Gangsterland - Tod Goldberg - E-Book
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Gangsterland E-Book

Tod Goldberg

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Beschreibung

Hart und zynisch – ein moderner amerikanischer
Thriller


Mafiakiller Sal Cupertine hat es vermasselt. Durch Verquickung unglücklicher Umstände hat er in Chicago drei FBI-Beamte getötet – ein böser Fehler. Statt dafür von seinem Boss selbst ins Jenseits befördert zu werden, landet er nach diversen Gesichtsoperationen und entsprechendem Intensivstudium als Rabbi David Cohen in einer jüdischen Gemeinde in Las Vegas. Aber auch dort hat die Mafia ihre Finger im Spiel. Bald geht Rabbi Cohen nicht nur wieder seinem alten Gewerbe nach, sondern entdeckt weitere lukrative Betätigungsfelder, die sich mit der Rolle als Seelsorger aufs Beste vereinen lassen.

Mit viel Witz verbindet Tod Goldberg in einem raffinierten Plot die Welt des organisierten Verbrechens mit Tora und Talmud – und das alles im glitzernden Las Vegas, diesem ruchlosen Gangsterland mitten in der Wüste.

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Seitenzahl: 541

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Tod Goldberg, geboren 1971, ist Autor und Journalist. Er schreibt regelmäßig für die Los Angeles Times, Las Vegas Weekly sowie Los Angeles Review of Books und lehrt Creative Writing an der University of California.

Tod Goldberg

GANGSTERLAND

Roman

Deutsch von Karl-Heinz Ebnet

C. Bertelsmann

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Gangsterland« im Verlag Counterpoint, Berkeley.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Copyright © 2014 by Tod Goldberg

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

beim C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: buxdesign, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-17489-7V001

www.cbertelsmann.de

Für Wendy, meinen Norden, meinen Süden, meinen Osten und Westen.

Der Dumme kennt keine Beleidigung, so wie der Tote den Schnitt des Messers nicht spürt.– Talmud

Prolog

April 1998

Wenn Sal Cupertine einen umlegte, ging er so nah wie möglich ran und schoss ihm in den Hinterkopf. Zielte man ins Gesicht, bestand immer die Gefahr, dass der andere überlebte. Sal hielt sich auch nie mit einem Bauchschuss auf, er versuchte nie, das Herz zu treffen. Das war bescheuert und gab bloß eine Riesensauerei. Hatte man den Auftrag, jemanden kaltzumachen, machte man ihn kalt. Man alberte nicht mit Windstärke oder irgendwelchen Luftdruckschwankungen herum, diesem ganzen Spezialkräfte-Blödsinn, den man im Fernsehen zu sehen bekam. Nein, man ging ran und machte es. Man ging professionell vor, dann hatte keiner zu leiden.

Trotzdem musste er zugeben, dass ein bisschen Abstand nicht schlecht gewesen wäre. Seit drei Stunden zupfte er sich bröckchenweise die Überreste von diesen Donnie-Brasco-Pissern von der Kleidung. Einer der Typen hatte einen Schnauzer gehabt, und Sal war überzeugt, dass das Haar, das er sich gerade unter dem Daumennagel herauspulte, von ihm stammte. Ein festes, hellbraunes Haar, ohne Blut, wahrscheinlich hatte es sich unter dem Nagel verfangen, als er ihn erwürgt hatte. Das alles war ein einziger großer Fehler gewesen, man konnte es nicht anders sagen. Aber was sollte er jetzt machen? Nach drei Stunden auf dem Rücksitz eines Toyota Corolla neben Fat Monte, der noch nicht mal mehr fett war, weil er sich in dem halben Jahr im Knast mit Steroiden vollgepumpt und anscheinend volle Kanne Gewichte gestemmt hatte, konnte Sal im Grunde nur zu dem Schluss kommen, dass ihm wahrscheinlich selbst kaum mehr als ein paar Stunden blieben, bis sie ihn umlegten.

Sal hatte keine Angst vor dem Tod, noch nicht jedenfalls. Fat Monte hatte ihm das Handy nicht abgenommen, das war ein gutes Zeichen; aber es vibrierte unablässig in seiner Tasche, was hieß, dass seine Frau Jennifer nachfragen wollte, wo er steckte. Sie wusste, dass er nicht unbedingt feste Arbeitszeiten hatte, sie wusste, dass es manchmal bis zum nächsten Tag dauern konnte, wenn er geschäftlich für die Familie unterwegs war. Manchmal flog er sogar runter nach Florida oder rüber nach Detroit, aber in diesen Fällen teilte er ihr so gut wie immer mit, dass er es zum Abendessen nicht schaffen würde. Den Bossen war klar, dass er nicht wochenlang spurlos verschwinden konnte, ohne vorher Bescheid zu geben, jetzt, da er ein Kind hatte. Wenn die Frauen erst mal zu meckern anfingen, hatten alle ein Problem. Und ausgerechnet an diesem Tag hatte er Jennifer gesagt, dass er im Walgreens noch ein Rezept abholen wollte. Ihr Sohn William besuchte in der Mt. Carmel Academy die Vorschule und schleppte jede Woche ein Dutzend ansteckender Krankheiten an. So kam es ihnen jedenfalls vor, weil sie sich alle drei schon den ganzen Winter mit irgendwelchem Atemwegsscheiß herumschlugen. Der codeinhaltige Hustensaft schien zu helfen, und Sal hatte versprochen, auf dem Rückweg eine neue Flasche zu besorgen. Genau das hätte er auch getan, wäre er bei den Donnie Brascos nicht ausgerastet. So war er jetzt also hier, an die zweihundert Meilen außerhalb von Chicago, mitten in der Nacht, auf beiden Seiten des Highways nur schwarzes Farmland, Fat Monte neben ihm, der laut durch den Mund atmete, vorn zwei Typen – auf dem Beifahrersitz ein Halblatino-Bürschchen namens Chema, am Steuer Fat Montes Cousin Neal, der allerdings öfter in den Rückspiegel sah als vor sich auf die Straße, was Sal nicht gerade mit Zuversicht erfüllte.

Er hatte keine Angst vor dem Sterben, aber er hatte Bammel, wie es sich anfühlte, wenn er Jennifer und William zurückließ. An so was hatte er früher nie gedacht, aber der heutige Tag war eben voller Offenbarungen. Sterben, das war schon okay. Damit kam er zurecht. Er war erst fünfunddreißig, aber oft genug knapp daran vorbeigeschrammt, sodass ihm der Gedanke nicht fremd war. Irgendwann würde der Zeitpunkt kommen, an dem er am anderen Ende des Laufs stand, und das war es dann. Aber er wollte nicht, dass Jennifer und William unter seiner Blödheit zu leiden hatten. Dieser ganze Mist hier, das war anders gewesen. Vermeidbar. Das nagte an ihm: Irgendwie würden die beiden die Folgen zu tragen haben.

Er fingerte sein Handy aus der Tasche. Wenn er schon heute Nacht sterben sollte, könnte er wenigstens noch ein letztes Mal den Namen seiner Frau sehen.

»Verdammt, Mann, was machst du?«, blaffte Fat Monte, riss ihm aber nicht sofort das Handy aus der Hand. Interessant.

»Es vibriert schon die ganze Zeit«, sagte Sal. Er hatte nicht vor, auf Fat Montes Frage zu antworten, also bewahrte er die Ruhe und probierte es auf die ehrliche Tour. »Meine Frau ist krank.«

»Mann, die Bullen können den Scheiß nachverfolgen. Entsorg das Ding.«

»Du meinst, die suchen nach mir?«

»Glaubst du, die haben nicht deine Fingerabdrücke? Dein erster Fehler, und was für einer! Ein bisschen mehr Selbstbeherrschung, Sal, dann wärst du jetzt zu Hause.«

»Ja. Ist alles etwas aus dem Ruder gelaufen, ich geb’s zu.«

»Den Scheiß kannst du dir sparen«, sagte Fat Monte. »Weiß sowieso schon jeder.«

Jeder. Sal wollte nicht darüber nachdenken, was das bedeutete. Nach wie vor hatte Monte nicht nach dem Handy verlangt, also schaltete Sal es aus und stopfte es wieder in die Tasche.

