Ganz alltägliche Leute - Stewart O′Nan - E-Book

Ganz alltägliche Leute E-Book

Stewart O'Nan

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Beschreibung

Pittsburgh 1998: Der junge Chris «Crest» Tolbert ist beim Graffitisprühen gefallen und sitzt seitdem im Rollstuhl. Sein Freund Bean ist tot. Die Mutter seines Kindes ist ihm fremd geworden. Sein Bruder hat nach einer Knast-Karriere Gott gefunden. Sein Vater hat sich verliebt. Seine Mutter ahnt etwas. Eindringlich erzählt Stewart O'Nan die Geschichte einer Woche im Leben der Bewohner des armen schwarzen Viertels East Liberty. Einer schicksalhaften, hoffnungsvollen Woche, die das Leben der Menschen dort verändern wird. «Ein Meister.» (New York Times)

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Stewart O'Nan

Ganz alltägliche Leute

Roman

Deutsch von Thomas Gunkel

Für John Edgar Wideman

Es gibt das Leid der Schwarzen,

die sich in Städten verlieren.

Doch wer kann sich

Städte vorstellen, die sich

in einem Schwarzen verlieren?

Raymond Patterson

Love me

love me love me

say you do.

Nina Simone

Stadteinwärts

East Liberty braucht keine Martin-Robinson-Express-Busspur. Sie soll für die Pendler sein, die jeden Tag von Penn Hills reinkommen und hinter ihren Post-Gazettes, die Aktentaschen auf den Knien, im vorderen Teil des Busses sitzen. Wenn du einsteigst, streifen dich ihre Blicke und huschen dann wieder weg wie verschreckte Fischchen. Vielleicht sehen sie, dass dein Anzug genauso gut ist wie ihrer – wahrscheinlich sogar modischer–, aber dann schauen sie weg, und du existierst nicht mehr. Keiner spricht ein Wort. Alle Plätze besetzt, als wären die Leute jeweils zu zweit eingestiegen und der Fahrer hätte sie zusammengepfercht wie einen Haufen Truthähne, die nicht für sich selbst denken können. Verdammt noch mal. Wir haben 1998, und du sitzt wieder hinten im Bus, der Sitz heiß von dem großen Dieselmotor, und an deiner Hose hängt ein dreckiger Klebestreifen.

East Liberty wollte ein neues Gemeindezentrum mit einer Klinik. Das alte ist klein und baufällig, und trotzdem haben sie gerade das Geld gestrichen. Wir brauchen ein schönes sauberes Haus, wo die Babys hingebracht werden können, wir brauchen Nachmittagsbetreuung für die Schüler. Aber das hat der Stadtrat abgelehnt. In der Zeitung stand, sie haben nach Hautfarbe abgestimmt – wundert mich nicht, am wenigsten, wie sie’s begründet haben. Ein Schwarzenproblem, alles eure Schuld, als ob man um was bittet, das es sonst nirgends gibt. Das Traurige ist, dass es abzusehen war; selbst die netten liberalen Juden in Squirrel Hill sind heutzutage knauserig. Steuern hier und Sozialhilfe da, als ob sie am Hungertuch nagen. Von den weißen Spinnern, die noch weiter draußen wohnen, ganz zu schweigen.

Aber irgendwie muss Geld in das Viertel kommen, hat sich Martin Robinson wohl gedacht. Du hast ihn gewählt – dein Leben lang–, wem kannst du da die Schuld geben? Und das Geld kam auch. Die Hälfte der Aufträge sollte an einheimische Betriebe gehen, und Martin hat dafür gesorgt, dass das eingehalten wurde. Das ist die gute Nachricht.

Die schlechte Nachricht ist, wegen der Martin-Robinson-Express-Busspur rollt kein Verkehr mehr durch das Geschäftsviertel – weder weiß noch schwarz noch sonst was. So, wie der Stadtrat und seine Planer das Projekt angelegt haben, schneidet die Busspur East Liberty vom restlichen Pittsburgh ab. Staatliches Geld, aber sie haben einen Deal gemacht und Martin seinen eigenen Gesetzentwurf aus den Händen genommen. Zwei stark befahrene Brücken mussten weg (jedes Mal hat eine Menschenmenge den Countdown für die perfekte Explosion ausgezählt), und die South Highland Avenue musste um das Geschäftsviertel (das heißt, um das heruntergekommene Sears) herumgeführt werden. Wenn du also vor den Weißen deine Ruhe haben wolltest, dann müsstest du jetzt glücklich sein.

Wärst du wahrscheinlich auch, wenn nur das Geld nicht wär. Und die Infrastruktur. Krankenwagen brauchen jetzt viel länger hierher, und glaubst du etwa, das wär ein Versehen? Die Feuerwehr, die Polizei, falls man sie mal braucht, Gas und Strom im Winter.

Und dann kriegt dieses Ding seinen Namen. Guter Mann, dieser Martin Robinson, nicht so eine pomadisierte, jämmerliche Null von einem Schaufensterprediger wie Al Sharpton, mit fünf Cadillacs, zehn Ringen an den Fingern und zwanzig Anwälten, die ihre Spielchen treiben. Martin sitzt schon seit dreißig Jahren im Kapitol, vielleicht ist er der beste Mann, den East Liberty hervorgebracht hat, zumindest hat er am meisten für die Menschen erreicht. In der Spofford Street aufgewachsen, anständige Leute, gut erzogen. Du brauchst nur Miss Fisk zu fragen, die erzählt’s dir. Nach dem alten Bürgermeister Barr, der ’67 die Garde auf uns gehetzt hat, wurde ein Tunnel benannt, und nach Dick Caligiuri, dem armen Kerl, der an dieser schrecklichen Krankheit gestorben ist, das Bezirksgericht. Martin Robinson hat das neue Stadion verdient oder vielleicht das Gemeindezentrum, das wir brauchen, was Positives, und nicht so eine lausige Busspur. Das ist einfach würdelos.

Das Ding war von Anfang an ein großes Unglück. Martin hatte diesen Gesetzentwurf durchgebracht, und darum mussten sie Fußgängerbrücken drüber bauen, damit die Kinder noch in den Park gehen konnten. Der Stadtrat hat gesagt, die Fußgängerwege müssen überdacht werden, damit man nichts auf die Busse runterwerfen kann – Betonklötze oder so. Während die Fußgängerbrücken im Bau waren, sind nachts Jugendliche raufgeklettert und haben ihre Namen an die Mauer gesprüht. Für sie war das ein Spiel. Ich will ja nicht behaupten, dass es richtig ist, aber junge Leute machen so was, das ist nun mal so. Da klettern diese beiden Jungs eines Nachts im Dunkeln dort rauf, alles ist erst halb fertig, irgendwas läuft schief, sie stürzen ab, mitten auf die Busspur, und einer von ihnen stirbt. Miss Fisks Enkel, ein schwerer Schlag für alle. Siebzehn Jahre alt. Es heißt, der andere Junge muss sein Leben lang im Rollstuhl sitzen. Auch so ein junger Schwarzer, der es noch weit hätte bringen können. Bloß eine kurze Meldung in der Zeitung, nicht mal in den Fernsehnachrichten.

Ich will keinem die Schuld geben, aber verdammt noch mal, so was passiert hier anscheinend ständig. Da sind zwei Jungs, die müssten sich nur irgendwo austoben können, aber dafür ist ja kein Geld da, und so stellen sie eben Dummheiten an, und schon ist es passiert.

Ich weiß nicht, für mich ist die Einweihung dieser Busspur kein Grund zum Feiern. Ich versteh ja, dass alle dabei sein und ihre Liebe für Martin demonstrieren wollen. Ich empfinde genauso viel Liebe für Martin wie alle anderen auch, aber das ganze Unglück, ich weiß nicht. Einen Monat ist das jetzt her. Und nun sind die Leute schon aufgeregt wie vor Weihnachten, dabei ist nicht mal Halloween.

