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Der Verkauf von Kunstwerken aus einer privaten Sammlung in Norddeutschland speist einen Fond für die Opfer eines Arzneimittelskandals. Als der maßgeblich für den Verkauf verantwortliche Kunsthändler nahe der Jagdhütte der von Wiedersheims, aus deren Besitz die Kunstwerke für den Fond verkauft worden waren, enthauptet aufgefunden wird, muss enthüllt werden, was Jahre und Jahrzehnte verborgen geblieben war. Wo gingen die Erträge der Kunstverkäufe hin? Waren Fälschungen im Spiel? Würde Katja von Wiedersheim den Verlust ihres Liebhabers überstehen? Wer war der Tote wirklich? Mehrere Personen befinden sich im Spannungsfeld von Pharmazie und Kunst, berühren China und Brasilien. Während der Arzneimittelskandal wieder ins Bewusstsein gerückt wird, entfaltet sich aus einem Liebesverhältnis eine Berufung.
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Seitenzahl: 194
Veröffentlichungsjahr: 2020
„Allem Zukünftigen beißt das Vergangene in den Schwanz“
Friedrich Nietzsche.
„... da die Menschheit dem Kind das Beste schuldet, das sie zu geben hat ...“
UN-Kinderrechtskonvention
Mariechen wusste nicht, dass schon 25 mg eines Arzneistoffes reichen würden, um dem heranwachsenden Menschen in ihrem Leib Schaden zuzufügen. Sie wusste nicht einmal, dass ihr Freund, der ein Versager war, sie geschwängert hatte. Sie wusste nichts von einem Artikel, der am 16. August 1961 im Nachrichtenmagazin Der Spiegel erschienen war. Sein Inhalt beschäftigte sich mit den Nebenwirkungen eines bekannten Beruhigungsmittels. Sie wusste nur, dass es ihr in ihren achtzehn Lebensjahren selten so schlecht gegangen war, wie heute. Sie hatte sich übergeben müssen, jetzt raste ihr Puls, die Knie gaben fast nach. In dreißig Minuten musste sie in einer frisch gebügelten weißen Schürze und mit gründlich geschrubbten Händen in der Backstube ihres Vaters erscheinen. Die junge Frau spülte den Geschmack von Erbrochenem aus ihrem Mund, putze sich danach die Zähne, bürstete ihre langen, braun gelockten Haare und flocht sie mit zitternden Händen zu zwei strammen Zöpfen links und rechts hinter ihren kleinen Ohren. Sie hatten sich gestritten, ganz furchtbar gestritten, weil er beim Poker nicht nur sein sondern auch ihr Geld verloren hatte. Dann war er aus dem Haus gestürmt, und hier stand sie nun in ihrer Aufregung. Vater würde rasen, wenn er das erfuhr. Panik blickte ihr entgegen. Sie klappte sie weg, indem sie den Spiegelschrank ihrer Mutter öffnete. Von einem Fläschchen wusste sie, dass ihre Mutter gelegentlich ein paar Tropfen nahm, um, wie sie es ausdrückte, „zur Ruhe zu kommen“. „Schlaf- und Beruhigungsmittel“ stand auf der Packung, „Dosierung: zur Beruhigung 3 x täglich 3 Tropfen, zum Einschlafen ca. 8-12 Tropfen“. Nochmals ließ sie kaltes Leitungswasser in ihren Zahnputzbecher laufen und schraubte den Deckel ab. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, in ihrem Kopf pochte es im selben Rhythmus. Es war Montag, der 13. November 1961, in zwei Wochen würde der Hersteller das Arzneimittel vom Markt nehmen müssen, aber jetzt hatte Mariechen es in ihrer Hand. Es regnete und stürmte draußen ebenso, wie in ihrem Inneren, und sie unternahm etwas dagegen. Drei Tropfen ließ Mariechen in den Becher fallen, hielt inne, ließ zwei weitere abtropfen, schwenkte und kippte den Schluck Wasser mit Arznei auf einmal hinunter. Ihr Herz würde fünf Liter Blut durch ungefähr fünfundneunzigtausend Kilometer Gefäße in einer Minute pumpen, der Wirkstoff würde auch den winzigen Embryo erreichen und die Genese seiner Gefäße behindern. In diesem Stadium nach Verschmelzung der männlichen Keimzelle mit der weiblichen Eizelle würde das Kind später nur mit verkrüppelten Füßen zur Welt kommen: am Tag der Arbeit 1962, viel zu früh und nur tausend Gramm schwer, aber es würde überleben und seinen Kampf für dieses Leben aufnehmen.
