Ganz aus Splittern - Danae Lake - E-Book
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Ganz aus Splittern E-Book

Danae Lake

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Beschreibung

YA vom Feinsten: eine bewegende Geschichte um Liebe, Freundschaft und Familie ab 14 Jahren. 

Die 16-jährige Chrissy lebt mit ihrer Mutter und ihrem gewalttätigen Stiefvater Marcel im "Problemkiez" und träumt von einem besseren Leben. Mehr noch, sie tut etwas dafür, indem sie sich in der Schule anstrengt, um ein gutes Abitur zu machen. Eines Tages bietet ihr die Direktorin des Heinrich-Heine-Gymnasiums die Teilnahme an einer Studie an, die den Wechsel von Schülern aus Problemvierteln an Elitegymnasien untersucht. Chrissy lehnt zunächst ab, will kein "Sozialexperiment" sein. Doch dann eskaliert die Lage zu Hause und sie nimmt das Angebot an. Während sie sich am Elitegymnasium einlebt, Freundschaften schließt und sich verliebt, hinterfragt sie die mysteriöse Studie. Als Marcel das Geheimnis um den Schulwechsel enthüllt, nimmt das Unheil seinen Lauf ...

  • Das sensationelle Debüt eines 18-jährigen Ausnahmetalents
  • Authentischer kann ein Roman für junge Erwachsene nicht sein
  • Beleuchtet die soziale Durchlässigkeit unserer Gesellschaft

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

Eigentlich hat Chrissy keinen Bock darauf, ein »Sozialexperiment« zu sein, aber sie will unbedingt raus aus dem »Problemkiez«, weg von ihrer tablettenabhängigen Mutter und ihrem gewalttätigen Stiefvater Marcel. Das Angebot, an einer Studie teilzunehmen und dafür ans renommierte Heinrich-Heine-Gymnasium zu wechseln, verspricht, sie ihrem Ziel ein wenig näher zu bringen. Auf dem Elitegymnasium trifft sie Alex, der ihr Herz schneller schlagen lässt. Doch Alex ist nicht nur witzig, klug und unfassbar heiß, er ist auch reich. Darf sie sich wirklich in jemanden verlieben, der aus einer ganz anderen Welt kommt?

Die Autorin

© Privat

Danae Lake, Jahrgang 2006, sucht schon früh nach Möglichkeiten, Gesehenes und Erlebtes in Worte und Bilder zu fassen. Mit acht meldet sie sich bei einer Schauspielschule an und übernimmt drei Jahre später die Hauptrolle in einem mehrfach preisgekrönten Kurzfilm, mit fünfzehn beginnt sie mit ihrem ersten Roman Ganz aus Splittern. Die Autorin besucht die Oberstufe eines Gymnasiums und wohnt mit ihrer Familie in einer deutschen Großstadt.

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Thienemann auch!Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autor:innen und Übersetzer:innen, gestalten sie gemeinsam mit Illustrator:innen und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

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Viel Spaß beim Lesen!

Danae Lake

Ganz aus Splittern

Thienemann

Liebe Leser:innen,

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte.

Auf der letzten Seite findest du eine Themenübersicht, die Spoiler für die Geschichte enthält. Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Wir wünschen dir das bestmögliche Leseerlebnis!

Danae Lake und das Thienemann-Team

Für meine Family

Kapitel eins Rückfall

Die gesprungene Glastür des schmutzigen, gelben Mehrfamilienhauses, in dem ich wohne, fällt hinter mir zu, und endlich bekomme ich Luft. Das Gefühl, erdrückt zu werden, wird langsam schwächer, und ich fange an, mich zu spüren. Ich fühle den Schmerz der blauen Flecken auf meiner Haut und die aufgeplatzten Knöchel, die langsam verheilen. Mit jedem Schritt, mit dem ich mich weiter von meiner persönlichen Hölle entferne, kommt mein Körper zu mir zurück. Es ist, als würde er aus einer Hypnose befreit werden, als hätte ich nun wieder Macht darüber.

Ich laufe entlang der vierspurigen Straße vor meinem Haus in Richtung Osten und nehme die ersten warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut wahr. Bis auf einen Obdachlosen, der einen Mülleimer nach Pfandflaschen durchwühlt, ist noch niemand unterwegs. Ich lebe in einem der abgefucktesten Viertel der Stadt. Heruntergekommene Mietskasernen mit Sozialwohnungen und alte, verlassene Backsteinfabriken, die umgebaut und in billigen Wohnraum verwandelt werden, sind hier Standard. Es riecht nach ranzigem Bratfett und Pisse. Drogen, Gewalt und Red Light sind hier normal, wenn auch natürlich nicht offen. Aber jeder weiß Bescheid. »Gentrifizierung« ist in dieser Gegend ein Fremdwort. Noch. Aber schon wird gemunkelt, dass sich das bald ändert.

Eigentlich wollen fast alle nur weg. Außer denen, die ab und zu herkommen, um Drogen zu kaufen und richtig zu feiern. Denn feiern, das können die Leute hier, und das nennt man dann Subkultur.

Meine Mutter arbeitet an der Bar in einem »exklusiven Beach Club«, auch wenn es in unserem Viertel weder Strand noch Meer gibt. Mein Stiefvater Marcel ist Geschäftsmann, Gebrauchtwagenhandel, doch in Wirklichkeit vertickt er Drogen, denke ich zumindest. Crystal, CK und Ecstasy für jede Stimmung, in der Chemieküche in einem der Lagerschuppen bei den stillgelegten Straßenbahndepots zusammengerührt, in bunte Pillen gepresst und garantiert gesundheitsschädlich.

Ich hab das Zeug nie genommen. Ich wollte nie so werden wie die beiden oder wie so viele Leute aus meinem Viertel. »Ohne Bildung keine Chance keine Wahl« habe ich neulich auf einem Plakat in der Innenstadt gelesen.

