei sogar noch seine letzte Kugel in die Scheibe des Barbiersalons schießt, ruft er heiser: »Ich werde es schon schaffen, Hay! Ich bin hart genug!«
Und dann erreichen sie auch schon schießend die letzten Häuser der Stadt. Sie reiten den Weg zurück, den sie kamen. Einige Kugeln folgen ihnen. Hinter ihnen laufen die Menschen aus den Häusern zusammen.
Die ganze Sache ging sehr schnell vonstatten. Aber jetzt ist North Pass aufgewacht. Und weil hier ein ziemlich hartbeiniges und wehrhaftes Geschlecht wohnt, ist es sicher, dass in zehn Minuten ein starkes Aufgebot den Bankräubern folgen wird.
Nur der alte, verwitterte Postfahrer ruft bitter in die Gegend: »Ihr werdet sie nicht erwischen! Ihr bekommt sie nicht! Sie reiten nämlich mitten in einen Schneesturm hinein, der losbrechen wird, bevor sie die Wasserscheide des Passes erreichen! Eure Gäule werden bis zu den Bäuchen im Schnee stecken, während die Banditen noch gut durchkommen können!«
Aber niemand hört in diesen Minuten auf den alten Sam.
Als aber dann das Aufgebot losjagt und wenige Minuten später der Schneesturm vom Pass herunterheult, erinnern sich viele an seine Worte.
✰✰✰
US Marshal Jesse Callaghan kommt an diesem Tag nicht etwa zufällig nach North Pass. Er hat zumindest zwei Gründe dafür. Der Hauptgrund ist die Horseshoe-Bande, wie man die vier wenig ehrenwerten Gentlemen nennt, die vor einer knappen Stunde die Bank überfallen haben.
Es ist natürlich Zufall, dass Jesse Callaghan gerade jetzt eintrifft. Es ist ein Spiel des Schicksals, das ja immer wieder einmal solche tödlichen Scherze macht. Wenn Jesse Callaghan vielleicht eine gute Stunde früher gekommen wäre, würde sein Bruder Jim noch leben, denn der Captain – das ist sein Rang als Marshal der Vereinigten Staaten – ist schon einige Monate hinter der Bande her. Er hätte die vier Burschen sofort erkannt und gemeinsam mit seinem Bruder das Richtige getan.
Er kommt also zu spät.
Die Gründe seines Auftauchens liegen auf der Hand. Erstens: Er hat erfahren, dass die Horseshoe-Bande in diesem County gesehen wurde. Zweitens: Er möchte einmal seinen Bruder besuchen, der hier Town Marshal ist.
Er kommt mitten im Schneesturm in die kleine Stadt – ein großer, vermummter Mann auf einem riesigen Pferd. Sie sind mit Schnee bedeckt, der an ihnen zu einem Eispanzer geworden ist. Sie tauchen aus der weißen Hölle auf und finden auf fast wunderbare Weise ihren Weg. Dann befinden sie sich plötzlich in einem wilden Durcheinander von Reitern, die von der anderen Richtung kommen und nach links abbiegen. Gemeinsam erreichen sie das große Tor des Mietstalles, sitzen ab und führen ihre Tiere nacheinander hinein.
Jesse Callaghan hört bald aus den Flüchen der anderen Männer, dass sie zu einem Aufgebot gehören, das auf halber Passhöhe umgekehrt ist, weil es nicht närrisch genug war, wegen vier Bankräubern mitten in einen ausgewachsenen Blizzard zu reiten.
Jesse Callaghan hat seinen riesigen Rappen in eine leere Box geführt. Er hat sich seines Mantels entledigt und versorgt nun das zottige Tier. Der Stallmann taucht plötzlich bei ihm auf, sieht ihn im Halbdunkel forschend an und sagt dann: »Sie sind doch ein Fremder, nicht wahr? Sie gehören nicht zu dem Aufgebot?«
Es wird still im Raum, soweit es sich um die Menschen handelt. Nur die Pferde schnauben und stampfen immer noch. Sie sind sehr zufrieden, dass sie wieder im warmen Stall stehen.
Da aber der Stallmann seine letzten Worte laut rief, verharren die anderen Männer und lauschen gespannt.