Am selben Abend trat Schwester Therese ihren Dienst auf der Entbindungsstation der städtischen Krankenanstalten Essen an. Sie fragte sich, ob in den kommenden zehn Stunden wieder eine Entbindung dabei sein würde, bei der sie ein missgebildetes Baby schnell würde wegbringen müssen, um die Mutter zuerst auf den Anblick vorbereiten zu können. Sie war eine Frau mit Sinn für die Schönheit. Das hier konnte sie nicht mehr lange machen.
Der Garten im Süden des Anwesens war dicht und bunt. In ruhigem Gang schoben sich siebzig Kilo unter kastanienbraun-weißem Fell zwischen den satten Farben der Pflanzen hindurch. Rosa Purpursonnenhut, weiße Schafgarbe und leuchtend blauer Rittersporn interessierten den behäbigen Bernhardiner nicht, aber der Geruch seines Herrchens, mit dem er aufgewachsen war, versetzte ihn in Freude. Der junge Mann nährte sich dem schon betagten Familienhund und erntete einen treuen Blick und eine hin und her schwingende buschige weiße Rute. Albatros war die Ruhe selbst an diesem Tag, an dem das Anwesen der Familie von Wiedersheim von Vorbereitungen und Erwartung schwirrte. Später würden viele fremde Hände von Gästen durch sein weiches Fell wuscheln, man kannte ihn. Junge und Hund verließen den Bauerngarten, schlenderten unter der alten Kastanie mit Rundbank in Richtung großer Terrasse, wo Stehtische weiß eingedeckt und mit Körbchen voller Käsegebäck auf die Gäste warteten. Diese würden in Kürze hier ihre Champagnergläser abstellen, um sich nach Jahren mit den Worten „Mensch, du hast dich gar nicht verändert“ zu umarmen, ihr Lachen und ihre Gespräche würden vom lauen Wind über den Rasen und den Reitplatz hinweg bis hin zu den Stallungen getragen, wo sich die Pferde etwas unruhig in ihren Boxen hin und her bewegten.
Christian wollte sich am fünfzigsten Geburtstag seiner Mutter mit Albatros und seinem Freund Marcus noch einmal vom Acker machen. Er musste mit Marcus dringend einiges zum Thema Fridays for Future besprechen, bevor er sich ins Getümmel mit all’ diesen Superreichen stürzen würde. Fridays for Future hatte es Christian voll angetan. Als er zum ersten Mal von der Schwedin Greta Thunberg gehört hatte, war er von dieser Person begeistert und beeindruckt gewesen. Sie hatte am 20. August 2018, am ersten Schultag nach ihren Sommerferien, die Schule geschwänzt und sich damals fünfzehnjährig vor dem schwedischen Parlament in Stockholm mit einem Schild SKOLSTREJK FÖR KLIMATET (Schulstreik für das Klima) aufgebaut. Bis zum 9. September saß sie dort täglich, dann an jedem Freitag, damit Schweden seinen Anteil zum Erreichen der Ziele des Pariser Klimaabkommens vom Dezember 2015 leisten möge. Weltweit schlossen sich ihr Schüler an, und schon im Februar 2019 las man auf Plakaten in Sydney, Australien I’M MISSING MY SCIENCE CLASS FOR THIS, in Luzern, Schweiz ÜSI ZUEKUNFT, in Brüssel, Belgien THE EARTH IS WEARTH IT, in Berlin THERE IS NO PLANET B, und in Hannover WÄRE DIE ERDE EINE BANK, HÄTTET IHR SIE LÄNGST GERETTET. Seine Eltern waren am Anfang nicht begeistert davon gewesen, dass er dafür freitags ab der vierten Stunde den Unterricht geschwänzt hatte, und das in der Abiturklasse, aber sie hielten es wie einen unausgesprochenen Nichtangriffspakt: „Mach die Welt zu einer besseren, wenn’s deine Noten nicht zu schlechteren macht“. Sie ließen ihn. Früher oder später, würde die allgemeine Schulschwänzerei von anderer Seite unterbunden werden, da waren sie sich sicher, und tatsächlich mussten sie deshalb keinen Streit mit ihrem Sohn anfangen.