Eines war klar: Hätte Monte die Sache versaut, hätte Sal mit ihm längst kurzen Prozess gemacht. Und er hätte sich auch nicht um irgendwelche Zeugen geschert, schon gar nicht um den Halblatino, dem der Schweiß im Nacken stand. Den Bossen ging es in letzter Zeit um Diversifizierung, man hielt sich nicht mehr so strikt an die italienischen Regeln, schon gar nicht, wenn so viele gute Soldaten einsaßen. Angebot und Nachfrage und fehlendes gutes Personal, das stellte alles auf den Kopf.

Und deshalb hatte er jetzt auch die Kacke am Dampfen.

Drei neue Typen waren aufgetaucht, hatten sich im weiteren Umfeld der Familie rumgetrieben und wollten rein, koste es, was es wolle. Schafften ultramoderne Fernseher ran, Heroin, sogar einen Laster voller Lederbüromöbel, bis die Bosse sie nicht mehr ignorieren konnten. Die Fernseher und die Büromöbel waren eine Sache, aber als sie mit Tütchen um Tütchen erstklassigem Heroin anrückten – Sal vertrug Heroin nicht besonders, es machte ihn reizbar und hochgradig aggressiv, aber er hatte sich überreden lassen, das Zeug mal zu probieren, was an dem Abend ein sexuelles Erweckungserlebnis ausgelöst hatte –, fragten sich die Bosse, wer ihre Connection war. Denn die Familie kontrollierte den Heroinhandel in Chicago seit fast hundert Jahren. Also sagten sie Sal, er solle sich mal ein bisschen umhören, ein paar Sachen in Erfahrung bringen und sich wieder melden, wenn er Definitives wisse.

Die Erkundungsmission war eine nicht unerhebliche Ausweitung seiner bisherigen Aufgaben. Er verstand sich aufs Aufspüren und Töten, einfache Dinge, aber jetzt sah ihn die Familie auch als Speerspitze im geschäftlichen Bereich. Er lauerte nicht mehr nur im Schatten, sondern stand im hellen Tageslicht. Bislang hatte er bei dem Spiel nie einen Fremden sein Gesicht sehen lassen. Zumindest keinen Fremden, der nicht dazu auserkoren war, in absehbarer Zeit ein toter Fremder zu sein. Aber jetzt bot sich ihm die Chance, richtig aufzusteigen, keine Morde mehr mitten in der Nacht, mehr Zeit für Frau und Kind. All so was. Die Chance auf etwas Besseres als Auftragsmorde. Er ging sogar das Risiko ein und erzählte Jennifer, dass Großes bevorstehe, dass, wenn alles klappte, sie im nächsten Jahr vielleicht Urlaub machen oder sogar woandershin ziehen könnten, wo es wärmer sei. Sie hatten beide die Schnauze voll von den eiskalten Wintern in Chicago. Jennifer hatte Kunstunterricht im City College, sie hatte sich in der Olive-Harvey eingeschrieben, ganz unten in der South Side, damit sie niemandem übern Weg lief, der sie kannte. Ziemlich überflüssig in Sals Augen, weil die anderen Mafia-Frauen um Volkshochschulen einen weiten Bogen machten. Seitdem schleppte sie jede zweite Woche ein Bild vom Meer oder eine Zeichnung von windgepeitschten Palmen an. Auch wenn Sal sie nicht unbedingt als Künstlerin bezeichnet hätte, aber die Vorstellung, dass sie irgendwann den ganzen Tag in einem Strandkorb sitzen und zeichnen würde, gefiel ihm trotzdem.

Außerdem machte ihn die Untätigkeit zwischen den Jobs rasend, so sehr, dass er Fremdaufträge annahm, damit sie um die Ferien herum über die Runden kamen – war ein Kinderspiel, nach East Saint Louis zu fahren, um für einen Ladenbesitzer ein Gangmitglied der Crips umzulegen, oder rüber nach Springfield, um einem treulosen Gatten eine Kugel in den Schädel zu jagen. Aber es war auch gefährlich. Die Bosse hatten gegen ein bisschen freiberufliche Tätigkeit nichts einzuwenden, jedoch nicht in dem Maße, wie es Sal in letzter Zeit betrieb. Aber wenn das Kind ständig krank ist und man keine Krankenversicherung hat, Mann, dann nimmt man, was man kriegen kann.

Sal war überzeugt, dass sie seit Stunden ziellos herumfuhren. Chema, das Multikulti-Bürschchen, warf hin und wieder einen Blick auf seine Karte und wies Neal an, die nächste Ausfahrt zu nehmen, dann gondelten sie eine Weile herum, bevor sie in die andere Richtung wieder auf den Highway auffuhren, und die ganze Zeit sagte keiner ein Wort. Sogar Sal konnte der Ironie seiner Situation etwas abgewinnen: Über fünfzehn Jahre hatte er Leute für die Familie getötet, und jetzt fuhr man ihn nachts in die Pampa, weil er am Nachmittag drei von diesen Donnie-Brasco-Pissern erschossen und den vierten erwürgt hatte. Eine amateurhafte Vorstellung seinerseits, ganz klar. Ein einziger Fehler das Ganze.

Er war zu diesem piekfeinen Hotel in der Michigan Avenue gefahren – das Parker House –, um sich dort mit den Donnie Brascos und ihrer mexikanischen Heroin-Connection zu treffen. Die Sache war ganz okay gelaufen; der Mexikaner ließ ihn irgendein Zeugs probieren – Dark Chocolate Tar, so hieß es –, das Sals Gehirn umgehend in eine flauschige Kuschelzone verwandelte.

Ein kleiner Happs Dark Chocolate Tar auf die Zunge, schon kam dieses Wahnsinnsgefühl totaler Klarheit. Als er das Hotel verließ, fühlte er sich … gut. Die Welt war weicher. Er hatte sich mit geschäftstüchtigen Kaufleuten getroffen, das war alles, und sie schienen grundanständige Menschen zu sein, relativ gesehen. Er würde sie nicht umbringen müssen. Ihre Zeit zum Sterben würde kommen – wahrscheinlich eher früher als später, immerhin waren sie Kriminelle –, aber nicht durch seine Hand.

Er war schon draußen auf der Straße und überlegte, ob er sich drüben in der russischen Teestube ein Gulasch gönnen sollte, als ihn ein Gedanke streifte. Wer hatte das Hotelzimmer eigentlich gebucht? Gefolgt von: Warum trafen sie sich überhaupt in einem Hotel? Sie hätten den ganzen Deal auf dem Parkplatz eines Krispy Kreme abziehen können. Er blieb auf dem Bürgersteig stehen und rief sich den genauen Grundriss des Zimmers ins Gedächtnis, in dem er sich vor nicht ganz zehn Minuten aufgehalten hatte: ein Doppelbett, Heroinbeutel, die wie ein Buffet auf dem Tisch neben dem Bett aufgebaut waren, und vier Typen in Jogginganzügen, die grinsend herumstanden. Bevor er sich verabschiedet hatte, war er aufs Klo gegangen, denn wenn er high war, gab es nichts Besseres als das Gefühl, das man beim Pinkeln hat – auch so eine verrückte Sache –, und es hatte ihn tief beeindruckt, wie hübsch dort alles war, wie goldglänzend alles schimmerte.

Aber warum stand keine Zahnpasta auf der Ablage? Warum war kein Gepäck im Zimmer? Sal schloss die Augen, hier mitten auf dem Bürgersteig, und konzentrierte sich auf jedes Detail, an das er sich erinnern konnte, denn wenn es eines gab, wofür er bekannt war, dann sein Gedächtnis. Er hasste es, wenn die anderen ihn Rain Man nannten, aber Fakt war nun mal: Hatte er einmal etwas gesehen, hatte er es für immer gesehen.

