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Im Corral wird ein riesenhafter Rappe von zwei Reitern in die Enge getrieben, und einer der Reiter wechselt von seinem Tier auf den Rappen über. Dann dauert es keine zehn Sekunden, und der Reiter fliegt durch die Luft, landet schwer und rollt sich mit letzter Kraft unter der Corralstange hindurch aus dem Corral. Hester Cumberland, die neben der Postkutsche geblieben ist, kann deutlich erkennen, wie die Vorderhufe des Rappen den Mann nur knapp verfehlen. Dann steht der Rappe still wie ein Denkmal. Hester tritt wie unter Zwang näher. Eine Stimme sagt bitter: »Hören Sie, Corbin, hier sind die härtesten Jungs auf hundert Meilen versammelt. Bisher haben wir alles geritten, was vier Beine hat. Aber das dort ist kein richtiges Pferd. Dieser schwarze Teufel sieht nur so aus. Verstehen Sie, Corbin?« Gemeint ist ein großer Mann mit einem dicken Bauch und einer dicke Uhrkette. Der Mann trägt einen großen Hut und einen mächtigen Schnurrbart. Und er hat einen dunklen, geschmeidigen Mexikaner und einen fahlblonden, hageren Burschen bei sich, der zwei Revolver im Kreuzgurt trägt ...
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Seitenzahl: 162
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Der Unbezwingbare
Vorschau
Impressum
DerUnbezwingbare
Im Corral wird ein riesenhafter Rappe von zwei Reitern in die Enge getrieben, und einer der Reiter wechselt von seinem Tier auf den Rappen über. Dann dauert es keine zehn Sekunden, und der Reiter fliegt durch die Luft, landet schwer und rollt sich mit letzter Kraft unter der Corralstange hindurch aus dem Corral.
Hester Cumberland, die neben der Postkutsche geblieben ist, kann deutlich erkennen, wie die Vorderhufe des Rappen den Mann nur knapp verfehlen. Dann steht der Rappe still wie ein Denkmal. Hester tritt wie unter Zwang näher.
Eine Stimme sagt bitter: »Hören Sie, Corbin, hier sind die härtesten Jungs auf hundert Meilen versammelt. Bisher haben wir alles geritten, was vier Beine hat. Aber das dort ist kein richtiges Pferd. Dieser schwarze Teufel sieht nur so aus. Verstehen Sie, Corbin?«
Gemeint ist ein großer Mann mit einem dicken Bauch und einer dicken Uhrkette. Der Mann trägt einen großen Hut und einen mächtigen Schnurrbart. Und er hat einen dunklen, geschmeidigen Mexikaner und einen fahlblonden, hageren Burschen bei sich, der zwei Revolver im Kreuzgurt trägt ...
Der Dicke, der mit Corbin angeredet wurde, sagt ruhig: »Natürlich ist Black Tigre ein richtiges Pferd, und ich behaupte ja auch, dass er von keinem Menschen dieser Welt geritten werden kann. Da steht es sogar zu lesen!«
Bei seinen Worten deutet der Mann auf ein Plakat, das an einen Corralpfosten genagelt ist.
Hester Cumberland liest die Worte:
Wer besiegt Black Tigre? Ich, James Corbin, behaupte, dass es auf dieser Welt keinen Reiter gibt, der Black Tigre besiegen kann, und nehme jede Wette an. Ich erkläre jeden Mann zum Sieger und zahle an ihn aus, wenn er länger als zwei Minuten auf Black Tigres Rücken bleibt.
James Corbin.
Als Hester Cumberland dies gelesen hat, weiß sie auch schon Bescheid. Denn dieser James Corbin ist nicht der einzige Mann, der mit einem unbezwingbaren Pferd durchs Land zieht, alle ehrgeizigen Reiter herausfordert und mit ihnen Wetten abschließt.
Und es gibt auf jeder Weide genügend verwegene und ehrgeizige Burschen, die ihr Glück nicht nur wegen des möglichen Geldgewinns versuchen und dabei nicht nur ihre Knochen und ihr Leben, sondern auch die Ersparnisse eines Jahres oder mehr riskieren.
Für jeden ehrgeizigen Cowboy ist ein wildes Pferd, an dem andere Männer versagten, eine Herausforderung.