Ich wollte immer schon lernen, mich bilden, auf ein Gymnasium in einem der schönen Stadtviertel gehen, um später mal ein schönes Leben führen zu können. Doch dieser Traum wird wohl nie wahr werden. Es scheint, als gebe es unsichtbare Grenzen, und diese Grenzen überschreitet man nicht einfach.

»Das war schon immer so, und daran wird sich auch so schnell nichts ändern«, höre ich meine Mutter sagen, wenn ich mich wieder einmal beschwere, dass wir ausgerechnet hier wohnen müssen. Aber ich beschwere mich schon lange nicht mehr, denn ich bekomme ja doch nur zu hören, dass sie meinetwegen hier gelandet ist und weil mein Vater, dieses Arschloch, sie kaputt gemacht hat. Ich habe kapiert, dass nur ich selbst etwas an meiner Situation ändern kann, aber ich bin erst sechzehn und habe laut meinem Stiefvater rein gar nichts zu sagen. Mom ist mir keine Hilfe. Sie macht eh alles, was er will, und anstatt ihr Leben in die Hand zu nehmen, heult sie rum und greift zu irgendwelchen Tabletten.

Ich verdränge die beklemmende Vorstellung, zwischen den schäbigen Beton- und Backsteinklötzen gefangen zu sein, und gehe weiter die sonnenbeschienene Straße entlang. Die Wärme zwischen den Häusern wird im Sommer schnell zu einem Glutofen, aber jetzt ist Ende September, der Herbsttag angenehm mild.

Zwei Blocks weiter tauche ich in den staubigen Schatten zwischen den ehemaligen Fabrikgebäuden ein und biege in eine schmale Sackgasse ab. Hier ist der Asphalt rissig, vertrocknete Gräser wachsen aus dem Muster auf der Betondecke. Kurz muss ich an ein Stück Schorf mit ein paar feinen, goldenen Härchen daran denken, das ich einmal von meinem aufgeschrammten Knie gekratzt und im Biounterricht heimlich unter dem Mikroskop betrachtet habe. Verletzter Asphalt, verletzte Haut. Aufgesprungen. Nährboden für etwas Neues.

Der Gestank von Müll und ausgetretenen Zigarettenkippen steigt mir in die Nase. Ich bahne mir einen Weg zwischen den silbrig-grauen Abfallcontainern mit den aufgeplatzten schwarzen Müllsäcken hindurch und bleibe vor dem letzten Haus stehen. Ein separater Eingang, Erdgeschoss, direkt neben dem Zugang zum Treppenhaus mit dem großen Klingeltableau an der Wand. Gerade als ich die Hand hebe, um zu läuten, schwingt die Tür auf.

»Sei leise, meine Mom schläft«, flüstert Tjard.

»Dir auch einen schönen guten Morgen«, erwidere ich grinsend und folge meinem besten Freund in das kleine Wohnzimmer mit den hohen Decken und den schmalen, bodentiefen Fenstern, die bestimmt seit mehr als zehn Jahren nicht geputzt wurden. Der Raum wirkt seltsam beengend, als wäre man versehentlich in ein eckiges Kaleidoskop mit Sichtschlitzen geraten, aber so war die Raumaufteilung wohl am platzsparendsten, denn es leben viele Parteien in diesem Haus.

Tjards Mutter liegt auf der weinroten Ledercouch, eine alte Häkeldecke über den schmalen, ausgezehrten Körper gebreitet. Neben ihr steht eine halb leere Flasche Wodka auf dem fleckigen Teppich.

»Ich dachte, sie hätte aufgehört.« Automatisch bücke ich mich und stelle die Flasche auf den Esstisch, damit Tjards Mom sie nicht umwirft, wenn sie aufwacht oder im Schlaf versehentlich mit den Armen um sich schlägt.

Tjard schiebt mich in sein kleines Zimmer, das vermutlich mal als Abstellkammer mit Fenster gedacht war, und schließt die Tür hinter sich.

»Rückfall«, sagt er trocken und zieht mich an sich. Als seine tätowierten Arme mich umschließen, zucke ich vor Schmerz zusammen. Er lässt die Arme sinken und sieht mich prüfend an.

»Rückfall«, sage ich, genauso trocken wie er.

»Chrissy ...« Tjards Stimme klingt rau. Er zögert einen Moment und setzt erneut an. »Chrissy, du hast mir versprochen, dass du mir sagst, wenn er ...«

»Lass es. Bitte. Es geht mir gut.« Er will etwas hinzufügen, doch ich komme ihm zuvor. »Ich meine es ernst. Lass es, T!«

Mein bester Freund verdreht genervt die Augen und wirft sich auf die Matratze mit dem schwarzen Bettzeug. Außer der Matratze passen nur noch eine Kleiderstange und ein schmaler Schreibtisch in das kleine Zimmer. Tjard hat ihn schwarz angestrichen – bei ihm muss alles schwarz sein –, aber die Farbe war billig und platzt an manchen Stellen ab. Egal. Tjard hat’s nicht so mit Ordnung und stellt alles Mögliche auf seinem Schreibtisch ab, deshalb sieht man das gar nicht.

Im Raum ist es stickig. Ich schiebe die Vorhänge zurück, natürlich schwarz, und öffne das schmale Fenster, das auf die Sackgasse hinausgeht. Der Geruch wird nicht besser, aber zumindest kommt etwas kühlere Luft herein. In den roten Backsteingebäuden ist es immer trocken und staubig, aber das stört mich nicht, im Gegenteil, es gibt mir irgendwie ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.

Ich schnappe mir ein schwarzes Kissen vom Boden und mache es mir neben ihm auf der Matratze bequem, den Rücken gegen die kratzige Raufasertapete gelehnt.

»Kann ich Mathe abschreiben?«, fragt Tjard.