»Yeah, ich bin fremd hier«, sagt Jesse Callaghan.
»Und was führt Sie in unsere Stadt, Fremder?«
»Ich will meinen Bruder besuchen – Jim Callaghan«, erwidert Jesses ruhige Stimme. Es ist eine seltsame Stimme. Sie ist sanft und freundlich – aber irgendwie doch zwingend und hart. Zuerst hört man nur die Sanftheit dieser Stimme, dann aber spürt man den stählernen Klang, der mitschwingt.
Es ist natürlich ein Zufall, dass jetzt sogar die vielen Pferde im Stall für einige Sekunden vollkommen still sind – aber es wirkt so, als wären sogar die Tiere davon beeindruckt, dass Jim Callaghans großer Bruder gekommen ist.
Dann keucht eine Männerstimme heiser: »Heiliger Vater!«
Der Stallmann aber tritt näher, beugt sich vor, damit er Jesse Callaghans Gesicht besser erkennen kann und sagt: »Captain, Ihr Bruder wurde vor einer guten Stunde von Bankräubern getötet. Diese Männer hier nahmen die Verfolgung auf. Aber des Schneesturms wegen kehrten sie um. Sie wären oben im Pass im Schnee stecken geblieben. Die Bankräuber hatten jedoch genügend Vorsprung, sodass sie es vielleicht geschafft haben, bevor die Schneemassen ihnen den Weg versperrten.«
Als der Stallmann verstummt, beobachtet er das dunkle, Gesicht des Staatenmarshals. Es ist ein unregelmäßiges Gesicht. Irgendwann einmal wurde das Nasenbein gebrochen. Es sind einige Narben am Kinn und an den Wangen vorhanden. Die grauen Augen stehen weit auseinander. Das kräftige Kinn ist von einer tiefen Kerbe geteilt. Der Mund ist breit und sehr männlich. Er verrät etwas von der Vitalität dieses Mannes. Jesse Callaghan wirkt hart und stählern – aber es ist keine böse Härte.
Seine rauchgrauen Augen öffnen sich einen Moment weit – und es glitzert seltsam in ihnen. Sein Mund wird so schmal wie die scharfe Narbe eines Messerschnittes. Er atmet gepresst aus der Nase, und deren Flügel blähen sich.
Sonst ist nichts an ihm zu erkennen.
Dann wendet er sich um, und er kümmert sich überhaupt nicht um die anderen Männer, die sich jetzt vor der Box versammelt haben. Jemand hat eine Laterne mitgebracht und hält sie hoch über den Kopf, sodass jetzt mehr Helligkeit herrscht.
Jesse Callaghan nimmt den Sattel von der Stange. Der Sattel ist noch nass. Kleine Eiskrusten zergehen in der Wärme des Stalles.
Er wirft diesen Sattel wieder auf den Rücken seines zottigen Riesenrappens, bückt sich, zieht den Bauchgurt an und richtet sich wieder auf. Die Männer rings um ihn scheinen nicht vorhanden zu sein. Er beachtet sie gar nicht mehr, sondern sagt zu dem schnaubenden Tier: »Captain, jetzt musst du kämpfen! Wir müssen erst einmal diesen Blizzard besiegen! Aber du wirst es schaffen, nicht wahr? Von einer Million Pferden bist du der einzige Bursche, der das schaffen kann.«
Er zieht sich den Mantel wieder an, den er über die Stange gelegt hatte. Er bindet sein Bündel wieder hinter dem Sattel fest und holt dann aus der Satteltasche eine Hülle hervor, in die er seinen Winchester-Karabiner schiebt, bevor er diesen ins Sattelfutteral steckt. Er nimmt sein Halstuch und bindet es wie das Kopftuch einer Frau über seinen Hut und verknotet es unter dem Kinn.
Dann sieht er die Männer an, die sich nicht bewegen, sondern ihn nur staunend anstarren.
»Wie viele Bankräuber waren es?«, fragt er sanft.
»Vier«, krächzt der Stallmann bitter.