Christian hatte also seinem Freund Marcus angekündigt, dass am 20. Juli jede Menge Menschen zum Geburtstag seiner Mutter ins Haus strömen würden, Menschen, die regelrecht auf der Suche nach Methoden waren, wie sie ihr Geld sinnvoll unterbringen konnten. Es war die Gelegenheit, ihre Umweltaktivitäten auch finanziell abzupolstern, und die Vorgehensweise dafür wollte er noch einmal mit Marcus besprechen. Er schickte an ihn nur diese Nachricht, "Hey Bruder, was los?" und bekam zur Antwort "nix los man, lass mal gehn". Christian schnappte sich Albatros, schickte seiner Mutter, die irgendwo herumwirbelte, die Nachricht „ich hol' jetzt Oma“ und flitzte los. Marcus erwartete ihn wie üblich im Falkenweg, Ecke Habichtsfang. Albatros musste an der Leine bleiben, der Forst war Setzrevier, einige Hirschkühe hatten Kälber, aber das kannte der Bernhardiner. Es stimmte, er war schon betagt, hatte aber den Geruchssinn eines Jünglings, wie Christians Vater immer sagte.
Albatros liebte die Spaziergänge mit den zwei vertrauten Jungs hinter ihm. Sie redeten und ließen ihn an der langen Leine. Der Wald roch verheißungsvoll. Die Nase von Albatros hatte noch nie das Talent seiner Rasse unter Beweis stellen und im Schnee ein Lawinenopfer erschnüffeln dürfen, aber die feuchte Erde inmitten all dem ausgetrockneten Waldboden dort hinten zog ihn an, wie die Quelle den Durstigen. Sein schwerer Körper strebte auf eine Stelle zu, seine Nase wollte näher heran. Er wedelte mit erhobener Rute, er hatte etwas gefunden. Gleich aber versteifte sie sich. Etwas war nicht, wie er es kannte. Der Fuß seines Herrchens zuckte immer zurück, wenn er dessen Zeh mit der feuchten Nase beschnüffelte. Dieser hier zuckte nicht.
Beide jungen Männer starrten wie paralysiert.
„Ist es das, was ich glaube?“
"Scheiße, man, ja. Wenn ich damit jetzt zu Hause anrufe, ist der Tag gelaufen“, spuckte Christian geradezu aus.
Marcus legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Lass mal nachdenken, Christian, ganz in Ruhe.“
Jetzt begann der junge von Wiedersheim zu zetern. „Du ahnst es nicht. Meine Mutter hat bald das Haus voller Gäste, sie glaubt, ich wäre bei meiner Großmutter und helfe ihr schon mal beim Anziehen.“
„Okay“, sagte Marcus. Er klang jetzt irgendwie bekifft. „Das ist hier der falsche Film, lass mal, ich regle das.“
In verschwörerischem Einvernehmen schauten die beiden sich nur an. Dann zog Christian den Hund zu sich heran, die jungen Männer gaben sich lässig die Hand und Christian ging davon, während Marcus jetzt nicht mehr ganz so lässig sein Smartphone aus der Hosentasche fingerte und die 110 wählte. Nach dem Telefonat schaffte er es sogar noch bis in den Garten seiner Eltern. Dann übergab er sich in den Lavendel.