Ich sehe ihn an und ziehe die Augenbrauen hoch. »Du wolltest dir doch mehr Mühe in der Schule geben, schon vergessen?«

»Ja, stimmt«, räumt er widerwillig ein, »aber es ist Mathe, und das ist fucking schwer!«

»Und dein Abschluss? Wir sind in der Zehnten, du bereits zum zweiten Mal, auch schon vergessen?«

»Nope, aber das Schuljahr hat ja erst vor ein paar Wochen begonnen, also chill mal ...«

»Tjard ...«

»Ich wiederhole doch eh nur, damit du nicht so große Sehnsucht nach mir hast ...«

»Also das kannste vergessen! Echt jetzt – ich muss es dir nicht noch mal erklären, oder?«

Er stöhnt, rappelt sich auf und schnappt sich die schwarze Converse-Tasche, in die er seine Schulsachen gestopft hat. Ich habe sie ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt, damit er überhaupt eine Schultasche hat.

»Was musst du mir nicht noch mal erklären?«, fragt er und hält mir die Tür auf. »Mathe oder mein verschissenes Leben?«

»Beides.« Bei Tjard bin ich unerbittlich.

»Na schön, dann leg mal los, du Streberin.«

Um kurz vor acht kommen wir an der riesigen Gesamtschule an. »Brutalismus« wird dieser Baustil genannt, der in den 1970er-Jahren zahllose Zweckgebäude prägte, und auch wenn ich gegoogelt habe, dass er diese Bezeichnung wegen des verwendeten grauen Sichtbetons erhalten hat – béton brut, also »roher Beton« –, macht er seinem Namen alle Ehre. Er wirkt brutal, erschlagend, menschenverachtend, tot. Aber natürlich wimmelt es in unserem Viertel nicht gerade von Bildungsinstituten. Es gibt nicht mal ein Gymnasium, deshalb müssen wir auf diese Schule gehen, die den Stadtvätern schon bei der Einweihung keinen eigenen Namen wert war. Der graue Klotz ist nicht nach Heinrich Heine oder einem anderen Dichter und Denker benannt, er heißt einfach wie unser Viertel. Warum auch ein Name? Wenn man hier groß wird, hat man keinen Namen. Dafür bekommt man unweigerlich ein Standardlabel aufgedrückt. Wenn man nach dem Abschluss überhaupt einen Job kriegt, landet man in der Regel als Regaleinräumerin oder -einräumer bei einem der großen Discounter. Die, die in der Gesamtschule des Brutalismus erfolgreicher waren, ergattern einen Job an der Kasse oder bedienen andere Klischees. Deshalb arbeiten viele lieber gar nicht oder greifen zu solchen Berufen wie meine Mutter und mein Stiefvater.

Ich bin hier, weil ich Abi machen möchte, was meine Mitschüler anfangs verblüffte, dann ärgerte und inzwischen irgendwie mit Stolz zu erfüllen scheint, selbst wenn sie nicht wirklich checken, wozu ich mir den ganzen Stress antue. Und Stress habe ich genug, wenn auch nicht wegen des Schulstoffs. Um hier klarzukommen, braucht man Respekt, und sich den zu verschaffen, ist anstrengend. Zum Glück habe ich Tjard. Alle haben Respekt vor ihm. Wenn er nicht gerade lächelt, sieht er ziemlich Furcht einflößend aus mit seiner schwarzen Lederjacke und den vielen Tattoos.

Wir haben uns vor der Boxhalle kennengelernt, vor vier Jahren. Es war etwas Schlimmes passiert, und ich war gelaufen, einfach weg, immer weiter, bis ich nicht mehr konnte. In der Nähe der ehemaligen Keksfabrik, in der jetzt die Boxhalle untergebracht ist, ließ ich mich auf eine Bank fallen. Hinter einem vertrockneten Gebüsch am Rand des Parkplatzes konnte ich mich verstecken. Ich blinzelte in das bläuliche Licht der Parkplatzlaterne, dann versuchte ich, mir mit dem Saum meines T-Shirts das Blut abzuwischen, das überall zu sein schien: in meinem Gesicht, an meinen Armen, in meinem Nacken. Plötzlich hörte ich schräg hinter mir ein Rascheln, aber ich war viel zu erschöpft, um Schiss zu haben. Was sollte jetzt noch passieren?

Eine tätowierte Hand mit einem Päckchen Tempotaschentücher schob sich in mein Blickfeld. Ich nahm eins raus, dann noch eins, dann schaute ich auf. Ein großer, schwarz gekleideter Junge mit hellbraunen Haaren, einem schmalen Gesicht mit spitzer Nase und kantigem Kinn stand vor mir und sah mich an. Wortlos.

Ich nickte, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte, und er setzte sich neben mich. Seine Augen waren fragend, aber ich wollte nichts sagen, konnte nichts sagen. Irgendwann stand er auf und streckte mir seine Hand entgegen. Ich knüllte die Taschentücher zusammen, warf sie in den Mülleimer neben der Bank und hielt mich an seiner Hand fest. Er zog mich hoch, brachte mich in die Boxhalle und deutete auf die Tür zur Damentoilette. Als ich wieder rauskam, sah ich unverletzt aus.

Der schwarzgekleidete Junge wartete in dem kurzen Durchgang zur Boxhalle auf mich. Der Trainingsbereich war riesig und trotz der hohen Decken aufgeheizt von den sommerlichen Temperaturen draußen und von Wut, Frust und Testosteron drinnen. Frauen sah ich nur wenige. Der Schweißgestank war beinahe unerträglich, aber ich nahm noch etwas anderes wahr: Energie. Stärke. Kraft. Meine Augen schweiften über die verschiedenen Trainingsgeräte und Boxsäcke, bis sie an einem Ring hängen blieben, in dem zwei Männer miteinander kämpften. Fasziniert verfolgte ich ihre geschmeidigen Bewegungen, beobachtete gebannt, wie präzise sie ihre Hiebe platzierten.

»Wenn du willst, kannst du hier trainieren«, hörte ich den Jungen hinter mir sagen. »Dann kann dir keiner mehr wehtun.«

Ich drehte mich um und blickte auf die Hand, die er mir nun ein zweites Mal entgegenstreckte. Zwischen Daumen und Zeigefinger krabbelte ein blauer Tattoo-Tinten-Skorpion in Richtung seines Handgelenks. »Ich bin übrigens Tjard.«

»Hi. Chrissy.« Meine Finger umschlossen seine. Sie fühlten sich warm an und irgendwie tröstlich. Am liebsten hätte ich sie nie wieder losgelassen. »Warum?«, brachte ich krächzend hervor.

»Was, warum ich Tjard heiße?«

»Nein, warum tust du das für mich?«, wollte ich wissen.

Er zögerte mit seiner Antwort. »Weil du mich an jemanden erinnerst«, sagte er dann. »Außerdem helfe ich, wenn ich gebraucht werde.«

»Aha. Und in deinen Augen brauche ich Hilfe?« Ich versuchte zu grinsen, brachte aber nur eine verzerrte Grimasse zustande.

»Unbedingt.«

Ich betrachtete Tjard lange. Er sah verdammt gut aus und irgendwie ... gütig. Ein blödes Wort, ich weiß, aber es passte. Wie gefährlich er aussehen kann, habe ich erst später erfahren. An jenem Tag hielt ich einfach nur seine Hand, spürte seine Güte und Stärke und ließ mich auf das ein, was er mir anbot: Freundschaft.

Kapitel zwei Semipermeabel

Wir betreten die versiffte Eingangshalle der Béton-brut-Gesamtschule und gehen an den gesprungenen Scheiben der Fenster und Türen vorbei zum Treppenhaus. Ich werfe Tjard einen Seitenblick zu. Jetzt, vier Jahre später, sieht er noch attraktiver aus: eins sechsundneunzig groß, breite Schultern, durchtrainiert mit den typischen Muskeln eines Boxers, das Gesicht mit der spitzen Nase noch markanter. Momentan trägt er die hellbraunen Haare kurz und blau gefärbt, was einfach mega aussieht. Kein Wunder, dass die Mädchen auf ihn stehen. Bei dem Skorpion an der Hand ist es nicht geblieben, mittlerweile sind beide Arme und sein Oberkörper tätowiert, einige Motive durfte ich aussuchen. Am schönsten finde ich einen mit schwarzer Tinte gestochenen Einsiedlerkrebs, Coenobita brevimanus, laut Biobuch ein »friedlicher, geselliger Krebs«. Der auf Ts Tattoo ist gerade dabei, das schlichte Schneckenhaus zu verlassen, in dem er sich zu Beginn seines Lebens eingerichtet hatte.

Ich habe keine Tattoos und sehe mit meinen langen, mittelblonden Haaren und den grau-blau-grünen Augen, die je nach Stimmung die Farbe wechseln, im Vergleich zu den anderen hier eher brav und unschuldig aus. Sexy Klamotten finde ich schön, aber nicht für mich. Ich trage meistens irgendeine Jeans und einen Oversized-Hoodie, nicht, weil ich unzufrieden mit meiner Figur bin, sondern weil ich nicht möchte, dass jemand meine Narben sieht oder mir neue zufügt.

Endlich haben wir es durch das Gedränge bis ins Klassenzimmer geschafft und lassen uns auf die viel zu kleinen Uraltholzstühle fallen. Die Materialien für den Physikunterricht kommen pedantisch geordnet auf die zerschrammte Tischplatte, meine Schultasche – das Pendant zu Tjards, bloß in Türkis – stelle ich rechts neben den Stuhl.

Unser Lehrer, Herr Bichl, Physik und Chemie, knallt die Ledertasche aufs Pult und begrüßt uns. Wie immer tut er hoch motiviert, dabei weiß ich, dass es ihm im Grunde am Arsch vorbeigeht, ob wir irgendetwas kapieren oder nicht. Aber er gehört zu den Guten. Er mag uns und er kommt regelmäßig, nicht wie andere Lehrer, die sich so oft krankschreiben lassen, dass man schon während des Schuljahrs ihre Gesichter und Namen vergisst.

Jetzt fängt er an, Formeln an die quietschende Tafel zu kritzeln und etwas über verschiedene Formen von Energie zu erzählen. Wieder einmal fällt mir auf, dass ich die Einzige bin, die mitschreibt. Alle anderen unterhalten sich oder pennen. Ich verpasse T einen kräftigen Stoß in die Rippen. Er reißt erschrocken die Augen auf, wirft mir einen genervten Blick zu und überträgt die Formeln widerwillig auf seinen Collegeblock.

»Gib dir Mühe, ich hab’s dir doch gerade noch erklärt«, zische ich ihm zu.

Er verzieht die Lippen zu dem schiefen Grinsen, das ich so liebe. »Ja, aber da ging es um Mathe und mein verschissenes Leben, nicht um Physik.«

Ich setze gerade zu einem weiteren Rippenstoß an, als sich plötzlich die Tür öffnet und Direktor Ebert mit einer elegant gekleideten Frau in einem königsblauen Seidenkostüm das Klassenzimmer betritt. Alle verstummen, auch Herr Bichl.

Frau Königsblau tastet nach ihrem straffen, kastanienbraunen Knoten, vergewissert sich, dass sich kein Haar daraus gelöst hat, und sieht sich angewidert um. Ihr Blick fällt auf mich.

»Christine Buchner, kommen Sie bitte kurz mit«, fordert der Direktor mich im selben Moment auf.

Ich sehe ihn verwundert an, dann greife ich wortlos nach meiner Tasche und stehe auf.

Tjard scheint sich ebenfalls erheben zu wollen, aber ich streiche über seinen Arm und flüstere beschwichtigend: »Schon gut, keine Ahnung, was los ist«, dabei bin ich schrecklich nervös. Ob meiner Mutter etwas zugestoßen ist?

Äußerlich ruhig folge ich dem Direktor und Frau Königsblau durch die langen Gänge zum Büro des Schulleiters. Mein Kopf rattert. Ist die Frau vom Jugendamt? Hat irgendwer etwas mitbekommen? Weiß sie Bescheid? Plötzlich ist mir kalt. Fröstelnd reibe ich meine Arme.

»Setzen Sie sich.«

Der Direktor, der die Schüler sonst nie siezt, auch wenn es ab der zehnten Klasse Vorschrift ist, bietet mir einen Platz an und lässt sich mit einem verhaltenen Seufzer auf seinen ergonomischen Chefsessel sinken. Frau Königsblau bleibt hinter einem der beiden Besucherstühle stehen, die Hände auf die Lehne gestützt, den Blick auf mich geheftet.

Ich setze mich auf den freien Stuhl und verschränke fest die Finger, damit die zwei nicht mitbekommen, wie sehr meine Hände zittern.

Direktor Ebert räuspert sich. »Christine, das ist Frau Dr. Timmermann vom Heinrich-Heine-Gymnasium.«

Heinrich-Heine-Gymnasium? Habe ich mich gerade verhört? Das Heine steht in einem grandiosen Ruf, wer dort sein Abitur macht, hat es im Leben quasi schon geschafft. Für Leute wie mich ist das Heine unerreichbar.

Frau Dr. Timmermann mustert mich abschätzig. »Christine«, fängt sie grußlos an, »ich bin hier wegen eines ... Austauschs, der in Zusammenarbeit mit meiner Schule durchgeführt werden soll.«

Meine Hände hören auf zu zittern. »Ein Austausch?«, frage ich verwirrt und unterdrücke ein erleichtertes Schnaufen. »Was habe ich damit zu tun?«

»Sie sind eine ausgezeichnete Schülerin, Christine«, erwidert Frau Dr. Timmermann, doch wirklich begeistert klingt sie nicht. »Wir möchten Teenagern aus sozialen Brennpunkten im Rahmen einer Studie die Möglichkeit geben, an einem renommierten Gymnasium das Abitur abzulegen, und sie gegebenenfalls darüber hinaus begleiten. Ziel der Studie ist es, zu zeigen, wie sich ein verändertes Umfeld auf das individuelle Lernverhalten und die spätere berufliche und soziale Entwicklung auswirkt. Salopp formuliert: Raus aus dem Problemviertel und Neustart an einem der besten Gymnasien der Stadt.«

Sozialer Brennpunkt? Problemviertel? Und ich soll da raus, soll auf eine perfekte Schule in einem perfekten Viertel gehen? Eigentlich müsste ich mich freuen, denn genau das habe ich mir immer gewünscht, aber mich beschleicht ein ungutes Gefühl.

»Ähm«, frage ich mich krächzender Stimme. »Wenn das hier ein Austausch ist, kommt dann auch ein Kind von Ihrer Schule an unsere?«

Sie lacht und streicht eine kastanienbraune Haarsträhne zurück. »Nein, nein, wo denken Sie hin, Christine? Wir wollen den Jugendlichen eine Perspektive geben, nicht nehmen.«

Ich spüre, wie mir heiß wird. Das ist kein Austausch. Das ist ein beschissenes soziales Experiment! Ich fasse es nicht. Ich soll mich beobachten, jeden Schritt, den ich mache, dokumentieren lassen? Ich soll mich den Bonzenkindern ausliefern, die mich hassen, nur weil ich aus diesem Viertel komme, diesem sozialen Brennpunkt? Niemals!

»Ähm, nein, danke, ich bin nicht daran interessiert, Ihr soziales ...« Ich verstumme, dann setze ich erneut an. »Ich meine, ich bin nicht daran interessiert, an dem Austausch teilzunehmen.«

»Sind Sie sich sicher, Christine?« Frau Dr. Timmermann wirkt überrascht und irgendwie beleidigt. »Ihr Schulleiter meinte, eine derart engagierte Schülerin wie Sie gäbe es an dieser Schule nur selten. Das Heinrich-Heine-Gymnasium ist gar nicht so weit weg, Sie bekommen natürlich eine Schülerfahrkarte zu Ihrer finanziellen Entlastung. Wenn Sie einverstanden sind, kann es gleich nächste Woche losgehen.«

Wie bitte? Eine Schülerfahrkarte? Es geht doch nicht um eine verdammte Schülerfahrkarte! Ich habe gelernt, für mich selbst zu sorgen – einer der wichtigsten Skills, wenn man in einem Problemviertel lebt.

»So eine Chance bekommt man nur einmal im Leben«, mischt sich nun Direktor Ebert ein, »außerdem wissen Sie nicht, ob die Abiturklasse tatsächlich zustande kommt oder ob Sie aufgrund der zu geringen Teilnehmerzahl ohnehin an ein anderes Institut wechseln müssen.«

Ja, ein Abi am Heine ist in der Tat genau das, was ich mir immer gewünscht habe, aber ich weiß, wie das laufen wird: Für die Schüler vom Heinrich-Heine-Gymmi werde ich für den Rest der Schulzeit das beschissene Sozialexperiment sein, niemand wird mich ernst nehmen. »Nein, danke«, erkläre ich daher noch einmal, diesmal mit Nachdruck.

»Denken Sie wenigstens darüber nach, Christine. Sie können mir bis Freitagabend Bescheid geben.« Frau Dr. Timmermann hält mir eine elegante, elfenbeinfarbene Visitenkarte mit dem Logo des Heinrich-Heine-Gymnasiums entgegen und lächelt mich mit einem scheußlichen Fake-Lächeln an.

»Okay.« Ich nehme die Karte, stecke sie ein und verlasse dann schleunigst das Büro. Ich werde niemals aufs Heine wechseln, so viel steht fest.

Mittlerweile hat es zur Pause geläutet. Normalerweise bin ich mit Tjard draußen im Atrium, aber es hat angefangen zu regnen, weshalb sich alle in der Pausenhalle drängen. Irgendwer hat einen Joint angezündet und bläst den Rauch in Richtung einer hilflos wirkenden Referendarin, der man die Pausenaufsicht aufs Auge gedrückt hat. Auch wenn der süßliche Geruch unverkennbar ist, gibt sie sich alle Mühe, nichts zu bemerken.

Ich sehe mich um und entdecke T, der an eine Säule gelehnt auf mich wartet. Als er mich bemerkt, stößt er sich mit dem Fuß ab und kommt auf mich zu.

»Alles okay?«, fragt er und legt den Arm um mich. »Was wollten die von dir?«

Ich fange einen hasserfüllten Seitenblick von Natascha und Silvia auf und muss unweigerlich grinsen. Die zwei halten sich für die Tollsten und wollen einfach nicht kapieren, warum der coole Typ mit den Tattoos die ganze Zeit über mit der Streberin abhängt. Anfangs habe ich versucht, ihnen zu erklären, was da zwischen uns ist, dann habe ich es aufgegeben. Sollen sie doch denken, was sie wollen. Tjard und ich gehören zusammen, und das ist alles, was zählt.

Vor zwei Jahren waren wir mal bei einem der vielen Sommer-in-der-Stadt-Feste. Tjard kannte einen der Schaustellerjungs, der ihm jede Menge Freikarten gegeben hat. In der Geisterbahn legte er den Arm um mich, wie er es immer tut, aber diesmal versuchte er, mich zu küssen. Ich spürte seine Lippen auf meinen, spürte seine Hände auf meinen Armen, an meiner Taille – und ich schob ihn weg. Sein Gesicht verschwamm, ich sah nichts mehr außer der von Stroboskoplichtern durchzuckten Dunkelheit, durch die ich mit meinen eigenen Geistern in einem vergitterten Waggon direkt in die Hölle fuhr.

Tjard musste den Horror in meinen Augen gesehen haben, denn er versuchte danach nie wieder, sich mir über eine Umarmung und einen Kuss auf die Stirn oder die Wangen hinaus körperlich zu nähern.

»He, Chrissy, träumst du?« Er drückt meine Schulter. »Wer war die Alte, und warum solltest du zu Ebert kommen?«

Ich ziehe ihn in eine ruhigere Ecke, um ihm alles zu erzählen. »Die Frau ist vom Heinrich-Heine-Gymnasium.«

»What the fuck! Was will sie von dir?«

»Ich soll ihr soziales Experiment sein.«

Tjard sieht mich fragend an.

»Sie möchte, dass ich als Austauschschülerin an ihre Schule wechsle und dort mein Abitur mache«, erkläre ich. »Semipermeabel.«

»Hä?«

»Egal. Ich gehe da nicht hin.« Ich seufze.

»Aber das ist doch genau das, was du immer wolltest! Das ist ’ne echte Chance, wieso schmeißt du die einfach so weg?« Er sieht mich ratlos an.

»Wie ich schon sagte: semipermeabel. Stell dir vor, hier ist eine Grenze, eine Art Membran. Jeder weiß das, auch wenn er sie nicht sieht. Diese Membrangrenze ist nur in eine Richtung durchlässig und auch nur für bestimmte Stoffe, also eine einseitige, selektive Permeabilität ...«

»Chrissy!«

»Okay, okay. Ich will da nicht hin, weil ich kein beschissenes Versuchskaninchen sein will, das die Bonzenkinder mit Haut und Haaren fressen. Die kennen keine Gnade, das weißt du.« Wut steigt in mir auf. »Wer zur Hölle kommt darauf, Experimente mit Kindern aus ›sozialen Brennpunkten‹, aus ›Problemvierteln‹ zu machen? Wie menschenverachtend ist das denn? Erst kümmert sich jahrzehntelang keiner, und alle sehen zu, wie die Gegend immer weiter verkommt, und jetzt so was.«

»Chrissy?«

Er kennt mich einfach zu gut. Ich zögere, dann wende ich mich ab und richte den Blick aus dem Fenster. Auf der Scheibe zerplatzt ein Regentropfen auf einem dicken Vogelschiss, der sich zu einem weiß-grauen Rinnsal verflüssigt und ein Cy-Twombly-Gemälde auf dem Glas hinterlässt. Dahinter erkenne ich mein verschwommenes Spiegelbild. Wem mache ich etwas vor?

»Ja, ich weiß schon«, sage ich leise. »Ich habe da niemanden, und alle würden mich hassen, mich, das Pro-blemkind aus dem Problemviertel. Das packe ich einfach nicht.«

Er dreht mich an den Schultern zu sich herum. »Doch. Es geht hier schließlich um deine Zukunft. Du wirst das Abi so oder so schaffen, aber wenn du es dort machst, steht Heinrich-Heine-Gymnasium auf deinem Zeugnis und nicht fucking Brutalo-Bunker. Außerdem glaube ich nicht, dass dich dort alle hassen werden. Und wenn schon, du bist so stark, Chrissy, damit würdest du auch noch fertigwerden.«

Ich muss schmunzeln. Klar, ich bin stark, aber ich bin schon einmal zerbrochen. Zerbrochen in tausend scharfe Scherben, die ich mühsam mit Tjards Hilfe zusammengeklebt habe. Die Chrissy, die dabei entstanden ist, ist eine andere, und sie hat Risse, Risse wie der Asphalt in der Sackgasse zu Tjards Haus, Risse wie der abgeknibbelte Schorf auf meinem Knie. Wie viel Druck werden diese Risse aushalten, bis auch die neue Chrissy zerbricht?

Es klingelt. Die Pause ist vorbei. »Lass uns später noch mal darüber reden, okay?«

»Okay. Du kommst doch heute Nachmittag mit zum Boxen, oder?«, fragt Tjard.

Ich nicke, denn jedes weitere Wort wird von dem geräuschvollen Strom übertönt, der gemächlich zurück in die überfüllten Klassenzimmer flutet.

Kapitel drei Oh my fucking God!

Nach der Schule gehe ich nach Hause. Als ich die Wohnungstür aufschließe, schlägt mir der Geruch nach Zigarettenqualm und Schimmel entgegen. Weder meine Mom noch mein Stiefvater scheinen zu wissen, wie man die Fenster öffnet. Zögernd betrete ich den Flur. Die Garderobe ist leer. Die beiden sind nicht da, Gott sei Dank. Ich stelle meine Tasche ab, ziehe die Chucks aus und tappe in Sneaker-Socken durch den engen, mintgrünen Schlauch mit dem grauen Filzboden in die Küche, die über einen Durchbruch mit dem Wohnzimmer verbunden ist.

Der Kühlschrank brummt laut, dann gibt er merkwürdige knurrende Geräusche von sich. Obwohl ... nicht der Kühlschrank knurrt, sondern mein Magen. Ich ziehe die fettfingerverschmierte Tür auf und werfe einen Blick in den gähnend leeren Schlund. Margarine. Bierdosen. Eine Plastikflasche Tonic. Zum Glück ist Toastbrot da.

Ich schmiere mir einen Margarinetoast, streue etwas Zucker darauf und sehe zu dem geschmacklosen Achtzigerjahre-Sofa beim Durchbruch hinüber. Auf der Kommode hinter dem zerschrammten Couchtisch steht der Fernseher. Wie immer haben sich die zwei nicht die Mühe gemacht, ihn auszuschalten. An die vergilbte Küchenzeile gelehnt, schaue ich die Nachrichten. Einen Esstisch haben wir nicht mehr, seit mein Stiefvater in einem seiner cholerischen Anfälle die Glasplatte zertrümmert hat.

Als ich aufgegessen habe, wische ich Toastkrümel und Zuckerbrösel von der Küchenplatte, hole meine Schul-tasche und gehe in mein Zimmer. Auf dem Weg dorthin muss ich an Marcels Heiligtum vorbei, dem altmodischen Barschrank mit den neuen Glasscheiben und den vielen Flaschen. Trinken zählt zu Marcels Lieblingsbeschäftigungen. Den Schrank hat ihm übrigens seine Mutter geschenkt, als eine Art Aussteuer. Sie ist sehr stolz auf ihren Jungen, der zusammen mit seinem Bruder Mario das Tausendeinhundert-Seelen-Dorf in der Oberpfalz verlassen hat, um »in der Stadt durchzustarten«.

Marcel kommt aus einer großen Familie, so groß, dass er manchmal selbst nicht mehr durchzublicken scheint, wie er mit wem verwandt ist. Ständig ruft irgendjemand bei uns an, der etwas von ihm will, und Marcels Pflichtgefühl »seinen Leuten« gegenüber ist enorm.

Mein Zimmer liegt am Ende des Flurs, hinter dem Barschrank, die letzte Tür in unserer Dreizimmerwohnung. Das Fenster geht auf die vierspurige Straße hinaus. Es ist laut, aber ich mag es, wenn der Straßenlärm die Geräusche aus dem Haus übertönt. Straßenlärm bedeutet Aufbruch, Bewegung, Veränderung. Freiheit. Die Einrichtung ist spartanisch, das wollte ich so. Außer einem weißen Metallbett, einem Schrank mit passender Kommode aus Fichtenholz sowie einem kleinen Tisch mit Klappstuhl steht nichts darin. Die weißen Wände sind leer bis auf einen Spiegel.

Ich kippe das Fenster, dann setze ich mich an den Tisch und erledige meine Hausaufgaben. Anschließend schnappe ich mir meinen Sportbeutel und flüchte aus der Wohnung.

Den Weg zur Boxhalle lege ich zu Fuß zurück. Zu Fuß erreiche ich alle Orte, die ich in meinem aktuellen Leben erreichen muss, und wenn nicht, steige ich in die U-Bahn. Direkt vor dem gelben Mehrfamilienhaus ist eine Haltestelle. Wenn man die Stempelfarbe ganz vorsichtig mit durchsichtigem Radiergummi abreibt, kann man die Tickets nahezu beliebig oft benutzen – so viel zum Thema Schülerfahrkarte.

T wartet schon auf mich. Wir begrüßen uns mit einer festen Umarmung, dann verschwinde ich schnell in der Umkleide und ziehe mir die Sportsachen an. Als ich die große Halle betrete, sehe ich Tjard an der Bar bei unserer Freundin Leyla stehen. Leyla ist schon neunzehn. Sie hat nach der Neunten die Schule geschmissen und träumt von einer eigenen Bar auf den Kanarischen Inseln, doch bis jetzt ist sie kaum aus unserem Viertel rausgekommen. Über dem Regal mit den eingelassenen Halogenstrahlern prangt ein hellrosa Schild mit dem verheißungsvollen Spruch Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum. Ich verstehe nicht, wieso Leyla es nicht längst abgenommen hat, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass sie nach drei Jahren hinter der »Boxertheke« wirklich noch von ihrer Bar auf den Kanarischen Inseln träumt. Wenn sie nicht in der Halle arbeitet, hilft sie bei Tjards Mutter im Kiosk aus. Damit kommt sie gerade so über die Runden, aber hier, in unserem Viertel, braucht man nicht viel.

Leyla ist auf ihre eigene, herbe Art attraktiv mit den schulterlangen, braunen Haaren und den großen, nutellafarbenen Augen, die immer ein bisschen fragend blicken. So, als wüsste sie selbst nicht so recht, was sie eigentlich hier macht.

Sie strahlt, als sie mich sieht. »Hey, Süße, wie geht’s?«, ruft sie mir entgegen. »Das sind ja News, die T mir da erzählt ...«

Tjard versenkt die Hände in den Hosentaschen, wie immer, wenn er nicht weiß, ob er etwas richtig oder falsch gemacht hat, und tritt unsicher von einem Fuß auf den anderen. »Ich fang schon mal an«, sagt er und verschwindet in Richtung der Boxsäcke.

Leyla reckt sich und nimmt ein blank poliertes Longdrink-Glas aus dem obersten Regal, das nur selten benutzt wird, eigentlich nur, wenn ich da bin. »Soft Angel, wie immer?« Als sie sich bückt, um die Flaschen mit Bananensaft, Kirschsaft und Orangensprudel aus dem Kühlschrank zu nehmen, rutscht ihr hautenges Tanktop nach oben und gibt ein breites Stück gebräunte Haut über dem Bund ihrer kurzen Fransenshorts frei.

Sie mischt meinen Soft Angel, nimmt ihren Kaugummi aus dem Mund und klebt ihn unter den Tresen, dann schaufelt sie sich eine Handvoll Erdnüsse aus der großen Schale zwischen die Zähne und kaut energisch. Als ich nichts sage, nickt sie mir auffordernd zu.