Verstehen kann ich das. Für East Liberty ist es ein großer Tag, alle Fernsehsender werden kommen. Da macht man eine freundliche Miene. Ich geh auch hin, auf jeden Fall, aber ich will ganz ehrlich sein, dieses Ding ist nicht nur gut. Alles hat seinen Preis, und zu oft müssen wir den bezahlen. Langsam hab ich das wirklich satt, kannst du das verstehen?

Guter Kirk, böser Kirk

Als es dunkel wird, zieht Crest an seinem Rolli den Stecker raus und fährt nach draußen. Er hat den ganzen Tag lang die Batterien aufgeladen, beim Rolli und bei Brother Sony. War einfach nötig. Mittwoch, da kommen alle und wollen sich Voyager angucken. Captain Janeway und so. Die hat ’ne Stimme, als wär sie permanent verschnupft.

«Mr.Tupac», hat Bean immer gesagt, «beam uns raus aus dieser Scheiße.» Wenn jemand hinter ihnen her war, hat Bean Crest so zum Lachen gebracht, dass er kaum noch laufen konnte. Dann hat er nach Luft geschnappt, als würden sie sich das Lachgas aus den Sprühsahnedosen reinziehen. In seinem Rucksack rappeln ein Haufen Krylon-Cans für eins neunundfünfzig, irgend so ein völlig vertrottelter Brother in einer Baumarktschürze verfolgt sie, weil sie die Rückseite des Zauns an der Busspur getaggt haben. CREST in zwei Meter hohem Wildstyle, BEAN und das ausgeflippte ägyptische Zeug haben diese hirnrissigen Weißen aus Penn Hills aus dem Schlaf gerissen. Gucken hoch von der Post-Gazette und haben es, noch bevor sie in der Innenstadt sind und so tun können, als ob East Liberty gar nicht existiert, direkt vor ihren verschlafenen weißen Gesichtern. Woo-hah, I got you all in check. Yeah.

Wo wir grade vom Schlafen reden, Pops pennt auf dem Sofa, und auf NBC läuft eine Komödie mit weißen Tussis– Suzie in the City oder irgend so ein Mist, alle reich und dünn, was man von Pops nun wirklich nicht sagen kann – der riecht ständig wie eine Wagenladung Ritz Bits und Chips Ahoy, nach Stechkarte und Schufterei bei Nabisco, Stall offen und Hände in der Hose, wie wenn er beim Schlafen seinen jämmerlichen Schrumpelschwanz im Zaum halten will. Das Problem hab ich nun wirklich nicht, verdammte Scheiße, denkt Crest und sieht vor sich, wie Vanessa sich letztes Mal anzieht und geht, wie sie den BH zumacht und Crest endgültig abgeschrieben hat, aber dann schiebt sich das Bild davor, wie Moms neulich Abend mit ihrem Eislöffel nach Pops geworfen hat.

«Warum bist du überhaupt noch hier?», hat sie geschrien. «Warum haust du nicht einfach ab?»

Und Pops sagt kein Wort, geht mit seiner Zeitung auf die Treppe raus, sitzt grübelnd da, raucht seine Zigarre, sieht dann die Baseballergebnisse durch, bis Moms im Bett ist. Jetzt ist sie weg, arbeitet in der Mellon Bank in der Innenstadt, zählt anderer Leute Geld. In der Wohnung ist es still, aber diese Stille gefällt ihm nicht. Wenn Moms um elf nach Hause kommt, ist es aus damit. Pops bleibt noch eine Weile da und sagt dann, dass er spazieren geht, als hätte er Angst vor ihr. Crest will nicht drüber nachdenken, was das mit ihm und Vanessa bedeutet. Der Arzt sagt, körperlich wär alles in Ordnung, eigentlich müsste alles wieder so sein wie früher. Na, dann probier’s doch mal. Crest fährt raus in den Flur und rollt seitlich vor den Aufzug, um an den Knopf ranzukommen. Wenn man im Rollstuhl sitzt, muss man oft warten.

Der Kerl, der sie damals verfolgt hat, ein dürrer, hellhäutiger Idiot, die Nase voller Sommersprossen. Wollten sie bloß irgendwo bomben oder hatten sie ein Ziel, eine interplanetarische Mission, wollten sie mit einem Piece an einen der Jungs erinnern? UNVERGESSEN. Für jeden aus East Liberty haben sie ein großes Piece gemacht: Baconman, T-Pop, Marcus. Schwer zu sagen, jetzt, wo Crest benebelt ist von den Schmerztabletten, die er dreimal täglich einwirft, Welt ohne Ende, amen. Im Liegen und auf Droge, sonst wär der Sommer nicht so schnell rumgegangen, an der Decke lief Us großer Ventilator, und Brother Sony brachte alles aus Hollywood, sogar Pay-TV gab’s umsonst. Jetzt ist September, alle wieder in der Schule, im Viertel ist es den ganzen Tag lang still, wird langsam Herbst. Diese Abende sind bald vorbei, sie werden ihm fehlen.

Was für eine Verfolgungsjagd. Der Trottel war wohl mal Langstreckenläufer an der Peabody. Crest guckte immer wieder nach hinten und dachte, sie wären ihn los, aber die orange Schürze blieb ihnen auf den Fersen. Sie sprinteten am alten Original Hot Dog vorbei, weißgetünchte Fenster mit einer Nummer drauf, die kein Mensch mehr anrufen wird, die ganzen Schwarzweißbilder von Berühmtheiten von den Wänden verschwunden – John F.Kennedy, Martin Luther King, beide längst tot, wie sie Rindswürstchen essen und einem Griechen die Hand schütteln, der hat ein Schiffchen auf dem Kopf, wie Smooth immer, als er früher dort gearbeitet hat. Sie rannten am Stacheldraht und den aufgereihten Jeeps des Postamts vorbei, wo man Freitag nachts, nach einer Literflasche Starkbier, gut Zielübungen machen konnte, wo sie von der Simonton Street immer Asphaltbrocken rüberwarfen und sich schieflachten, wenn Metall schepperte oder – «Kordell spielt einen langen Pass!» – eine Scheibe zu Bruch ging. Kamen an den Zaun, wo Fats mit der Drahtschere hantiert hatte, sirrte wie ein Basketballnetz, wenn ein Wurf direkt reingeht, dann ging’s an den kaputten Garagen vorbei, wo nicht mal ein Vollidiot sein Auto unterstellen würde, und endlich kann der Handlanger aus Homewood nicht mehr mithalten, denn er kennt weder die Seitengassen noch die Höfe oder die Hunde, die sich anhören, als hätten sie Hunger auf ein schönes, saftiges Stück Fleisch. Als sie wieder zurück sind, staucht Bean ihn zusammen. «Crest, du bist ’ne lahme Ente, so hässlich wie Patrick Ewing.» Crest schnappt nach Luft, seine Kehle rau wie ein Waschbrett. Konnte noch nie schnell laufen – auch keinen Ball abtropfen lassen; keine Infield Hits–, wurde ständig an der Homeplate ausgemacht, keine Ahnung, wie oft. Der Ball springt kurz auf, und schon rammt dir der Fänger den Handschuh in die Nase, den Geruch vergisst du nicht so bald. Aber Bean, der konnte abzischen.

Yeah, Bean.

Unvergessen. Okay, denkt Crest, wenn ich die Gelegenheit hab, mach ich ein Piece für dich.

Ja, Mann, direkt an der Brücke. An Ort und Stelle, so groß wie das von BooBoo am Wasserturm – riesig, irgendwo, wo’s jeder sehen kann.