Keiner der Männer hat das Mädchen bis jetzt bemerkt. Sie alle betrachten immer noch den Hengst. Hätte Hester Cumberland sich nur wenige Sekunden früher umgewandt und wäre davongegangen, so wäre ihr weiteres Leben wahrscheinlich in anderen Bahnen verlaufen.
Aber sie bleibt stehen und wartet noch, denn einer der Männer ruft jetzt mit grimmigem Frohlocken: »Jetzt wird es gleich anders, Corbin! Dort drüben kommt Dave Rannaghan, Mister! Dort kommt Rannaghan! Und der wird es Ihrem verdammten Knochenbrecher zeigen!«
Es liegt wirklich ein besonderer und frohlockender Klang in der Stimme des Sprechers. Nicht nur die Männer, sondern auch das Mädchen, James Corbin und seine beiden Gehilfen blicken interessiert herüber.
Ja, zwischen den Stallgebäuden taucht ein Reiter auf und kommt langsam um diesen Corral herumgeritten. Er trägt keinen Hut, und sein ziemlich langes Haar leuchtet so rot wie eine Flamme. Als er nahe genug ist, kann Hester erkennen, wie abgetragen seine Weidetracht ist. Nur die Stiefel, die Sporen und der am Sattelhorn hängende Hut sind neu und waren bestimmt sehr teuer.
Dave Rannaghan sitzt auf einem struppigen Schecken und wirft einen langen Blick in den Corral. Dann hat er ihn umritten und erreicht die Männergruppe. Er blickt vom Sattel aus über die Männer hinweg auf Hester und schenkt ihr plötzlich ein blitzendes Lächeln, wobei er wie selbstverständlich grüßend die Hand hebt.
Sie beißt sich ärgerlich auf die Unterlippe, zumal sich nun auch einige der Männer nach ihr umsehen. Sie möchte am liebsten fortgehen, aber sie bringt es nicht fertig.
Dave Rannaghan hat den Kopf gewendet und liest die Worte auf dem Plakat. Hester betrachtet ihn abschätzend und fragt sich, ob es auch dieser Mann mit dem Hengst versuchen wird. Die Art, wie sein Name gerufen wurde, lässt darauf schließen, dass man ihn für einen besonderen Mann hält.
Und das ist er wahrscheinlich auch. Hester Cumberland ist auf einer großen Ranch mitten unter harten Männern aufgewachsen. Sie versteht sich darauf, Männer zu beurteilen.
Als sie Dave Rannaghan so sorgfältig betrachtet, da spürt sie auch schon, dass sie selten einen so verwegen und kühn wirkenden Cowboy gesehen hat.
Und dann hört sie ihn fragen: »Ist das der Hengst?«
»Sicher!«, erwidert James Corbin grinsend. »Und er ist nicht zu reiten, Mister!«
Die Worte sind eine Herausforderung. Hester, die Dave Rannaghan immer noch beobachtet, erwartet jetzt, dass auf seinem Gesicht wieder jenes blitzende und verwegene Lächeln erscheint, mit dem er sie grüßte. Aber sie wird enttäuscht, Rannaghans Gesicht bleibt ausdruckslos und unbeweglich. Es ist ein regelmäßiges, klares und etwas hageres Gesicht, mit einigen Linien, festen Kanten und Winkeln darin, die Härte verraten. Seine Augen sind von einem dunklen Blau. Hester kann es deutlich erkennen. Seine geschmeidigen Hände liegen ruhig über dem Sattelhorn. Er hat sehr breite Handgelenke und trägt an der linken Seite einen alten Colt. Hinter dem Sattel ist ein kleines Bündel festgeschnallt, aus dem der Griff einer Bratpfanne ragt.
Und er sagt nach einer Weile fast sanft: »Es trifft sich gut, Mister, dass ich dreitausend Dollar bei mir habe. Wie ist Ihr Angebot, Corbin?«
»Ich halte jeden Einsatz.« Corbin grinst. »Und ich freue mich, dass endlich einmal ein Gentleman kommt, der mehr riskiert als zwei oder drei Cowboymonatslöhne.«
»Ich werde die dreitausend Dollar riskieren«, sagt Dave Rannaghans Stimme noch sanfter. »Und Sie müssen wissen, Corbin, dass ich für diese Summe drei volle Jahre als Vormann für Jorge Chishum geritten bin. Ich will ...«
»Sie haben die Chance, Ihr Vermögen zu verdoppeln«, unterbricht ihn James Corbin schnell, und in seiner Stimme ist ein besonderer Klang. In seinen Augen leuchtet es einen Moment gierig.