Sal machte kehrt und ging zum Parker House zurück. Als er wieder in der Lobby stand, begann sich das flauschige Gefühl, das ihm der winzige Heroinkrümel beschert hatte, ein wenig auszuzacken, und die vielen Spiegelflächen im Hotel machten ihn wütend. Das Hotel war hergerichtet wie im Jahr 1935: Al-Capone-Fotos an der Wand, überall Tiffany-Lampen, deren Licht von den verzierten wandhohen Spiegeln und den glänzenden Marmorböden tausendfach verstärkt wurde. Jeder Schritt in Richtung Rezeption wurde von einem weiteren Glitzern, einem weiteren Blitz begleitet, bis Sal hätte schwören können, dass er von den Gästen fotografiert würde.

Oh, dachte er, das kann es nicht sein.

Er trat zu der jungen Frau an der Rezeption.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte sie.

»Ich möchte auschecken«, sagte Sal und nannte ihr die Zimmernummer. Die Frau starrte einige Sekunden auf ihren Computermonitor, tippte ein paarmal auf ihrer Tastatur herum, dann seufzte sie. »Gibt es ein Problem?«

»Nein, nein«, antwortete sie. »Tut mir leid, aber es sieht so aus, als würde das direkt abgerechnet. Haben Sie selbst reserviert?«

»Nein«, sagte Sal, dem dämmerte, worauf das hier hinauslief. »Mein Büro.«

»Ah, gut«, sagte die Frau. »Sieht so aus, als würde die Zimmerreservierung von der Behörde direkt beglichen, wir können die Unkosten also gleich per Kreditkarte abrechnen, oder Sie zahlen bar.«

»Bar«, sagte Sal. »Und könnte ich eine Kopie der Rechnung bekommen?«

»Natürlich«, erwiderte sie. Wieder tippte sie herum, und einige Sekunden später hielt Sal eine Rechnung über fünfhundert Dollar für den Zimmerservice in der Hand. Er betrachtete den Namen auf der Rechnung – ein Jeff Hopper mit einer Adresse in der Roosevelt Road in Chicago. Der Wichser machte sich noch nicht mal die Mühe, die Tatsache zu verschleiern, dass er fürs FBI arbeitete. Was dachte er eigentlich, mit wem er es hier zu tun hatte?

Sal patschte sich auf die Gesäßtasche. »Oh, verdammt, ich glaube, ich hab meine Brieftasche im Zimmer liegen lassen. Wenn Sie mir einen Schlüssel geben, hol ich sie schnell, und wir bringen das hier zu Ende.«

»Klar«, sagte die Frau, denn wer würde nicht einem FBI-Beamten namens Jeff Hopper trauen, dem der Staat das Zimmer zahlte und der fünfhundert Dollar für den Zimmerservice raushaute?

Die allgemeinen Anstandsregeln besagten, dass die Ermordung eines FBI-Agenten, ganz zu schweigen von dreien, vielleicht sogar von vieren, falls der Mexikaner auch zu ihnen gehörte, dem Geschäft nicht sonderlich förderlich war. Man konnte einen Bullen umbringen, wenn er krumme Touren machte, man konnte einem Stadtrat eine Kugel verpassen, wenn er zur Polizei lief, um sich seiner Verpflichtungen zu entledigen. Aber von FBI-Agenten ließ man lieber die Finger. Seit nahezu einem Jahrzehnt pflegte die Familie einen stillschweigenden Waffenstillstand mit den Behörden. Obwohl sie in Chicago und Umgebung und sogar bis hinauf nach Kanada riesige Summen mit Heroin umschlug, wurden keine unschuldigen Kinder oder Hausfrauen umgebracht, keiner starb im Kreuzfeuer in einer Mall, nicht so wie bei diesen abgefuckten Kiddie-Gangstern mit ihren Baseball-Kappen und Baggy Pants und tiefergelegten Pontiacs. Sie gingen hier professionellen Geschäften nach, und solange es die Familie nicht zu krass trieb, hielten die Behörden sich raus. Im Lauf der letzten Jahre aber, während die Wirtschaft sich immer mehr ins Internet verlagerte, war die Welt um einiges kleiner geworden. Man musste nicht mehr irgendeinen Typen vor Ort kennen, um an Drogen oder an eine ordentliche Waffe zu kommen, weshalb sich das Verhältnis zwischen der Chicagoer Familie und ihren Rivalen unten in Memphis übel zugespitzt hatte, weil der Markt immer enger wurde. Und dann waren da noch die Online-Glücksspiele. Zwei Monate zuvor war Sal nach Jamaika geschickt worden, um einen Typen umzulegen, letztlich hatte er fünf weitere eliminiert, nur um mal ein Ausrufezeichen zu setzen. Und das alles hatte dazu geführt, dass die Familie über Geschäftsverlagerungen und andere Einnahmequellen nachdachte. Wenn er jeden wegräumen wollte, der sich fürs Geschäft interessierte, hätte er rund um die Uhr zu tun und müsste auch noch halb Hollywood ins Visier nehmen. Aber wenn man Bundesbeamte, vor allem Bundesbeamte, um die Ecke brachte, beschwor man es geradezu herauf, dass man die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekam.

Das alles wusste Sal. Auf dem Weg von der Rezeption zum Aufzug erfasste er mit unumstößlicher Klarheit, dass nur einer hopsging, wenn es so weit war, nämlich er selbst. Sie würden ihn ins FBI-Büro zerren und ihm Bilder seiner Familie vorlegen, ihm von seinem Sohn erzählen, der irgendwo am Arsch der Welt als Waise aufwachsen würde oder sogar aus Indiana geschafft werden müsse, »zu seiner eigenen Sicherheit«. Und dann würden sie ihm ein Video von Jennifer vorspielen, wie sie völlig ausrastet, als man ihr Fotos von allen zeigt, die er im Lauf der Jahre umgebracht hatte, und was würde ihr da noch übrigbleiben? Sie würde alles über ihn ausplaudern. Nie und nimmer würde sie in den Knast gehen, oder?

Sal rechnete es mal kurz durch. Wie viele Leute hatten sein Gesicht gesehen? Die drei Donnie-Brasco-Pisser. Der Mexikaner. Das Mädchen an der Rezeption. Dort gab es sicherlich eine Kamera, wahrscheinlich hatte also auch irgend so ein Mietbulle im Hotel ihn auf dem Bildschirm gehabt.

Sechs Leute. Er konnte sechs Leute umbringen. Zum Teufel, klar. Hatte er schon oft gemacht.

Aber wenn er das Mädchen und den Mietbullen erschoss, würde er ein Dutzend weitere umlegen müssen, um noch lebend aus dem Hotel zu kommen, und offen gesagt, er hatte weder so viele Kugeln noch große Lust dazu. So ging das nicht.

Scheiße.

Also das tun, was er selbst im Griff hatte, dann konnte sich die Familie überlegen, wie sie mit dem Mädchen und den Videoaufzeichnungen verfahren wollte. In solchen Sachen waren sie gut, besonders in einem von der Gewerkschaft geführten Hotel wie dem Parker. Aber die Bundesbeamten – diese Kerle mussten weg.

Ein altes Hotel wie das Parker war prinzipiell ein guter Ort, um jemanden umzubringen: Solide Mauern und dicke Teppiche schluckten den Schall, außerdem drängten sich hier die Zimmer nicht so dicht aneinander wie in so einem beschissenen Marriott. Und es gab nicht diese supermodernen Aufzüge, die parallel gleichzeitig Hunderte von Leuten beförderten, sondern nur ein paar charmant verzierte Eichensärge, die rauf und runter rumpelten. Das wirklich Schöne an alten Aufzügen aber war, dass sie noch Stopp-Knöpfe hatten, die man betätigen konnte, um den Aufzug dauerhaft anzuhalten. Genau das tat Sal, als er in den zehnten Stock kam. In der Zeit, die er für seinen Job brauchte, wenn er ihn richtig machte, würde sich niemand wundern, warum der Aufzug so lange stand.