Das Telefon von Professor Doktor Justus von Wiedersheim, inzwischen niedergelassener Orthopäde mit einer großen Praxis in Hannover und einer kleinen zwei-Tage-die-Woche-Privat-Praxis in Nöthen-Heidenberg, klingelte um Viertel nach fünf sehr ungelegen. Heute Morgen gegen zehn Uhr hatte ihn schon eine schlechte Nachricht erreicht. In der Jagdhütte der Familie war eingebrochen worden, sein Verwalter hatte sich darum gekümmert und die Polizei vor Ort begleitet. Was war nun schon wieder los. Der Empfang zum fünfzigsten Geburtstag seiner Frau Katja war seit halb fünf in vollem Gange, ständig trafen neue Gäste von nah und fern ein, manche wollten sich nach längerer Anfahrt kurz frisch machen und sollten in diverse Badezimmer gelotst werden, andere hatte er mehrere Jahre gar nicht gesehen und einmal im Gespräch, konnte er sich kaum mehr lösen. Da war ein Anruf von Wilfried Bock, dem Polizeihauptkommissar der Polizeistation Nöthen-Heidenberg nicht sehr willkommen. Dieser bat ihn jedoch dringend in einem Fall zur Begutachtung einer Leiche, bevor er die Leute von der Mordkommission der Göttinger Polizei benachrichtigte. Justus machte sich eilig auf den Weg. Er zog es vor, seiner Frau nichts zu sagen. Sie war bereits mitten in den Anfängen des Festgetümmels.
Wenig später standen sich die ungleichen Männer gegenüber.
"Warum willst du mich? Ich bin damals nur eingesprungen." Justus spielte damit auf einen Fall von vor zwei Jahren an und begrüßte den Leiter der Polizeistation mit festem Handschlag. Sie standen nicht weit entfernt von seiner Jagdhütte, deren Abgeschiedenheit im von Wiedersheimschen Forst jetzt entstellt war von Absperrbändern, Beamten und Hunden. Und das war erst der Anfang.
Wilfried schlug ihm freundschaftlich mit einer prankenähnlichen Hand auf die Schulter. Hier draußen kannte jeder jeden, und die Wiedersheims kannte sowieso jeder. Justus wusste nur zu gut, wie wichtig für seine unterschiedlichsten Belange gute Kontakte zur Bevölkerung wie auch zu Amtsinhabern waren. Man mochte ihn. Er war gern gesehen auf Schützenfesten, ein Ehrengast beim Feuerwehrball. Justus wiederum betrachtete diese Termine wie ärztlichen Notdienst in seinem Kalender, es musste einfach sein.
"Dann springst du eben heute auch ein“, sagte Wilfried Bock. „Die kriminellen Aktivitäten rund um deine Hütte scheinen ja zu eskalieren. Heute Morgen Einbruch, jetzt hier ein Toter. Um 15 Uhr 10 ging der anonyme Anruf eines Mannes oder Jugendlichen ein. Er wollte seinen Namen nicht sagen, gab uns nur präzise Angaben zum Fundort, muss hier aus der Gegend stammen, mehr wissen wir nicht“, erklärte der Kommissar. Auf Justus ratlose Geste und fragenden Blick hin sagte er weiter: „Niedersachsen hat Ferien, das weißt du selbst, Justus, keiner sonst da, du bist doch auch nur im Lande, weil ihr Geburtstag habt, flächendeckende Notbesetzung. Und den Schmeising kann ich hier absolut nicht gebrauchen, da dachte ich, ich frag dich mal, vielleicht fällt dir irgendetwas auf, was weiterhelfen kann.“
Justus drehte sich bereits in die Richtung einer Wand von zwei massiv wirkenden Beamten, als er von der behaarten Pranke Bocks aufgehalten wurde. „Nich so eilig, ich war noch nicht ganz fertig. Also der Tote, männlich, hatte nichts bei sich, keine Papiere, kein Handy, kein Portemonnaie,“ Bock kaute heftig auf einem Kaugummi, das stark nach Spearmint roch. „Leider“, er stockte, „leider auch keinen Kopf.“ Die zwei Beamten, die bis jetzt die Sicht versperrt hatten, traten zur Seite. Schonungslos.
Während Justus durch die Schlucht zwischen zwei wuchtigen blauen Uniformen hindurch einen Körper auf dem Waldboden heranzoomte, schienen ihm der Hintergrund wie auch die Ränder seines Gesichtsfeldes zu verschwimmen. Trotz Vorwarnung war der Anblick ein Schock so am Abend des fünfzigsten Jahrestages der Mondlandung von Armstrong, Aldrin und Collins, der zugleich der fünfzigste Geburtstag seiner Frau war. Er verfiel in tiefes Nachdenken.