Der Mexikaner neben ihm betrachtet Dave Rannaghan aufmerksam und öffnet den Mund, als wollte er etwas sagen. Doch dann schluckt er nur hart, als würgte er etwas hinunter.
Der fahlblonde Bursche, der wie ein Revolvermann wirkt und sicherlich James Corbins Leibwächter ist, starrt Dave Rannaghan ausdruckslos an und richtet dann seinen Blick auf dessen alten Colt. Doch so ruhig, wie dieser Revolvermann äußerlich wirkt, ist er gewiss innerlich nicht, denn seine Nasenflügel vibrieren, als hätte er eine besondere Witterung bekommen.
Dave Rannaghan blickt wieder zu dem Hengst hinüber, der sich im Corral jetzt umdreht und herüberwittert, als hätte auch er eine besondere Witterung bekommen, genauso wie der feinnervige Revolvermann.
»Dreitausend Dollar sind viel Geld«, sagt Rannaghan schließlich. »Ich habe sie mir mühsam zusammengespart, gestern meinen Dienst gekündigt und bin jetzt unterwegs, um mir ein Stück Land zu suchen. Auch ein Cowboy hat manchmal Ehrgeiz und möchte eines Tages Rancher sein.«
»Sicher, sicher«, knurrt James Corbin ungeduldig. »Sie können nur verlieren oder gewinnen. Wenn Sie also Ihren Einsatz machen wollen, so halte ich die volle Summe dagegen. Aber ich sage Ihnen gleich, dass Sie verloren haben, wenn Sie nicht volle zwei Minuten im Sattel bleiben.«
Wieder betrachtet Dave Rannaghan den Hengst. Die Männer haben inzwischen rings um ihn einen Halbkreis gebildet und blicken zu ihm auf.
Jemand sagt: »Dave, wenn es einer schaffen kann, dann du. Und du brauchst ja auch nicht gleich deine ganzen Ersparnisse einzusetzen.«
»Ich muss sie einsetzen.« Dave Rannaghan grinst plötzlich, und nun ist auf seinem Gesicht der von Hester erwartete Ausdruck. Es ist das verwegene und kühne Lächeln eines Mannes, der an jedem Kampf Freude hat und für den eine solche Sache ein herrliches Spiel ist, ein richtiges Männerspiel.
»Ich muss sie einsetzen«, wiederholt er und blickt dabei James Corbin scharf an, »denn sonst würde Mister Corbin gewiss nicht Black Tigre dagegensetzen, nicht wahr?«
Corbin scheint erst gar nicht zu begreifen. Aber dann zuckt er leicht zusammen und schnaubt.
»Was ist das? Ich soll den Hengst gegen Ihre dreitausend Dollar setzen?«
»Richtig.« Rannaghan nickt ruhig. »Ihren Hengst gegen mein Geld. Sonst macht es mir keinen Spaß.«
James Corbin zögert und beginnt nachzudenken. Er wägt seine Chancen ab und rechnet auch nach. Der Hengst hat ihm während der letzten fünf Monate etwa elftausend Dollar an Wettgewinnen eingebracht und ist wilder und gemeiner als zuvor. Corbin könnte also noch durch hundert Städte ziehen und überall Geld verdienen.
Aber jetzt reizen ihn die dreitausend Dollar. Er könnte sie innerhalb zweier Minuten verdienen.
Aus diesem Gedanken heraus blickt er seinen mexikanischen Pferdepfleger an. Der erwidert seinen Blick aus schmalen Augen und schüttelt dann den Kopf.
Doch James Corbin ist sich immer noch nicht schlüssig. Er wendet sich nach seinem Revolvermann um, der lässig am Eckpfosten des Corrals lehnt. Und als sich die Blicke der beiden Männer begegnen, nickt der Revolvermann.
Das gibt für Corbin den Ausschlag.
Er wendet sich Dave Rannaghan zu und sagt: »All right!«
Nun aber handelt Hester Cumberland instinktiv und ganz aus ihrem Gefühl heraus. Sie tritt schnell vorwärts, tritt zwischen die Männer und ruft fest und klar: »Seien Sie doch kein Narr, Mister Rannaghan! Setzen Sie doch nicht wie ein Spieler Ihre ganzen Ersparnisse für eine kümmerliche Chance aufs Spiel. Das dürfen Sie doch nicht tun! Sie haben für den Anfang zu einer eigenen Ranch gespart! Wenn Sie ...«
Sie bricht fast erschrocken ab, denn jetzt erst wird ihr bewusst, wie impulsiv sie handelte.