Ich räuspere mich. »Also«, fange ich etwas verlegen an. »So wie’s aussieht, habe ich die Möglichkeit, aufs Heine zu gehen.«

»Oh my fucking God!«, kreischt sie, als ihr Mund wieder leer ist. »Echt jetzt? Ich wusste immer, dass du richtig schlau bist, Süße. Wie du schon redest. So krass gehoben.« Sie schiebt mir mein Getränk zu. »Darauf stoßen wir an.«

»He, jetzt warte doch mal, ich weiß noch nicht ...«

»Doch, Schatzi, das weißt du genau. Du solltest das auf jeden Fall durchziehen«, fällt sie mir ins Wort. »Mach nicht denselben Fehler wie ich und bleib an dämlichen Sprüchen hängen.« Ihr Blick schweift zu dem hellrosa Träume-Schild. Meiner ebenfalls.

Was sind meine Träume? Aus dem Viertel rauskommen, klar, weg von meiner Mom und Marcel, und genau deshalb bin ich nicht mit den anderen in den versifften Jugendclub an der Straßenecke gegangen, um Ego-Shooter-Games zu spielen. Stattdessen bin ich fast täglich zu der kleinen Bücherei in der Einkaufspassage geschlendert und habe mich in den gemütlichen roten Sitzsäcken vergraben, um mich in fremden Welten zu verlieren, die mich gefangen nahmen, sobald ich die Buchdeckel öffnete. Ich weiß noch genau, wie die grauhaarige Bibliothekarin mir die noch ungelesenen Neuerscheinungen präsentierte. »Das sind ganz besondere Leckerbissen, Christine«, pries sie ihre Schätze an, und mir lief tatsächlich das Wasser im Mund zusammen, als ich nach einem der Bücher auf dem Rollwagen griff.

Vielleicht hat Leyla recht, denke ich jetzt, ich drücke mich wirklich anders aus als die anderen.

»Bücher sind ein Türöffner«, höre ich Frau Habbel, die Bibliothekarin, sagen. »Jedes Mal, wenn du ein Buch aufschlägst, geht eine neue Tür auf. Es gibt keine Grenzen, keine Beschränkungen, Bücher verschaffen dir Zutritt zu Gefilden, von denen du noch nicht einmal ahnst, dass es sie gibt. Du musst nur den Mut haben, über die Schwelle zu treten.«

Gedankenverloren trinke ich meinen Soft Angel, dann schiebe ich Leyla das leere Glas zu und stehe auf. »Ich lege mal los«, sage ich zu ihr. »Nach dem Boxen kann ich eh am besten denken.«

Leyla nickt verständnisvoll. »Ich weiß, was du meinst. Es ist fast so, als würden sich Schlag für Schlag alle Gedanken auflösen, bis der Kopf komplett leer ist und wieder Platz für Neues hat.«

Ich trabe zu T, der mit irrer Geschwindigkeit auf einen Boxsack eindrischt. Als er mich bemerkt, hält er inne und sieht mich an.

»Willst du?«, fragt er und hilft mir, die Boxhandschuhe anzuziehen.

»Klar.« Zwar bin ich längst nicht so gut wie er, aber er ist ein super Lehrer. Ich fange an zu tänzeln und den Boxsack mit den Fäusten zu bearbeiten. »Du musst dich wehren können«, sagt er jedes Mal, wenn wir trainieren, »du darfst kein Opfer sein.«

Plötzlich verstummt alles um mich herum. Die Farben verblassen, dann sehe ich rot. Das Blut, das hinter meinen Augäpfeln pulsiert. Der Boxsack verschwindet, und mein Stiefvater steht vor mir. Meine Fäuste wirbeln so schnell, dass ich keine Luft mehr bekomme. Das Rot vor meinen Augen wird schwarz. Ich erstarre. Will weiter zuschlagen, will mich wehren, will kein Opfer mehr sein, nie mehr, aber es geht nicht. Ich kann mich nicht bewegen. Spüre meinen Körper nicht mehr. Es ist, als wäre ich in meiner eigenen Haut gefangen. Mein Stiefvater kommt näher. Ich will schreien, will weglaufen, aber auch das geht nicht. Ich kann ihm nicht entkommen.

»Chrissy! Hey, Chrissy, was ist los?« Tjards Stimme holt mich in die Realität zurück. Vor mir hängt wieder der Boxsack. Von Marcel ist weit und breit nichts zu sehen. Dafür schiebt sich das besorgte Gesicht meines besten Freundes in mein Blickfeld. Das schwarze Schlangen-Tattoo an seiner Schläfe – eine Dendroaspis polylepis – sieht aus wie ein verunglücktes Fragezeichen.

»Alles okay«, stammele ich, noch immer außer Atem. »Mir ist nur ein bisschen schwindelig. Hab wohl zu wenig gegessen.« Jetzt erst bemerke ich, dass einige der anderen Boxer zu mir herüberstarren. Habe ich etwa doch geschrien? »Ich glaub, ich mach Schluss für heute und bestelle mir ’ne Pommes. Kommst du mit, oder willst du lieber weitertrainieren?« Ich weiß, wie ernst T das Training ist, aber ich weiß auch, dass er mich niemals allein losziehen lassen würde, wenn es mir nicht gut geht. Und tatsächlich: Er dreht sich um und strebt wortlos auf die Umkleiden zu.

Ich verschwinde unter der Dusche, recke mein Gesicht dem kalten Strahl entgegen und öffne die Lippen. Das Wasser schmeckt erst süß, dann salzig. Schnell drücke ich mir die Handballen auf die Augen. Als ich mich wieder gefangen habe, binde ich mir ein Duschtuch um und greife gerade nach meiner Unterwäsche, als ich eine schwere Hand auf meiner Schulter spüre. Ich wirbele herum, die Hand zur Faust geballt, bereit, so fest wie möglich zuzuschlagen, aber starke Finger schließen sich um mein Handgelenk und fangen den Schlag ab.