Vielleicht hätte Sal noch herausfinden sollen, ob der Mexikaner umgedreht worden war – auch wenn es nicht die geringste Rolle gespielt hätte, da der Mexikaner der Erste war, den er nach dem Öffnen der Zimmertür erschoss. Das war nichts Persönliches, es ging nur darum, die ganze Chose so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Die ersten zwei Donnie-Brasco-Pisser traf es als Nächstes, kein Problem, aber der dritte meinte, er müsste es auf eine Schießerei ankommen lassen. Sal rang ihn schließlich zu Boden und zerquetschte ihm den Kehlkopf. Das alles dauerte vielleicht zwei, höchstens drei Minuten. Daraufhin spazierte Sal in aller Ruhe durch den Gang zum Lastenaufzug und verließ das Hotel.

Sein erster Gedanke war, Jennifer und William abzuholen und mit ihnen abzuhauen, aber das konnte für alle schlecht ausgehen. Also tat er das Einzige, was ihm sinnvoll erschien: Er rief seinen Cousin Ronnie Cupertine an, seinen einzigen unmittelbaren Verwandten, der noch in der Familie war, mittlerweile aber seine Zeit zwischen Chicago und Detroit aufteilte, weil er in beiden Städten einen Gebrauchtwagenhandel betrieb. Ronnie gehörte zu den Typen, von denen die Leute auf der Straße automatisch annahmen, dass sie Verbindungen hatten, was vor allem daran lag, dass er mit seiner Vorliebe für Nadelstreifenanzüge und Ringe am kleinen Finger wie sein eigenes Klischee auftrat. Er schaltete Anzeigen in der Tribune, auf denen er Käufern »unwiderstehliche« Angebote unterbreitete, und Werbespots im Fernsehen, in denen er im Zoot Suit und mit einer Thompson-MP in der Hand andere Gebrauchtwagenhändler als »Gesocks« bezeichnete und versprach, Kredithaie könnten sich »die Radieschen von unten ansehen«, wenn er mit ihnen fertig sei. Der Witz war, klar, dass er verdammt noch mal wirklich ein Gangster war und die meisten seiner Karren, die er so billig verhökern konnte, in Kanada geklaut waren.

»Ich hab’s versaut«, sagte Sal zu Ronnie. Im Hintergrund war ein Zeichentrickfilm zu hören. Ronnie hatte vier Kinder, alle unter dreizehn, alle auf Privatschulen. Eine wahre Säule der Gesellschaft.

»Was ist passiert?«

»Ich hab ein paar von der Firma umgelegt«, sagte Sal. Das hätte er vielleicht lieber nicht gesagt. Sal benutzte ein Handy, aus dem er zweimal pro Woche die SIM-Karte rausriss, aber Ronnie glaubte immer, er wäre verwanzt, auch wenn er regelmäßig mit einem Metalldetektor durchs Haus tigerte und die Familie immer zwei Leute von der Telefongesellschaft auf der Gehaltsliste hatte. Die ganze Welt änderte sich, und keiner in der Familie hatte groß Ahnung von Computern und Technik. Was sie wussten, reichte nur zur Paranoia.

»Wo steckst du?«

»Bin am Rumfahren«, sagte Sal, der in Wirklichkeit auf der anderen Straßenseite von Ronnies Villa im Gold-Coast-Viertel stand. Das Fünfzigerjahre-Gebäude hatte drei Geschosse und einen Keller, den Ronnie zu einem voll funktionsfähigen Sportwettbüro ausgebaut hatte. Mittlerweile war er so reich, dass er den Keller nur noch für Partys und seine Vegas-Nights-Wohltätigkeitsveranstaltungen für den Boys & Girls Club nutzte. Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger hatte Ronnie hier ein komplettes Casino betrieben, aber die Jamaikaner mit ihren Online-Wetten und die Indianer mit ihren Casinos machten solche Zockerbuden überflüssig. Warum sollte man sich auf einen Haufen Gangster einlassen, wenn man das alles auch legal haben konnte?

Das Haus war von einem zwei Meter hohen schmiedeeisernen Zaun und alten, hoch aufragenden Eichen und Zürgelbäumen umgeben, was ihm die Anmutung einer Festung verlieh, auch wenn auf dem davor liegenden Bürgersteig im Moment die Kreidelinien eines Himmel-und-Hölle-Spiels zu sehen waren. Wenn jemand den Kasten angreifen wollte, müsste er einen Trupp gut bewaffneter Holzfäller mitbringen.

»Schaff dich von der Straße«, sagte Ronnie. »Die haben da überall Kameras.«

»Wo soll ich denn hin, zu dir?« Sal triezte ihn ein bisschen, Ronnie sollte ruhig wissen, dass er ihn ebenfalls zu Fall bringen konnte, wenn er wollte. Was Sal nicht wollte, noch nicht, aber Ronnie sollte sich darüber im Klaren sein, was auch für ihn auf dem Spiel stand.

»Nein«, sagte Ronnie. »Bist du bescheuert? Meine Kinder sind hier.«

»Dann darf ich sie also nicht mehr sehen, Ronnie? Ist es so?«

»Sal, werd jetzt nicht melodramatisch.«

»Also wohin, Ronnie? Sag mir, wo ich hinsoll?«

»Ich kann dich unmöglich bei mir haben, wenn es heiß wird. Das musst du verstehen. Wie sieht das denn aus?«

»Vielleicht stellst du dir mal vor, wie ich aussehe«, sagte Sal. »Ich zupfe mir Gehirnreste aus den Haaren, okay?«

Ronnie schwieg eine ganze Minute, was Sal nicht gefiel. Ronnie gehörte zu denen, die immer meinten, über alles Bescheid zu wissen – komisch eigentlich, weil Ronnie noch nicht mal die Highschool abgeschlossen hatte. Jetzt war er ein Self-Made-Millionär, glaubten die Leute zumindest, während er in Wirklichkeit nur ein weiteres krummes Rädchen im Getriebe war.

»In einer Viertelstunde«, sagte Ronnie schließlich. »Dort, wo wir immer Kickball gespielt haben.«

Ronnie war fünfzehn Jahre älter als Sal, aber alle Kinder der Familie – der richtigen Familie – hatten im selben Block an der Winston Academy gewohnt und die große Grasfläche gegenüber des North Seminary zum Spielen genutzt. Es war ein ziemlich gutes Viertel gewesen, um dort aufzuwachsen, mittlerweile machten sich aber Boutiquen und Espresso-Läden breit und verdrängten alles. Es war Jahre her, dass Sal dort am helllichten Tag aufgekreuzt war. Das letzte Mal hatte er dem Schuldirektor den Arm gebrochen. Hatte dem Typen auf Anordnung von ganz oben einen komplizierten Bruch verpasst. Der Typ hatte noch nicht mal Schulden, weshalb Sal vermutete, dass es um etwas Größeres gehen musste, aber er hatte nie gefragt. Fragenstellen gehörte nicht zu seinem Job.

»Okay«, sagte Sal.

»Monte wird dort sein. Fahr mit ihm mit, ich kümmere mich solange um die Scheiße.«

»Du musst Jennifer und William in ein Versteck bringen.«

»Machen wir«, sagte Ronnie. »Eins nach dem andern.«

»Tut mir leid, dass ich es versaut habe.« Es tat ihm wirklich leid.

»Schon klar«, sagte Ronnie.

»Ich … weißt du, ich bin einfach durchgetickt. Als ich begriffen habe, dass es Bundesbeamte sind, sah ich plötzlich vor mir, was alles passieren würde. Und dann konnte ich nicht mehr anders.«

»Bist du high?«

»Nein«, sagte Sal. »Ein bisschen.«

»Du hättest abhauen sollen.«

»Ich hau nicht ab.«

»Eben – genau das ist das Problem«, sagte Ronnie.

Er räusperte sich, dann schwieg er. Einige Sekunden lauschte Sal dem Gekreische der Kinder im Hintergrund. Das war nicht gut.

