Garmischer Wut - Roland Krause - E-Book

Garmischer Wut E-Book

Roland Krause

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Ein saftiger bayerischer Krimi – turbulent, amüsant und voller schräger Charaktere. Leise rieselt der Schnee auf Garmisch-Partenkirchen herab. Da bringt ein mit Bisswunden übersäter Toter Journalist Ben Wiesegger und Tierärztin Laura Schmerlinger dazu, sich wieder gemeinsam auf Mörderjagd zu begeben. Denn bei dem Mann handelt es sich um niemand Geringeren als Bens Kollegen, dessen Ableben so manch einem nicht gerade ungelegen kommt. Die beiden stoßen auf skrupellose Machenschaften – und auch Bens dunkle Garmischer Vergangenheit will einfach nicht ruhen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Geboren und aufgewachsen ist Roland Krause in Lindau am Bodensee. Nach einigen Jahren in Nürnberg lebt und arbeitet er heute in München. Die düsteren Winkel der Großstadt bilden auch den Hintergrund seiner Krimis. Roland Krauses Romane und Erzählungen sind atmosphärisch dichte Milieustudien, in denen er das Dasein von Außenseitern und schrägen Charakteren beleuchtet.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Ludwig Mallaun

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Dr.Marion Heister

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-116-4

Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie

regelmäßig über Neues von emons:

Kostenlos bestellen unter

www.emons-verlag.de

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Medienagentur Gerald Drews, Augsburg.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Damit das Ungeheuer,

wenn es die Kugel brennt,

schon nach empfangnem Feuer

in sein Verderben rennt.

aus: »Auf, auf zum fröhlichen Jagen« von G. B. Hancke

1

Ben Wiesegger verabscheute Schnee. Zumindest, wenn er nichtsnutzig Hof und Haus bepuderte. Der Winter sollte sich dort austoben, wo er gebraucht wurde.

Er stützte sich auf die Schneeschaufel und sah dem betagten Allradvehikel entgegen, das gerade auf den Hof der elterlichen Pension rollte. Er war dankbar für die Unterbrechung, Schneeschippen zu quasi nachtschlafender Zeit war nicht vergnügungssteuerpflichtig. Trotz der zapfigen Kälte war er kräftig ins Schwitzen gekommen unter dem moosgrünen Parka, und seine Backen glühten.

Für viele im Werdenfelser Land war es pures weißes Glück oder, besser gesagt, »Money, Money, Money«, was da vom Himmel fiel. Es mahnte ja die alte Bauernregel: »Wird der Winter warm, wird der Bauer arm« – und nicht nur der. Deswegen hatten sich die Schneekanoniere in Stellung gebracht, bereit für die Schlacht, denn Glück und Hoffnung reichen für die Garmischer Spielbank, aber in der Meteorologie kannst du damit nichts gewinnen.

Ben versöhnte der Gedanke, dass die Pensionsgäste der Wieseggers bald ausfliegen konnten, auf zu den Loipen, Pisten, Schneeschuhwanderungen und zu diverser anderer Wintergaudi.

Er beobachtete Laura, die aus dem Wagen stieg, ihm zunickte und dann die Heckklappe öffnete. Die Tierärztin lächelte ihn an.

Ben schaffte es nur, seine Mundwinkel leicht nach oben zu bewegen, und zog sich die Army-Wintermütze mit den teddygefütterten Ohrenklappen vom Kopf. Mit dem Handschuh strich er über seinen nass geschwitzten braunen Schopf. Die Kopfhaut juckte, er hoffte inständig, es hatten sich keine Krabbler in der Mütze angesiedelt. Sie stammte aus seinem Garmischer Fundus, den er nach zwanzig Jahren wieder ausgegraben hatte, und passte auf seinen Schädel. Immerhin, dessen Umfang war über die zwei Jahrzehnte unverändert geblieben.

Er kniff die Lippen zusammen. Konversation um halb sieben harmonierte nicht mit seiner physischen Verfassung.

»Ben Wiesegger beim Frühsport. Ich zieh den Hut«, meinte Laura, nahm theatralisch die Pudelmütze vom Kopf und schüttelte die verstrubbelte blonde Mähne.

»Macht Freude«, brummte er. »Willst du es mal probieren? Für dich wär es gratis.« Er reckte ihr die Schaufel entgegen.

Aus dem Kofferraum des Subaru sprang ein Tier. Es war ein schwarz gefleckter Hund mit angegrauter Schnauze, der neben Laura gemächlich auf Ben zuschritt. Die Rute bewegte sich zaghaft hin und her, so als wäre er unschlüssig, ob es ein freudiger Moment war.

Ben sah vom Vierbeiner zu Laura und wieder zurück.

Das Tier erwiderte seinen Blick. Die schwarzen Augen vermittelten Wehmut, als wäre die Welt nicht immer ein kommodes Platzerl. Aber für wen war sie das schon?

Ben zog den Handschuh aus und streckte die Hand aus. Eine feuchte Schnauze wurde ihm entgegengestreckt. Das Tier schnupperte an ihm und fand offenbar keine Beanstandung.

»Bist du auf den Hund gekommen, Laura?« Mehr als Plattitüden weigerte sich sein Hirn zu kreieren.

»Mehr oder weniger. Darf ich vorstellen: Das ist der Beppo. Deutsch Drahthaar.«

»Servus, Beppo.«

»Ich hab mir gedacht«, fuhr sie fort, »der könnte gut zu dir passen. Er hat ganz tragisch sein Herrchen verloren.«

»Du machst Spaß, oder?« Ben rammte die Schaufel in einen Schneehaufen. »Ich mein, ein Hund? Und ich? Dafür hab ich weiß Gott keine Zeit.«

Sein Arm beschrieb einen Halbkreis, um sein Schaffen darzustellen. Lauras Schulterzucken verdeutlichte ihm, dass sie seine Übertreibung nicht beeindruckte.

»Der Beppo ist kein gewöhnlicher Hund«, sagte sie.

»Kann er Kunststücke und holt mir die Filzpantoffeln?«

»Mindestens. Mei, mit so einem Hund kämst du raus in die Natur, Spaziergänge, Wandern, das tät gerade dir bestimmt nicht schaden.«

Ben wusste, worauf sie anspielte. Sein Fitnessgrad bewegte sich im Minusbereich. Eine Stunde Schneeschippen strengte seine zähe, nimmermüde Nachbarschaft nicht mehr an als der Gang zum Bäcker. Fröhlicher Auftakt für den Tag, angefüllt mit noch fröhlicherer Plackerei. Für ihn war es wie eine Schneeschuhwanderung zum Wankgipfel.

Seine Fähigkeiten waren anders gelagert, er musste sie bloß aufspüren.

Seit er letzten Sommer nach zwanzigjähriger Diaspora wieder nach Garmisch gekommen und in die elterliche Pension zurückgekehrt war, hatte er sich Mühe gegeben, von seiner Schwester Lissy und der Mutter nicht zum nutzlosen Fresser abgestempelt zu werden, den man durchfüttert wie ein altersschwaches Muli. Anpacken wurde großgeschrieben, der Gürtel war eng geschnallt, und fähiges Personal stand auf der Liste der gefährdeten Spezies.

Seine Artikel für den Garmischer Kurier und andere mickrige Lokalblättchen warfen gerade so viel ab, dass er sich ohne allzu schlechtes Gewissen als Journalist bezeichnen konnte – körperliche Höchstleistungen waren dabei nicht inkludiert. Aber wenn es darauf ankam, konnte er die wilde Bestie in sich wachrufen. Hatte er nicht letzten Sommer um ein Haar den Jubiläumsgrat gemeistert und war, um Laura zu retten, aus einem Helikopter gesprungen? Noch Fragen?

»Erstens trägt der Parka auf, und zweitens nennt man das Bodyshaming, und zwar auf die hinterlistige Tour«, knurrte er und warf dem Hund einen finsteren Blick zu, als hätte der sich in Joggingschuhe verwandelt.

»Das ist nur ein ärztlicher Rat.«

»Aha, und den Sauen verordnest du Schrittzähler und Laufband gegen die Speckröllchen?«

»Dass du so ein Sensibelchen bist, sollt man gar nicht meinen.«

»Ich bin halt empfindsam. Magst du einen Kaffee?«

»Nicht ›-sam‹ sondern ›-lich‹.« Laura zwinkerte ihm zu.

Ben stapfte auf die Haustür zu. »Kaffee«, wiederholte er nur.

Beppo lief an ihrer Seite.

In der Küche schälte sich Laura aus ihrer schwarzen Daunenjacke und zog sich einen Stuhl heran. Beppo ließ sich zu ihren Füßen nieder und bettete die Schnauze auf die Vorderpfoten.

Ben angelte sich eine Scheibe Schinken aus dem Kühlschrank, die er dem Hund zuwarf. Der schaute auf, schnappte aber nicht zu.

»Die nimmt er nicht einfach so«, bemerkte Laura, während Ben zwei Haferl mit Kaffee füllte und auf dem Esstisch platzierte.

»Problemhund?«, wollte er wissen und sah Laura dabei zu, wie sie am Kaffee nippte.

Im Gegensatz zu ihm sah sie hellwach und munter aus. Ihre blauen Augen blitzten ihn an, allein die Art und Weise, wie sie mit wippenden Beinen auf dem Stuhl saß, strahlte Tatkraft aus. Es blieb ihm ein ewiges Rätsel, wie sie jeden Morgen, ob Sturm, ob Schnee, die Energie aufbrachte, zu den Viechern aufzubrechen, Diagnosen zu stellen und sich mit den Bauern in den Ställen zu tummeln. Was war ihr Geheimnis? Er betrachtete ihr Gesicht.

Einmal, bei Pizza Funghi und ordentlich Primitivo, hatte er ihr gesagt, mit den aufgeworfenen Lippen und ihrer Nase erinnerte sie ihn an eine französische Schauspielerin, deren Name ihm momentan nicht einfiel. Überraschenderweise hatte sie sein Kompliment mit stirnrunzelnder Missachtung bedacht. Ob er wohl den Wein nicht vertrage? Er wusste, dass ihr Nasenrücken einst von einem vogelwilden Ziegenbock geknickt worden war, aber das Perfekte ist ja seit jeher öde wie ein Frotteepyjama.

»Der Beppo«, begann sie jetzt, »hat dem alten Wanninger gehört. Der hat ihn zur Jagd mitgenommen.«

»Aha, und der Wanninger hat das Zeitliche gesegnet?«

»Ja, so in etwa. Beppo hat ihn erschossen.«

Ben verschluckte sich am Kaffee. »Der Hund?«, brachte er hustend hervor.

»Der Wanninger hat sich beim Ansitzen mit ordentlich Obstler aufgewärmt. Später hat er nicht aufgepasst, die geladene Flinte an einen Baum angelehnt und Beppo gerufen. Der ist munter auf ihn zugesprungen und an die Flinte gekommen … den Rest kannst du dir ausmalen. Die Ladung ist ihm durchs Kinn bis ins Hirn. Muss eine schöne Sauerei gewesen sein. Brauchst du es genauer?«

»Heiliger Hubertus«, brach es aus Ben heraus. »Du schleppst mir einen Killer daher.«

Laura tätschelte Beppos Flanke.

»Und keiner wollt den Beppo jetzt nehmen. Ich hab’s überall versucht. Im Tierheim sehen sie auch keine Chance auf Vermittlung. Der bringt Unglück, sagen die Leut. Aber das ist natürlich Schmarrn, der Wanninger hat sich das selbst eingeschenkt.«

»Und du hast dir gedacht, der Wiesegger Ben kennt sich aus mit Totschlag. Der Hund passt original zu ihm.«

Er konnte sich das Gerede im Ort vorstellen, falls er mit Beppo unterwegs wäre. Er traf auf genügend Einheimische, die überzeugt davon waren, er habe seinen Spezl Toni im Streit vor mehr als zwanzig Jahren vom Jubiläumsgrat gestoßen. Keine Beweise bedeuteten in den Augen der Leut lange nicht, dass du unschuldig warst. Was half es, wenn er beteuerte, dass es so nicht gewesen war? Die verstrichene Zeit half nur marginal. Die Alten gaben es weiter an die Jungen, wie eine heimatliche Sage.

Wenn sich eine Meinung in den Schädeln festgekrallt hat, lässt sie sich mit Wahrheit kaum losreißen. Am liebsten hätte Ben sie mit Fäusten herausgeschlagen. Die Realität war aber, dass er die schrägen Blicke und das Getuschel schlucken musste – mutmaßlich bis zum Jüngsten Tag.

Er nippte vom Kaffee und runzelte die Stirn. »Schau her, da kommt der Mörder mit seinem Mörderhund«, murmelte er.

Er warf Beppo einen forschenden Blick zu. Unglück sollte der bringen? Ja, womöglich waren sie sich darin ähnlich. Eine Schicksalsgemeinschaft.

»Scheiß drauf«, sagte er, »ich nehme ihn. Den Vater wird es freuen. Der wollt unbedingt wieder einen Hund, der aufpasst, dass der Fuchs nicht die Hühner rupft.«

Beppo hob den Kopf und sah Ben mit großen Augen an, als hätte er die Botschaft verstanden. Nur den Schinken schien er zu verschmähen.

Laura beugte sich hinunter und strich ihm durchs Fell. »Ich glaub, du bringst deinem Herrchen Glück.«

»Da hätte Wanninger, wenn man ihn noch befragen könnt, wohl eine alternative Meinung dazu«, brummte Ben.

2

Dass sie Beppo vermittelt hatte, steigerte Lauras Laune. Ihr Tag hatte damit angefangen, dass sie Eis von den Scheiben des Allrads kratzen musste, während die Sonne noch darüber nachdachte, ob sie aufgehen wollte. Nichts, was den Morgen versüßt.

Im Dezember wurde Garmisch-Partenkirchen von besonderem Fieber gepackt. Die Wintersaison mit ihren ganzen Unwägbarkeiten war ein Überraschungspaket. Sowohl Frust als auch Begeisterung konnte es beinhalten. Würden genügend Gäste aufschlagen? Welche Kapriolen hatte das Wetter auf Lager? Lauras Arbeit änderte sich kaum, außer dass sich ihr Tun dann weniger im Freien abspielte.

Während sie vom Hof der Pension Wiesegger auf die Straße rollte, gelang ihr das erste Schmunzeln des Tages. Sie hatte das Gefühl, sowohl Beppo als auch Ben einen Gefallen getan zu haben. Die beiden würden sich gewiss einspielen. Sie hauchte erst in ihre Hände und massierte dann die klammen Finger.

Beim Losfahren ließ sie sich von Ida Marias »Bad Karma« beschallen. Musikalisches Feuer, um den frostigen Morgen aufzutauen. Beim Vorbeiziehen an einem der emsigen Schneeräumvehikel der Gemeinde winkte sie dem bärtigen, rotbäckigen Fahrer zu. Frühe Vögel unter sich. Der eine schabte Schneematsch vom Asphalt, die andere brach auf zur Visite bei Schafen.

Die Winterlandschaft rund um Garmisch-Partenkirchen verband Laura mit rohem, archaischem Leben. Der Schnee war von Frau Holle über die Äcker, Felder und Häuser gestreut worden, wie Puderzucker auf den Apfelstrudel. Das Bild strahlte verträumte Ruhe aus. Die Menschen, versammelt ums Herdfeuer, bevor sie ihr Tagwerk begannen. So oder ähnlich dürfte das anno dazumal gewesen sein im Werdenfelser Land.

Heutzutage hatte niemand mehr Sauerkrautfässer im Keller, ein Griff am Heizungsthermostat wärmte die Stube, und ins Schwitzen kam man höchstens in den Fitness- und Wellnessbereichen der Hotels und kaum mehr durch die winterliche Plackerei auf den Höfen und in undurchdringlichen Wäldern.

Und was die Natur anbetraf, nach der alle Welt gierte, die war in etwa so unberührt wie die Prachtsau vom Bauern Grieser, mit ihren mittlerweile hundertfünfundzwanzig geworfenen Ferkeln in den letzten vier Jahren. Ein fünftes Lebensjahr wurde ihr trotz ihrer Verdienste um den Schinkennachschub nicht gewährt. Ja, Ausbeutung war eine menschliche Leidenschaft, bei der Sau sowie der gesamten Natur. Laura verschob den Gedanken in ein hinteres Eck ihres Hirnstüberls, die Griesers behandelten ihre Nutztiere artgerecht, und Pragmatismus gehörte zu ihrer Jobbeschreibung. Der Kosten-Nutzen-Faktor war das Leitmotiv, das sie bei ihrer Arbeit einberechnen musste, wenn auch nicht immer nachvollziehen konnte.

Der Grieserhof war heute ihre zweite Station.

Ihr erster tierärztlicher Auftritt galt den Boderbecks, die sich am nördlichen Rand von Untergrainau in einem feschen Anwesen niedergelassen hatten. Sie hatte Frau Boderbeck versprochen, gleich am Morgen bei ihr vorbeizuschauen. Drei Coburger Fuchsschafe, aus Käfighaft errettete Legehühner, zig Katzen und ein stattlich-zotteliger Mischlingshund mit rumänischen Wurzeln tummelten sich dort. Sie gaben ihr Bestes, um die Sinnkrise ihrer Besitzerin zu therapieren.

Der Weg führte Laura die Loisach entlang, vorbei an weitläufigen Wiesen und Äckern. Windschiefe Holzstadel spitzten unter der Schneedecke hervor, wie Flöße inmitten eines weißen Sees. Der Schneefall hatte aufgehört, und Sonnenstrahlen griffen mit goldenen Fingern nach den Felsmassiven, die sich in der Ferne erhoben.

Herr Boderbeck grüßte mit erhobener Hand aus seinem Porsche Cayenne wie ein Großfürst aus der Kutsche, als er auf dem Zufahrtsweg zum Wohnhaus an ihr vorbeirollte. Seine Mundwinkel zogen sich nach oben, sodass sein kantiges, angespanntes Gesicht unter dem kurz rasierten Schädel die Parodie eines Lächelns zeigte. Er war der Typ Mensch, der zum Lachen nicht in den Keller ging, sondern jährlich in die Schellenberger Eishöhle. Übersteigerte Selbstbeherrschung, gepaart mit Pedanterie. Eigenschaften, die ihn zu einem erfolgreichen Industriellen gemacht hatten, Häuschen nebst Grundstück in bester Lage deuteten darauf hin, dass die Boderbecks in der Kunst der Geldvermehrung bewandert waren.

Laura nickte dem Mann zu. Mittlerweile war ein Porsche SUV ja mehr als eine Penisprothese für narzisstische Mittfünfziger. Er fand darüber hinaus als Trostpreis für die Gemahlin Verwendung, falls der Göttergatte sein bröckelndes Ego mit Seitensprüngen zu kitten versuchte. Den Gedanken hatte die Gehässigkeit ausstaffiert, Laura hätte den Subaru jederzeit gegen den Cayenne getauscht, natürlich nur der Zuverlässigkeit halber. Darüber hinaus wirkten die Ledersitze bequem.

Sie wusste nicht, welches Vehikel Camilla Boderbeck in der Garage stehen hatte und ob es ein Trostpreis war. Was Laura wusste, war, dass ihre Tiere ein Problem hatten. Und das Problem hieß Frau Boderbeck.

Ben war froh, seinem Vater einen Hund präsentieren zu können. Der lag ihm ständig damit in den Ohren.

Seit seinem Schlaganfall hauste der alte Wiesegger unter dem Dach in der Stube wie in einem Eulenhorst und beobachtete vom Ohrensessel aus wahlweise den Hof oder nachts mit dem Teleskop die Sternbilder.

»Das ist der Beppo«, stellte er ihm das Tier vor.

Die Begeisterung seines Vaters hielt sich offenbar in Grenzen. Lange sagte er nichts, schaute nur abwechselnd von Ben zum Vierbeiner. Er kratzte sich ausgiebig die Bartstoppeln, die auf seinen hohlen Wangen sprossen. Das schabende Geräusch war das einzige im Raum.

»Mei, für mich sieht der aus wie ein abgehalfterter Jagdhund«, bemerkte er schließlich und kam damit der Wahrheit recht nahe. »Meinst du, vor dem Methusalem fürchtet sich ein Fuchs? Hat der noch alle Zähne?«

»Das Äußere täuscht. Der Beppo braucht kein Gebiss, der kann hervorragend mit einer Flinte umgehen.«

Das Auflachen des Vaters mündete in einen Hustenanfall. »Ach, Bub«, keuchte er und zündete sich einen seiner geliebten Stumpen an, »red keinen Schmarrn daher.« Er sah dem Hund in die Augen und stieß den Rauch aus. »Aber ich hätte mir den vielleicht auch aufschwatzen lassen, bei dem Blick.« Er wandte sich an das Tier. »Was Besseres als den Tod findest du hier schon, schau mich an.«

»Beppo hat einen besonderen Blick, oder?«, hakte Ben nach. »Irgendwie weise, tiefgründig.«

»Dein Beppo glotzt akkurat wie ein Hund, was glaubst denn du? Der wird mit dir nicht Schach spielen. Ich meine den Blick der Schmerlingerin. Um der was abzuschlagen, bist du zu schwach, verstehst du?«

»Zefix, Vater!«, brauste Ben auf und winkte ab. »Ich hätte sehr gut Nein sagen können. Ich wollt dir eine Freude machen. Jetzt geh ich mit dem Beppo in den Wald, da wird der aufblühen.«

»Ja, mach dich ans Aufblühen. Und wenn du wieder da bist, bringst du mir bitt schön die Zeitung mit. Hast du auch was geschrieben?«

Ben seufzte kopfschüttelnd auf und schloss die Tür hinter sich und Beppo heftiger als beabsichtigt.

»Zu schwach, meint der«, maulte er den Hund an. »Ich bin halt mitfühlend, sonst würdest du dir im Tierheimzwinger die Haxn in den Bauch stehen.«

Beppo tappte stoisch vor ihm die Stiegen hinunter. Hatte der Hund aufgeseufzt, oder war es schlicht Flatulenz? Er beschloss, Laura danach zu fragen, am Ende benötigte Beppo Schonkost.

Im Haus schien keiner von ihm Notiz zu nehmen. Seine Schwester Lissy und die Mutter deckten die große Stube für das Frühstück ein, professionelle Routine, und in der Küche schnitt Frau Lamprecht Tomaten und Paprika in mundgerechte Stücke. Die Frau war weit in den Siebzigern und wackliger zu Fuß als seine Mutter nach der Hüftgelenksoperation. Sie war eine tüchtige Hilfskraft, zumindest wenn man sie nicht mit den Gästen belästigte. Ihr schroffer Ton wurde nicht von allen goutiert, und dreinreden ließ sie sich schon gar nicht. Ben schob sich an ihrer barocken, kittelgeschürzten Gestalt vorbei zum Kühlschrank und überlegte, was er Beppo Gutes tun könnte.

»Das Hundsviech hat in der Küche nix verloren, das gehört ’naus«, grollte Frau Lamprecht, ohne innezuhalten oder aufzuschauen.

Unter ihren messerschwingenden Händen wollte Ben kein Gemüse sein. Er beeilte sich, mit zwei Würstchen in der Hand ihrem Befehl nachzukommen. Lissy und die Mutter würde er später mit Beppo überraschen. Der Wald rief.

Laura hatte sich dem Fuchsschaf mit seinem rotbraunen Wollschädel in aller Gründlichkeit gewidmet, um Frau Boderbecks Bedenken zu zerstreuen. Die hatte den Eindruck, die Bindehaut wäre hellrot gefärbt, ein mögliches Anzeichen für blutsaugende Parasiten.

Laura wusste, dass die Frau den Farbkarten-Test zur Kontrolle benutzte und sich höchstens ein Schaf noch mehr in Schafhaltung einfühlen konnte. Ob es das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom bei Tierhaltern gab? Die Coburger jedenfalls waren pumperlgesund, und Laura freute sich, Exemplare dieser uralten Rasse über die Wiese traben zu sehen.

Frau Boderbeck hingegen harrte blass und verloren im übergroßen weißen Daunenmantel neben Laura aus und strich sich unentwegt die schwarz gefärbten Haarsträhnen aus der glatt gebügelten Stirn. Parasiten dürften dafür kaum die Ursache sein.

Als Tierärztin waren etwaige »Haltungsmängel« von Tierbesitzenden nicht ihre Baustelle. Die frühe Uhrzeit samt frostiger Brise, die über den Hang strich, machte es Laura unmöglich, sich inmitten blökender Schafe und in Anwesenheit des ausdauernd kläffenden Hundes auf Small Talk einzulassen. Sie war weder aufnahmefähig für vegane Plätzchenrezepte noch für Tipps, wo man nachhaltige Pullis aus norwegischer Bio-Wolle bekam. Zurück ließ sie eine zaghaft winkende Frau Boderbeck, im sicheren Wissen, dass eine Sprachnachricht bezüglich eines kränkelnden Huhns bald käme. Sei es drum. Solange sie die Tiere bestens umsorgt wusste, konnte Laura mit den häufigen Visiten auf dem Anwesen leben – schließlich brachte Faulenzen kein Brot ins Haus.

3

Ben verfrachtete Beppo auf den Rücksitz von Lissys betagtem Passat Kombi und rollte langsam vom Hof. Um seiner Schwester einen Gefallen zu tun, würde er Äste, Baumrindenstücke und was sonst brauchbar erschien, einsammeln. Sie mochte es, die Räume mit Natur-Accessoires zu dekorieren. Waldwanderungen standen nicht auf Bens Bucketlist, obwohl die Heilkraft des Waldbadens überall gehypt wurde. Die Krux war, dass so ein Bad nahtlos in Anstrengung mündete, da die Bäume in der Umgegend die üble Angewohnheit hatten, sich an Hängen und Hügeln zu gruppieren. Wohin also des Weges?

Als Kind hatte er die Ausflüge mit der Zugspitzbahn nach Hammersbach geliebt, schon wegen der irrsinnigen Höllentalklamm. Meist hatten er und Lissy sich im umliegenden Wald ausgetobt und auf den Kuhwiesen gebrotzeitet. In Erinnerungen schwelgend, zuckelte Ben eine Viertelstunde später die Zugspitzstraße entlang. Während er fuhr, beobachtete er immer wieder den Hund im Rückspiegel. Der hatte es sich auf der Rückbank gemütlich gemacht, Schnauze auf den Pfoten, und muckste sich nicht.

Am Hammersbacher Parkplatz stellte er den Passat ab und ließ einen freudig erregten Beppo aussteigen. Ben staffierte sich mit Mütze und Wollhandschuhen aus und sah dabei zu, wie sein Atemhauch in der Luft gefror.

»Auf geht’s«, trieb er sich selbst an.

An der Leine, die Laura ihm mitgegeben hatte, führte er den Hund zur Straße. Er war ein paar Meter weit gekommen, da verharrte Beppo und knurrte.

»Wir lassen die Viecher in Ruhe«, ermahnte ihn Ben. »Wir sind Sammler, keine Jäger.« Er rüttelte zur Bekräftigung mit einer Aldi-Plastiktüte.

Das tiefe Grollen eines großen Hundes ertönte.

»Vertragt euch, ihr stammt beide vom Wolf ab.«

Ben erkannte dessen Herrchen, einen massigen, grauhaarigen Mann im schwarzen Mantel, sofort. Diese Begegnung hätte er gern vermieden.

»Na, Wiesegger, ist das Ihr Nebenjob, Altenpfleger fürs Viecherl?«, fragte Schimmelpfennig II.

»Komm, Beppo, wir gehen weiter.«

Auf ein Gespräch mit dem zwielichtigen Bauunternehmer legte Ben keinen Wert. Schimmelpfennig II. bückte sich und löste die Leine vom Halsband seines Hundes. Boshaftigkeit oder Gewohnheit?

Der Schäferhund sprang auf sie zu. Beppo verharrte unerschütterlich, kalt wie Hundeschnauze. Sein Vetter könnte ihn mit einem Happs erlegen.

Plötzlich bellte Beppo, und sein Kopf schnellte nach vorn. Es war nur ein heißeres »Wuff«, das sich wie ein Befehl oder eine Drohung anhörte. Der Schäferhund stoppte in der Bewegung. Er machte kehrt, nicht mit eingezogener Rute, aber der Tatendrang schien verebbt.

»Lass ihn in Ruhe, Beppo. Der wollte nur spielen«, sagte Ben. Wenn es bei Hunden natürliche Autorität gab, Beppo hatte sie. »Sie sollten Ihr Zamperl im Wald anleinen«, sagte er, »nicht dass ihm was passiert.«

Sein Gegenüber starrte ihn mit düsterer Miene an. Wie sein Vierbeiner wirkte er, als könnte er Ben mit einem Biss den Garaus machen. Die Kiefer mahlten. Er wandte sich ab und stapfte an Ben vorbei, zu seinem Jeep. Er öffnete die Heckklappe.

»Rein mit dir, Rufus«, befahl er. Mit einem Satz sprang der Hund in den Wagen. Schimmelpfennig II. knallte schweigend die Klappe zu und riss die Fahrertür auf.

Wer hat den Größeren?, sinnierte Ben. Offenbar war das nicht nur bei Pubertierenden, sondern auch bei Hundebesitzern Thema. Er streckte den Rücken durch, die Macht war mit ihm. Beppo war der geborene leader of the pack.

»Das ist der Köter vom alten Wanninger, stimmt’s?«, rief Schimmelpfennig II. ihm zu. »Ich wünsch Ihnen, dass Sie nicht genauso viel Pech haben.«

»Ich wünsch Ihnen besinnliche Weihnachten, falls wir uns vorher nicht mehr über den Weg laufen. Denn das wär Pech genug.«

»Garmisch ist nicht groß, das hängt ganz von Ihnen ab.«

Nicht groß genug für uns beide?, fragte sich Ben. Er wandte sich schweigend zum Gehen.

Schimmelpfennig II. zog die Tür zu und rauschte ab.

Ben tätschelte Beppos Kopf. »Das hast du fein gemacht«, lobte er ihn. Der Hund bewegte leicht die Rute. Er schien zufrieden mit sich.

In Gedanken schlenderte Ben weiter die Straße entlang. Letztes Jahr hatte er mit den Brüdern Schimmelpfennig mehr Kontakt gehabt, als ihm lieb gewesen war. Er hatte die Intriganz und Verschlagenheit von Schimmelpfennig II., über dessen halblegale Machenschaften als Bauunternehmer Ben gestolpert war, am eigenen Leib erfahren. Dazu Schimmelpfennig I., leidenschaftlich engagierter Naturschützer und immer darauf erpicht, seinem Bruder in die Suppe zu spucken. Beide auf ihre Art schwer verdauliche Kost. Besser, man ging ihnen aus dem Weg. Ersparte Magendrücken.

Durch ein rostiges Weidegatter zu seiner Rechten gelangte er auf den Weg in den Wald.

Bens Schritte knirschten auf dem verschneiten Boden, Beppo war an seiner Seite, frische Luft, winterliche Ruhe und Frieden in beschaulicher Natur, warum nicht?

Er stapfte bergan und überließ Beppo die Auswahl der Route. Offenbar wollte er nicht den »Bärenweg« nehmen, sondern geradeaus einen kümmerlichen, kaum gespurten Pfad, der sich zwischen den Bäumen verlor. Auch gut.

Ben folgte ihm immer weiter hinauf. In geruhsamem Tempo stapfte er voran, vorbei an windschiefen Stadeln und imposanten Baumriesen. Er nahm ein Vollbad unter schneebemützten Wipfeln.

Als Beppo jäh an der Leine zog, war es vorbei mit der Gelassenheit. Die Kraft, die er entwickelte, riss Ben nach vorne.

»Da gibt’s doch nix«, rief er ihm zu und stemmte die Fersen seiner Sneakers in den Boden. Umsonst.

Beppo ließ nicht nach. Die Vorderpfoten in der Luft, bäumte er sich am Ende der gestrafften Leine auf. Er hätte das Tier an einen Schlitten hängen sollen. Widerwillig folgte er dem schnüffelnden Hund vom Pfad ab zwischen die Büsche. Er sollte ihm etwas Ablenkung gönnen, da er ja den Verlust seines Herrchens zu verkraften hatte.

Ben trabte ein paar Meter hinter Beppo her, während er mit der freien Hand Ästchen und Zweige abwehrte, die es auf sein Gesicht abgesehen hatten. Unvermittelt stoppte der Hund ab und verharrte reglos. Ben kam ins Stolpern und umarmte Halt suchend den Stamm einer zwergwüchsigen Fichte. Ein Ast schrammte ihm die Wange auf.

»Zefix, was hast du …?«, keuchte er, dann versagte ihm die Stimme.

Da lag ein menschlicher Körper bäuchlings vor ihnen zwischen den Sträuchern. Offenbar schon einige Zeit, denn er war von Schneeflocken bedeckt.

Ben löste sich vom Baum und griff sich an die brennende Wange, ohne die Gestalt aus den Augen zu lassen. Er brauchte einige tiefe Atemzüge lang, bis er begreifen konnte, was er vor sich sah. Es regte sich nichts. Kein Geräusch war zu hören, außer Beppos Hecheln. Ein Toter, durchfuhr es Ben. Die Hundeleine rutschte ihm aus der Hand. Unter seiner Schädeldecke pochte es.

Kruzifix, wer immer da lag, war nicht mehr am Leben! Der Schnee um ihn herum wies eine schmutzig braune Farbe auf. Der Waldboden zu seinen Füßen war aufgewühlt, als hätte der Tote zuletzt noch gestrampelt.

Ben schluckte und zwang sich, näher an den Körper heranzutreten. Wenn das Blut war, handelte es sich um eine beträchtliche Menge. Ein Herzkasper hatte den Mann kaum ereilt.

Beppo setzte sich auf seine Hinterläufe und blickte zu ihm hoch, so als wollte er fragen: War ich gut? Ein Bluthund bist du, dachte Ben, die Schweinerei hast du gewittert. Aber das war kein waidwundes Reh. Als Glücksbringer bist du eine Niete.

Er schob überhängende Zweige zur Seite und ging schwer atmend in die Hocke. Die Schulter des Toten fühlte sich hart an unter seinem Griff, als wäre es eine gefrorene Lammkeule. Beidhändig zupackend, wuchtete er den Körper auf die linke Seite. Er erkannte den Mann sofort!

Es war Herbie Schranz, und etwas hatte ihn angegriffen! Ben ließ den Toten zurückfallen und fuhr in die Höhe. Er drehte sich um die eigene Achse und spähte umher. Nichts Ungewöhnliches. Die Stille beruhigte ihn nicht. Im Gegenteil. Wie schnell durfte sein Herzschlag werden, bis es gefährlich wurde?

Es war ein Splattermovie! Grundgütiger! Hier lag sein Journalistenkollege, hingemetzgert wie ein Ferkel! Ja, er hatte ihm die Pest an den Hals gewünscht, letztes Jahr, als Herbie versucht hatte, ihn als Schreiberling zu diskreditieren und im Netz der Lächerlichkeit preiszugeben. Offenkundig war Eifersucht auf seine journalistischen Fähigkeiten der Grund. Herbie galt als unumstrittener Liebling von Chefredakteur Vogel, bevor Ben in Garmisch aufgetaucht war. Aber er lag hier vor ihm in seinem Blut, das wünschte Ben niemandem – zumindest fiel ihm ad hoc keiner ein. Sein Magen wurde zum Epizentrum von Übelkeit und Schwäche, die sich in ihm ausbreiteten bis unter die Haarspitzen.

Herumstehen und schlottern wie nackt im Schneesturm war keine Lösung! Er riss sich die Handschuhe herunter und grapschte sich sein Smartphone aus der Parkatasche. Die Polizei musste her! Sein Notruf war eine ordnungsgemäße Meldung, die drei »Ws« in Erinnerung. Danach fixierte er unschlüssig sein Handydisplay. Der nächste Anruf galt Chefredakteur Vogel. Als er ihm verkündete, unter welchen Umständen Herbie das Zeitliche gesegnet hatte, folgte Schweigen am anderen Ende der Leitung. Er hatte schon gemutmaßt, die Verbindung wäre abgebrochen, bis Vogel sich äußerte.

»Ich melde mich später bei Ihnen«, verkündete er und beendete das Gespräch.

Ben zuckte mit den Schultern und schob das Smartphone in die Tasche. Was hatte er erwartet? Eventuell ein Pfund mehr an schockierter Anteilnahme. Was, wenn er hier auf dem Waldboden läge? Vogel und Empathie begegneten sich so oft wie Eisbär und Pinguin.

Es dauerte zehn Minuten, in denen Ben mit Beppo den Pfad auf und ab schritt, bis Polizisten auftauchten. Schon von Weitem erkannte er, wer da auf ihn zukam. Er hatte es befürchtet, natürlich war es Poschinger in ganzer polizeilicher Herrlichkeit, samt Filzhut, obligatorischer Lederjacke und groben Wandertretern. Er stapfte voran, den Schädel gesenkt, die Schultern in Richtung Ohren gezogen, als Oberhaupt eines illustren Trupps. Ihm folgten im Gänsemarsch mehrere Uniformierte und eine rothaarige Frau in pinker Funktionsjacke und Jeans. Die Nachhut bildeten zwei hagere Gestalten, deren sandfarbene Parkas und lederne Umhängetaschen sie Zwillingen gleich wirken ließen. Beide rot bemützt über hoher gefurchter Stirn, dafür mit angesagtem Vollbart. Das mussten die Spurensicherer sein.

»Wo liegt er?«, wurde er vom Hauptkommissar angeraunzt, kaum dass der vor ihm zu stehen kam. Er schnaufte, als wäre er von der Garmischer Inspektion hergetrabt.

Ben wies auf die Büsche.

»Hast du was angefasst, Wiesegger?«

Ein Abwinken musste genügen. Mehr war nicht drin.

Die Gesellschaft bahnte sich einen Weg zur Leiche.

»Was zum Teufel …?«, hörte er Poschinger ausrufen.

Ben machte ein paar Schritte auf die Truppe zu, wurde aber von einem Uniformierten mit ausgestreckter Hand aufgehalten. »Bleiben Sie bitt schön hier stehen.«

»Das schaut aus, als hätt ein Tier …«, hörte er die Rothaarige zu ihrem Chef sagen, als sie zurückkamen.

Der Hauptkommissar baute sich mit gestrenger Miene vor Ben auf. So nah, dass ihm dessen geplatzte Äderchen im Auge auffielen. Hoher Blutdruck oder wenig Schlaf? Der Mann roch nach einer Mischung aus Zigaretten und nassem Leder. Der Brechreiz meldete sich hartnäckig.

Ben und Poschinger waren schon in ihrer gemeinsamen Schulzeit wie Hund und Katz gewesen. Und seit er wieder in Garmisch hauste, hatte der Hauptkommissar sich an ihm festgebissen. Dass Poschingers Angetraute, Josefa, sich wundersamerweise zu Ben hingezogen fühlte und der Polizist ihn für einen gemeinen Mörder hielt, befeuerte die gegenseitige Abneigung.

»Erzähl’s mir!«, forderte Poschinger ihn auf. »Du weißt schon, wer das ist, oder? Was hast du hier gemacht und gesehen? Lass nichts aus.«

»Spaziergang mit meinem Hund«, sagte Ben und schob die Hände in die Parkataschen. »Sonst nix. Der hat ihn aufgestöbert, vor vielleicht einer Viertelstunde. Er ist da gelegen und …«

»Warum bist du ausgerechnet hier spazieren gewesen?«

»Weil’s hier ein ruhiges Platzerl ist – war.«

»Da schau her.« Poschinger runzelte die Stirn und starrte ihn an.

»Was heißt ›da schau her‹? Was willst du mir damit sagen?«, knurrte Ben.

»Gar nichts. Ich stell die Fragen, du antwortest, das ist doch ganz einfach.«

Ben schloss für einen Moment die Augen. Seine Fingernägel gruben sich in die Handballen. »Ja, ganz einfach«, stieß er hervor.

Ob etwas ungewöhnlich gewesen sei, wollte Poschinger von ihm wissen, oder ob ihm wer begegnet sei.

Ben schüttelte den Kopf. Dann erinnerte er sich an Schimmelpfennig II. »Den hab ich getroffen, er ist gerade weggefahren, mit einem Mordstrumm von Schäferhund.«

»Da schau her«, wiederholte der Ermittler. »Ihr beiden Lichtgestalten habt euch also im Wald getroffen, wo du dann einen Toten findest … schon merkwürdig.«

»Du hast ihn angeschaut? Der ist doch nicht einfach blöd hingefallen. Das ist merkwürdig.«

»Was ist das da für ein Kratzer in deiner Visage? Schaut frisch aus.«

»Das war ein Zweig. Ich hab nicht aufgepasst.«

»Soso, ein Zweig war’s.«

»Genau. Schau dich um, die gibt’s hier im Überfluss, da geizt der Wald nicht.«

Poschinger wandte sich ohne ein Wort von ihm ab.

Die Taschenträger wühlten sich aus den Büschen. Aus ihrem bedeutungsschwangeren Habitus konnte man nichts herauslesen. Sie steckten die Köpfe zusammen. Was brüteten die aus? Der mahnende Blick des Uniformierten ließ Ben auf seinem Platz verharren. Er trat von einem Fuß auf den anderen und schlug sich auf die Oberarme. Die feuchte Kälte kroch ihm in die Knochen. Er fühlte seine Zehen nicht mehr. Wenn er noch länger ausharren musste, könnte er sie vermutlich abbrechen wie morsche Ästchen.

»Kaffee haben Sie nicht zufällig mit?«, wollte er vom Uniformierten wissen.

»So einen Service gibt’s nur in miesen Krimis«, meinte der grinsend.

»Genau so komm ich mir grad vor«, murmelte Ben und nickte seinem Gegenüber zu.

»Für uns alle kein Vergnügen«, floskelte der daher und faltete seine Stirn auf. Ob er das fehlende Heißgetränk oder die Leiche im Gebüsch meinte, blieb im Dunkeln.