Alle Männer betrachten sie und grinsen. Sie fühlt, wie ihr die Röte ins Gesicht schießt, und will sich abwenden, um davonzulaufen.
Abermals kann sie es nicht. Dave Rannaghan gleitet nämlich mit einer unwahrscheinlich leichten und geschmeidigen Bewegung aus dem Sattel und tritt neben sie.
»Lady, ich fühle mich sehr geehrt, dass Sie um mich besorgt sind. Aber Ihre Sorgen sind unnötig.«
Hester spürt den ernsten Klang seiner Stimme, und weil sie zu ihm aufblickt, kann sie auch den ernsten Ausdruck in seinen Augen erkennen. Sie hält ihn plötzlich nicht mehr für einen verwegenen und leichtsinnigen Draufgänger, sondern erkennt, dass dieser Mann ganz genau weiß, was er tut.
Auch wird ihr jetzt erst, wo er vor ihr steht, bewusst, wie groß er ist. Sie ist für ein Mädchen ziemlich groß, aber er überragt sie um einen ganzen Kopf.
»Also los!«, sagt James Corbin hinter ihnen drängend.
Rannaghan blickt zur Seite.
»Geben Sie der Lady Ihre Uhr, Corbin«, sagt er. »Sie wird die Zeit stoppen. Und sie wird auch meine dreitausend Dollar in Verwahrung nehmen. Nicht wahr, Madam, das werden Sie doch tun?«
Er blickt sie wieder an, und Hester bringt kein Wort hervor. Sie weiß kaum, dass sie nickt.
Erst als sie Brieftasche und Uhr in den Händen hält, erwacht sie wie aus einem Traum und sieht, wie sich Dave Rannaghan wieder in den Sattel schwingt.
Sie möchte gegen die ihr fast aufgezwungene Rolle protestieren, aber dann fällt ihr ein, dass sie Dave Rannaghan wenigstens zu einer fairen Chance verhelfen kann. Denn sie ist sich nicht sicher, ob James Corbin, wenn Dave Rannaghan genau zwei Minuten im Sattel bliebe, diese Zeit genau stoppen würde. Es geht ja um seinen Hengst und um dreitausend Dollar.
Sie beißt also die Zähne zusammen und wird ganz kühl und ruhig.
Obwohl sie die letzten fünf Jahre im Osten verbrachte, wo man ihr alles beibrachte, was eine wohlerzogene und reiche Lady ihres Vaters Auffassung nach wissen muss, ist sie ein echtes Kind des Westens und des Rinderlandes geblieben. Sie ist unter rauen Cowboys aufgewachsen und konnte reiten, bevor sie richtig laufen oder gar lesen und schreiben lernte.
Sie tritt ruhig an die Corralstangen, und die Männer bilden hinter ihr einen Halbkreis.
Corbin steht neben ihr und fragt ziemlich barsch: »Sind Sie Ihrer Aufgabe auch wirklich gewachsen, Miss?«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Mister«, sagt sie herb. »Mein Vater ist Big Brack Cumberland. Ich bin in diesem Land und inmitten einer Cowboymannschaft aufgewachsen. Als ich zur Welt kam, umkreisten wilde Indianer unsere Wagenburg.«
»All right«, knurrt Corbin nur.
Dann wird kein Wort mehr gesprochen, denn alle Augen beobachten jetzt Dave Rannaghan.
Jemand hat das Corralgatter geöffnet, Rannaghan und ein Reiter sind in den Corral geritten. Sie nehmen den wilden Hengst in die Mitte und zwängen ihn zwischen ihre Pferde. Das Tier steht auch still und vollkommen regungslos. Es hat schon mehr als hundert Mal gekämpft und weiß längst, dass es seine Chance erhält, wenn der Reiter auf seinem Rücken hockt.
Und so wartet Black Tigre.
Es ist ein herrliches Tier, sechzehn Hand hoch und makellos gewachsen. Nur ist sein Fell struppig, und überall sind Narben. Er ist ein Wildhengst.