Manche waren ja der Meinung, „alles Fake“. Im Januar hatte er einen Artikel gelesen, in dem der Autor nicht bezweifelte, dass die Mondlandung stattgefunden hatte, aber das Bildmaterial sei Fake gewesen. Auf futurezone.de war zu lesen gewesen: „Der Filmmacher und Autor Jay Weidner behauptete dies nun zumindest in einem Radiointerview. In der Late-Night-Radioshow Coast to Coast AM beschuldigte Weidner den bereits verstorbenen Kubrick, die Aufnahmen der Mondlandung mithilfe der sogenannten "Front Screen Projection"-Technik gefälscht zu haben. Dabei handelt es sich um einen speziellen Kameraeffekt, für den Kubrick Pionierarbeit geleistet hatte.“
Genau so eine Front-Screen-was-auch-immer-Projection-Technik müsste das hier sein, das wünschte Justus sich in diesem Moment. Jede Fake News wäre ihm jetzt lieber gewesen als die Wahrheit, die vor ihm lag, wie auch die Rolle, die ihm dabei ab jetzt zukam.
"Ich hatte gehofft, du könntest uns für die Identifizierung - sagen wir, ein paar besondere Merkmale näher betrachten", bat Wilfried vorsichtig.
Das konnte er in der Tat, es war sogar sein Auftrag. Noch nie hatte sein Verwalter Tom Warden es gewagt, ihm einen Befehl zu erteilen, gestern Abend dreißig Minuten nach sechs hatte seine Stimme am Telefon aber genau danach geklungen: nach einem Befehl. Jetzt lief die Zeit rückwärts. In seinem Kopf hörte er nicht mehr die klaren Worte von Warden, sondern rief sich ins Gedächtnis, was und wen es zu schützen galt.
Er war sechzehn und lauschte an der Salontür einem Streitgespräch seiner Eltern. Er hatte die Begabung, nachts barfuss die große Holztreppe so leise hinunter zu huschen, ohne ein einziges Knarren auszulösen, damit er nicht dabei ertappt würde, wie er sich noch einen Drink oder Snack aus der Küche holte. Er wurde nicht bemerkt, zu heftig waren die Stimmen seiner Eltern im Salon.
"Du weißt es, du weißt es genau, woher dieser Patient seine Deformationen hat, und du tust nichts,“ erklang die Stimme seiner Mutter schrill.
„Weil der Fall zu uneindeutig ist. Außerdem scheut die Familie den beschwerlichen Weg der Klage, einige sind schon abgewiesen worden.“ Das war die Stimme seines Vaters.
„Aber er hat ein Recht auf diese Rente wie die anderen auch, die, die nicht zu übersehen sind, mit Händen an den Schultern oder ohne Beine. Ich verstehe dich nicht, Wilhelm".
"Dein Vater arbeitete in der Pharmabranche, Hannelore, ich habe Verantwortung für euch, meine Familie, und einen Ruf als Neurologe zu verlieren.“
„Ach, papperlapapp. Ruf ... den könntest du dir machen, wenn du Stellung beziehen würdest“, typisch seine Mutter.
Wieder die Stimme seines Vaters, „die Gefäßanomalien könnten Sammelklagen ungeahnten Ausmaßes nach sich ziehen, du glaubst doch nicht, dass die das so einfach hinnehmen. Du weißt ja nicht, womit du es da aufnehmen willst, Hannelore.“
Er hatte sich davongeschlichen, vor Neugier schlaflos in seinem Bett gelegen und am nächsten Tag beim Frühstück die Spannung gespürt. Seit diesem Tag hatte etwas Unsichtbares zwischen seinen Eltern gestanden, und Justus hatte sich geschworen, herauszufinden, was es war. Die Information war ganz von selbst zu ihm gekommen genau an dem Tag, als er sein Medizinstudium abgeschlossen hatte. In dem Milieu, in dem er aufgewachsen war, gab es noch diese Männerwelt. Frauen wurden aus gewissen Dingen herausgehalten, so dass er als sechsundzwanzig Jahre junger Arzt in das Geheimnis seines Vaters und Großvaters eingeweiht worden war, während seine Mutter heute noch unter ihrem schlohweißen Haar die harte Meinung beherbergte, sein Vater sei nur zu feige gewesen, Stellung zu beziehen. Seine Rolle jetzt war, weiterhin das Geheimnis zu schützen und mit ihm die Menschen, die daran gearbeitet und andere, die davon profitiert hatten.