»Wie viel haben sie aus der Bank geraubt?«
»Fast vierzigtausend Dollar! Fast die Hälfte in Goldstücken. Das ist schweres Gepäck, Captain!«
Jesse Callaghan nickt.
»Wenn ihr meinen Bruder beerdigt«, murmelt er, »so legt ihm seinen Sattel mit ins Grab. Er besitzt doch noch den silberbeschlagenen Sattel, nicht wahr?«
»Yeah«, sagt der Stallmann heiser.
»Legt ihm also den Sattel mit ins Grab. Ich komme wieder, wenn ich die Bande erwischt habe.«
Er zieht sein Pferd aus der Box heraus. Die Männer weichen zurück und verstopfen zu beiden Seiten den Stallgang.
Der Stallmann ruft fast verzweifelt: »Aber Sie können doch nicht in diesem Höllenblizzard ...«
»Die Banditen haben sich ja wohl auch eine Chance ausgerechnet«, unterbricht ihn Callaghan trocken. »Ich bin so hart wie sie auch – und mein Pferd ist besser. Lasst mich hinaus!«
Die letzten drei Worte sind schärfer. Die Männer weichen rechts und links in die Boxen zurück. Der Stallmann und zwei andere eilen zum Tor und drücken es auf.
Callaghan steigt in den Sattel. Bevor er in den Schneesturm reitet, tritt ein Mann zu ihm und reicht ihm eine Whiskyflasche hinauf.
»Vielleicht werden Sie das nötig haben, Callaghan.«
Der starrt die Flasche an. Dann nimmt er sie und lässt sie in der Innentasche seines weiten und dicken Schaffellmantels verschwinden.
Dann reitet er in den Blaueisblizzard hinaus.
Der Wind schmettert das Tor zu.
Die Männer sehen sich an.
»Mein Gott«, sagt einer, »das war Jesse Callaghan! Und ich habe immer geglaubt, die vielen Legenden über ihn sind Übertreibungen.«
»Aber auch er wird es nicht schaffen«, sagt ein anderer Mann. »Wir hätten ihn mit Gewalt zurückhalten sollen.«
»Kannst du einen Kugelblitz festhalten?«, fragt eine Stimme aus dem Hintergrund. »Das war Jesse Callaghan. Und wir sollten ihn für schlau genug halten, dass er sich seine Chancen selbst ausrechnen kann.«
✰✰✰
Indes reitet Callaghan durch den Ort. Aber es ist so dunkel wie im Bauch eines Büffels. Der Schneesturm brüllt und heult, wirft sich mit Macht gegen den riesenhaften Wallach und den zusammengekrümmten Reiter. Das Tier stapft durch den Schnee. Es hat die Ohren fest angelegt und den Kopf tief zum Boden gesenkt. So trägt es den Reiter aus der kleinen Stadt mitten in die Hölle hinein.
Sie sind nach wenigen Sekunden mit Schnee bedeckt, der an ihnen zu Eiskrusten wird. Callaghan sieht nichts – und selbst sein Gehör wird bald gegen das wütende Heulen und Pfeifen taub.
Er sitzt nur regungslos und zusammengekrümmt im Sattel und vertraut darauf, dass ihn der wunderbare Instinkt des mächtigen Wallachs zum Pass hinaufbringt.
So beginnt der Kampf.
Ein Kämpfer, über den es schon viele Legenden gibt, und ein Kampfpferd, das unter seinen Artgenossen ebenso ungewöhnlich ist wie sein Herr unter den Männern.
Sie wollen den Blizzard bezwingen und am Leben bleiben.
Vielleicht schaffen sie es.
Denn sie sind Jesse Callaghan und sein riesiger Rappwallach Captain.
✰✰✰
Als sie die Wasserscheide des Passes überqueren, fällt Jorge Earp plötzlich aus dem Sattel. Die anderen sehen es nicht, aber weil Earps Pferd plötzlich anhält und alle vier Pferde durch Lassos miteinander verbunden sind, spürt Jack Haynes den Ruck und reißt auch sein Tier zurück. Vorne hält nun auch Hay Haynes an – und hinten prallte Lee Britt auf Earps reiterloses Pferd.