»Jennifer ist krank«, sagte Sal.

»Ja, okay.«

»Der Junge auch.«

»Sal«, sagte Ronnie. »Ich seh dich auf meiner Überwachungskamera.«

»Ich sage bloß, dass man sich um sie kümmern muss, das ist alles.«

»Triff dich mit Monte. Wir räumen den Dreck weg. Am Sonntag kommst du rüber, und wir schauen uns die Bears an.«

»Ja«, sagte Sal. »Machen wir.« Er legte auf, ohne sich zu verabschieden. Es war April, und im gesamten nächsten Halbjahr würde keiner Football spielen.

Deshalb war er jetzt also hier, holperte über eine von Schlaglöchern übersäte Straße abseits des Highway. Neal krachte in jede Kuhle, keiner im Corolla sagte irgendwas, jeder tat so, als würden sie regelmäßig mitten in der Nacht zu einer Farm hinausfahren. Wo waren sie? Missouri vielleicht. Nein, so lange waren sie nicht unterwegs gewesen. Indiana? Wisconsin? Sal hatte in der Dunkelheit die Orientierung verloren, ihm war übel von Fat Montes Schweißgeruch.

»Wo sind wir?«, fragte er schließlich.

»Ronnie hat gesagt, wir sollen dich hierher bringen«, sagte Fat Monte.

»Wo ist hier?«

Fat Monte zuckte mit den Schultern. »Hab ich nicht gefragt.«

Toll. Sal hatte seine Neun-Millimeter in den Rinnstein geworfen, nachdem er das Parker verlassen hatte, jetzt hatte er nur noch seine fünfschüssige .38er. Er war ziemlich sicher, dass er Fat Monte mühelos ausschalten könnte, nur Neal und Chema würden ein Problem sein. Sie waren dumme Kids, aber man brauchte nicht viel Grips, um eine Waffe abzufeuern, außerdem hatte jeder der beiden bestimmt eine Automatik.

»He, Chico. Weißt du, wo wir sind?«

Chema drehte sich auf seinem Sitz um und stierte Sal nur finster an. Fat Monte schaltete sich dazwischen. »Wir sind fast da.«

»Ich dachte, du wüsstest nicht, wo wir hinfahren«, sagte Sal.

»Weiß ich auch nicht. Deshalb hat Chema die Karte. Sag ihm, Chema, dass wir fast da sind.«

»Wir sind fast da«, sagte Chema ohne jede Regung in der Stimme.

Einige Minuten darauf klingelte Fat Montes Handy. Er sah aufs Display und reichte es an Sal weiter. »Ronnie.«

»Alles in Ordnung?«, fragte Ronnie, als sich Sal meldete.

»Ja«, sagte Sal. »Sollte ich mir Sorgen machen?«

»Du hast drei Bundesbeamte gekillt, also ja«, antwortete Ronnie.

»Was ist mit dem Mexikaner?«

»Keine Ahnung, über den hört man noch nichts. Möglicherweise einer, der auf beiden Seiten arbeitet. Channel 7 hat ihn nicht erwähnt. Channel 2 nannte ihn einen Informanten, wer zum Teufel weiß es also?«

»Ist mein Name gefallen?«

»Du bringst nicht drei beschissene FBI-Agenten um, ohne in den Nachrichten erwähnt zu werden.«

»Ist mein Gesicht gezeigt worden?«

»Ja«, sagte Ronnie. »Die Bullen hängen in deinem Haus rum. Keine gute Situation.«

Scheiße. Das hieß, dass der letzte Anruf von Jennifer wahrscheinlich gar nicht von ihr kam. »Du hast meine Familie nicht weggeschafft?«

»Dir ist der Ernst der Lage nicht klar.«

»Jennifer hält dicht, Ronnie«, sagte Sal. »Das weißt du.«

»Jeder knickt irgendwann ein.«

»Sie nicht«, sagte Sal, aber sicher war er sich nicht. Sie wusste, was er trieb, zumindest kannte sie seine Version, die mehr oder minder der Wahrheit entsprach: Er machte üble Sachen mit üblen Typen. Sie wusste, dass er selbst von anderen für einen üblen Typen gehalten wurde, keineswegs für einen Superhelden oder Rächer der Entrechteten. Sie hatten immer wieder darüber gesprochen, was zu tun wäre, wenn die Polizei kam. Sie wusste also, dass sie den Mund halten sollte, wusste, dass man sie nicht zwingen konnte, gegen ihn auszusagen, wusste, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach fort wäre, wenn die Polizei ihn suchen kam.

Sie wusste auch, dass fort viel bedeuten konnte.

»Wir werden sehen«, sagte Ronnie. »Aber erst mal schaffen wir dich aus der Stadt raus.«

»Hör zu«, sagte Sal, drehte sich von Fat Monte weg und versuchte leiser zu reden, aber auf dem Rücksitz eines Wagens der Kompaktklasse war nicht viel Platz für Diskretion. »Wenn es hart auf hart kommt, bin ich alles andere als höflich. Das solltest du wissen. Wir sind hier nicht im Film. Ich nehm ein paar mit.«

»Das wissen wir«, sagte Ronnie und legte auf.

Wir. Immer dieses beschissene wir. Ronnies Art, ihm zu sagen, dass er so weit die Leiter hinaufgepinkelt hatte, dass nicht mehr nur Ronnie allein über sein Schicksal entscheiden konnte. Sal schaltete das Handy aus und gab es Fat Monte, der die Rückseite öffnete, die SIM-Karte herausnahm, sie unter seinem Schuh zertrat, bevor er sie aus dem Fenster warf. »Willst du mir dein Handy geben?«, fragte er Sal.

Wenn er es tat, würde Jennifer ihn nicht mehr erreichen können. Nie mehr vielleicht.

»Noch nicht«, sagte Sal, und Fat Monte zuckte wieder nur mit den Schultern. War ja nicht so, dass er die Polizei rufen würde. Und es war auch nicht so, dass er seine Frau anrief. Trotzdem gefiel ihm die Vorstellung, dass er noch eine schwache Verbindung zur Welt draußen hatte. Solange die noch bestand, war er am Leben.

Der Corolla bog rechts ab, und plötzlich war aus dem Holperweg eine glatte – zumindest eine glattere – Straße geworden, und Sal konnte die Farm erkennen. Es gab ein Haupthaus, gleich daneben mehrere lagerhausgroße Ställe und Schuppen und ein halbes Dutzend Getreidesilos. Die Scheinwerferlichter strichen über unzählige Augen draußen auf den Weiden. Kühe. Als sie näher kamen, konnte er einen großen Sattelschlepper und zwei kleinere Lastwagen ausmachen. Dazu knapp zehn Männer, die sich zwischen den Nebengebäuden und den Lastwagen hin und her bewegten, alle schoben sie Sackkarren, auf denen meterhoch Kisten geschlichtet waren.

Sal ließ die Seitenscheibe herunter, und sofort wehte ein Gestank herein, der nur von einem Schlachthaus stammen konnte: eine Mischung aus Pisse, Scheiße, dem beißenden Geruch rohen Fleisches und dem erdigen Geruch von Getreide. Sal fühlte sich an die Ausflüge in seiner Kindheit erinnert – sein Vater hatte immer an den großen, industriell bewirtschafteten Farmen Rast gemacht, an die ein Diner oder ein Restaurant angeschlossen war, überzeugt, dass es dort das beste Essen auf der Welt gäbe, weil alles so frisch sei. Sein Vater war jetzt schon wie lange tot? Fünfundzwanzig Jahre. War von so einem verdammten Gebäude geworfen worden.

Der Corolla hielt neben dem großen Sattelschlepper, aber Neal ließ den Motor laufen. »Sind wir hier richtig?«, fragte er.