„Herr Droktor!“
Von Wiedersheim schreckte aus seinen Gedanken hoch.
„Komisches Tatoo, oder? Irgendwo habe ich diese Kröte schon einmal gesehen“, sinnierte Wilfried.
„Ich kann dir Name und alles beschaffen, du wirst die Damen und Herren von der Mordkommission Hildesheim begrüßen können, wie zur Bescherung unterm Christbaum. Gib mir eine Dreiviertelstunde“, und schon drehte sich Justus auf dem Fuß und setzte zum Rückweg an. „Hey, warte, welchen Namen? Von der Kröte?“
Es antwortete ihm ein sehr blasses Gesicht eines hochgewachsenen Mannes im Smoking, Antwort genug. Professor Doktor Justus von Wiedersheim war offensichtlich genau der Richtige gewesen, den er hatte anrufen müssen, er schien ihm einen Namen liefern zu können. Während der Doktor schon den Motor seines Wagens startete, kratzte sich Wilfried Bock am Kinn. Er war unrasiert heute, Warden hatte ihn bei der Morgentoilette mit diesem Hütteneinbruch gestört, und das schabende Geräusch über seinen Stoppeln klang ungepflegt. Ungepflegt. Kröte. Natürlich, jetzt fiel es ihm ein, woher er die Kröte kannte, die der Tote da auf dem Unterarm hatte. Aus einer Fernsehserie mit so einem ungepflegten Kerl. Kühlwalda! Er zog Umlaut und Vokale im Geiste lang: Kühlwalda. Wie eine Beschwörungsformel für sein Erinnerungsvermögen. Aber wie die Serie hieß, wollten seine Gehirnzellen nicht Preis geben.
Justus hatte versucht, locker zu bleiben. Er hatte sich mit bemüht freundschaftlichen Versprechungen, so schnell wie möglich alle ihm zur Verfügung stehenden Informationen den Ermittlern zukommen zu lassen, verabschiedet. Dann fuhr er zu seiner Land-Praxis, schnürte die Unterlagen zu einem Paket, kehrte zurück, lieferte alles am Tatort ab und machte sich eilig auf den Heimweg.
Im Getümmel der Geburtstagsgesellschaft lotste er Joshua Schieweck ins Herrenzimmer und kam ohne Umschweife zum Punkt: „Joshua, etwas ist furchtbar schief gegangen“.
Am Tag zuvor. Freitag, 19. Juli 2019 17 Uhr
Wahrscheinlich hatte seine Ruhe in allem Katharina einmal dazu getrieben, ihn zu fragen, ob es eigentlich irgendetwas gäbe, wovor er Angst habe.
"Folter", hatte er ihr geantwortet, und Katharina hatte ihn wie einen Fremden angeblickt.
"Wieso solltest du jemals gefoltert werden?"
"Es steckt in mir, ich weiß nicht woher.“ In das unangenehme Schweigen hinein hatte er mehr zu sich selbst gesagt, „dabei kann ich sicher besser, als manch anderer, Schmerzen beherrschen - bis zu einem gewissen Maß.“
"Ich weiß", hatte sie dann wieder weich geflüstert, sich zu ihm geneigt und seinen Duft am Hals tief in sich eingesogen. Sie tat das oft, wie um sich zu beweisen, dass es wahr war, das mit ihnen beiden, dass es wirklich wahr war.