Natürlich ist er gemein und tückisch, aber er kämpft ja immer wieder um seine Freiheit. Wer kann es ihm verdenken, wenn er in seiner Not immer schlimmer und wilder wird und jedes verzweifelte Mittel anwendet? Früher war er sicherlich nur stolz und wollte ungebändigt und unbezwungen bleiben. Er war ein König, der sich nicht unterwerfen wollte. Dann aber fiel er dem Geschäftemacher James Corbin in die Hände, und damit begann sein Leidensweg. Vielleicht wird er eines Tages zerbrochen und erledigt sein und nicht einmal mehr zum Karrengaul taugen.
Er wartet, und unter seinem struppigen Fell erschaudert er ständig. Er hat nie die Freundschaft von Menschen gekannt. Er ist von Anfang an verdorben worden und jetzt hasst er jeden Zweibeiner und hat sogar schon einige getötet.
Dave Rannaghan gleitet von seinem Pferd hinüber auf den Hengst. Er bekommt die Füße in den Steigbügel, setzt sich zurecht und ruft dann kurz: »Fertig!«
Auch der andere Reiter ist bereit. Er blockiert den Hengst immer noch und drängt ihn gegen Rannaghans nun reiterloses Tier.
Hester Cumberland starrt auf die Uhr und wartet, bis eine volle Minute angezeigt wird. Dann ruft sie scharf: »Los!«
Der Reiter stößt einen Schrei aus und reißt sein Pferd zur Seite. Black Tigre springt sofort von Rannaghans Tier weg, wirbelt herum und feuert kräftig aus. Aber Rannaghans Schecke war zu schnell und brachte sich mit einem gewandten Sprung in Sicherheit.
Der Kampf geht los.
Die Sekunden eilen.
Was Hester Cumberland sieht, ist wie eine Explosion. Sie kennt wilde Pferde und hat schon mehr als hundert Mal zugesehen, wie verwegene und harte Zureiter wilde Mustangs zuritten und einbrachen. Sie hat auch Pferde gekannt, an denen selbst die besten Zureiter versagten.
Was sie hier jedoch sieht, ist tatsächlich wie der Ausbruch einer Explosion. Black Tigre scheint in den Himmel springen zu wollen. Und mitten im Sprung wirbelt er herum und landet steifbeinig auf allen vier Hufen.
Dave Rannaghan hält es aus. Und dann geht der Kampf erst richtig los. Black Tigres ganze Wildheit, sein Hass und seine Mordlust kommen voll zum Ausbruch. Er kämpft wie eine böse Bestie, aber dies ist im Grunde genommen wohl sein gutes Recht. Jedes Geschöpf auf dieser Erde hat das Recht, um seine Freiheit zu kämpfen.
Nach etwas über einer Minute sieht es fast so aus, als könnte sich Rannaghan nicht mehr länger im Sattel halten. Er hat einen Steigbügel verloren und hängt ganz auf der linken Seite. Doch dann macht der Hengst einen Fehler. Er wirbelt in die verkehrte Richtung herum, und Rannaghan nutzt den Schwung aus, um wieder richtig in den Sattel zu kommen. Er findet auch mit viel Glück den Steigbügel.
Hester schaut schon längst nicht mehr hin. Sie starrt auf die Uhr in ihrer Hand. Der Sekundenzeiger scheint langsamer als eine Schnecke zu kriechen. Die zweite Minute kommt ihr wie eine Ewigkeit vor. Neben ihr schnauft James Corbin, und dann greift er nach der Uhr. Aber sie hält sie fest und ruft wild und zornig: »Lassen Sie das, Mister! Zum Teufel, lassen Sie das!«
Und dann sind die zwei Minuten um.
»Über die Zeit! Über die Zeit!«
So ruft das Mädchen. Die Männer beginnen zu brüllen und tanzen umher, schwingen die Hüte und johlen wie ein wilder Indianerstamm.
Hester starrt auf den Staub im Corral. Dort kämpft der Hengst immer noch unter dem Reiter, und man kann sehen, dass Rannaghan gleich erledigt ist. Er muss schon halb ohne Besinnung sein. Plötzlich fliegt er im hohen Bogen aus dem Sattel, landet jedoch verhältnismäßig leicht und macht am Boden einen Purzelbaum. Dann rollt er sich unter den Corralstangen hindurch und bringt sich in Sicherheit.