Sie halten im Schutz einer Felsnase. Lee Britt gleitet aus dem Sattel. Der Schnee reicht ihm bis zu den Schenkeln. Jack Haynes kommt ihm zu Hilfe. Nach einer kleinen Weile finden sie Jorge Earp, den der Wind schon zugeweht hat.
Sie versuchen erst gar nicht, sich durch Brüllen zu verständigen. Hay Haynes, der im Sattel geblieben ist, nimmt den Bewusstlosen in die Arme. Die anderen sitzen wieder auf. Dann reiten sie weiter. Sie haben das Schlimmste schon hinter sich. Hay hat richtig kalkuliert. Der Blizzard ist nicht früher und auch nicht später losgebrochen, als Hay Haynes es sich ausgerechnet hat.
Sie sind noch rechtzeitig über den Pass gekommen. Wenige Minuten später hätten sie es wahrscheinlich nicht mehr geschafft.
Natürlich bedeutet auch für sie dieser Ritt eine Hölle. Aber die Horseshoe-Bande ist hart und zäh. Sie kämpfen sich mit dem bewusstlosen Earp immer tiefer hinunter, verlassen sich auf den Instinkt der Pferde – und erreichen endlich, als sie schon glauben, es nicht mehr aushalten zu können, den schützenden Waldgürtel. Sie arbeiten sich noch tiefer und gelangen zu einer Schlucht, die schräg abwärts führt.
Hier ist es besser. Sie können wieder sehen. Der eisige Wind trifft sie nicht mehr so schneidend.
Sie halten an, trinken aus einer Flasche und sehen sich dann Earp an, der immer noch wie eine Puppe in Haynes' Armen liegt.
»Ich wette, er wiegt nicht mehr als hundert Pfund«, krächzt Hay Haynes und sieht zu, wie sein Bruder sich herüberbeugt und den kleinen Revolvermann untersucht.
Das Blut unter dem Mantel ist zu einer dunklen Eisschicht gefroren.
»Zum Teufel«, knurrt Jack Haynes, »wir müssen die alte Trapperhütte aufsuchen, die wir auf dem Herweg sahen. Wenn wir nur mit Sicherheit wüssten, dass keine Verfolger über den Pass kommen!«
»Das schafft keiner mehr«, krächzt Hay Haynes und reitet weiter.
✰✰✰
Lee Britt hat unter den mächtigen Bäumen eine Menge Äste und Holzstücke gesammelt. Obwohl der Schnee hier nicht so dicht fällt, stapft er bis zu den Knien darin herum. Es ist mächtig kalt.
Der Bandit bückt sich gerade, um eine Traglast auf seine Arme zu nehmen – da sieht er die Umrisse eines großen Tieres aus dem Schneevorhang kommen.
Zuerst denkt er, es würde sich um einen Elch handeln.
Aber dann sieht er den zusammengekrümmten Reiter auf dem Rücken des Tieres. Er begreift, dass es sich um ein riesiges Pferd und einen Reiter handelt.
Das kommt sehr überraschend für ihn. Er stößt einen wilden Schrei aus und zerrt die Handschuhe von seinen Fäusten. Es sind Fausthandschuhe. Britt kann damit nicht seinen Mantel aufknöpfen und auch nicht seine Colts ziehen. Dazu muss er seine Finger benutzen können.
Er hört das Pferd leise wiehern – wie ein heiseres Trompeten klingt es. Er sieht, indes er an den Handschuhen zerrt, wie sich der Reiter aufrichtet und sich zu bewegen beginnt. Er weiß, dass auch dieser Mann jetzt fieberhaft versucht, seine Waffe zu ziehen.
Er stößt wieder einen schrillen Schrei aus, der seine Kumpane in der Hütte warnen soll. Inzwischen hat er seine Rechte vom Handschuh befreit. Er reißt den Mantel auf und den Colt aus dem Schulterholster. Aber als er abdrücken will, sieht er in ein Mündungsfeuer. Es ist merkwürdig blass. Dann spürt er den Schmerz im Kopf, und er fällt in den Schnee.