Aber grade als er davon träumt, kommt der Aufzug, die Schwelle zwei Zentimeter zu hoch – dieser verdammte Mr.Linney, ich tret ihn in seinen blöden Arsch, wenn er das nicht in Ordnung bringt–, und er braucht drei Versuche, bis er drüberkommt, seine Arme brennen wie beim Hantelstemmen in der Reha-Klinik, die Adern so deutlich zu sehen wie Highways. Ihm läuft der Schweiß, dabei wollte er doch heute Abend gut aussehen. Voyager, alle werden kommen, vielleicht sogar Vanessa, vielleicht sagt sie, dass es ihr Leid tut, dass sie Unrecht gehabt hat. Er würde Rashaan gern sehen. Wozu lügen – er hätte gern, dass Vanessa ihm noch eine Chance gibt, damit er den Rolli eine Weile vergessen kann. Ein Mann sein. Als sie den BH anzog, konnte er bloß auf den Boden starren, war völlig fertig und kriegte kaum Luft. Er hat ernsthaft mit dem Gedanken gespielt aufzugeben, sich für immer auf die Reservebank zu setzen, einfach die Badezimmertür abzuschließen und die ganze Flasche runterzukippen. Er weiß immer noch nicht, wie’s weitergehen soll.

Aber der Arzt sagt, es ist alles in Ordnung. Alles bloß Einbildung.

Er drückt auf einen Knopf. Die Abdeckplatte ist völlig zerkratzt, auf dem Fußboden klebt Kaugummi. Bean stand auf Traubengeschmack, machte immer Blasen, bis der ganze Bus danach roch.

BEAN. Wo würde er es hintaggen? Kenny hat für sie beide ein Piece auf die Brücke geklotzt, als ob Crest schon tot wär. Dann auch noch so ein Mist, einfach ranzukommen, auf Hüfthöhe. Crest müsste raufklettern und diesen zweitklassigen Clown auslöschen, was Besseres drüberpiecen. Ich bin am Leben, würde dann da stehen.

«Scheiße», sagt Crest und fährt allein nach unten, die Kabel klingen wie sirrende Messer. «Eher lern ich fliegen.»

Er guckt hoch zu dem Licht, das so rund ist wie der Heiligenschein eines Engels, wie die Halogenlampe über einem Operationstisch. Alles in Ordnung.

Ja, Bean, beam mich raus aus dieser Scheiße.

Der Aufzug kommt unten an, und die Tür geht auf, doch es ist keiner da, der sie festhält. Sie bleibt nie lang genug offen, und er muss sich jedes Mal damit rumschlagen, wenn das Gummiteil gegen den Radgriff knallt, wenn die Tür zurückfährt und noch mal gegen seinen Rolli prallt, blödes Scheißding.

«Halt», sagt U, «hab dich», und stoppt die Tür mit der Hand, in der er seine eselsohrige, mit gelben Notizzetteln gespickte Bibel hält. Er trägt denselben Anzug wie bei der Verhandlung, weil er grade von seinem Treffen zurückkommt. Schuhe mit Troddeln wie kleine Lederblumen, das Tuch in seiner Brusttasche mit drei Segeln, als wär’s ein Klipper. Seit er wieder draußen ist, sollen ihn alle Eugene nennen, als ob er jetzt ein anderer Mensch wäre. Ist er auch, denkt Crest. Er hat mal gesehen, wie U Nene mit einem Aluminiumschläger verprügelt hat. Hat eine Delle in das Ding gehauen, und man konnte nicht mehr richtig damit schlagen, dabei war Nene einer von seinen Leuten, sogar sein Kumpel. Crest war stolz darauf, so einen abgedrehten Bruder zu haben; das hat ihn die ganzen Jahre beschützt. Solange es bloß Briefe waren, hat sich Crest über diesen Jesuskram lustig gemacht. Doch jetzt, wo U draußen ist, weiß er nicht, wie er mit ihm reden soll. Es ist so, wie sie sagen: Gott ist für einen Brother das Ende.

«U», sagt Crest und bedankt sich mit einem Nicken.

«Schon in Ordnung. Heute Abend läuft Voyager, was?» Klingt, als wär er stolz drauf, dass er sich dran erinnert.

«Kommst du auch?»

«Muss mich damit beschäftigen.» Er tätschelt die Bibel und betritt den Aufzug. «Ich komm gegen zehn runter, dann sehen wir uns.»

«Ja, klar», sagt Crest höhnisch, denn U kommt sowieso nicht.

Es ist, als würde man ins Raumschiff transportiert, U drückt auf einen Knopf und ist verschwunden, im Keller läuft der Motor, das Schmierfett überall voller Staubflocken. Mr.Linney hat wahrscheinlich die Tür abgeschlossen, spielt seine Schellackplatten und tut so, als wäre Mrs.Linney noch am Leben. Vor ein paar Jahren haben Crest und Bean mal gesehen, wie Mr.Linney mit sich selber tanzte, wie er, die Hand in der Luft, durchs Zimmer schlurfte und Darling hier, Baby da sang. Hier sind alle völlig hinüber.

«Du musst es ja wissen», sagt Crest.

Draußen stehen schon ein paar Leute auf der Treppe, ein paar Knirpse fahren unter der Straßenlaterne Fahrrad. Auf der anderen Seite der Spofford Street lehnen zwei Typen am Zaun, sie hängen bloß rum und rauchen zusammen eine Kool, als ob’s ein Joint wär, das hat er mit Bean auch immer gemacht. Hat er gemacht, genau wie U, der Pops mal Onkel Tom nannte und ihn durch die Fliegentür boxte. Crest schüttelt den Gedanken ab; diese ganzen Erinnerungen bringen nichts. Es ist jetzt ein halbes Jahr her, erst seit zwei Monaten ist er wieder zu Hause. U ist seit drei Monaten draußen, hat sogar einen Job bei Baierl Chevrolet, macht Autos sauber. Zieht jeden Morgen seinen Overall an, als wär er bei den Marines, schmiert sich für mittags ein Erdnussbuttersandwich, deckt sich mit den Wheat Thins ein, die Pops Freitag abends immer kostenlos von der Arbeit mitbringt. Er ist clean, geht zu seinen Treffen. Vorbei ist vorbei, sagt Moms immer. Rappel dich auf, bring alles ins rechte Gleis und mach’s nicht wieder.

Auf der anderen Straßenseite geht ein Feuerzeug an, das sind bloß Little Nene und Cardell, die warten bestimmt auf ihn und ziehen einen durch, bevor sie ins Weltall starten. Warp 5, Mr.Sulu.

Ja, es sind eine Menge Leute. Vor Miss Fisks Haus stehen dicht zusammengedrängt ein paar Mädchen, damit keiner sie anstarren kann. Vanessa ist nicht dabei, so groß ist noch keine. Crest fährt schneller und prallt gegen die Tür. Wenigstens die Rampe hat Mr.Linney richtig gebaut. Die im Liberty Center sind so steil, dass man mitten in den Verkehr rausschießt und der Bus einem fast den Arsch abfährt.

Alle warten auf ihn; sogar die Mädchen drehen sich um.

«Showtime!», ruft einer der Knirpse und mimt einen überdrehten Dick Vitale. Sie lehnen ihre Räder an den Zaun.

«Crest», sagen sie, «komm schon, Mann, stell das Ding an!»

Little Nene und Cardell schlendern über die Straße, als wär es ihnen egal, ob sie zu spät kommen. Kleine großspurige Idioten, die einfach respektiert werden wollen. Zwei Jahre unter ihm an der Peabody High School. Müssen jetzt sechzehn sein, rasieren sich beide schon jeden Tag. Früher hat Crest sie einmal in der Woche in ihre kleinen Ärsche getreten, er hat nie fest zugeschlagen, bloß mit der flachen Hand, damit sie einen Vorgeschmack darauf kriegten, was sie erwartete. Nach der Sache mit der Brücke schneiden sie ihn zwar nicht, aber sie sind vorsichtiger geworden. Little Nene provozieren, ihm einen harten Schlag verpassen und sich ansehen, wie er diesen wahnsinnigen Blick kriegt, das hat ihm immer Spaß gemacht. Cardell war schon immer der Stärkere, aber er ist nicht halb so verrückt wie Little Nene; Little Nene kann einstecken und austeilen, aber er wird nie so einen Schlag haben wie sein Bruder Nene. Das ist vorbei, genau wie alles andere. Jetzt finden sie es würdelos, sich mit ihm zu prügeln. «Los, ihr Flaschen», sagt Crest, doch sie schlagen nicht richtig zu, tänzeln bloß weg und zeigen ihm ihre coole Beinarbeit, ihre neuen Schritte. Keine kleinen Kinder mehr. Männer.