Er selbst wusste, dass er zu den Menschen gehörte, die im Kontrollieren von Schmerz geübt waren. Diese Kontrolle hatte er unfreiwillig gelernt. Er lebte mit körperlichen Missempfindungen seit er denken konnte, nahm so wenig Medikamente, wie möglich dagegen ein, und es kam vor, bei kalter Witterung oder wie aus dem Nichts, dass ihm plötzlich einschießende Schmerzen die Sicht nahmen. Dann musste er am nächstbesten Gegenstand Halt suchen. Nachtschwarz wurde es um ihn und manchmal war sein Schrei kaum zu unterdrücken. Wenn er sich nach der Nacht von der Bettkante erhob, waren die ersten Schritte sehr vorsichtige, wie prüfend, ob diese zwei vor dreiundfünfzig Jahren so gut wie damals eben möglich operierten Körperteile am Ende seiner mädchenhaft dünnen Waden den Rest, der er war, tragen würden. Aber jetzt war sein Alptraum wahr: seit vierundzwanzig Stunden hielt er stand, nichts und niemanden zu verraten, Justus nicht und nicht das Leben, das Katharina mit Justus und ihrem Sohn führte. Nein. Katharina, an Katharina musste er jetzt denken, auf sie sich konzentrieren, bis Hilfe kam. In seiner Not hatte er in letzter Sekunde eine SMS an sie geschickt. "Hilfe bin schönfuß".
Lächerlich, sein Codename für ihren Treffpunkt, weil er so gern ihre Füße berührte und küsste, bevor sie sich liebten. Das hatte er gerade noch tippen können, während die Chinesen sich an der Tür zur Jagdhütte zu schaffen machten. Sein zitternder Finger tippte auf Senden kurz bevor er sein Handy in den Ritzen des riesigen Holzpolders versenkte. Die Tür schwang auf, seine Entführer drehten sich zu ihm um, zerrten ihn von den Baumstämmen weg und schleiften ihn ins Innere der Hütte.
Jetzt versuchte er wieder und wieder an sie zu denken. An ihr Haar, ihre Augen, ihre Haut, ihren Schoß, ihre Füße. Jetzt daran denken, um Kraft zu schöpfen! Die Gedanken waren frei. Er liebte es, seine Hände über ihren Körper wandern zu lassen, ihre Brustspitzen mit seinen Fingern sanft zu kneten, in sie einzudringen und dabei seine Erregung zu kontrollieren, um ihr Vergnügen zu bereiten. Er musste, musste, jetzt daran denken, um den Schmerz zu verdrängen, erinnern, wie sie aussah, wenn sie sich vollkommen hingab, sich vor ihm ausbreitete und ihr ein wollüstiger Schrei entfuhr. Das alles war herrlich, aber die Nacktheit ihrer Füße konnte ihn um den Verstand bringen. Jahrelang hatte er sich diese Frau auf Abstand gehalten, hatte sich selbst unter Kontrolle gehabt, ob sie zu einem Kaffee-Rendezvous in einem sehr kurzen Rock oder zu einem Spaziergang in einem tief ausgeschnittenen T-Shirt gekommen war. Ihr zuzuhören, was sie zu erzählen hatte, war ihm immer wichtiger gewesen, und er hatte dabei ihre großen Augen und ihren geschwungenen Mund fixiert. Aus dem Gleichgewicht war er erst gekommen, als sie bei einem Spaziergang von seiner Seite gewichen war, sich auf eine Parkbank gesetzt und Schuh und Socke ausgezogen hatte, um einen Stein herauszuschütteln. Er hätte vor Katharina auf seine Knie fallen, ihre Blöße in seine Hände nehmen, seine Lippen auf ihre Haut pressen und dann jeden Zeh einzeln schmecken wollen. Oder aber sich abwenden, weitergehen, atmen, große Zahlen multiplizieren, um die Haltung zu wahren und niederzwingen zu können, was von innen gegen seinen Hosenbund gedrückt hatte. Sie war sauer gewesen, weil sie ihm in ihren hohen Schuhen hatte nacheilen müssen und er war beinahe grob geworden, weil er ihr eigentlich nicht hatte sagen wollen, wie sehr er sie wollte. Später, als sie gemeinsam alle Schranken eingerissen hatten, und sich liebten, trieb er sie und sich selbst immer gern damit auf die Spitze des Genusses: ihre Füße zu liebkosen, zu lecken, auf diese Weise ihren ganzen Körper wertzuschätzen.
Würde sie jetzt auf seinen Hilferuf richtig reagieren?