»Ja«, sagte Fat Monte. Er stieg aus und ging in Richtung der großen Nebengebäude. Keiner der Männer mit den Sackkarren beachtete ihn. Im Scheinwerferlicht des Corolla sah Sal jetzt, dass die Männer alle eine Art Uniform trugen – marineblaue Arbeitskleidung, graue Hemden mit einem Logo auf einer der Brusttaschen, blaue Baseballkappen und Handschuhe, obwohl es, alles in allem gesehen, ein schöner, lauer Abend war –, und auch an den Lastern war überall das gleiche Logo zu sehen: Kochel-Farm Fleischwaren. Kondenswasser lief hinten aus den Kühllastern. Das erklärte die Handschuhe.

Sal fasste nach unten zu seiner .38er. Eine Kugel für Chema, eine für Neal, dann könnte er vielleicht in der Dunkelheit flüchten. Er hoffte, Fat Monte würde nicht auf ihn schießen wegen der vielen Zivilisten als Augenzeugen, aber wer wusste schon, wozu Menschen fähig waren. Er wollte Neal nicht umbringen. Wollte noch nicht mal Chema kaltmachen, aber klar war, dass er noch fünf oder zehn Minuten hatte, bevor er zu Hackfleisch verarbeitet, in einen Laster verladen und dann in irgendeinem Supermarkt zwischen hier und Kalifornien im Kühlregal landen würde.

Ein letzter Blick aus dem Fenster, um sich zu vergewissern, wohin er rennen wollte, und plötzlich stutzte er: Fat Monte war keine zehn Meter entfernt und sprach mit einem Glatzkopf, der Decken in der Hand hielt, neben ihm ein Kleinkind. Drei, vielleicht vier Jahre alt. Schwer zu sagen in der Dunkelheit. Was zum Teufel machte das Kind hier?

»Chema«, sagte Sal, »ich möchte mich entschuldigen.« Das Latino-Bürschchen nickte, drehte sich aber nicht um. So tough, dass er noch nicht mal eine Entschuldigung wie ein Mann annehmen konnte. »Und ich will, dass du dich bei mir bedankst.« Diesmal drehte er sich um.

»Ja, wieso?«

»Weil ich dir eine Kugel in den Hinterkopf verpassen wollte, mich aber anders entschieden habe.« Chema schluckte, sagte aber nichts. »Meiner Ansicht nach schuldest du mir einen ziemlich großen Gefallen.«

»Was ist mit Neal, wolltest du den auch kaltmachen?«

»Vielleicht«, sagte Sal, »aber Neal und ich, wir haben so was wie eine gemeinsame Vergangenheit. Ich hab auf dich immer aufgepasst, als du noch ein Baby warst und deine Mom was erledigen musste oder einen White Russian zu viel intus hatte. Du erinnerst dich vielleicht nicht mehr.«

Neal sah im Rückspiegel zu Sal. »Ich dachte, das wäre ein Witz gewesen.«

»Nein«, sagte Sal. »Es stimmt.«

Draußen, sah Sal, reichte der Glatzkopf dem Kind eine der Decken, und das Kind rannte damit zum großen Sattelschlepper. Fat Monte und der Glatzkopf gaben sich die Hand, dann kam Fat Monte zum Corolla zurück. Die zwei kleineren Lastwagen setzten sich in Bewegung, nur der große Sattelschlepper stand noch da.

»Was soll ich für dich also machen?«, fragte Chema.

Sal zog seine Brieftasche heraus und reichte sie Chema. Der steckte sie sofort ein. »Schick sie in zwei Wochen meiner Frau. Adresse steht auf dem Führerschein.«

»Das ist alles?«

»Das ist alles«, sagte Sal. »Da drin sind zwei Riesen. Achte darauf, dass da immer noch zwei Riesen drin sind, wenn meine Frau sie bekommt.«

Chema biss sich auf die Unterlippe, zögerte. »Deine Frau«, sagte er schließlich, »mag die mexikanisches Essen?«

»Nicht besonders«, sagte Sal.

»Mein Mädchen macht diese mexikanischen Hochzeitskekse, vielleicht mag sie die?«

»Klar. Wenn nicht, isst sie mein Sohn.«

Wieder biss sich Chema auf die Lippen. Sal fragte sich, was ihm durch den Kopf ging.

Bevor Chema was sagen konnte, riss Fat Monte die Wagentür auf.

»Neal, Chema«, sagte Fat Monte. »Gebt Sal eure Hemden und Jacken.« Die beiden sahen sich etwas überrascht an, machten dann aber, wie ihnen gesagt wurde. Auch Fat Monte zog seine Jacke aus und reichte sie Sal. »Zieh dir den ganzen Kram über.«

»Wohin geht es?«, fragte Sal. Er war ausgestiegen und zog sich die Hemden und Jacken über sein Hemd und das Sakko, sein übliches Outfit bei Geschäftstreffen.

»Weiß ich nicht«, sagte Fat Monte. »Aber ich schätze, du hockst in der Kühltruhe, bis du mindestens zwei Staaten weiter bist. Im Lastwagen hat es sieben Grad, also wie Chicago im Frühling.«

Sieben Grad. Damit konnte Sal leben.

Fat Monte begleitete Sal zum großen Sattelschlepper, eine Weile standen sie vor der Laderampe und sahen zu, wie einer der Arbeiter drinnen Platz freiräumte. Es gab an die zehn Decken, ein Kissen, eine Taschenlampe, zwei Flaschen Wasser, eine Schachtel Ritz-Cracker, ein Walkie-Talkie, sogar einen Stuhl. Alle denkbaren häuslichen Annehmlichkeiten, umgeben von Kisten mit Hackfleisch. Als der Arbeiter die beiden sah, sagte er: »Passt es so, Boss?«

»Wunderbar«, antwortete Sal.

»Sollte es Probleme geben, melde dich über das Walkie-Talkie, dann hält der Fahrer an«, sagte der Arbeiter.

Es war an alles gedacht. Vielleicht, überlegte Sal, weil die Familie nicht zum ersten Mal auf diesem Weg jemanden aus der Stadt schmuggelte. Er fühlte sich seltsam erleichtert.

»Hier trennen sich unsere Wege«, sagte Fat Monte.

»Wie lange kennen wir uns schon?«, fragte Sal.

»Gar nicht«, sagte Fat Monte. »Hör zu, ich brauch dein Handy und deine Waffe.«

Höflich genug, kein Befehl, was Sal veranlasste, ihm beides auszuhändigen. Fat Monte warf das Handy auf den Boden und zermalmte es mit dem Absatz, machte sich aber nicht die Mühe, die .38er einzustecken.

»Wenn du jemals wieder nach Chicago kommen solltest«, sagte Fat Monte, »werde ich dich und deine Familie töten müssen, und das will ich nicht.« Er klopfte Sal auf die Schulter und ging zum Corolla zurück.

Keine fünf Minuten später, nachdem er es sich auf dem Stuhl einigermaßen bequem gemacht hatte, hörte Sal kurz hintereinander die zwei Schüsse.

1

David Cohen. Sal Cupertine schob den Namen im Mund hin und her. David Cohen. Als er klein war, hatte er seinen Namen gehasst, weil wahrscheinlich jeder Junge im Block einen Onkel namens Sal gehabt hatte. Als er aber älter wurde, hatte er sich mit dem Namen immer mehr angefreundet, hatte gespürt, dass er Macht und Bedrohlichkeit ausstrahlte, zwei Dinge, die ihm gefielen, theoretisch zumindest.

David, ein biblischer Name, das war an sich schon was wert. Sal war nicht religiös, war es nie gewesen und konnte es auch schlecht sein, solange er seinen Lebensunterhalt mit dem Töten von Menschen bestritt. Mit den Gewissensbissen, die ihn deshalb gelegentlich plagten, konnte er umgehen, aber sich ernsthaft und rational mit einem anderen Leben auseinandersetzen, das nach dem Tod beginnen soll? Mit so einem Bockmist brauchte man Sal nicht zu kommen.