Und was ist er jetzt?

Nichts.

Einfach nur im Arsch.

Die Leute warten, und Crest rollt rückwärts in die Ecke, damit er die Tür nicht abkriegt. Er versorgt Brother Sony mit Saft, greift unter den Efeu, wo sich Spinnweben an seine Hand hängen – da ist das angezapfte Kabel. Er kippt den Fernseher, macht den Stecker rein und drückt auf den Einschaltknopf. Brother Sony hat einen Plastikständer, und Crest klappt ihn aus und stellt den Fernseher auf die Mauer, damit alle was sehen können. Ein letzter Blick auf die Leute, alle gucken ihn an, und – Zündung.

Ein Golfplatz, spät am Tag, über dem Grün so eine Art Hennessy-Licht. Ein paar alte Leute, alles Weiße, stecken ihre Schläger in den Kofferraum eines riesigen Buick und sind glücklich, als hätten sie was gewonnen. «O Mann», sagt Cardell angewidert, «ich will diese alten Gespenster nicht sehen. Von dem Mist hab ich schon im echten Leben genug, kapiert?» Allgemeine Zustimmung, ein mmm-hmmm wie in der Kirche. Hinter den Alten steht ein Clubhaus voller Efeu, und Crest denkt an die Zeit, als er noch im University Club Geschirr spülte, an die dicken Teller, die von der Maschine so heiß waren, dass man beim Wegräumen Baumwollhandschuhe tragen musste. Freitags hat er immer seinen Scheck eingelöst und Vanessa bei Isaly’s zu einem Schinkensandwich und Vanilleeis mit Kirschen eingeladen. Da liegen ein paar Blätter auf dem Grün, sieht nach Herbst aus. Es ist der Werbespot einer Bank, der zeigt, wie man reich wird, man muss ihr nur sein Geld geben. Wenn Moms von der Arbeit nach Hause kommt, hat sie immer ein Dutzend Gummiringe am Handgelenk, alles voll schwarzer Streifen.

«Dreh mal lauter», ruft Little Nene von hinten, aber Crest wartet noch. Jemand hat eine Packung Better Cheddars dabei – noch jemand, dessen Vater bei Nabisco in der Tagschicht arbeitet–, er holt sie raus, reicht sie rum, und jeder schüttet sich was auf den Schoß. Bei den Werbespots ist der Ton lauter, und als Voyager losgeht, stellt Crest die Lautstärke neu ein. Sie fangen gleich mit dem Film an, kein Vorspann, nichts, B’Elanna Torres mit ihrem Nashornschädel und der Weiße Tom Paris mit seinen Glupschaugen stehen mit gezogenen Phasern in einer Höhle aus Pappmachéfelsen; eine typische Situation für das Außenteam. Macht euch schon mal drauf gefasst, dass es gleich jemanden erwischt.

Dieser Geist taucht auf, grün und durchsichtig, eine Art Gespenst, aber die Musik sagt einem, dass es keins ist. Er fliegt um sie rum, als ob er Interesse an ihnen hätte. Die beiden rühren sich nicht vom Fleck; das ist bei Star Trek schon fast eine Regel: Steh einfach da.

«Haut ab!», ruft Janelle French.

«Wohin denn?», fragt Cardell.

«Keine Ahnung», sagt Janelle, «bloß weg!»

«Ich bekomme keine Messwerte», sagt B’Elanna, und dann fegt das Ding – wusch – in Tom Paris rein. Er macht ein Gesicht, als hätte er was Schlechtes gegessen und müsste gleich kotzen. Die Musik wird erst laut, dann wieder leise, dann bricht sie ab. Ganz plötzlich geht es Tom besser.

«Tom!», ruft B’Elanna und läuft zu ihm. Sie würde ihn am liebsten berühren, tut’s aber nicht. Alle wissen, das wird wieder so eine Szene, wo das Mädchen einfach nicht weiß, was es will. Crest denkt ständig, es ist vorbestimmt wie bei ihm und Vanessa, zwecklos, es zu leugnen. Aber V braucht einen Mann. Sie sagt es zwar nicht, doch Crest weiß Bescheid. Der Arzt sagt, es ergibt keinen Sinn, er müsste eigentlich alles spüren – und auf die Art sagt er es auch, ganz förmlich, als gäb’s keine andere Möglichkeit. Scheiße, hätte Crest am liebsten gesagt, um die Sache klarzustellen: Es funktioniert einfach nicht. Er funktioniert einfach nicht. Vanessa hat es zweimal probiert. Beim ersten Mal hat sie geheult; beim zweiten Mal hat sie einfach aufgehört und ihn so kühl angeguckt, als wär es seine Schuld.

«Alles in Ordnung?», fragt B’Elanna.

«Glaub schon», sagt Tom Paris und reibt sich mit glupschigem Blick den Kopf, als wüsste er nicht mal, dass das Ding in ihm drinsteckt. B’Elanna fordert Captain Janeway auf, sie raufzubeamen, und als sie transportiert werden, erkennt man das grüne Wesen in Toms Körper.

«O Mann!», sagt Little Nene. «Unser Freund steckt echt in der Klemme.»

«Das Ding ist direkt in seinem Mund verschwunden», sagt Cardell, und die beiden spielen die Szene nach, kaspern rum, bringen die Mädchen zum Lachen.

Crest hat die Folge schon mal gesehen, ist eine Wiederholung. Die neuen Folgen fangen erst nächste Woche an, aber keiner beschwert sich, denn es ist trotzdem witzig. Vielleicht ist es der letzte schöne Abend, dann geht’s wieder los mit der Schule, den Hausaufgaben, den Teilzeitjobs. Bald liegt er wieder in seinem Zimmer, allein mit Brother Sony. Aber noch ist es nicht so weit, noch nicht.

Das grüne Ding ist das letzte Exemplar seiner Art und will nicht mehr raus aus Toms Körper. Die Hauptdirektive tritt in Kraft, und der Doktor muss sich was einfallen lassen. Crest sitzt da und sieht sich alles an, lacht, wenn alle anderen lachen, und verstummt, als der Doktor mit diesem Stahlding Toms Mund aufsperrt und mit einer Lampe reinleuchtet. Und dann kommt natürlich Werbung.

Den ganzen Tag lang hat er darauf gewartet, mit anderen zusammen zu sein, hat im Bett gelegen, während draußen die Busse und der Stoßverkehr vorbeifuhren, hat sich Talkshows angeguckt, ist schließlich aufgestanden und hat während der Mittagsnachrichten was gegessen. Schießerei im Hill District, die Pirates immer noch dreieinhalb Spiele hinter den Astros. Den ganzen Nachmittag hat er den Fernseher aufgeladen, hat mitgekriegt, wie die Busse die Schulkinder abgesetzt haben, und hat sich die Musik der Zeichentrickfilme angehört, die in den anderen Wohnungen liefen. Moms ist heimgekommen, um das Abendessen zu machen, ist wieder gegangen, bevor Pops und U kamen, beide zu müde, um sich ums Essen zu kümmern. Sie haben am Tisch gesessen, aber sie haben bloß gegessen oder gesagt, gib mir dies, gib mir das. Keiner hat den andern gefragt: «Was hast du heute so gemacht?»

Ich hab in meinem Zimmer gelegen und mir die neue Wu Tang reingedröhnt, immer wieder dasselbe Stück.

Ich hab das ganze rote Kool-Aid getrunken und dann meinen Urinbeutel ausgeleert.

Ich hab Fernsehen geguckt.

Keiner will das wissen. Scheiße, denkt Crest, ich auch nicht.

«Gehst du zu deinem Treffen?», hat Pops wie jeden Abend gefragt, und wie immer hat U gesagt: «Wenn das für euch in Ordnung ist.»