Jesse Callaghan aber klettert langsam und steif aus dem Sattel. Er muss sich an seinem Pferd festhalten, denn seine Beine sind gefühllos und versagen ihm den Dienst. Erst jetzt sieht er die Blockhütte und hört das Wiehern einiger Pferde, die das heisere Trompeten seines Wallachs beantworten.
Er kann erkennen, wie sich die Tür der Hütte öffnet. Im Innern leuchtet der rote Schein eines Kaminfeuers.
Jesse Callaghan beginnt, sofort zu schießen. Er hört einen wilden Schrei. Ein Mann taumelt ins Innere der Hütte zurück. Dann schließt sich die Tür wieder.
Der Marshal seufzt. Er hält sich am Pferd fest und bewegt seine Beine. Er dirigiert sein Pferd hinter einige Bäume, und er muss sich immer noch am Sattelgurt festhalten, weil er sonst stolpern und in den Schnee fallen würde.
Als er einigermaßen in Deckung ist, krachen aus den beiden kleinen Fenstern in der Hütte Schüsse.
Dann wird es still.
Eine heisere Stimme ruft: »Lee? He, Lee?«
Jesse Callaghan gibt keine Antwort. Er lehnt an einem Baum und stampft immer wieder die Füße auf den Boden. Er weiß nicht, wie er diese Hütte gefunden hat. Erschöpft und halb erfroren ist er wohl im Sattel eingenickt. Vielleicht wäre er wenig später vom Pferd gefallen und im tiefen Schnee überhaupt nicht mehr aufgewacht.
Das schrille, trompetenhafte Wiehern seines Rappen hat ihn aus der halben Besinnungslosigkeit noch einmal aufgeschreckt. Vielleicht hat das Tier den Rauch gewittert und ihn zu Menschen bringen wollen. Aber es hat ihn auch gewarnt.
Jesse Callaghan hat dann ganz instinktiv gehandelt. Eine drängende Stimme in ihm befahl ihm, möglichst schnell den Colt herauszuholen und zu schießen. Er hatte die Waffe in die Manteltasche geschoben. Das war sein Glück. Er hätte niemals den Mantel so schnell aufknöpfen können, die Waffe aus dem Holster holen und noch vor Lee Britt schießen können.
Jetzt wartet er.
Über eine Sache ist er sich vollkommen klar: Er muss in die Hütte hinein. Er muss Wärme bekommen.
Er klemmt seinen Colt unter die linke Achselhöhle und holt die Whiskyflasche hervor, die ihm der Mann im Mietstall mitgab. Sie ist schon fast leer. In seinem Innern brennt der scharfe Stoff wie Feuer. Er fühlt sich etwas besser, obwohl sein vor Frost aufgesprungener Mund nun zu schmerzen beginnt.
Er kniet langsam nieder und beginnt, mit der flachen Hand auf die Muskeln des hochgestellten Schenkels zu schlagen. Dann wiederholt er es mit dem anderen Bein. Er massiert heftig – und immer wieder lauscht er zur Hütte hinüber.
Er muss hinein.
✰✰✰
Als draußen der Schuss kracht, fahren die Haynes-Brüder zusammen.
»Vielleicht hat Lee auf ein Reh geschossen!«, ruft Jack und springt zur Tür.
Als er sie aufreißt, hört er Kugeln pfeifen. Eine Kugel fährt ihm wie ein Peitschenhieb über die Wange. Er springt brüllend zurück und wirft die Tür zu.
Sein Bruder reißt bereits den Fensterladen auf und sucht nach einem Ziel. Dabei ruft er nach Lee Britt. Er erhält keine Antwort und wendet sich an Jack.
»Dieser verdammte Schneefall – hast du etwas gesehen, Jack?«
»Ein riesiges Pferd – und eine große Gestalt. Was ist, Bruder, wenn er nicht allein ist? Was ist, wenn das Aufgebot doch den Pass bezwungen hat und dieser Bursche nur der Spitzenreiter ist? Vielleicht dauert es noch eine Weile, bis auch die anderen Reiter angelangt sind. Die Schüsse haben sie sicherlich gehört! Der Kerl dort draußen kann unmöglich allein sein! Welcher Narr würde uns angreifen, wenn er ganz allein ist? Hay, wir haben das Aufgebot auf den Pelz bekommen!«