Cohen. Na ja. Das war was anderes. Sal hatte eine ganze Menge Juden gekannt, die Familie war auch immer gut mit der Kosher Nostra ausgekommen, die die College-Campusse mit Ecstasy und gefälschten Seminararbeiten versorgte. Diese Typen waren meistens Israelis oder russische Juden; die Tage von Bugsy Siegel und Meyer Lansky waren spätestens dann vorbei gewesen, als sie festgestellt hatten, dass man auch reich werden konnte, wenn einem Hollywood und die Banken gehörten. Die Israelis und Russen in Chicago waren jung und hatten noch Respekt, weil die Familie für sie etwas geradezu Mystisches war, das sie nur aus dem Fernsehen und dem Kino kannten.

Sie hießen Yaakov oder Boris oder Vitaly oder Zvika, hatten einen starken Akzent und trugen Westen und dicke Uhren und fuhren einen Range Rover, damit alle wussten, dass sie nicht zu den alteingesessenen Rosenblatts und Levys gehörten. Wenn es ums Geschäft ging, waren sie allerdings nicht zimperlich. Wollten sie jemandem eine Botschaft zukommen lassen, brachten sie seinen Hund und seine Freundin um; machten ihn für den Rest seines Lebens fertig, ohne ihm selbst auch nur ein Haar zu krümmen. Schuldet dir einer Geld, dann machst du ihn gefügig, und er wird immer zahlen, so ihre Devise. Sal gab es nur ungern zu, aber da war was dran. Das Problem war nur, dass die Familie sich so lange im Geschäft gehalten hatte, weil sie sich nie an unschuldigen Zivilisten oder Haustieren vergriffen hatte. Legst du die Kinder oder den Köter von einem um, landet so was in der Zeitung, und die Polizei interessiert sich dafür. Legst du einen Drecksack um, hast du bloß einen Drecksack weniger. Legst du vier Bundesbeamte um, kann sich deine ganze Welt verändern.

Aber David Cohen? Das war kein tougher Typ. So hieß der Typ, der einem die Brille richtete. So hießen Anwälte.

»David Cohen«, sagte Sal, aber es klang irgendwie nicht richtig und würde wahrscheinlich auch die nächsten beiden Wochen nicht richtig klingen, zumindest nicht, solange sein Kiefer noch verdrahtet war.

Ein halbes Jahr war er jetzt fort, und in der ganzen Zeit hatte keiner ihn direkt angesprochen oder ihm in die Augen gesehen. Sieben Tage hatte er in verschiedenen Fleischlastern verbracht, bis sie wussten, was sie mit ihm anstellen sollten, und ihn schließlich in Las Vegas abluden.

Jedenfalls war er sich ziemlich sicher, dass es Las Vegas war.

In der örtlichen Zeitung, dem Review-Journal, verbreitete ein Kolumnist namens Harvey B. Curran in der Hälfte seiner Zeit Klatsch über die in der Stadt ansässigen »Mafiosi« und in der anderen Hälfte Klatsch über die Leute, die von den »Mafiosi« Bestechungsgelder annahmen, um deren wie auch immer geartete Interessen zu befördern. Und da war die Tatsache, dass Oscar Goodman wahrscheinlich zur Bürgermeisterwahl antreten würde. Jeden Abend kam in den Lokalnachrichten wieder ein Bericht darüber, wie er der Stadt neues Leben einhauchen und die alte Rat-Pack-Atmosphäre wiederbeleben wollte, und keiner scherte sich einen feuchten Dreck darum, dass er das Sprachrohr des ganzen verdammten Olymp war – von Lansky, Leonetti, der gesamten Scarfo-Familie.

Alles lag offen zutage. Außer natürlich für Sal. Ein halbes Jahr lang hatte er sich im selben Haus aufgehalten, hatte vorn nicht rausgehen dürfen, sondern nur durch die Hintertür und nur in der Nacht. Nicht dass er Lust aufs Reisen gehabt hätte, nicht nach den zahllosen chirurgischen Eingriffen, die er über sich hatte ergehen lassen: neue Nase, neues Kinn, ein paar Zähne waren gezogen und durch Implantate ersetzt worden. Sie hatten ihm seine Tattoos weggelasert, den Schädel kahl geschoren, ihn gezwungen, eine Brille zu tragen. Und das Letzte, hoffte er, war der neue Kiefer. Sogar die Operationen wurden heimlich durchgeführt – mitten in der Nacht hatte man ihn hinten in einem fensterlosen Lieferwagen durch die Stadt kutschiert, ihn in eine Arztpraxis gescheucht, wo man ihn mit Betäubungsmittel vollgepumpt hatte, dann war er im Haus wieder aufgewacht. Mittlerweile war er an einem Punkt, wo er noch nicht mal mehr Schmerzmittel nahm. Es gab keine Stelle an seinem Körper, die nicht wehtat, und alles Paracetamol der Welt machte es nicht besser, nicht solange er eingesperrt war in diesem todschicken einstöckigen Haus mit Salzwasserpool, Whirlpool und Sauna, voll ausgestattetem Fitnessraum und gut fünfhundert Kabelsendern, die in jedem Zimmer zur Verfügung standen.

Und jetzt das: David Cohen.

Sal trainierte im Fitnessraum mit den Hanteln, als Slim Joe, der junge Kerl, der bei ihm wohnte, reinkam und ihm einen wattierten Umschlag überreichte.

»Was ist das?«, fragte Sal.

»Soll ich dir geben. Hat Bennie gesagt«, antwortete Slim Joe. »Ich stell keine Scheißfragen.« Slim Joe stellte wirklich keine Scheißfragen. Was ganz gut war. Sal hätte das ganze Haus in Brand setzen können, und Slim Joe hätte nicht ein Wort gesagt, hätte nur dagesessen und zugesehen, wie es loderte, vor allem, wenn Sal ihm sagte, er habe auf Befehl von Bennie das Feuer gelegt. Bennie, das war Bennie Savone, ein Name, der Sal, als er noch in Chicago gelebt hatte, nicht viel sagte, der in Las Vegas aber anscheinend einiges an Gewicht hatte … Zumindest so viel, um ziemlich regelmäßig in Currans Klatschkolumnen aufzutauchen. Er hatte einen Strip-Club in der Stadt, das Wild Horse. Ständiges Thema in der Kolumne aber war seine Einheirat in eine religiöse jüdische Familie, die Kales’, die mit der organisierten Kriminalität ansonsten nichts am Hut hatten.

Nicht dass Bennie irgendwas davon gegenüber Sal erwähnt hätte. Sal wusste noch nicht mal, wie es überhaupt dazu gekommen war, dass er bei der Savone-Familie versteckt wurde, schließlich hatte es zwischen der Familie in Chicago und ihr bislang keine Geschäftsbeziehungen gegeben. Es stand ihm nicht zu, das zu wissen oder danach zu fragen. Aber so, wie Bennie ihn behandelte – respektvoll, trotzdem eindeutig als Untergebenen –, vermutete Sal, dass es sich hier um ein längerfristiges Arrangement handelte. Wofür auch die vielen Gesichtsoperationen sprachen.

Sal nahm den Umschlag mit in sein Zimmer und leerte den Inhalt auf sein Bett. Eine Geburtsurkunde, ein Sozialversicherungsausweis, Universitätsdokumente des Hebrew Union College in Cincinnati, sogar alte Stromrechnungen, alles auf den Namen David Cohen ausgestellt. Angeheftet an die Kopie des Mietvertrags für das Haus, in dem er schon wohnte – ein Vertrag, der eben am heutigen Tag zwischen ihm und dem Tempel aufgesetzt worden war –, war ein Post-it mit einer Notiz in Bennies sorgfältiger Handschrift: Das bist du. Präg dir alles ein, Rain Man. Alles.

Rain Main. Den Namen hatte er seit Chicago nicht mehr gehört.

Es gab noch mehr: David Cohens Familienstammbaum, der bis ins Polen des neunzehnten Jahrhunderts zurückreichte; eine abgegriffene Talmud-Ausgabe mit Goldschnitt; eine Jarmulke.

»David Cohen«, sagte er wieder.