Der Hengst wirft sich krachend gegen die Stangen. Aber diese halten.
Und dann ist es still.
Die Männer eilen zu Rannaghan, der unbeweglich am Boden liegt.
James Corbin bleibt neben Hester stehen. Er nimmt ihr die Uhr ab und sagt: »Sie haben sich getäuscht, Miss! Die Zeit war noch nicht um! Sie haben sich um eine volle Minute getäuscht. Statt zwei Minuten haben Sie nur eine Minute abgelesen.«
Sie blickt zu dem Mann auf und erkennt das harte und kalte Licht in seinen Augen. Einen Moment verspürt sie Furcht. Aber dann stampft sie mit dem Fuß auf und sagt laut und klar: »Sie sind ein Lügner, Mister Corbin. Die Zeit wurde um mehr als eine Viertelminute überschritten.«
»Nein«, behauptet Corbin.
Mit der anderen Hand greift er nach der gefüllten Brieftasche, die Rannaghan dem Mädchen übergeben hatte. Es gelingt ihm, Hester die Brieftasche zu entreißen.
Einen Moment sieht es so aus, als würde das Mädchen ihn angreifen und zu kämpfen beginnen. Aber dann tritt es zurück. Nur ihr Gesicht ist bleich vor Zorn.
»Sie Schuft!«, sagt die junge Frau kalt. »Damit werden Sie nicht durchkommen.«
»Wir werden sehen«, brummt Corbin gedehnt und wirft einen Blick auf die Männer, die alle zu Rannaghan gelaufen sind und dort bei ihm eine dichte Gruppe bilden. Er liegt noch am Boden. Einige der Männer bemühen sich um ihn. Jemand schleppt einen Holzeimer voll Wasser aus dem Tränktrog herbei.
Corbin wendet sich seinen beiden Helfern zu.
»Pancho«, sagt er, »fang den Hengst heraus. Wir fahren los!«
Und indes der Mexikaner sofort zu seinem Pferd geht, blickt Corbin auf seinen Revolvermann. Der nickt wieder auf seine kalte und ausdruckslose Art und wartet.
Corbin wendet sich dem Mädchen zu.
»Das ist Sid Slater«, sagt er sanft. »Wenn Sie, Mädel, wirklich behaupten wollen, Rannaghan wäre über die Zeit gekommen, so wird es vielleicht einige Tote geben. Das ist Sid Slater.«
Hester verspürt den starken Schock eines heftigen Schreckens. Natürlich hat sie schon von Sid Slater gehört.
Es gibt immer wieder Geschichten, die von seinen Kämpfen und seiner rauchigen Fährte erzählen. Sid Slaters trauriger Ruhm breitete sich von Texas über New Mexico bis nach Arizona aus. Dort wurde er dann bald überall von Aufgeboten gesucht. Und jetzt ist er also nach Wyoming gekommen.
Sie blickt zu ihm hinüber, und ihre Blicke begegnen sich.
»Banditen seid ihr«, sagt sie.
Inzwischen ist der Mexikaner in den Corral geritten, hat sein Lasso ausgeschüttet und geworfen. Er fängt Black Tigre mit dem ersten Wurf. Das ist kein Wunder, denn der Hengst ist sehr erschöpft und still. Überdies weiß das kluge Tier, dass es zwecklos ist, einem Lasso entkommen zu wollen. Es hat längst gelernt und begriffen, dass er früher oder später doch die Schlinge über den Kopf geworfen bekommt.
James Corbin stößt einen zufriedenen Laut aus und geht zu seinem Wagen.
Hester Cumberland aber blickt sich nach Rannaghan um. Sie sieht, wie die Männergruppe dort auf der anderen Seite des Corrals sich öffnet.
Dave Rannaghan wird sichtbar.
Er steht auf den Beinen, hat also alles gut überstanden und blickt herüber. Und sein Haarschopf ist so rot wie eine Flamme.
✰✰✰
James Corbin klettert auf den Fahrersitz seines Wagens, Pancho, sein Mexikaner, bringt den Hengst Black Tigre hinter das Fahrzeug und bindet ihn dort an. Dann reitet der Mexikaner etwas zur Seite und wartet. Seine dunklen Augen funkeln, und man erkennt darin in stetem Wechsel den Ausdruck von Sorge, Unruhe, aber auch Wildheit und Bösartigkeit.