«Ich hab nichts dagegen.»

«Ich auch nicht», hat Crest gesagt.

«Du solltest mal mitkommen. Du wärst überrascht, wen du da alles treffen würdest.»

«Echt?»

«Kennst du Pooh Bear noch? Der ist auch da.»

«Der Fettwanst? Ich dachte, der wär angeschossen worden.»

«Ist er auch. Er ist jetzt in St.James in Highland Park Diakon.»

«Weiter.»

«Kennst du noch Guy Collins?»

«Das kann nicht stimmen. Guy Collins heißt jetzt Malik. Hat mir sein Cousin Anthony erzählt.»

«So hieß er im Knast. Als er rauskam, hat er wieder den alten Namen angenommen. Er ist jetzt mit dieser Florence verheiratet, sie kommen zweimal pro Woche. Ich sag dir, du wärst überrascht; bei uns ist es nicht wie bei den alten Klatschtanten im Gebetskreis von Sister Payne. Vielleicht ist es genau das, was du brauchst.» Mit leuchtenden Augen hat er’s Crest wirklich schmackhaft gemacht, wie einen saftigen Schinken. «Wir haben eine Rampe und alles.»

«Ist schon in Ordnung», hat Crest gesagt.

«Unsere Tür steht dir jederzeit offen.» U hat geredet wie Reverend Skinner, als ob das alles ihm gehört, und Crest musste unwillkürlich an den Tag denken, als U Brother Sony, noch im Karton verpackt, nach Hause mitbrachte. Er und Fats und Big Nene hatten hinter Sears einen Lastwagen aufgebrochen. So war er damals gewesen – immer für eine Überraschung gut.

Als U im anderen Zimmer war, um sich seinen Anzug anzuziehen, beugte sich Pops über den Tisch und meinte, nimm’s nicht persönlich. «Er ist im Moment bloß ein bisschen aufgewühlt. Vergiss nicht, er war lange weg.»

«Ich weiß», sagte Crest und dachte: Und was ist mit mir, wie lange war ich nicht da?

Jetzt beugt sich der Doktor wieder über Tom Paris’ Mund, diesmal mit so einem stählernen Reagenzglas, und eins der Mädchen kreischt: «Lass das, du Idiot!»

Es gibt einen grünen Lichtblitz – «Jetzt geht’s ab», sagt Cardell–, und als das Bild wieder kommt, guckt der Doktor immer noch in Toms offenen Mund.

Steif wie immer richtet der Doktor sich auf. «Ich glaube, es hat geklappt.» Selbstgefällig hält er das Reagenzglas hoch. Darin leuchtet ein grünes Licht.

Sie wollen versuchen, das Wesen zu klonen, wollen sehen, ob es sich fortpflanzt und sie verhindern können, dass seine Art ausstirbt.

«Das geht in die Hose», sagt Janelle French und schüttelt den Kopf.

Doch dann kriegt Tom Paris in seinem Quartier diese schrecklichen Kopfschmerzen. Er geht zum Spiegel, hält sich mit beiden Händen den Kopf, und seine Augen sind ganz grün.

«Yeah», sagt Little Nene. «Das kommt davon, wenn man sich mit diesem grünen Zeug einlässt.»

«Stimmt», sagt Crest und schaltet den Ton aus.

Ein Wagen rollt vorbei, ohne sich um das Stoppschild zu kümmern, und sie mustern ihn alle, denken, es könnte B-Mos Bande aus Brushton sein, die Nene und seinen Kumpels irgendwas heimzahlen will, aber es ist bloß ein alter, verwirrt aussehender Weißer in einem schäbigen Oldsmobile mit raufgekurbelten Fensterscheiben. Muss sich verfahren haben – ist auf Crack oder will Koks kaufen. Als er vorbeifährt, geht Cardell auf die Spofford Street raus, um ihm zu zeigen, dass sie ihn gesehen haben, dann kommt er zurück.

«Sind noch Cheddars da?»

Mitten in der nächsten Szene geht Little Nenes Piepser an, und er und Cardell müssen los. «Bis später, C.» Crest schaut ihnen bis zum Ende des Blocks nach und denkt, was für enge Freunde er und Bean waren. Der hat ihm immer beigestanden, egal, ob in Morningside oder North Braddock, in Oakland oder auf der North Side, und gegen seinen Willen sieht er plötzlich, wie Bean auf der Brücke steht, wie er fällt, und er greift nach ihm, erwischt ihn am Ärmel, dann stürzen sie beide ab, der harte weiße Belag der Busspur fliegt ihnen entgegen wie ein leeres Blatt Papier, eine Mauer aus Schnee. Es waren bloß sieben Meter, das wird er nie begreifen.

Keiner weiß, dass Tom Paris der Außerirdische ist. Er verbreitet die DNA wie ein Vampir, beißt die Leute in den Fluren. Wenn seine Augen sich grün färben, leuchtet das Reagenzglas. Die Hälfte der Besatzungsmitglieder läuft rum wie Zombies, doch Crest weiß nicht mehr, wie es ausgeht – irgendwas mit dem Holodeck oder vielleicht ein spezielles Mittel, das der Doktor entwickelt. Spielt keine Rolle; Bean ist wieder da und der Augenblick, als Crest im Krankenhaus aufwachte, das Licht über dem Tisch, der kalte, nach Ammoniak riechende Operationssaal. Als sich die Ärztin über ihn beugte, sah er, dass an ihrer blonden Augenbraue ein Blutstropfen klebte. Hallo, gnädige Frau. Er hörte eine Säge, die genauso kreischte wie die im Werkunterricht. Moment, wollte er sagen, hören Sie auf, aber ihr Gesicht kam näher, und der Blutstropfen sah aus wie ein Käfer, wie ein Kakerlak in einem Haufen Spaghetti. Er versuchte was zu sagen, aber die Luft war süß, zuckerig, roch richtig nach Lakritz oder Kautschuk, und dann war da nur noch ein schwebendes, sternloses Universum, nur dunkle, undurchdringliche Nacht. Willkommen im Delta-Quadranten.

«Stell den Ton ab», sagt jemand, und Crest gehorcht. Er hat seine Tabletten schon genommen; vielleicht liegt es daran. Es passiert nicht jeden Abend, nur manchmal. Er sucht ständig nach Gründen, findet aber nie welche, als ob er wie der glupschäugige Tom Paris von einer außerirdischen Macht kontrolliert würde. Scheiße.

Alles bloß wegen Bean.

Die Werbung zieht sich in die Länge, und sie wissen, dass bald Schluss ist. Als der Film weitergeht, fällt es Crest wieder ein. Nicht der Doktor, sondern B’Elanna rettet alle. Sie küsst Tom, und da kommt seine wahre Persönlichkeit zurück und verjagt den Außerirdischen aus seinem Körper. Der Doktor legt sich eine seltsame Erklärung zurecht und behauptet, die anderen bräuchten Tom, um am Leben zu bleiben, und plötzlich sind alle wieder gesund. Die Geister verbinden sich zu einer grünen Masse und fliegen ins Universum. Die Spezialeffekte sind schwach, und alle lachen. Crest fragt sich, ob ein Kuss von Vanessa alles wieder in Ordnung bringen würde. Vorhin hätte er das noch nicht geglaubt, aber jetzt denkt er: ja. Er muss sie morgen anrufen.

Ein paar Mädchen bleiben noch da, um sich die Vorschau für nächste Woche, für die neuen Folgen, anzusehen, aber beim Nachspann gehen alle. Am nächsten Tag ist Schule, trotzdem ist Crest enttäuscht. Janelle French winkt. «Halt die Ohren steif.»