»Wir müssen sofort handeln«, hörte Ben einen der Bärtigen raunen. »Da brauchen wir geschwind Erkenntnisse. Das bringt uns sonst in Teufels Küche.«

Poschinger nickte und wandte den Kopf in Richtung Ben. »Halt dich zur Verfügung. Du und dein Zamperl, ihr könnt euch jetzt zupfen.«

Du mich auch mit deiner Verfügung, dachte Ben, zog es aber vor, zu schweigen.

»Wir bräuchten bitt schön Ihre Nummer, Herr Wiesegger, wegen der Aussage und falls noch was zu klären wär.«

Ben wandte sich der Polizistin zu, die ihn angesprochen hatte. Ihre vollmondigen Backen waren zart gerötet. Im Zusammenhang mit ihrem unablässigen Zupfen am Jackenreißverschluss vermutete Ben, dass Leichen für sie kein täglich Brot waren. Der Sprache nach war sie eine Hiesige. Ihr Blick war klar und direkt. Sie wirkte auf ihn mit ihrer roten Lockenpracht und der Energie, die sie ausstrahlte, wie der personifizierte, strahlend sonnige Wintermorgen. Er hoffte, das würde unter Poschingers Fuchtel nicht bald zu nächtlichem Eisregen.

»Gern«, platzte es aus ihm heraus, »äh, und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«

»Wieseggers Nummer liegt uns vor, Frau Ganghofer«, grätschte der Hauptkommissar dazwischen, »ist ja nicht das erste Mal. Das Freunderl ist aktenkundig.«

Für das »Freunderl« hätte Ben die passende Antwort locker aus dem Ärmel schütteln können, Poschingers Mops-Visage wäre Inspiration genug gewesen.

»Zupfen wir uns«, verkündete er Beppo. »Du hast hier schon ganze Arbeit geleistet.«

4

Dass Hauptkommissar Poschinger nach ihr verlangte, verblüffte Laura. Am Handy hatte er sich kryptisch ausgedrückt, wollte nicht raus mit der Sprache.

»Sie werden es sehen.« Es gehe um eine Tierbeteiligung an einem Fall, bei dem er ihr Urteil einholen wolle.

»Warum ich?«, war die erste Frage, die ihr einfiel.

Sie war beileibe nicht die einzige Tierärztin in der Gegend und verspürte keine Lust, ihre vierbeinigen Patienten warten zu lassen. Dass sie ihm als Erste eingefallen war, sollte ihr schmeicheln, machte sie jedoch misstrauisch. Und absolut niemand hatte ihr zu sagen, dass sie sich sputen sollte. Sie war, verdammt noch mal, keine von Poschingers Untergebenen, die er hopphopp herumkommandieren konnte.

Im Gegenteil.

Nach dem handfesten Ärger, den ihr seine Josefa letztes Jahr in unberechtigter Eifersucht bezüglich Ben Wiesegger beschert hatte, sollte ihr Göttergatte sie demütig mit einer Rikscha abholen, anstatt sie mitten in den Wald zu zitieren. Die Einschätzung für den Herrn Hauptkommissar konnte sie bestimmt nicht abrechnen.

Warum tu ich das?, fragte sie sich mantraartig. Weil du voller Neugier bist, Laura, welches Viech mit Ermittlungen in Zusammenhang steht. Die Selbsterkenntnis fütterte ihre hundsmiserable Laune an, statt sie zu verscheuchen. Poschingers Beschreibung folgend, fuhr sie das kurze Stück Richtung Hammersbach.

Ben wollte Beppo in den Wagen verfrachten, als er Lauras Subaru ankommen sah. Zufälle gibt es, die sind keine. Was hatte sie hergeführt? Hier gab es keine maladen Viecher, nur den Tod. Er wartete mit dem Hund neben dem Kombi, bis sie geparkt hatte. Sie schien ebenso verblüfft wie er.

»Ben, was machst du denn hier?«, wollte sie wissen, kaum dass sie ausgestiegen war.

Ehe er antworten konnte, spielte sein Smartphone die »Ace of Spades«-Riffs.

»Wiesegger, Sie müssen kommen«, hörte er seinen Chef keuchen.

»Ben, ich red mit dir!«, insistierte Laura.

»Wo sind Sie, Vogel?«, wollte Ben wissen.

»Bei Herbie daheim, jemand hat mich … jemand, niedergeschlagen.«

Das Gespräch war beendet. Ben starrte sein Smartphone an. Eine neue Nachricht. Vogel sandte ihm Straße und Hausnummer. Die Fingerchen konnte er also bewegen. Herbie hatte im hintersten Eck von Partenkirchen gehaust.

»Ben?«, wollte Laura wissen. »Könntest du mir vielleicht mal sagen, was –«

»Später«, unterbrach er sie und wandte ihr den Rücken zu. Er klopfte sich den Matsch von den Sneakers, bugsierte Beppo ins Auto und wuchtete sich hinters Lenkrad.

Beim Gasgeben drehten die Reifen durch. Im Rückspiegel sah er eine gestikulierende Laura. Ihm schwante, dass sie ihn bei ihrem nächsten Aufeinandertreffen nicht billig davonkommen lassen würde. Aber auch sie war ihm Antworten schuldig.

Er musste sich ermahnen, nicht alles aus dem Wagen herauszuholen, sonst wäre er auf dem nass-glatten Asphalt ruckzuck im Straßengraben.

Vogel hatte kläglich geklungen. Was zum Teufel hatte er in Herbies Wohnung zu suchen? Seit der versucht hatte, Ben letztes Jahr zu schaden, waren sie sich weitestgehend aus dem Weg gegangen. Jeder hatte in der Redaktion seinen Kram erledigt, ohne vom anderen Notiz zu nehmen. Es gab nichts zu klären. Ben hatte den Verdacht, dass seinem Chefredakteur die Konkurrenz ganz recht war, womöglich dachte er, das würde den Ehrgeiz der beiden Journalisten befördern. Was Ben betraf, Rachsucht zählte er nicht zu seinen zahlreichen Fehlern, und Ehrgeiz musste er in all den Jahren verschmissen haben.

Fluchend trat er auf die Bremse, als ihm ein UPS-Gefährt entgegenkam. Kaum Platz für beide. Er spürte, wie die Reifen ins Rutschen kamen, konnte den Passat zum Glück abfangen und zum Stehen bringen. Er pustete durch. Selbst Beppo hatte die Ohren angehoben.