Sal Cupertine stand vom Bett auf und ging ins Badezimmer. Es war das schönste Badezimmer, das er jemals gehabt hatte: Travertinboden, einen im Boden eingelassenen Jacuzzi, zwei Waschbecken, eine Dusche mit Regenbrause und integrierter Sitzmöglichkeit. Sal wusste zunächst nicht, warum um alles in der Welt man in der Dusche unbedingt eine Sitzmöglichkeit brauchte, es sei denn, man duschte nicht allein, ein Gedanke, der dazu führte, dass er seine Frau Jennifer urplötzlich so sehr vermisste, dass ihm ganz elend wurde. Also stellte er die Sitzmöglichkeit mit Shampooflaschen und Seifen und Handtüchern voll, mit allem, was er finden konnte, sodass sie jetzt eher einem Regal glich. An der gegenüberliegenden Wand des Badezimmers stand ein begehbarer Schrank, der ungefähr so groß war wie das Schlafzimmer, das er sich mit Jennifer in Chicago geteilt hatte. So groß, dass darin sogar noch ein separater Schrank Platz fand: ein eigens klimatisierter Zedernschrank, der kühler war als das übrige Haus. Darin Designerklamotten: ein Dutzend Anzüge, Hemden, bequeme Hosen, Pullunder, Schuhe … und an allen hing noch das Preisschildchen. Ein Schuhpaar war von siebenhundert Dollar auf fünfhundert reduziert worden – in etwa die Summe, die Sal vernünftigerweise in einem ganzen Jahr für seine Schuhe auszugeben bereit war.

Aber das ganze Haus lag ja weit über dem, was er sich jemals hätte leisten können, wenngleich es sicherlich für jemanden wie seinen Cousin Ronnie erschwinglich war.

Oder für jemanden wie Rabbi David Cohen.

Die Wahrheit war, im vergangenen halben Jahr hatte Sal sich immer wieder überlegt, wie er möglicherweise flüchten könnte. Nur wusste er nicht, wohin, denn eine Rückkehr nach Chicago wäre reiner Selbstmord gewesen – entweder würde er durch die Bullen oder durch die Familie sterben. Daran hatte Fat Monte keinen Zweifel gelassen. Keiner hatte ihm gesagt, wie groß der Ärger wegen der toten Donnie-Brasco-Pisser in Chicago war. Aber wenn die Familie ihn am Leben ließ, verfolgte sie mit ihm einen höheren Zweck, oder, und das dürfte wahrscheinlicher sein, sie hatte von den Savones im Austausch für ihn etwas bekommen. Die Morde an den Bundesbeamten mussten ein gewaltiges Problem aufgeworfen haben, ein Problem, das alle anderen Familien mitbetraf und dazu führte, dass Unschuldige (oder relativ Unschuldige) wegen anderer Anklagepunkte den Kopf hinhalten mussten, nur damit die Tribune und die Sun-Times auch etwas Erfreuliches zu berichten hatten.

Würde er sich wieder in Chicago blicken lassen, bliebe ihm im Höchstfall eine Stunde, um seine Sachen zu erledigen, bevor jemand von seiner Anwesenheit Wind bekam. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass er verraten würde – entweder von den Spitzeln, von den Bullen (sogar die umgedrehten Bullen würden ihn ans Messer liefern – keine Frage) oder von den Bundesbeamten, ganz zu schweigen von all den braven Bürgern auf der Straße, die liebend gern die ausgesetzte Belohnung kassierten. Trotzdem dachte er immer wieder darüber nach, Jennifer und William mitten in der Nacht rauszuholen und mit ihnen nach Kanada abzuhauen … Aber dann kam ihm immer eine Frage in den Sinn, auf die er einfach keine Antwort hatte: Und was dann?

An dieser schlichten Frage hatte er wirklich zu kauen. Ronnie hatte versprochen, seine Familie rechtzeitig rauszuschaffen, ein Versprechen, das schon ein leeres war, noch bevor sich der Fleischlaster in jener Nacht in Bewegung gesetzt hatte. So viel war Sal klar. Dennoch wachte er jeden Morgen auf und tastete im Bett nach Jennifer. Sal hatte fünfzehn Jahre in seinem Job überlebt, weil er sich immer an feste Regeln gehalten hatte. Selbst die unscheinbarsten wurden nicht leichtfertig über den Haufen geworfen.

Sal drehte den Jacuzzi auf und sah zu, wie sich die Wanne mit Wasser füllte, wie die Düsen zu sprudeln begannen. Ein Jahr, dachte er. Ein Jahr als Rabbi David Cohen, und er hätte Geld, Beziehungen, Möglichkeiten, um den ganzen Mist hier hinter sich zu lassen. Sechs Monate hatte er schon abgerissen. Was war schon ein weiteres Jahr? Vielleicht konnte er Jennifer und William nach Las Vegas holen, obwohl er natürlich wusste, dass die Bundesbeamten sie sehr lange observieren würden, für den Fall, dass er Kontakt mit ihnen aufzunehmen versuchte. Also vielleicht zwei Jahre. Ja. Zwei Jahre. Zwei Jahre, dann würde er den Schritt wagen.

Also ging Rabbi David Cohen ins Schlafzimmer zurück, nahm den Papierkram und packte alles auf den Stuhl neben dem Jacuzzi. Dann zog er sich aus, legte sich in die Wanne und ließ sich von den Düsen den Rücken und Nacken massieren, bis ihm endgültig klar wurde, dass Sal Cupertine und damit alles, was er je getan hatte, und alle Menschen, die er je geliebt hatte, für die nächste Zeit nicht mehr existieren würden.

Dann begann er zu lesen.

Drei weitere Wochen vergingen, bis Bennie meinte, dass David Cohen, dem die Drähte aus dem Kiefer entfernt werden sollten, jetzt unbesorgt durch die Vordertür seines eigenen Hauses nach draußen treten könne. Das war zwei Wochen vor Thanksgiving, und bis dahin hatte David nur gelesen, gelesen und gelesen. Jeden Tag wurden weitere rabbinische Texte angeliefert, dazu genauere Anweisungen, was er sich davon zu Gemüte führen sollte. David gefiel es, wie viel Aufmerksamkeit auf jedes Detail seiner Tarnung gelegt wurde, dennoch fand er es manchmal etwas übertrieben. Würde ihn wirklich irgendwann einer im Gemüseladen ansprechen und seine Meinung über die verschiedenen Werke des Midrasch hören wollen? Oder wenn er einen Typen umlegte, sollte er dann kurz innehalten und dem Scheißer verklickern, was es hieß, in historischen Dimensionen zu denken? Es war einfach zu viel des Guten. Mit der Lektüre kamen Frageblätter – zehn oder fünfzehn Fragen in blumiger Handschrift, die David ausfüllen und zurückgeben sollte. Er hielt sich nicht damit auf zu schummeln. Er beantwortete kurzerhand die Fragen und hoffte, derjenige, der das alles benoten musste, würde in Betracht ziehen, dass er die Highschool gerade so mit Ach und Krach geschafft hatte. Aber das hatte damals vor allem daran gelegen, dass er sich im Abschlussjahr in Jennifer verliebt hatte.

Das Komische – jedenfalls eines der komischen Dinge – war, dass sich Bennie nicht mehr im Haus blicken ließ, seitdem David seine neue Identität erhalten hatte. Davor war er oft zu mitternächtlichen Arztvisiten aufgetaucht und hatte sich über seine Fortschritte nach den diversen Operationen erkundigt, hatte Fragen zum Heilungsverlauf gestellt und darauf gedrängt, dass David sein körperliches Fitnessprogramm ausweitete – was nicht einer gewissen Ironie entbehrte, weil Bennie gut fünfzig Kilo Übergewicht mit sich herumschleppte. Daher wusste David, dass dessen Besorgnis nicht ganz uneigennütziger Natur war. David hatte nichts gegen seine Besuche. Sie waren allemal besser als die kläglichen Konversationsversuche mit Slim Joe.

ENDE DER LESEPROBE