Sein Blut sickerte inzwischen aus zahlreichen Wunden, und die Hoffnung auf Rettung wäre ihm geschwunden, hätte er gewusst, was in der Hektik der zitternden und gefesselten Hände Schreibfehler und Autokorrektur aus seiner Nachricht gemacht hatten.
Am Tag davor. Donnerstag, 18. Juli 2019, 17 Uhr
Theo hatte sich drei Tage vor ihrem Geburtstag mit einer langen, sehr innigen Umarmung von ihr verabschiedet. Er würde ein paar Tage dienstlich unterwegs sein, hatte er ihr gesagt. Seit sie ihn kannte, fühlte sie sich stets ein klein wenig verloren, wenn sie ihn ziehen lassen musste, und wenn sie nichts Wichtigeres zu tun hatte, war die beste Medizin, entweder zu Schreiben, irgendetwas oder einen Kuchen zu backen. Für das Festessen hatten sie einen Catering-Service beauftragt, aber für den Sonntags-Kaffee im kleinen Kreis am Tag nach ihrem Geburtstag wollte sie selbstgebackene Kuchen servieren. Der Schokoladenkuchen ließ sich vorbereiten und einfrieren.
Es war verrückt.
Als sie am Mittwoch, den 17. Juli knapp drei Stunden nach ihrer Verabschiedung von Theo den gerade frisch abgekühlten Kuchen im Gefrierbeutel verpackte und in der Tiefkühltruhe versenkte, kam ihr der selbe Gedanke wie immer und immer wieder, wenn sie genau das tat.
In einer schweren Krise, die sie vor Jahren mit ihrem Mann durchgemacht hatte, hatte sie im Moment, als sie ein verbliebenes Viertel des Kuchens in die Tiefkühltruhe rettete, diesen Gedanken gehabt: ich mache es mit meinen Gefühlen wie mit dem Kuchen. Was von mir noch nicht aufgezehrt ist, ab in die Tiefkühltruhe. Etwas von mir soll übrig bleiben. Falls einer es möchte.
Es schien lange her zu sein, die Situation hatte sich gebessert. Das machte sie sehr glücklich. Und es war noch einer gekommen, der es mochte.
Heute Morgen am Donnerstag, den 18. Juli 2019, zwei Tage vor ihrem fünfzigsten Geburtstag war sie voller Energie und in heiterer Stimmung gewesen. Justus und sie hatten morgens wieder einmal fast darum gestritten, ob die Apollo 11 gelandet war oder nicht, ob die Fotos echt waren oder nicht und wer warum was der Welt präsentiert hatte oder es ihr jetzt wieder abspenstig machen wollte. Schließlich hatte ihr Mann sie umarmt, festgehalten und in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, gesagt, „eins steht fest, ich werde nicht zulassen, dass Leute nicht zu deinem Fest kommen, weil sie meinen, du seiest nicht am 20. Juli 1969 geboren“.
Tatsächlich hatte es, nachdem ihre Einladungskarten verschickt worden waren, einige Anrufe und Reaktionen von Freunden gegeben, die meinten, sie habe sich mit ihnen einen Scherz erlaubt, und es hatte ihr natürlich geschmeichelt, dass mancher, der es nicht besser wusste, sie jünger geschätzt hatte. Sie war der klassische Herbsttyp, hatte Kupferfarbenes Haar, das sie inzwischen wieder länger trug, einen hellen Teint mit Sommersprossen, blaue Augen, die je nach Lichteinfall manchmal grünlich schimmerten und für ihr Alter eine sehr gute Figur. Sie war nicht sehr groß, und hatte durch ihren Sport kräftige Waden und starke Oberarme.
Ihre Haare hatte sie heute mit einem breiten türkisfarbenen Band zusammengefasst, sie trug Jeans und T-Shirt, bequeme Schuhe und konnte jetzt loslegen. Ja, es war noch viel zu bedenken, aber alles lief glatt, sogar das Wetter schien ihr ein Geschenk zu machen, die Vorhersage lautete „trocken, aber nicht zu heiß“. Die Blumen würde man schon etwas früher auf den Tischen für das Abendessen verteilen können und sie griff zum Telefon.