Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
In dieser neuartigen Romanausgabe beweisen die Autoren erfolgreicher Serien ihr großes Talent. Geschichten von wirklicher Buch-Romanlänge lassen die illustren Welten ihrer Serienhelden zum Leben erwachen. Es sind die Stories, die diese erfahrenen Schriftsteller schon immer erzählen wollten, denn in der längeren Form kommen noch mehr Gefühl und Leidenschaft zur Geltung. Spannung garantiert! Als Emily ein langes Seil zusammengeknotet hatte, ließ sie es zum Fenster hinunter. Sie sah, dass es nicht bis auf den Boden reichte, aber in ihrer Verzweiflung wagte sie, das letzte Stück zu springen. Nur mit großer Mühe konnte sie einen Schrei unterdrücken. Zusammengekrümmt blieb sie auf dem Rasen liegen ... Mehrere Zeitungen berichteten davon, dass die junge Sängerin Isla Cameron nicht aus dem Urlaub zurückgekehrt war. Die meisten Leser kannten diesen Namen, denn die jetzt Dreiundzwanzigjährige ging auf eine steile Karriere zu. In den letzten Monaten waren einige Platten von ihr auf den Markt gekommen und hatten reißenden Absatz gefunden. Familienangehörige gab es nicht, die sich um Isla gesorgt hätten. Sie war als Vollwaise aufgewachsen und hatte früh lernen müssen, auf eigenen Beinen zu stehen. Vielleicht gab es Männer, die zu gern gewusst hätten, was aus Isla geworden war, aber diese hatten ihr bestimmt nicht nahegestanden. Sie hatte zurückgezogen gelebt und noch nicht an eine feste Bindung gedacht. Bei jemand anderem aber wurde die Angst um die junge Sängerin immer größer. Bei der fünfundzwanzigjährigen Emily Wilkens. Sie war Islas beste Freundin, beide hatten einige Jahre lang eine Wohnung geteilt. Aber in letzter Zeit war Emily das plötzlich so turbulente Leben Islas zu viel geworden, und sie hatte sich ein Apartment in einem anderen Stadtteil Londons gesucht. Nach wie vor aber hatten beide sich häufig getroffen. Sie hatten auch gemeinsam in den Urlaub nach Wales fahren wollen, doch da war Emily krank geworden, und sie hatte zu Hause bleiben müssen. Emily brauchte noch nicht wieder
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 139
Veröffentlichungsjahr: 2016
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Als Emily ein langes Seil zusammengeknotet hatte, ließ sie es zum Fenster hinunter. Sie sah, dass es nicht bis auf den Boden reichte, aber in ihrer Verzweiflung wagte sie, das letzte Stück zu springen. Nur mit großer Mühe konnte sie einen Schrei unterdrücken. Zusammengekrümmt blieb sie auf dem Rasen liegen ...
Mehrere Zeitungen berichteten davon, dass die junge Sängerin Isla Cameron nicht aus dem Urlaub zurückgekehrt war. Die meisten Leser kannten diesen Namen, denn die jetzt Dreiundzwanzigjährige ging auf eine steile Karriere zu. In den letzten Monaten waren einige Platten von ihr auf den Markt gekommen und hatten reißenden Absatz gefunden.
Familienangehörige gab es nicht, die sich um Isla gesorgt hätten. Sie war als Vollwaise aufgewachsen und hatte früh lernen müssen, auf eigenen Beinen zu stehen. Vielleicht gab es Männer, die zu gern gewusst hätten, was aus Isla geworden war, aber diese hatten ihr bestimmt nicht nahegestanden. Sie hatte zurückgezogen gelebt und noch nicht an eine feste Bindung gedacht.
Bei jemand anderem aber wurde die Angst um die junge Sängerin immer größer. Bei der fünfundzwanzigjährigen Emily Wilkens. Sie war Islas beste Freundin, beide hatten einige Jahre lang eine Wohnung geteilt.
Aber in letzter Zeit war Emily das plötzlich so turbulente Leben Islas zu viel geworden, und sie hatte sich ein Apartment in einem anderen Stadtteil Londons gesucht. Nach wie vor aber hatten beide sich häufig getroffen. Sie hatten auch gemeinsam in den Urlaub nach Wales fahren wollen, doch da war Emily krank geworden, und sie hatte zu Hause bleiben müssen.
Emily brauchte noch nicht wieder ins Büro zu gehen. Sie hätte einen vierwöchigen Krankenurlaub genießen können, wenn ihre Sorgen um Isla nicht immer größer geworden wären.
Doch es kam für die hübsche blonde Emily ein freudiger Tag. Der Postbote brachte ihr einen Brief Islas.
In großer Erregung riss ihn Emily auf. Sie fieberte dem entgegen, was ihr die Freundin zu schreiben hatte. Damit es sich ihr deutlich einprägte, las sie laut:
Meine liebe Emily,
sei mir nicht böse, dass ich Dich so lange im Unklaren gelassen habe, aber wenn Du alles gelesen hast, wirst Du mich verstehen.
Ich habe mich nämlich verliebt, unsterblich verliebt! Noch nie habe ich einen schöneren Urlaub verlebt als diesen. Bald werde ich Dir erzählen können, wie ich meinen über alles geliebten Lord Roseberry kennenlernte. Ja, der Mann meines Herzens ist ein leibhaftiger Lord. Er bedeutet mir mehr als mein Beruf und meine Karriere. Ihm zuliebe werde ich wohl beides aufgeben, um nur für ihn da sein zu können.
Wenn Du bis jetzt schon sehr überrascht warst, dann wirst du nun vielleicht so durcheinandergeraten, wie ich es bin. Liebe Emily, ich heirate in der nächsten Woche. Ohne Trubel und ohne Aufsehen, hier in der Heimat meines zukünftigen Mannes. Das ist der kleine Ort Bulcote. Er liegt am Fuße des Berges Snowdown hier in Wales. Ich lebe jetzt schon auf dem Besitz der Roseberrys, im Schneehaus. Diesen romantischen Namen trägt das herrliche Gebäude, in dem ich mich mit Absicht versteckt halte, damit mich niemand aufstöbert. Du bist die Einzige, der ich mich jetzt anvertraue, und Du sollst auch zu meiner Hochzeit kommen. Du hast doch noch Urlaub, den Du eigentlich mit mir verbringen wolltest. Nimm ihn Dir jetzt, damit Du einige Zeit bei uns bleiben kannst. Es wird Dir hier gefallen. Falls Du Dich von Deiner Krankheit noch nicht ganz erholt haben solltest, kannst Du es hier tun. Bitte, komm bald. Du sollst miterleben, wie glücklich ich bin.
Deine lsla
Emily geriet ganz aus dem Häuschen. Das also war des Rätsels Lösung. Isla hatte sich Hals über Kopf verliebt und stand sogar schon unmittelbar vor der Heirat. Wenn sie in solch einem Überschwang schrieb, mussten ihre Gefühle sehr tief sein. Schade, dass sie nicht mehr von dem Mann schrieb, dem ihr Herz so schnell zugeflogen war.
Emily war auf ihn sehr neugierig.
Zu gut wusste sie, welche Ansprüche ihre Freundin an einen Mann stellte. Sie schienen sich nun alle erfüllt zu haben. Emily wurde beinahe ein wenig neidisch. Ihr war der Mann noch nicht begegnet, den sie sich erträumte.
Sie hielt es nicht mehr in London aus und entschloss sich, sofort nach Wales zu fahren. Als sie auf der Landkarte den kleinen Ort Bulcote entdeckte, sah sie, dass er sich inmitten des bekannten Kohlenbergbaugebietes von Wales befand. Ob die Roseberrys etwas damit zu tun hatten?
In einem fort beschäftigte sich Emily mit solchen Fragen. Der Name Schneehaus gefiel ihr besonders gut. Sie stellte sich ein im Winter vollkommen eingeschneites Herrenhaus vor, weil sie wusste, dass es in Wales recht rau sein konnte.
Zuerst wollte sie noch ein Hochzeitsgeschenk für Isla kaufen, doch dann nahm sie sich nicht einmal dafür Zeit. Sie packte ihre Sachen und fuhr mit ihrem kleinen Wagen aus London hinaus. Sie hatte eine weite Fahrt vor sich. Deshalb übernachtete sie auf halber Strecke. Sie wollte frisch bei Isla ankommen.
Am frühen Nachmittag des nächsten Tages hatte sie Bulcote erreicht. Vorher war sie an Kohlenhalden vorbeigekommen und durch viele Bergarbeiterorte gefahren. Diese hatten auf sie einen düsteren und ärmlichen Eindruck gemacht.
Bulcote aber war heller, es breiteten sich satte Wiesen um das Dorf aus, auf denen wie weiße Punkte die Schafe weideten. Dahinter erhob sich der Berg Snowdon.
Am Anfang des Ortes fragte Emily nach dem Schneehaus und der Familie Roseberry. Man sagte ihr, dass sie aus dem Ort auf der anderen Seite wieder hinausfahren müsse, dann könne sie den Besitz nicht verfehlen.
Wenige Meter nach dem Ortsende streikte Emilys Wagen. Sie war sehr ärgerlich, so knapp vor ihrem Ziel eine Panne zu haben, und sah sich ratlos um. Obwohl sie nicht viel von dem Innenleben ihres Autos verstand, öffnete sie die Motorhaube. Doch davon sprang der Wagen leider auch nicht wieder an.
Schon überlegte sie, ob sie zu Fuß weitergehen sollte, da kam ein Motorradfahrer den Weg entlang.
Zaghaft winkte ihm Emily. Er hielt sofort. Ein stattlicher junger Mann sprang ab und kam auf sie zu.
Sie klagte ihm ihre Sorgen. »Von London bis hierher hat der Wagen durchgehalten, und ausgerechnet jetzt macht er mir Scherereien. Meinen Sie, mir helfen zu können?«
»Wir wollen sehen.« Der junge Mann beugte sich über den Wagen. Nach einer Weile sagte er: »Die Zündkerzen scheinen stark verrußt zu sein. Ich werde versuchen, sie zu säubern.« Er ging gleich ans Werk.
»Sind Sie hier aus der Gegend?«, fragte Emily.
Der Mann nickte. »Ja, aus Bulcote.«
»Dann kennen Sie doch sicher die Familie Roseberry oder Lord Roseberry selbst. Ich weiß nicht, ob er Angehörige hat. Jedenfalls soll er auf einem Besitz leben, der Schneehaus heißt. Im Ort hat man mir schon den Weg dorthin gewiesen.«
Der junge Mann sah Emily neugierig an. »Zu Lord Roseberry wollen Sie? Das ist ja ganz etwas Neues, dass er Besucher empfängt. Ja, ich kenne ihn. Ihm gehört das gesamte Kohlenrevier hier. Ich arbeite sogar in einer seiner Gruben. Ich bin Bergwerksingenieur. Entschuldigen Sie, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Mein Name ist John Baylor.«
»Und ich bin Emily Wilkens.« Das Mädchen lachte. »Merkwürdig, sich hier auf der Landstraße bekannt zu machen. Sie kommen mir wie mein Schutzengel vor.«
John Baylor lachte laut. »Das wird sich erst erweisen, Miss Wilkens. Hoffentlich kann ich Ihnen auch helfen.« Wieder wurde der Blick seiner dunklen Augen neugierig. »Ich habe noch immer nicht ganz verdaut, dass Sie Lord Roseberry besuchen wollen. Sind Sie etwa eine Verwandte?«
»Nein, das nicht. Aber meine beste Freundin wird bald mit ihm verwandt sein. Sie heiratet ihn nämlich, und ich bin zur Hochzeit eingeladen.«
John Baylor hatte die Zündkerzen gerade wieder eingeschraubt. Jetzt richtete er sich ruckartig auf. »Was sagen Sie da? Lord Roseberry will heiraten? Das gibt es doch gar nicht.«
»Was ist daran so verwunderlich, wenn ein Mann heiratet?«, fragte Emily.
»Na ja, wenn er fünfundsechzig Jahre alt und solch ein Sonderling ist wie Lord Roseberry, dann ist das schon verwunderlich. Ich kann es auch noch gar nicht glauben. Das wird aber hier allen Leuten so gehen.«
Emily war verdutzt. Ungläubig fragte sie: »Was ist er? Fünfundsechzig Jahre alt? Das muss ein Irrtum sein. Sicher eine Verwechslung.«
»Ich werde doch wissen, wie alt mein Chef ist, auch wenn man ihn nur selten zu sehen kriegt. Er vergräbt sich nämlich seit Jahren in seinem Schneehaus. Von dort dringt kaum etwas heraus, weil er nur einen einzigen Diener hat, und der scheint unter eiserner Schweigepflicht zu stehen.«
»Sie machen mir Angst, