Galgenwald - Nicole Stranzl - E-Book

Galgenwald E-Book

Nicole Stranzl

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Beschreibung

Journalistin Elisa will herausfinden, wer ihre Mutter Gabi getötet und im Thannhausener Galgenwald aufgehängt hat. Die Liste der Verdächtigen ist lang: Kurz vor ihrem Tod hatte Gabi Streit mit ihrem Chef und Ex-Lebensgefährten, dem Bordellbesitzer des „STARSHIP“. Influencer und Buchautor Flo weist eine Verbindung zum Galgenwald auf und selbst die LKA-Ermittler geraten in Elisas Visier, denn beide bergen ein Geheimnis. Als eine weitere Tote gefunden wird, läuft Elisa die Zeit davon. Schafft sie es, den Mörder zu finden, ehe das nächste Opfer am Galgen baumelt?

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Seitenzahl: 369

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Nicole Stranzl

Galgenwald

Steiermark-Krimi

Zum Buch

Tödliche Verstrickungen Am Galgen der ehemaligen Richtstätte in Thannhausen wird eine Tote entdeckt – offensichtlich kein Selbstmord. Die LKA-Ermittler Leon Esposito und Rick Schantl übernehmen den Fall. Schnell stellt sich heraus, dass es sich bei dem Opfer um die Prostituierte Gabi Avram handelt. Deren Tochter, Journalistin Elisa, traut den Polizisten nicht und beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Wieso suchte ihre Mutter eine Hellseherin auf? Was hat es mit dem geheimnisvollen Mädchen auf sich, das bei Gabi Unterschlupf fand und wie vom Erdboden verschluckt zu sein scheint? Wie passt Influencer und Buchautor Flo ins Bild, der eine Verbindung zum Galgenwald aufweist? Und welche Geheimnisse bergen die LKA-Ermittler? Beide suchten kurz vor Gabis Tod im Bordell nach ihr. Die Lösung des Falls scheint in der Vergangenheit zu liegen, doch Elisa läuft die Zeit davon, denn schon bald gibt es ein zweites Opfer. Kann sie das gefährliche Rätsel lösen, bevor noch mehr Menschen sterben müssen?

Nicole Stranzl wurde 1994 in Graz geboren und studierte „Journalismus und PR“ an der FH Joanneum in Graz. Einige Jahre arbeitete sie im Kundenservice einer Pflegeagentur und moderierte parallel bei einem Webradio. Seit April 2021 ist sie als Regionalredakteurin bei der Tageszeitung „Kleine Zeitung“ angestellt. Ihren ersten Thriller veröffentlichte sie mit 19 Jahren, seither sind bereits zehn Bücher von ihr erschienen. Die Autorin hat eine Vorliebe für Tabuthemen und die psychischen Abgründe ihrer Figuren. 2023 erhielt sie beim Fine Crime Festival in Graz den Newcomer Award verliehen. Zuvor schrieb Stranzl preisgekrönte Kurzgeschichten.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Bei Fragen zur Produktsicherheit gemäß der Verordnung über die allgemeine Produktsicherheit (GPSR) wenden Sie sich bitte an den Verlag.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Nicole Stranzl

ISBN 978-3-7349-3232-8

Widmung

Für alle, die nicht aufgeben. Kämpft weiter für eure Träume!

Zitat

There was no goodbye,

just an absence,

sudden, abrupt and louder than any voice could be.

Edward Lee

Prolog

Mittwoch, 8. November 2023

Verfolgungswahn. Das war das richtige Wort. Darunter litt sie. Wie sonst sollte sie erklären, dass sie auf dem Nachhauseweg etliche Blicke über ihre Schulter warf? Seit Tagen wurde sie das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Seit das Mädchen bei ihr aufgetaucht und dann wieder verschwunden war. Wie ein Geist. Manchmal fragte sie sich, ob sie das alles bloß geträumt hatte. Dann dachte sie an den Streit. Nein, definitiv keine Einbildung. Noch immer wusste sie nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Ihrer Tochter würde es das Herz brechen. Doch einfach nichts tun?

Das Mädchen war in Panik ausgebrochen, und seitdem fehlte jede Spur von ihm. Sie machte sich Sorgen. Um eine Fremde. Sie musste verrückt sein. Wie hieß es so schön? Reisende soll man nicht aufhalten. Sie war fort, doch eines war geblieben: die Paranoia.

Wer sollte Interesse an ihr haben? Einer ihrer Freier? Nein. Die meisten kannte sie schon so lange, keinem von ihnen würde sie zutrauen, ein Stalker zu sein. Und einer ihrer neuen Kunden? Sie dachte an den pausbäckigen Rothaarigen, der aussah wie 15, obwohl er 25 Jahre alt war. Ein hartes Lachen entkam ihr. Niemals! Mit 48 Jahren und fast 30 davon als Prostituierte besaß sie eine entsprechende Menschenkenntnis.

Ihre Nerven spielten ihr einen Streich. Das war alles. Dennoch atmete sie erleichtert auf, als ihr Wohnblock in Sicht kam. Nebelschwaden krochen die Fassade hinauf, der Gehsteig verschwand im grauen Dunst, verdammter Herbst. Laub blieb an ihren Schuhen kleben, der Baum neben dem Wohnhaus hatte all seine Blätterpracht abgeworfen. Sie wünschte, sie könnte das auch mit ihren Altlasten tun. Doch Vorsätze blieben meist dies: Vorsätze. Wie etwa, ihre älteste Tochter anzurufen. Bald stand Weihnachten vor der Tür. Würde Elisa sich wieder nicht blicken lassen? Traurigkeit breitete sich in ihr aus. Den Preis für die Mutter des Jahres verdiente sie nicht, aber sie hatte alles für ihre Kinder gegeben. Damit diese ein besseres Leben führen konnten als sie selbst. Mit 17 war sie damals völlig allein von Rumänien nach Österreich gekommen und recht bald in die Sexarbeit gerutscht.

Vielleicht hatte sie das Mädchen zur Wiedergutmachung aufgenommen. Für ihre eigenen Kinder war sie nicht in dem Ausmaß da gewesen, wie sie es sich gewünscht hätte.

Drei Nächte hatte sie dem Mädchen Unterschlupf gewährt. Viel gesprochen hatte es nicht. Was das arme Ding wohl erlebt hatte? Sicher hatte es kein schönes Leben gehabt. Sie kannte die Anzeichen von sich selbst: Schreckhaftigkeit, Angst vor plötzlichen Bewegungen, Lärmempfindlichkeit.

Ihr Vater hatte sie geschlagen, er war ein furchtbarer Mann gewesen. Eilig schüttelte sie die Erinnerungen ab. Das war vorbei. Sie wollte nicht mehr daran denken.

Am Jahresende befiel sie stets diese Melancholie. Wenn es so früh dunkel wurde und sich die Menschen in ihre Wohnungen und Häuser verkrochen, fing sie an zu grübeln. Über ihr Leben, die Entscheidungen, die sie getroffen hatte. Nicht alle waren gut gewesen, doch sie bereute nichts. Was brachte es auch? Die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen.

Totenstille legte sich über sie, als auch noch das letzte Geräusch verstummte: ihre eigenen Schritte auf dem Asphalt. Sie hatte ihre hohen Schuhe gegen Sneakers getauscht, so tat sie das immer. Streng unterschied sie zwischen Berufs- und Alltagskleidung. Ein Arzt lief doch auch nicht im weißen Kittel durch die Stadt.

In ihrer Tasche kramte sie nach dem Schlüssel und blickte sich dabei wieder um. Nachts waren in Graz die Gehsteige hochgeklappt. Kaum eine Seele verirrte sich nach draußen. Und dennoch beschlich sie das Gefühl, nicht allein zu sein.

Erleichtert schloss sie die Tür auf und betätigte den Lichtschalter gleich rechts neben den Postkästen. Zwei Stockwerke noch, sie musste sie zu Fuß zurücklegen, der Lift war mal wieder kaputt. Als sie die Wohnungstür endlich hinter sich schloss, atmete sie erleichtert auf und legte ihre Handtasche auf der Kommode ab.

Von außen sah der Wohnblock recht heruntergekommen aus, doch der erste Eindruck täuschte. Sie lebte nicht schlecht als Sexarbeiterin. Früher hatte sie befürchtet, mit dem Alter würde es schwierig werden, doch damit lag sie falsch. Sogenannte MILFs – also reifere Frauen – kamen immer noch gut an. Ihre Freier schätzten ihre Erfahrung. Und so nannte sie eine 75 Quadratmeterwohnung ihr Eigentum. Die Einrichtung bestand nicht aus den teuersten Möbeln, aber auch nicht aus Schrott. Im Vergleich zu den Räumlichkeiten, in denen sie als Kind gehaust hatte, konnte sie ihre jetzige Unterkunft ohne schlechtes Gewissen als Luxus betiteln.

Nachdem sie sich aus der Jacke geschält hatte, betrat sie die geräumige Küche, öffnete den Kühlschrank und trank einen großen Schluck Cola aus der Flasche. Ihr Herzschlag beruhigte sich, und Müdigkeit breitete sich in ihren Knochen aus. Eine geschäftige Nacht lag hinter ihr, vier Kunden hatte sie bedient und ja, langsam spürte sie ihr Alter. Doch jammern würde sie nicht.

Obwohl sich die Nachbarin in der unteren Wohnung regelmäßig bei der Hausverwaltung darüber beschwerte, duschte sie lang und heiß. Eben erst hatte sie die Dusche verlassen, als es an ihrer Wohnungstür klingelte. 5.30 Uhr morgens, verriet die Handyuhr. Wer war das denn bitte?

Rasch wickelte sie sich in den Bademantel und lugte durch den Türspion. Was tat er hier? Um diese Zeit. Ohne Verabredung.

»Bitte, Gabi! Mach auf! Ich muss dich sehen.«

Ein Seufzer entwich ihr, ehe sie aufschloss und ihrem Freier mit verschränkten Armen entgegenblickte. »Es ist mitten in der Nacht, und du hast keinen Termin.«

»Ich weiß, aber … die Albträume sind wieder da. Es war so real, und ich konnte nicht mehr schlafen. Bald startet mein Dienst und … ich weiß, es ist viel verlangt, aber … lässt du mich rein?«

Unschlüssig stand sie da. Vermutlich war es eine Grenzüberschreitung gewesen, Freier in ihrer Wohnung zu empfangen, doch ihn kannte sie lange. Sie tat das nur bei wenigen. Vielleicht sollte sie wieder damit aufhören.

»Ich bin müde.«

»Bitte!« Aus großen Augen sah er sie an.

Nach kurzem Zögern ließ sie ihn eintreten.

»Danke! Du bist die Beste!«

In der Gesellschaft genossen Prostituierte keinen guten Ruf und wurden oft mit nicht geraden netten Worten bedacht. Die wenigsten ahnten, wie viele Männer nicht nur für Sex zu ihnen kamen. Seelsorgerin sollte in ihrer Berufsbezeichnung inkludiert sein. Heutzutage bekamen Sexarbeiterinnen vermutlich mehr Sorgen zu hören als Pfarrer, dachte sie, während sie ihrem Freier ein Glas Wasser reichte.

»Danke.« Noch immer wirkte er durch den Wind.

»Willst du mir von deinem Traum erzählen?«

»Es ist immer wieder dasselbe: Ich baumle vom Galgen.«

Sie verzog keine Miene, das hatte sie im Laufe der Jahre gelernt. Kunden ernst nehmen, nicht über Männer lachen, das war das Wichtigste.

»Hast du mit einer Therapeutin darüber geredet?«

»Nein, aber mit Josy.«

Sie nickte und unterdrückte ein Gähnen. Das Bett rief laut nach ihr, und sie konnte ihm nicht helfen. Nur zuhören. Und das tat sie. Er redete und redete, mit der Zeit konnte sie seinen wirren Gedankengängen nicht mehr folgen. Manchmal fürchtete sie sich vor ihm, doch eine weitere Regel lautete: Zeig deine Angst nicht! Bewahre die Kontrolle. Immer.

Um 6.30 Uhr fand sie, ihm lange genug zugehört zu haben. »Hör mal, ich bin echt schon kaputt und …«

»Du wirfst mich raus.« Enttäuschung in seinem Blick.

»Ich hab die ganze Nacht gearbeitet. Warum machen wir nicht einen Termin aus und dann …«

»Ich bin also nur dein Kunde? Immer noch? Nach all der Zeit? Nichts weiter?«

»Ich habe dir eine Stunde zugehört, obwohl ich erledigt bin und du unangemeldet hier aufgekreuzt bist. Aber irgendwann …«

»Ihr Weiber seid doch alle gleich.« Er sprang von der Couch auf. Seine Hände zitterten. »Ich mache gerade echt eine schwere Zeit durch.«

»Und ich bin Prostituierte, aber keine Therapeutin.« Auch sie stand auf. Er sollte gehen. Jetzt. Die Kontrolle über die Situation drohte ihr zu entgleiten. Mit wütenden Männern in ihrem Haus war sie fertig. »Bitte geh jetzt!«

Tränen glitzerten in seinen Augen. »Er bestraft mich!«

»Wer?«

»Raini! Ich hab ihm nicht geholfen.«

Jetzt ging das wieder los!

»Du kannst nichts dafür, wie oft noch? Er würde wollen, dass du dir selbst vergibst!«

»Wie soll ich das machen, wenn ich doch schuld bin. Ich hab versagt. Und jetzt? Jetzt will er sich an mir rächen. Aus dem Grab heraus.«

»Das ist doch Schwachsinn!«

Er starrte sie an, als hätte sie ihn geschlagen. »Du glaubst mir nicht!« So viel Wut in seinem Gesicht. »All die Male, die ich mit dir darüber geredet habe, aber … du denkst, ich bin verrückt. Wie meine Ex. Du bist schlimmer als sie, denn du hast mir Verständnis vorgegaukelt, dabei wolltest du nur mein Geld! Ihr wollt alle nur mein Geld und … warte mal, warte! Vielleicht steckt er in dir. Geister können in Personen schlüpfen und …«

»Das reicht jetzt!« Kopfschmerzen breiteten sich aus. »Du solltest dir wirklich dringend Hilfe suchen. Ich kann dir nicht mehr helfen. Wir sollten uns in Zukunft wieder auf das Körperliche konzentrieren und …«

»Du blöde Kuh! Du verdammte Verräterin! Du hast mich belogen! Du hast mich ausgenutzt, warst nur hinter meiner Kohle her!«

»Verschwinde aus meiner Wohnung, sonst rufe ich die Polizei!«

»Ha! Ha, das ist gut! Du dreckige Nutte, du … du bist eh hässlich! Alt und verbraucht und … du siehst mich nie wieder!« Mit diesen Worten polterte er aus der Wohnung und knallte die Tür hinter sich zu.

Zitternd atmete sie aus. »So ein Verrückter!« Den Schlaf hatte sie übertaucht, im Bett konnte sie nicht aufhören, an ihn und seinen Ausbruch zu denken. Verrückt. Der Kerl war einfach verrückt. Sie hoffte, er setzte seine Drohung in die Tat um und besuchte sie nicht mehr. Ihr Kundenstamm war groß genug, sie war nicht auf ihn angewiesen. In Zukunft würde kein Freier mehr erfahren, wo sie lebte, das schwor sie sich. Sie schloss die Augen und döste vor sich hin, als es abermals an ihrer Tür hämmerte.

Ihr Blick wanderte zur Uhr. 8.30 Uhr. »Verfluchte Scheiße!«, stieß sie aus, gerade eben war sie am Einschlafen gewesen und bemerkte erst jetzt, sie trug noch immer ihren Bademantel.

Ohne in den Türspion zu schauen, öffnete sie.

»Was machst du denn …« Sie beendete den Satz nicht. Ein Schrei entkam ihren Lippen, sogleich wurde er erstickt. Kräftige Hände legten sich um ihren Hals und drückten zu. Ihre Augen traten aus den Höhlen, ihre Beine zappelten nutzlos in der Luft, einige Zentimeter über dem Boden, als er sie hochhob und in Richtung Wohnzimmer zerrte. Kraftvoll stieß er sie gegen die Wand, der Druck seiner Hände um ihre Kehle ließ kein Stück nach. Verzweifelt versuchte sie, sich zu befreien, und schlug nach seinem Gesicht, doch sie hatte keine Chance.

Er warf sie zu Boden, kniete auf ihrer Brust und verstärkte den Griff um ihren Hals. Panisch rang sie nach Luft, doch er drückte ihr die Luftzufuhr ab. Mit ihren Augen flehte sie ihn an aufzuhören. Warum tat er ihr das an? Sie verstand es nicht.

Immer langsamer wurden ihre Bewegungen, ihre Hände immer schwerer. Ein letztes Mal nahm sie ihre Kräfte zusammen und versuchte, seinen Griff zu lösen. Vergeblich. Die Dunkelheit nahm sie gefangen. Sein Gesicht war das Letzte, das sie auf dieser Welt sah.

Kapitel 1 – Réka

Dienstag, 7. November 2023

Starship

Die riesigen Lettern funkelten und waren auch aus einigen Metern Entfernung nicht zu übersehen. Direkt an der Hauptstraße gelegen befand sich das Bordell. Nein, nicht das Bordell, Gerry mochte das Wort nicht. »Nachtklub«. Darauf bestand er. Réka fand es lächerlich, das Kind nicht beim Namen zu nennen.

Innerhalb dieser Mauern fanden Stripshows statt, Männer tranken und rauchten Zigarren, und es wurde gevögelt. Unter anderem mit ihr. »Ein Ort der Freude«, so nannte Gerry ihn auch. Das kam wohl darauf an, wen man fragte. Aber wer hatte schon immer Spaß bei der Arbeit?

Réka parkte ihren Wagen im Hinterhof, der von der Straße aus nicht einsehbar war. Zwei einsame Autos standen auf dem Parkplatz. Um diese Uhrzeit kein Wunder, später würde er sich füllen. Kurz vor 19 Uhr, bestätigte ein Blick auf ihr linkes Handgelenk. Die teure Uhr war ein Geschenk eines Stammkunden. Ein verheirateter Manager. Réka verurteilte niemanden ihrer Gäste. So wurden sie offiziell genannt. Viele waren vergeben, manche auch alleinstehend und einsam. Ihr jüngster Gast war gerade mal 18 Jahre geworden – jünger war allein des Gesetzes wegen nicht erlaubt, und strafbar machte Réka sich ganz bestimmt nicht. Nach oben hin gab es kaum Grenzen, einer ihrer Männer war 88 Jahre alt gewesen.

Ihre hohen Schuhe klackerten auf dem Asphalt, sie waren unbequem, doch Réka musste keine großen Distanzen darin zurücklegen. Mit einem Lächeln begrüßte sie Rudi, den Türsteher. »Hey Süße! Neue Schuhe?«

»Ja, sind gestern geliefert worden. Gefallen sie dir?«

»Sie sind sehr auffällig.« Er lachte und fuhr über seine kahl geschorene Kopfhaut. Ein Berg von einem Mann war er, der jeden Tag im Fitnessstudio trainierte. Seine Kräfte setzte er im Starship nur selten ein. Dennoch vermittelte er ein Gefühl der Sicherheit.

Sie betrat das Starship und grüßte die Neue hinter der Bar. Réka hatte ihren Namen vergessen, meistens blieben die Mädels nicht lange. Offiziell suchte Gerry nach einer Kellnerin, doch in diesem Etablissement fühlten sich viele Studentinnen nicht wohl. Einzig Ruby war lange dabei, länger als Réka.

Auch die Prostituierten kamen und gingen. Gerry stellte sie nicht an, sie alle arbeiteten auf selbstständiger Basis und zahlten pro Nacht eine Zimmermiete an ihn. Diese wurde immer höher – Corona und die Teuerungen stellten nach wie vor Herausforderungen dar. Mehrmals hatte Gerry davon gesprochen, das Starship zu schließen, doch kurz vor seiner Pensionierung noch mal woanders durchstarten, erschien Réka unrealistisch. Vermutlich war es bloß Gerede. Der Nachtklub-Besitzer redete viel, wenn der Tag lang war. Oder die Nacht. Doch sie mochte ihn, er war ein netter Kerl, der immer ein offenes Ohr hatte. Deswegen war Réka schon seit sieben Jahren hier, trotz der horrenden Zimmerpreise. Einige Male hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ihr Geschäft an einen anderen Ort zu verlegen, doch das war nicht so einfach. Zu Hause war keine Option, allein schon wegen ihrem Partner Martijn. Selbst seine Toleranz besaß Grenzen. Eine andere Wohnung anzumieten wäre teuer und der entscheidende Vorteil gegenüber dem Starship: Sie brauchte sich keine Gedanken um die Kundenakquise machen. Klar, die anderen Mädels stellten täglich Konkurrenz dar, doch es zog immer wieder neue Männer hier rein, seien es Geschäftsmänner, Polterrunden oder einfach Neugierige.

»Geile Schuhe!« Tiffany grinste sie an. Ihre Kollegin trug einen silbernen Glitzertanga und kleine Sterne auf ihren Brustwarzen. Ihr wasserstoffblondes Haar fiel ihr in Locken über die Schultern, die künstlichen Wimpern klimperten, die knallroten Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und offenbarten von Nikotin und Kaffee verfärbte gelbe Zähne. »Zeig mal!« Sie klatschte ihre Hände aufgeregt aneinander; die Nägel zeigten dasselbe Motiv, das auch Rékas Fingernägel schmückte: Sterne und Glitzer. Die beiden Frauen hatten das Nagelstudio gemeinsam aufgesucht. Tiffany zählte zu den wenigen hier, die Réka als Freundin bezeichnete.

Mit einem Grinsen hob sie ihren linken Fuß, als wäre sie die Darstellerin aus einer Schnulze und würde gleich ihren Märchenprinzen küssen.

»Wow!« Anerkennend strich Tiffany über die Riemchen, die mit kleinen Sternen verziert waren. Die Plateaus waren durchsichtig und zeigten Planeten. Bis zu ihrem Oberschenkel wanden sich die Schnüre. »Die werden Gerry aber gefallen.«

Er legte großen Wert darauf, das Motto zu verteidigen: Sterne, Planeten, Weltall. Schon als Kind hegte er eine Faszination dafür, das hatte er Réka schon öfter als einmal erzählt. Und nicht nur ihr. Jeder, der Gerry fragte, warum das Star­ship so hieß, musste mindestens eine halbe Stunde Zeit einplanen und den mittlerweile abgedroschenen Spruch anhören: »Unsere Frauen lassen die Gäste Sterne sehen.« Gleich auf Platz zwei folgte: »Bei uns gibt es galaktischen Sex!« Jedes Mal, wenn Réka das hörte, musste sie sich zusammenreißen, um nicht die Augen zu verdrehen.

»Ja, ich denke auch«, antwortete sie Tiffany. »Ich mach mich mal rasch fertig. Harry kommt heute etwas früher vorbei.«

»Alles klar.« Tiffany zwinkerte und wackelte an die – wie könnte es anders sein – sternenförmige Bar. Es war eine von insgesamt dreien im Hauptraum, jedoch die größte. Hier fanden die Peepshows statt, vier Stangen waren auf den Raum verteilt, und es gab zwei Käfige, in denen Mädchen tanzten. Mehrere bequeme Lounges luden die Männer ein, Platz zu nehmen. Frauen verirrten sich selten hierhin. Manchmal nutzten die Mädchen auch den Tresen für ihre Tänze, mittlerweile jedoch seltener. Die Dekoration erinnerte ans Weltall, die Decke war mit Sternen bemalt, die leuchteten und eine tolle Atmosphäre schufen. Noch waren die Discokugeln ausgeschaltet, sie kamen erst später zum Einsatz.

Einen Raum weiter befand sich der Gentlemen Club für VIPs. Nur wer aufzahlte, bekam Zutritt. Und dann gab es noch das Spielzimmer für BDSM-Liebhaber, wo immer wieder Shows geboten wurden. Réka betrat ihn selten. Für Fesselspielchen war sie zu haben, doch sie war keine Domina und niemals würde sie die Kontrolle in ihrem Job derartig abgeben, als dass sie die Sub für ihre Gäste mimte.

Réka marschierte an den beiden Räumen vorbei und den Gang entlang, an dessen Ende sich eine Treppe befand, die in den ersten Stock führte. Dort befanden sich zwölf Zimmer. Jedes stand unter einem anderen Motto. Heute Nacht hatte sie sich im »Spiegelzimmer« eingemietet. Der Raum machte seinem Namen alle Ehre. Über dem Bett prangte ein riesiger Spiegel, und rund um das Bett befanden sich insgesamt fünf, sodass man sich von allen Ecken und Enden selbst beim Sex beobachten konnte. Manchmal fand Réka es immer noch befremdlich, erinnerte der Raum sie doch unweigerlich an das Spiegelkabinett in einem Vergnügungspark. Doch die Irritation verschwand schnell, immerhin arbeitete sie hier schon seit Jahren. Und viele Kunden standen darauf, auch Harry liebte den Raum. Seit drei Jahren besuchte er sie regelmäßig, abgesehen von seinen sexuellen Vorlieben wusste Réka kaum etwas über ihn. Das war in Ordnung so. Manche Gäste erzählten gern und viel, andere waren schweigsam.

Sie legte ihre Jacke ab und hängte sie in den Schrank, dann entledigte sie sich ihrer Jeans, wozu sie noch mal aus den Schuhen rausmusste. Zugegeben, sie hätte einfach die Sneakers auf dem Weg nach drinnen tragen können, doch sie hatte die Blicke auf sich ziehen wollen, auch wenn es derzeit noch wenige waren. Dafür mühte sie sich jetzt damit ab, sie aus- und wieder anzuziehen. Abgesehen von den Schuhen, ihrer Reizwäsche, einem schwarzen String mit Strapsen und einem BH, der ihre Brüste mehr hervorhob als verdeckte, trug sie nichts. Harry wollte es so. Réka parfümierte sich, wuschelte durch ihre schwarz gefärbten Haare, die ihr fast bis zum Hintern reichten, legte sich aufs Bett und wartete. Und wartete. Und wartete. Die Zeit verstrich, doch Harry kam nicht. 15 Minuten war er jetzt schon zu spät. Gereizt beobachtete Réka, wie die Minuten verstrichen. Zeit ist Geld und Geld ist knapp. Der Spruch könnte nicht treffender sein. Keine Nachricht von ihrem Kunden, also schrieb Réka ihm.

»Hey, ich warte auf dich! Du versetzt mich doch nicht, oder? Sonst muss ich dich nachher noch bestrafen …«

Tatsächlich hatte Harry nichts gegen ein Spanking dann und wann einzuwenden. In ihrem Kopf kalkulierte Réka durch, wie viel Zeit ihr bis zu ihrem nächsten gebuchten Termin blieb und wie sie den Gewinnentgang reinbekommen würde. Sie würde von Harry die volle Summe verlangen. Seine Verspätung war nicht ihre Schuld. Allerdings waren nur zufriedene Gäste gute Gäste. Wie in allen Branchen lebten auch Sexarbeiterinnen von guten Bewertungen und Mundpropaganda.

Ein Seufzen entglitt ihren Lippen, das von einem Rumpeln unterbrochen wurde. Neugierig verließ sie das Bett und öffnete die Tür. Ein Kerl stolperte durch den Gang, welcher ein wenig an einen Hotelflur erinnerte. Offenbar war er nicht nüchtern und hatte eine von Gerrys Astronautenfiguren niedergerannt.

»Sorry!« Er lächelte und wischte verlegen über seinen Hinterkopf, auf dem sich eine Glatze abzeichnete. Der Kerl litt an Haarausfall, die Geheimratsecken an seinen Schläfen waren tief.

»Kein Ding. Astronauten halten viel aus«, meinte Réka mit einem Zwinkern. Sie kannte den Kerl, er zählte zu den Stammgästen. Es gab Phasen, da war er oft hier, manchmal sogar zweimal die Woche. Dann ließ er sich wieder wochenlang nicht blicken. Réka hatte er noch nie besucht, wenn sie sich nicht täuschte, bevorzugte er Gabi. Mit ihren fast 50 Jahren war sie die älteste Sexarbeiterin im Starship, doch gerade ihr Alter zog viele Männer an. Auch wesentlich jüngere. Den Gast, der im Moment vor ihr stand, schätzte Réka auf etwa 40 Jahre.

»Kann ich dir helfen?«, fragte sie mit einem Lächeln und umkreiste gleichzeitig mit ihren Fingerkuppen ihre nackten Nippel. Scheiß auf Harry!

»Ahm … n-nein. Ich muss jetzt los.«

»Das ist schade. Vielleicht kommst du mich demnächst mal besuchen.« Sie lehnte sich mit ihren Schultern gegen den Türrahmen und wölbte ihren Rücken, sodass auch ihr Po den Türstock berührte. Lasziv leckte sie über ihre Lippen und beobachtete, wie der Adamsapfel des Kerls hüpfte. Innerlich grinste sie. In dieser Hinsicht waren alle Männer gleich. Zumindest alle, die sie kannte. Und Réka liebte es, liebte die Macht, die sie ausübte. Ihre Hand wanderte von ihren Brüsten über ihren Bauch, über ihre Schenkel. Genießerisch schloss sie die Augen. In diesem Moment hörte sie Schritte.

»Hey! Entschuldige die Verspätung.«

Harry. Na endlich!

»Da bist du ja. Ich hab schon gedacht, ich muss mir einen anderen suchen, der mein geiles, feuchtes Loch stopft.« Noch etwas, das Harry liebte: Dirty Talk.

»Nein, nein, ich bin schon zu Diensten.« Er trat auf sie zu und legte seine großen Hände auf ihre Brüste, begann sie zu kneten. Der Typ im Gang beobachtete sie eine Weile, bis Réka Harry an der Hand nahm und ihn ins Spiegelzimmer führte.

Eine Stunde später schlürfte Réka an der Bar einen Cocktail. Mittlerweile hatte sich das Starship gefüllt, eine Männergruppe mittleren Alters lungerte in einer der Lounges und bedachte Natasha, die sich an der Stange rekelte, mit gierigen Blicken. Immer wieder steckte ihr einer einen Schein zu und wurde mit einem Lächeln belohnt.

Drei Männer in Anzügen betraten den Raum, Réka lächelte rüber und prostete ihnen zu. Zwar wartete sie auf einen Kunden, der in den nächsten Minuten eintreffen sollte, doch die Nacht war noch jung, und für gewöhnlich brauchten die Gäste erst ein paar Getränke, um lockerer zu werden.

Tiffany ließ sich neben sie auf den Hocker sinken und bestellte einen Margarita. Wie Réka saß sie aufrecht da und präsentierte ihren Körper. Keine Sexarbeiterin lümmelte, jede zeigte ihre Rundungen und ihre Vorzüge. Es geschah ohne große Anstrengung und war längst antrainiert.

»Hast du von dem Radau mitbekommen?« Tiffany legte ihre aufgespritzten Lippen um den Strohhalm und saugte kräftig. Es wirkte obszön, und dass sie dabei einem der Männer zuzwinkerte, war reines Kalkül.

»Nein, was ist passiert?«

»Ein Bulle hat sich aufgeführt.«

»Ein Bulle?«

»Er war nicht im Dienst. Rudi hat ihn rausgeworfen.«

»Hm.« Das interessierte Réka nicht. Sie hatte gelernt, sich rauszuhalten, so entging man Problemen am besten. Geld verdienen war ihre Priorität, alles andere blendete sie so gut es ging aus. Aus diesem Grund war sie so lange im Geschäft.

Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf den neuen Gast, ein junger, gut aussehender Kerl um die 30. Dunkles Haar, dunkle Augen, ein südländischer Typ mit markanten Gesichtszügen, groß, breite Schultern. Ein feuchter Traum auf zwei Beinen. Was zur Hölle hatte er hier verloren?

Tiffany folgte ihrem Blick. »Aber hallo, Schätzchen!«

Réka wollte aufstehen, da sagte ihre Kollegin: »Hey, wo willst du hin? Ich hab ihn zuerst gesehen!«

»Das ist nicht wahr.«

»Hast du nicht gleich einen Kunden?«

»Die wenigsten kommen gleich zur Sache. Vermutlich will er erst was trinken.«

Der junge Mann steuerte nun direkt auf sie zu, Aufregung befiel Réka, und gleichzeitig schalt sie sich eine Idiotin. Wie oft musste sie noch die Erfahrung machen, dass die gut aussehenden Kerle meist schlecht im Bett waren. Die hässlichen gaben sich in der Regel mehr Mühe. Je näher der Adonis kam, umso deutlicher fiel ihr seine Erschöpfung auf. Na, sie würde ihm anbieten, bei der Entspannung zu helfen.

»Guten Abend!« Sein Lächeln wirkte aufgesetzt.

»Hallo, mein Hübscher«, schnurrte Réka.

»Was können wir für dich tun?«, ergänzte Tiffany und streichelte ihm mit ihren langen Krallen über den Unterarm.

»Ich suche eine Gabi.«

Enttäuschung breitete sich in Réka aus. So hätte sie ihn nicht eingeschätzt, aber das Aussehen war oft trügerisch und verriet nichts über sexuelle Vorlieben.

»Sie arbeitet heute nicht.« Eine Lüge. Gabi bediente einen Kunden, aber offensichtlich wollte Tiffany das Sahneschnittchen für sich haben. Réka schenkte ihr nur einen kurzen Seitenblick, hielt ihre Miene jedoch neutral.

»Wann ist sie denn wieder da?«

»Du kannst online einen Termin bei ihr buchen, aber wenn du heute schon hier bist, dann solltest du dich vielleicht anderweitig umschauen. Wir haben viel Angebot hier.« Tiffany reckte ihre Silikonbrüste hervor. Bei Réka war alles natürlich, aber viele Männer waren neugierig auf die aufgeblasenen Ballone. Sie schienen jedoch nicht nach dem Geschmack des Schönlings zu sein, denn er wich einen Schritt zurück.

»Nein, aber … danke für das Angebot.«

»Können wir Gabi etwas ausrichten?«, fragte Réka.

Ein kurzes Zögern, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, wobei …« Er räusperte sich und zog seine Geldtasche hervor. »Habt ihr sie schon mal hier gesehen?« Ein zerknittertes Foto, das er bestimmt schon etliche Male in den Händen gehalten hatte. Es zeigte eine dunkelhaarige Schönheit, ein junges Mädchen, Réka war nicht sicher, ob es schon volljährig war.

»Nein, wer ist das?«

Er öffnete den Mund, um zu antworten, da sagte Tiffany, ohne das Foto richtig angesehen zu haben: »Du solltest aufhören, einer Verflossenen nachzuweinen. Wenn sie jemanden wie dich gehen hat lassen, ist sie blind.«

Ein bitterer Zug legte sich um die Mundwinkel des Mannes, dann zog er seine Schultern hoch. Réka wollte fragen, wer das Mädchen war, doch in diesem Moment betrat ihre Verabredung das Bordell. Bestimmt besser so. Sie hielt sich aus Dingen raus, die sie nichts angingen. Das war ihr Motto.

»Da kommt Sascha. Ich muss.« Sie exte den Cocktail und stöckelte auf den zweiten Freier des Abends zu. Mit einem Küsschen links und rechts begrüßte sie ihn. Vermutlich wollte er zuerst etwas mit ihr trinken, dann würde es nach oben in den ersten Stock gehen. Den Schönling blendete sie aus. Er war nicht ihr Problem.

Kapitel 2 – das Mädchen

Mittwoch, 8. November 2023

Zitternd wandert sie den Gehsteig entlang. Die Jacke ist löchrig und hält der Kälte nicht stand. Uralt. Das ist sie. Genau wie sich das Mädchen fühlt. Der Avril-Lavigne-Song kommt ihr in den Sinn: Sie will nach Hause, aber da ist niemand.

In einer ähnlichen Situation befindet sie sich. Sie kann nicht nach Hause. Zu ihrem Bruder könnte sie, doch sie will ihn nicht in Gefahr bringen. Sie sind ihr auf den Fersen. Nirgends kann sie lange bleiben. Auch nicht bei der netten Prostituierten, die ihr ein paar Tage lang Unterschlupf gewährt hat. Sogar dort hat er sie gefunden.

Ein Schauer durchläuft ihren Körper, als sie an die verhassten Berührungen denkt.

»Ich helfe dir.«

Eine Lüge.

Alle lügen.

Niemand hilft ihr.

Sie ist ganz allein auf dieser Welt.

Gedankenversunken kickt sie kleine Steinchen mit ihren Sneakers davon. Die Schuhe sind zu dünn für die Jahreszeit, andere hat sie nicht. Sie braucht einen Job, doch wer stellt eine Drogensüchtige ein?

Bei dem Bordell wollte sie Hilfe finden, doch die Prostituierte hat sie verscheucht.

»Gerry mag keine Junkies. Aber komm mit mir, Mädchen. Vielleicht ich kann helfen dir.«

Sie hat von einem Entzug gelabert. Als würde sie freiwillig noch mal in so eine Einrichtung gehen. Das letzte Mal hat ihr gereicht. Sie sieht den Weißkittel vor sich. Vermeintlich freundlich.

Eine Lüge.

Er ist keinen Deut besser als ihr Vater. Als ihr Ex-Freund. Sie verdrängt die Bilder, will nicht daran denken, was er ihr angetan hat.

Männer sind Schweine. Wieder ein Song. Von den Ärzten. So viel Wahrheit dahinter. Na gut, vielleicht nicht alle Männer. Ihr Bruder ist eine Ausnahme. Vielleicht sollte sie zu ihm. Er ist Polizist. Er könnte helfen. Oder doch nicht. Das letzte Mal, als er ihr helfen wollte, wäre er beinahe gestorben. Nichts als Ärger hat sie ihm eingebracht und einmal fast ins Grab. Sie sieht sein weißes Gesicht vor sich. Ihr Vater hat sich völlig vergessen. Wegen ihr. Und ihr Bruder musste es büßen.

Nein, sie kann ihn da nicht wieder reinziehen. Sie muss das allein schaffen. Wenigstens gibt es auf der Straße keine Kliniken mit bösen Ärzten, und sie ist frei von ihrem Vater. Sie zieht die Kälte den Qualen vor.

Ihr Magen knurrt, wann hat sie das letzte Mal gegessen? Sie weiß es nicht mehr. Es ist fast wie in den Käfigen.

Nicht daran denken!

Das ist vergangen.

Der Arzt hat gesagt, er hilft ihr. Das hat er nicht. Er hat alles schlimmer gemacht.

Ein Auto fährt an ihr vorbei, Scheinwerfer blenden sie. Panik setzt ein. Holen die sie wieder? Sie springt hinter einen Baum, versteckt sich. In Graz gibt es wenig Bäume, doch in der Raiffeisenstraße bei den Parkplätzen, da sind ein paar. Sie geht weiter, bald hat sie die Stadthalle erreicht. Von da ist es nicht weit bis zu Gabis Wohnung. Vielleicht sollte sie doch noch eine Nacht dort schlafen. Gabi würde ihr etwas zu essen geben, es wäre warm. Ein Unterschlupf.

Kein Ort, wo sie hinkann.

Leon?

Nein. Keine gute Idee. Das hatte sie doch schon. Er wäre bloß enttäuscht und würde sie mit diesem Blick ansehen, und was, wenn er ihr auch nicht glaubte?

Ihr Körper zittert. Die Entzugserscheinungen. Sie braucht Stoff. Im Stadtpark. Ein paar Euro hat sie noch eingesteckt. Die sind von Gabi. Sie war großzügig.

Sie geht weiter. Eigentlich ist sie kein Mädchen. Sie fühlt sich aber so. Schwach. Hilflos. Allein. So allein.

Zahlreiche Erinnerungen prasseln auf sie ein. Ihr Vater, ihr Ex-Freund, der Käfig, der Arzt. Sie alle vermischen sich. Ihr Kopf schmerzt. Sie weint und bekommt es nicht mit.

Das Zittern wird schlimmer. Nicht nur die Drogen, auch die Kälte ist schuld.

Irgendwann landet sie wieder bei Gabis Wohnung. An den Weg dahin kann sie sich nicht erinnern. Die Sonne ist aufgegangen, sie hat einen Zwischenstopp im Stadtpark eingelegt. Viel hat sie nicht bekommen. Kein gutes Zeug. Über den Tisch gezogen hat er sie. Sonst wäre sie jetzt nicht so klar im Kopf, sondern würde in einer Ecke liegen, und es würde ihr für den Moment gut gehen.

Stattdessen steht sie vor der Wohnung. Sie versucht, sich ins Gedächtnis zu rufen, in welchen Stock sie muss, da geht die Tür auf. Ein Mann kommt raus. Nicht irgendeiner. Er ist es. Und er trägt einen Müllsack. Geschockt beobachtet sie, wie er ihn in den Kofferraum legt. Ein schwarzer Sack. Menschliche Umrisse. Erstarrt steht sie da. Sie sollte die Polizei rufen. Aber sie hat kein Handy. Alles passiert in Zeitlupe. Er steigt ins Auto, startet den Motor, fährt los. Sie steht immer noch da.

Vielleicht waren die Drogen doch nicht so schlecht. Es muss eine Halluzination gewesen sein. Sie wankt zum Haus, drückt auf Gabis vergilbtes Türschild. Gleich wird sie öffnen und sich beschweren, weil es so früh ist. Wie spät ist es? Sie hat keine Ahnung.

Sekunden verstreichen, kein Surren. Sie probiert es erneut.

Nichts.

Sie versucht es bei einem anderen Schild, versucht es solange, bis endlich das gewünschte Geräusch ertönt. Die Stiegen zu erklimmen ist furchtbar anstrengend, doch sie schafft es, erinnert sich sogar an das richtige Stockwerk. Das ist Gabis Tür, sie erkennt die Matte wieder. Eine Katze ist darauf abgebildet. Sie klingelt und klopft, doch niemand öffnet ihr. Und mit einem Mal begreift sie: Das war keine Einbildung. Der Mann hat Gabi mitgenommen. Sie sollte die Polizei rufen. Doch niemand wird ihr glauben.

Er wird sie wieder einsperren und behaupten:

alles eine Lüge.

Kapitel 3 – Leon

Donnerstag, 9. November 2023

Das Feuerwehrauto blockierte beinahe die gesamte Straße, dahinter parkte ein Streifenwagen. Die Kollegen hatten eine Sperre um das Waldstück errichtet.

»Stell dich da gleich hinten hin«, wies Leon seinen Partner Richard an, den jeder nur Rick nannte. Vor einer halben Stunde war der Anruf im Landeskriminalamt eingetroffen. Die Weizer Kriminaldienstbeamten hatten sie angefordert, da der Arzt, der die Leichenbeschau durchgeführt hatte, von Fremdeinwirkung ausging.

Leon stieg aus ihrem Dienstwagen, eine Anreise von etwas mehr als einer halben Stunde lag hinter ihnen. Die Anbindung von Graz nach Thannhausen war gut, den Großteil der Strecke waren sie über die Autobahn gefahren, nur beim letzten Stück hatte ihnen das Navi aushelfen müssen. An dem Schloss Thannhausen und der sogenannten Schlosstaverne vorbei hatte sie der Weg geführt, bis sie den Galgenwald erreichten. Klang schaurig, und wenn Leon sich den Ort besah, machte er seinem Namen alle Ehre.

»Das war mal eine Hinrichtungsstätte«, hatte Peter Wegmüller, der Weizer Kriminaldienstbeamte, ihn schon am Telefon wissen lassen. »Die Leiche hängt am ehemaligen Galgen. Also an dem, was davon noch übrig ist.«

Eine Gänsehaut kroch Leons Arme hinauf. Er arbeitete noch nicht lange für das LKA, und auch Rick war noch recht neu. »Die Grünschnäbel« wurden sie scherzhalber von ihren Kolleginnen und Kollegen genannt. Leon fand, Rick und er gaben dennoch ein gutes Team ab.

Stirnrunzelnd trat Rick neben Leon, und der ahnte, was sein Partner dachte. »Ziemliche Pampa, hm?« Leon grinste. Er hatte schon Schlimmeres gesehen, aber Rick konnte manchmal ein Schnösel sein. Sein Lieblingslokal war Katze, Katze und seine Dates führte er gern in den Landhauskeller aus. Es war nicht seine Schuld, er war so aufgewachsen. Sein Vater besaß eine renommierte Anwaltskanzlei, seine Mutter war Architektin. Groß geworden war Rick in einer Villa im Bezirk Ries. Auch jetzt lebte er in einer schmucken Penthouse-Wohnung mitten in der Herrengasse, die er bestimmt nicht ausschließlich mit seinem Polizistengehalt finanzierte.

Manchmal wunderte Leon sich, wie sie beide so gut miteinander auskommen konnten. Rick aus dem reichen Haus und er selbst, der Junge aus der Gosse. Die Sozialarbeiter aus Leons Vergangenheit hätten bestimmt darauf gewettet, er würde auf der anderen Seite des Gesetzes landen. Tja, Leon hatte allen bewiesen, was in ihm steckte. Doppelt so hart hatte er gearbeitet, um seine Ziele zu erreichen. Und hier war er nun und jagte Verbrecher.

»Zum Glück hab ich heute in der Früh eine Eingebung gehabt und nicht meine neuen Schuhe angezogen«, meinte Rick und deutete auf seine alten Sneakers.

»Es gibt so eine neuartige Erfindung, die nennt sich Waschmaschine.« Leon grinste.

Rick rollte die Augen. »Klugscheißer. Und die Schuhe werden doch kaputt, wenn du die wäschst.«

»Hast du eine Ahnung! Was glaubst du, wie oft ich meine Turnschuhe schon in die Waschmaschine gesteckt hab? Aber komm jetzt! Lassen wir die Kollegen nicht warten.«

Sie näherten sich dem Waldstück, eine schmale, kurvige Straße führte daran vorbei. Sogleich sprang Leon ein weißes Schild auf einem Holzpflock ins Auge. »Richtstätte Galgenwald« stand darauf.

»Bin gespannt, warum die von Fremdeinwirkung ausgehen. Immerhin ist der Wald ein beliebter Ort für Suizid«, überlegte Rick.

2022 starben in Österreich dreimal so viele Menschen durch Suizid wie im Straßenverkehr. Diese Zahl hatte eine Expertin kürzlich bei einem Präventionsworkshop genannt, den Leon besucht hatte. Erschreckend.

»Tja, wir werden ’s gleich hören.«

»Guten Morgen!« Eine junge Polizistin, die noch grün hinter den Ohren war, trat in Uniform auf sie zu.

»Morgen!«, erwiderte Leon, obwohl es schon kurz nach 10 Uhr vormittags war. »Wir kommen vom LKA, das ist mein Kollege Richard Schantl, ich bin Leon Esposito. Von mir aus können wir gern per Du sein.« Leon hielt seinen Ausweis hoch, auf den die junge Polizistin nur einen beiläufigen Blick warf.

»Alles klar, ich bin Lea. Lea Krammer, ich bring euch zu der Leiche. Mein Kollege Hannes und ich waren die Ersten am Fundort. Eine Joggerin hat sie heute Morgen kurz nach 8 Uhr gefunden.« Während Lea sprach, zogen sie ihre Schutzausrüstung an, danach marschierten sie los. Sie folgten ihr durch das Gestrüpp. Es ging einen schmalen Trampelpfad steil bergauf, links und rechts ragten riesige Bäume in die Höhe. Der Himmel hing grau und bewölkt über ihnen. Der Novembernebel, der sich langsam lichtete, verlieh der Umgebung das Setting eines Gruselfilms. Bedachte man, dass sie auf dem Weg zu einer ehemaligen Hinrichtungsstätte waren, wo eine Leiche auf sie wartete, war der Gruselfaktor erfüllt.

»Sollte es sich tatsächlich um Fremdverschulden handeln, muss der Täter sie entweder hier raufgelockt haben oder fit wie ein Turnschuh sein«, bemerkte Leon.

»Oder es gibt einen anderen Weg«, überlegte Rick.

»Die sind alle recht beschwerlich«, meinte Lea.

Nach wenigen Schritten erreichten sie ihr makabres Ziel. Leons Mund blieb für einen Moment offenstehen, nicht nur wegen des anspruchsvollen Spaziergangs bergauf. Die Reste der ehemaligen Hinrichtungsstätte sahen beeindruckend aus, und ein seltsames Gefühl befiel ihn bei dem Anblick der drei runden, aus Bruchsteinen gemauerten Säulen, die sich inmitten der Bäume erhoben. Balken verbanden die oberen Enden der Säulen, deren Höhe Leon auf etwa fünf Meter schätzte, zu einem Dreieck. Auf dem Balken, der dem kleinen Trampelpfad am nächsten war, baumelte noch ein Seil. Die Leiche hing nicht mehr daran, dafür lehnte eine Leiter an einer der Säulen.

»Guten Morgen, die Herren!« Ein grauhaariger Brillenträger trat mit grimmigem Gesichtsausdruck auf sie zu und streckte Leon die Hand entgegen. »Ich bin Peter Wegmüller, der Kriminalbeamte; wir haben telefoniert.«

»Ah ja, Leon Esposito und mein Kollege Richard Schantl vom LKA. Wo ist denn die Tote?«

»Da hinten. Die Streifenbeamten sind zuerst von einem Suizid ausgegangen, die Feuerwehr hat sie runtergeholt.« Ein paar Florianis standen noch etwas abseits, doch es sah aus, als würden sie ihre Rückreise ins Rüsthaus antreten wollen. Für sie gab es hier nichts mehr zu tun.

Leon und Rick umrundeten die Tatortkollegen und traten auf die Leiche zu, die entkleidet auf einer Plastikfolie lag. Eine Frau, deren Alter Leon schwer einschätzen konnte. Vermutlich Mitte 50. Neben ihr stand ein grauhaariger Mann mit einer schwarz umrandeten Brille, die ihm ein strenges Aussehen verlieh.

»Das ist Doktor Huber. Wir haben ihn für die Totenbeschau hergerufen.« Wegmüller deutete auf den Mann, den Leon auf den ersten Blick eher als Lehrer eingestuft hätte.

»Guten Morgen, die Herren!« Der Arzt nickte ihnen zu. »Sie sollten einen Kollegen von der Gerichtsmedizin herbestellen. Sehen Sie mal!« Er bückte sich und streckte die behandschuhten Finger nach der Toten aus, um sie auf die Seite zu drehen.

Leon runzelte die Stirn. »Totenflecke auf der linken Seite.«

»Ganz recht. Bei einem Suizid hätten sich die Totenflecke in ihren Füßen gesammelt.«

Im Stillen gab Leon dem Arzt recht. Nach Stillstand des Kreislaufes hört das Blut auf zu fließen, und die Wirkung der Schwerkraft setzt ein. Das Blut fließt daher nach unten und setzt sich in der Haut ab, es entstehen hellrote Verfärbungen, die im weiteren Verlauf größer und blauviolett werden.

»Das heißt, sie starb nicht am Galgen«, schlussfolgerte Leon.

»Das muss Ihnen der Gerichtsmediziner bestätigen, aber ich sage, hier ist ganz eindeutig Fremdverschulden im Spiel. Für mich sieht es aus, als wäre sie nach ihrem Tod noch einige Stunden in zusammengekauerter Haltung gelagert worden.«

»Gute Arbeit. Rick? Rufst du im Institut an?«

»Mach ich.« Sein Kollege fischte das Handy aus der Jacke und wandte sich ab.

Leon kniete sich neben die Leiche. Die Augen der Toten waren aufgerissen, daneben sah er kleine Punkte, wie auch auf ihren Wangen. Um ihren in die Länge gezogenen Hals hing noch der Strick, den die Mitglieder der Feuerwehr abgeschnitten hatten.

»Weiß man, wer die Tote ist?«, fragte Leon.

Wegmüller räusperte sich, ehe er antwortete. »Sie heißt Gabriela Avram, rumänische Staatsbürgerin. Die Identität konnten wir anhand ihres Führerscheins bestätigen, den wir in ihrer Geldtasche gefunden haben, die sie in ihrer Jackentasche trug. Handy hatte sie keines bei sich.«

Leon hatte Mühe, den weiteren Worten zu lauschen. Hatte er den Namen richtig verstanden? Eine Gänsehaut kroch über seine Arme. Das durfte doch nicht wahr sein! Frustriert starrte er auf die Tote, von der er sich Antworten erhofft hatte.

»Leon?« Rick tauchte hinter ihm auf. »Sie schicken gleich Doktor Blanzano los.«

»Danke!«

Kapitel 4 – Flo

Donnerstag, 9. November 2023

»Guten Morgen, meine Portos! Ich hoffe, ihr seid mindestens genauso gut in den Tag gestartet wie ich! Gerade hab ich mir einen echt leckeren Smoothie gemacht, damit ich genug Energien hab, denn gleich geht’s für mich ins Gym!«

Flo hielt das giftgrüne Getränk vor die Kamera und grinste. »Was da alles drin ist, das verlink ich euch. Wie ihr wisst, trinke ich jetzt jeden Morgen einen Smoothie von …«

Ein gleichmäßiges Brummen ertönte. Genervt stoppte Flo die Aufnahme. Emma wusste doch, er drehte. Vielleicht war es an der Zeit, dass er sie austauschte. Sie war zwar schön anzusehen, aber das waren viele andere auch, und in den letzten Wochen nervte sie nur noch. Doch gerade vor der Veröffentlichung seines ersten Buches wäre es ein schlechter Zeitpunkt dafür. Die Feministinnen würden sich wieder auf ihn stürzen und mit ihren dummen Sprüchen kommen wie: »Wenn du Frauen so sehr hasst, dann date doch einen Mann.« Bullshit! Er hasste Frauen nicht, sie sollten bloß wissen, wo ihr Platz war. Leider vergaß Emma das regelmäßig.

Und dennoch half es marketingtechnisch bestimmt, eine Frau an seiner Seite zu haben, die die gehässigen Kommentare und Videos abfederte und widerlegte. Zweifelsohne war er ein guter Fang. Das musste er Emma mal wieder in ihr kleines Spatzenhirn rufen.

Wütend stürmte er ins Badezimmer, wo sie ihr Haar immer noch föhnte.

»Babe!«

Sie reagierte nicht, kurzerhand zog Flo den Stecker. Emmas Augen weiteten sich, Flo konnte es im Spiegel beobachten.

»Was …«, setzte sie an, doch er unterbrach sie: »Ich drehe gerade, Babe! Das weißt du ganz genau. Wegen dir muss ich mein Video neu aufnehmen.«

Sie richtete sich auf, der Fön zeigte nutzlos zu Boden. »Tut mir leid, ich hab gedacht, das geht sich vorher noch aus. Ich hab heute einen Termin und …«

»Ich hab nicht nur einen Termin, sondern mehrere. Die Buchpräsentation steht an, wie du weißt, und …«

»Ja, entschuldige, ich … warte, bis du dein Video fertig hast.«

»Danke.« Er schenkte ihr ein schwaches Lächeln, obwohl er immer noch genervt war. »Wir sehen uns später.« Damit verließ er das Badezimmer, drehte das Video zu Ende, lud es auf TikTok und Instagram hoch und fuhr ins Fitnessstudio, wo er sein tägliches Work-out erledigte. Wie immer fühlte er sich danach besser. Entspannt saß er in der Umkleide, öffnete Tinder und scrollte durch seine Matches. Heute stand ein Treffen mit einer heißen Brünetten an. Vorfreude breitete sich in Flo aus. Würde er sie rumkriegen oder nicht? Er hoffte, sie war nicht eine von diesen verzweifelten Frauen, die nach einem Ehemann suchten. In ihm würde sie keinen finden. Vielleicht steckte er Emma mal den Ring an, wobei …