Die Zehn-Uhr-Nachrichten fangen an, mit der Schießerei als Hauptmeldung. Er kennt das Gebäude, Aliquippa Terrace. Vor ein paar Jahren war da im Frühling mal ein Tanz. Noch so eine Bean-und-ich-Geschichte, ein Streit um einen geklauten Mantel, und Crest will nicht daran denken, wischt das verrückte Zeug einfach weg, verscheucht es. Was soll’s? Auch wenn er mit jemandem reden könnte, würde er nichts sagen. Was gibt’s da schon zu sagen? In der Zeitung hieß es, Bean wäre der vierte Jugendliche, der in dieser Woche in East Liberty ums Leben kam, als ob es eine Drogensache wär. Es klang, als wär Bean selber schuld. Und danach nichts mehr, bloß eine kleine Todesanzeige. Crest konnte nicht mal zur Beerdigung gehen. Hat den Stein, den Miss Fisk für Bean ausgesucht hat, immer noch nicht gesehen. Hat nicht mal mit Miss Fisk gesprochen und ihr gesagt, dass es ihm Leid tut. Bald. Muss er unbedingt machen.

Die Tür schwingt auf und prallt fast gegen seinen Rollstuhl.

«Hey», sagt U.Er trägt alte Klamotten, Kordslipper.

«Hallo.»

«Wo sind denn all deine kleinen Freundinnen geblieben?»

«Die Sendung ist vorbei», sagt Crest. «Ist Pops schon im Bett?»

«Er schläft auf dem Sofa.»

Sie sitzen da, Crest in seinem Rolli, U auf der Mauer, und gucken sich die Nachrichten an. Die Pirates haben gewonnen; Kevin Young schlägt einen Ball bis auf die Tribüne.

«Klasse, K.Y.», sagt U, und beide lächeln. Kaum zu glauben, wie clean U ist. Hat mit allem aufgehört, trinkt nicht mal mehr Bier. Früher haben sie hier gesessen und Iron Cities abgepumpt. Bei Frauen hatte U den Dreh raus, hat einen schicken Impala gehabt, in dem er immer die Highland Avenue langkurvte, schicke Klamotten. Das ist jetzt alles vorbei, Us neues Leben ist Crest unbegreiflich. Und ich im Rollstuhl; das ist dasselbe, denkt Crest. Sie haben sich verändert. Wo sie waren, dahin führt kein Weg mehr zurück. Es ist, als wären sie von unterschiedlichen Planeten zurückgekommen und hätten sich nichts mehr zu sagen, aber vielleicht sprechen sie auch ganz verschiedene Sprachen. Vielleicht sind sie beide im Arsch. Vielleicht ist Bean billig davongekommen. (Nein, das ist herzlos.)

«U.»

«Häh?»

«Was ist mit Moms und Pops los?»

«Die streiten sich bloß.»

«Nee, diesmal ist es anders.»

«Meinst du? Tja, ich bete jedenfalls für sie. Und für dich bete ich auch, Chris. Jeden Tag.»

«Danke», sagt Crest, weil es darauf keine andere Antwort gibt.

«Ich bete auch für Bean. Für uns alle.»

«In Ordnung, Mann», sagt Crest, sie schütteln sich die Hand, und es ist fast so wie früher. Aber das stimmt nicht. Für U ist es okay, wenn er so tut, als wär die ganze Scheiße nicht passiert, aber Crest kann das nicht. Will’s auch nicht.

Die Wettertante ist dran, Crest guckt U an – diesen neuen Eugene – und muss an Tom Paris denken, keiner hat gemerkt, dass der Außerirdische in seinem Körper steckte. Und er denkt, es ist wie in der Star Trek-Folge, wo es zwei Captain Kirks gibt, und einer ist gut, einer böse. Sie sehen genau gleich aus, sie reden genau gleich, sie haben sogar dieselben Sachen an, nur dass einer von ihnen böse ist. Man weiß, dass die beiden es miteinander ausfechten müssen, und Spock muss ständig überlegen, mit welchem von beiden er es grade zu tun hat. Aber zu Crests Erstaunen entscheidet er sich jedes Mal richtig. Aber was, denkt Crest, wenn Spock sich auch nur einmal geirrt hätte? Wenn er einmal aus Versehen den Bösen gewählt hätte? Wer weiß das schon?

Ein richtiger, lebendiger Mensch

Wenn Sister Marita Payne den Schmerz eines anderen nachempfinden konnte, nachdem sie sich seine Probleme angehört hatte, war das ein gutes Zeichen. Wenn sie, allein in ihrer Wohnung, in Tränen ausbrach, während sie Nickels fütterte, oder sich in dem Bus, der sie zur Arbeit brachte, das Taschentuch vors Gesicht halten musste, wusste sie, dass sie etwas Gutes getan hatte.

Sie kamen wegen ihren Ehemännern, ihren Kindern, ihren Geldsorgen zu ihr. Sie kamen wegen ihren Seitensprüngen, ihren Ängsten, ihren Misserfolgen, und nach der Chorprobe hielt Sister Marita in dem leeren Sonntagsschulraum im Keller der East Liberty A.M.E.Zion ihre Hände und hörte ihnen zu, nickte verständnisvoll und bemühte sich, sie nicht zu unterbrechen.

«Ich glaube, Harold hat eine andere», sagte ihre Cousine Jackie, und obwohl Sister Marita nie geheiratet hatte, wusste sie genau, was Jackie durchmachte. Unzählige Ehemänner waren schon vom Pfad der Tugend abgekommen. Doch Harold war immer ein so ruhiger, netter Mann gewesen; sie schämte sich für ihn. Von ihm hätte sie das nicht erwartet, er wirkte so zuverlässig, so fürsorglich. Doch Jackies jüngster Sohn Chris hatte diesen Unfall gehabt und saß jetzt im Rollstuhl. Und Eugene gerade erst aus dem Gefängnis entlassen. Sister Marita wusste, wie sehr das einen Vater belasten konnte. Welche Hoffnungen die Leute in ihre Kinder setzten.

«Es muss hart sein», sagte sie, «mit Chris im Rollstuhl. Und Eugene gerade erst zurückgekommen.»

«Vielleicht hat es damit zu tun», gab Jackie zu, «ich weiß nicht. Er hat sich verändert. Er redet nicht mit mir. Ich seh ihn den ganzen Tag nicht, und wenn ich heimkomme, ignoriert er mich völlig. So ist er noch nie gewesen.»

«Ist ja gut, Liebes», sagte Sister Marita und reichte ihr ein Kleenex. «Irgendwann werden Männer so. Und Harold ist noch nie ein großer Redner gewesen, das weißt du doch.»

«Aber ich hab irgendwie das Gefühl, dass etwas nicht stimmt.»

«Dann sprich mit ihm.»

«Ich wusste, dass du das sagen würdest.»

«Das ist doch auch das einzig Sinnvolle, oder? Frag, was ihn beschäftigt. Wenn er es dir nicht sagen will, dann weißt du wirklich, dass du in Schwierigkeiten bist.»

«Du hast Recht.»

«Ich hab immer Recht», scherzte Sister Marita, um sie zum Lächeln zu bringen. Doch es wurde nur ein halbherziges Lächeln, noch dazu ein trauriges. «Ach, komm schon, Jacks.» Sie stand auf und umarmte sie von links und von rechts, hielt sie fest. «Das kommt alles wieder in Ordnung. Er hat dich doch bis hierher begleitet, oder?» Sie deutete mit dem Finger zur Zimmerdecke. «Stimmt das nicht?»

«Ja», pflichtete Jackie ihr bei.

«Na also.» Und dann kam das Lächeln, das sagte, dass alles wieder in Ordnung kommen würde. Dieses Lächeln konnte sie Jackie immer entlocken, auch früher schon. Jackie schürfte sich beim Schlittschuhlaufen das Knie auf, und ihre Cousine Marita war da, um ihr aufzuhelfen, wischte ihr wie ihre Großmutter den Sand von der Haut und pustete auf die offene Wunde. Nichts hatte sich geändert.

Doch als Sister Marita mit der 76-Hamilton-Linie nach Hause fuhr, stellte sich die Beklemmung, die sie erfüllte, wenn sie Mitgefühl mit jemandem hatte, der es brauchte, nicht ein. Da war nur das Kribbeln in ihren Fingern, das ihr in letzter Zeit aufgefallen war, besonders beim Chor, wenn sie die ganze Probe hindurch geklatscht hatte, oder manchmal, wenn sie Nickels ausführte und die Leine ihr das Blut abschnürte. Es war, als würden ihre Finger einschlafen, so wie ihre Beine, wenn sie auf dem Klo las. Sie massierte die Hände in ihrem Schoß und blickte aus dem regengesprenkelten Fenster auf die vorbeiziehenden Läden, die glänzenden Straßen, die Autos, deren Scheibenwischer sich hin und her bewegten. Richtiges Pittsburgh-Wetter, alles grau. Sie fragte sich, wie es Jackie ging, wie ihr Gespräch mit Harold laufen würde und ob sie ihr wirklich eine Hilfe gewesen war. Vielleicht nicht.

Zu Hause warnte Nickels sie davor, die Tür zu öffnen, und bellte noch lange, nachdem er den Schlüssel im Schloss gehört hatte. Er wurde langsam blind, seine dunklen Augen waren unter der Oberfläche milchig.

«Ich bin’s, Dummerchen», sagte sie und bückte sich, damit er ihr die Hand ablecken konnte, und sein Scotchterrierbart kitzelte sie. «Gut, bringen wir dich raus, damit du dein Geschäft machen kannst.»

Sie legte die Post auf die Arbeitsplatte, öffnete die Tür, folgte ihm nach draußen zum Bordstein und hielt den Regenschirm über ihn, während er pinkelte. Auf der anderen Seite der Spofford Street lag ein umgekippter Einkaufswagen im hohen Unkraut. Nickels schnupperte am Fuß einer Platane; die Straße war mit aufgeplatzten Samenkapseln bedeckt.

«Wenn du nochmal musst, dann bring’s besser jetzt hinter dich», sagte sie.

Er schaute sie an.

«Ist das alles, was du für mich hast? War’s das?»

So war es.

«Okay, aber ich will keine Überraschung vorfinden, wenn ich morgen nach Hause komme.»

An der Tür blieb sie stehen und legte den aufgespannten Regenschirm zum Trocknen auf die Veranda, während Nickels ganz aufgeregt mit seinem kurzen Schwanz wedelte. Mr.Andre war noch nicht zu Hause, aus seinem Briefkasten schaute der Werbeprospekt einer chemischen Reinigung hervor. Das war schon das dritte Mal in dieser Woche; vielleicht machte er eine Doppelschicht. Manchmal wurde das von ihm verlangt. Was gut ist, dachte Sister Marita. Er verkaufte Anzüge bei Kaufman’s in der Innenstadt, und er war immer gut gekleidet. Er war klug, konnte gut reden. Irgendwann würde ihn sich eine von James Frenchs Töchtern angeln.

Nickels schaute zur Tür.

«Will da jemand was haben? Will da jemand ein Leckerchen?»

Sie schob die Tür nur einen Spalt weit auf, doch er drängte sich hinein, stürmte in die Küche und rutschte über das Linoleum.

«Ist ja gut, ist ja gut.»

Es gab drei Sorten Hundekuchen, und sie gab ihm einen von den großen, hörte sich an, wie er ihn zerkaute, und sah die Post durch. Das Huhn auf der Herdplatte war aufgetaut, und Nickels folgte ihr durch die Küche, während sie das Abendessen zubereitete. Carls Schneckenmuschel lag, das Innere rosa glänzend, über dem Spülbecken auf dem Fensterbrett.

«Und was hast du heute gemacht?», fragte sie Nickels. «Den ganzen Tag im Haus herumgelümmelt?»

Er legte den Kopf schief, als würde er nicht verstehen.

«Ich wette, du warst auf dem Sofa.»

Sie blickte zum Telefon und dachte daran, Jackie anzurufen, doch es war noch zu früh, und wenn Harold zu Hause war, würde er Verdacht schöpfen. Sie überlegte, wer es wohl war. Jemand von der Arbeit. Bestimmt niemand aus der Kirche.

Er war so schweigsam, dass man nicht wusste, was er dachte. Manchen Frauen gefiel so etwas.

«Harold, Harold, Harold», sagte sie, kopfschüttelnd über das Huhn gebeugt, und hatte das Gefühl, dass sie Jackies Schmerz nachempfinden konnte. So viele Jahre zusammen und jetzt so was. Und die Kinder noch zu Hause.

Als das Huhn gar war, schüttete sie Trockenfutter in Nickels’ Napf und wusch sich dann gründlich die Hände. Er wartete, bis sie am Tisch saß und das Gebet sprach.

Herr, wir bitten Dich, lass uns nie Deine Liebe und die Seelen anderer Menschen vergessen. Amen.

«Gut», sagte sie und er machte sich über das Futter her.

Beim Essen begann ihre Hand zu kribbeln. Sie legte die Gabel hin, bog die Finger wie eine Klavierspielerin und rieb sie aneinander. Ameisenlaufen. Es war nicht wirklich schmerzhaft, und kurz darauf war es vorbei.

«Seltsam», sagte sie und betrachtete ihre Hände. Sie dachte, es müsse an der neuen Tastatur auf der Arbeit liegen. Monatelang war das Gerücht umgegangen, dass sie auf das neue ITT-System umsteigen würden, und eines Abends waren sie zur Arbeit gekommen und hatten neue Kopfhörer, neue Tastaturen und auch neue Monitore vorgefunden, alles in demselben grellen gebrochenen Weiß, die Ritzen noch voller Styroporperlen. Vielleicht waren die neuen Tasten elastischer, härter an den Fingern. Sie hoffte, dass es daran lag.

Sie spülte das Geschirr und betrachtete die Schneckenmuschel, die Carl ihr vor so langer Zeit geschenkt hatte. Auch er ein schweigsamer Mensch. Nun, das war vorbei, und es hatte keinen Sinn, darüber zu weinen. Sie sah sich die Nachrichten an. Die Kämpfe in Ruanda gingen weiter; Gott, es war herzzerreißend, all die Babys. Sie konnte nicht hinsehen. Sie putzte sich die Zähne und machte sich fertig für die Arbeit, stellte Nickels einen Napf Wasser hin und breitete an der Hintertür eine Lage Zeitungen für ihn aus. In letzter Zeit konnte er manchmal das Wasser nicht halten. Das lag schlicht und einfach an seinem Alter. Trotz ihrer Hänseleien machte sie ihm keinen Vorwurf.

«Gut», sagte sie, und er hörte auf, mit dem Schwanz zu wedeln. Er begriff, dass sie aufbrach, und sie beugte sich runter und streichelte ihn. «Sei ein braver Hund», sagte sie und schloss die Tür hinter sich ab.

Draußen war es dunkel, und es regnete noch, stetig und monoton prasselte der Regen auf ihren Schirm. Der Bus war leer, als sie einstieg, den Fahrer hatte sie noch nie gesehen. Sobald die Busspur eingeweiht war, würde die Fahrt nach East Hills zehn Minuten dauern, doch die Auf- und Abfahrten waren noch nicht fertig gestellt, sodass sich der Bus weiter durch Homewood und Brushton schlängelte, die Frankstown Road entlangfuhr und alle paar Blocks hielt, um Leute einsteigen zu lassen, die sie größtenteils von der Arbeit her kannte. Als sie angefangen hatte, mit dem 82er zu fahren, war der Bus jeden Abend voll gewesen, das ganze Reinigungspersonal für East Hills Village, die Sicherheitsleute; jetzt war das Einkaufszentrum geschlossen und stand wie ein riesiges Spukhaus inmitten der Parkplätze, und die Leute im Bus arbeiteten alle für Bell Telephone. Das machte die Fahrt zu einer Art Kirchenpicknick, alle brüllten und redeten durcheinander, doch Sister Marita vermisste auch die alten Zeiten, die Aufregung so vieler Menschen, die in dieselbe Richtung fuhren. Was hatte es schon für eine Rolle gespielt, dass sie zur Arbeit fuhren? Sie waren froh gewesen, Arbeit zu haben, und sie waren alle zusammen gewesen. So hatte sie Carl kennen gelernt, eines Abends im 82er.

Er war Nacht-Filialleiter des Thrift Drug in Brushton gewesen und gerade nach Hause gefahren. Er hatte sich neben sie gesetzt, und alle Frauen hatten sie beneidet, das hatte sie gespürt. Im Gegensatz zum Apotheker musste er keinen weißen Kittel tragen; er hatte Jacke und Schlips an. Als sie sich mit ihm unterhielt, ließ er sie immer weiter reden, schaute ihr direkt in die Augen, nickte, ließ sich kein Wort entgehen. Sein Vater hatte ihm gesagt, dass ein kluger Mensch wenig rede, aber viel zuhöre, und diesen Rat hatte sich Carl zu Herzen genommen. Jeden Abend hielt sie ihm den Platz frei, und jeden Abend ging er an allen anderen vorbei und setzte sich neben sie, behielt die Tasche auf den Knien. Es dauerte eine Woche, bis er den Mut aufbrachte, sie einzuladen, und dann sprach er während des Abendessens kaum ein Wort. Er war in Morehead gewesen und hatte den fünftbesten Abschluss seines Jahrgangs gemacht. Danach hatte er drei Jahre lang in Ghana für eine Hilfsorganisation gearbeitet und war schließlich an Malaria erkrankt. Der Staat musste ihn auf einem Feldbett festgeschnallt, laut stöhnend, mit einem Armeeflugzeug nach Hause transportieren. Er war seit sechs Monaten in Pittsburgh, doch das war der einzige Job, den er gefunden hatte. Sein Vater war von ihm enttäuscht.

«Nein», sagte Sister Marita. Wie konnte das sein?

«Er ist Richter», sagte Carl. «Er will, dass ich Jura studiere.»

Mehr hatte sie über seine Familie nicht aus ihm herausbekommen. Als sie ihn ihrer Familie vorstellte, fragte ihre Großmutter, wo er her sei, und er zögerte, als wäre es eine schwierige Frage, sagte dann: «Aus Richmond. Und aus Baltimore.»

Abends aß er seinen ganzen Teller leer und dann noch zwei Stücke von ihrem Süßkartoffelauflauf, sagte aber nichts dazu, sondern faltete bloß seine Serviette zusammen und lächelte zufrieden. Im Wohnzimmer sah sie, dass ihre Großeltern hofften, er würde eine große Erklärung abgeben, doch Carl sprach nur von seiner Arbeit, seiner Verantwortung. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Großeltern sie bedauerten, aber nur, weil sie sie liebten. Sie war siebenunddreißig und nie eine Schönheit gewesen, würde auch nie eine sein. Sie wusste, dass sie sich Sorgen machten; sie konnte sie nicht bitten, damit aufzuhören.

«Er ist ein seltsamer Mensch, nicht wahr?», sagte ihre Großmutter, als er gegangen war.

«Aber nett», sagte ihr Großvater. «Sehr gute Manieren. Man sieht, dass er aus einer guten Familie kommt.»

Seine Familie lernte sie nie kennen. Als sie ein paar Monate zusammen waren, schloss Thrift Drug die Filiale in Brushton und versetzte Carl nach Waxahachie, Texas. Er war kein großer Briefeschreiber, und am Telefon verlor seine Fähigkeit, zuhören zu können, ihre Intensität, verwandelte sich in Schweigen, in Unaufmerksamkeit, und nach einer Weile hatte sie Angst vor seinen Anrufen, der Suche nach einem anderen Gesprächsthema als ihrer räumlichen Trennung.

Sie beschlossen, zusammen Urlaub zu machen – eine letzte Chance, ein letztes Mal oder der endgültige Abschied. Ein letzter Versuch, da machte sie sich nichts vor. Florida im Februar. Ihre Großmutter sagte nicht, dass es eine Sünde sei, gemeinsam dort hinzufahren, ohne verheiratet zu sein. Es war eine Phase ihres Lebens, in der sie angestrengt übers Glücklichsein nachdachte und was es für sie bedeutete, was sie bereit war, dafür zu tun. Carl schlief mit ihr, als sie vom Strand zurückkamen, der Sand kratzig zwischen ihren Körpern. Abends gingen sie auf den Pier hinaus, nahmen einen Tisch am Geländer und aßen spät, während das Wasser unter ihnen gegen die Pfähle schwappte und dann zum Strand weiterrollte. Er fand die Schneckenmuschel auf einem langen Spaziergang in ein Vogelschutzgebiet, brachte ihr den tropfenden, glänzenden Fund aus dem seichten Wasser. Sie blickte in beide Richtungen den weißen Strandstreifen entlang, ohne jemanden zu sehen, streifte dann die Träger ihres Oberteils von den Schultern, und behutsam sanken sie gemeinsam in den Sand, Knie und Füße ineinander geschlungen. Später versuchten sie, die Muschel wie ein Horn zu blasen, doch keiner von beiden brachte auch nur den leisesten Ton hervor.

Er sagte nicht, dass er sie liebe. Er sagte nicht, dass es für immer sei. Zumindest in seinem Schweigen war er ehrlich, und sie war so klug, ihn nicht auf die Probe zu stellen. Er rief sie danach noch ein paar Mal an, doch jedes Mal schien Waxahachie weiter entfernt zu sein. Er sagte auch nicht, dass es vorbei sei, so ein verschlossener Mensch war er, also musste sie es tun.

«Schätze, du hast Recht», sagte er.

«Als ob du es nicht gewusst hättest.»

«Tja», sagte er, ohne den Satz zu beenden.

«Also mach’s gut», sagte sie, und das war’s dann.

Das war jetzt neun Jahre her, und seit damals war sie mit keinem anderen Mann zusammen gewesen, als würde sie auf Carls Rückkehr warten. Sie wusste, was die Leute sagten, wusste, dass die Kinder, die sie Witwe Payne nannten, das auch für die Wahrheit hielten. In gewisser Hinsicht stimmte es auch; manchmal hatte sie das Gefühl, als wäre jemand gestorben – abgesehen von ihren Eltern, diese alte Geschichte von Pech und zerbrochenem Glas, über die sie nicht zu gründlich nachdenken mochte, weil sie den beiden nicht die Schuld für ihre Einsamkeit geben wollte, egal, wie nahe liegend das alle anderen vielleicht auch fanden. Sister Marita wollte kein Kind mehr sein. Sie war eine Frau, schon seit über dreißig Jahren. Eine starke Frau, dachte sie. Man musste stark sein, um mit einer Enttäuschung leben zu können.

Sie hatte sich Kinder gewünscht und würde keine bekommen.

Sie hatte sich einen Mann gewünscht.

Und dennoch brachte sie Tag für Tag ihr Leben Gott dar. Sie versuchte anderen zu helfen, indem sie ihnen zuhörte (ja, das war Carls Geschenk an sie), und im Chor erhob sie ihre Stimme zum Lobpreis Gottes. Sie war dankbar. Wirklich dankbar. Doch manchmal war sie so müde. Herr, gib mir Kraft, sagte sie dann. Gib mir die Gnade, an andere statt an mich zu denken.

Der Bus fuhr durch East Hills, Regen prasselte aufs Dach, und Sister Marita schaute in den dunklen Abend hinaus, auf die geschlossenen Zeitungsstände und Apotheken, deren stählerne Rolläden heruntergelassen waren wie Garagentore. Sie machte eine Faust, und ihre Fingernägel gruben sich in die Hand. Vielleicht Arthritis. Kein Herzinfarkt. Ihr Großvater war sechsundachtzig geworden, ihre Großmutter dreiundneunzig. Das war noch ein weiter Weg.

Auf der Arbeit stempelte sie ihre Stechkarte, bevor sie sich ihren Kaffee holte, und wartete hinter Serena, bis es Zeit war. Um elf läutete es–, wie in einem Aufzug, der die richtige Etage erreicht hat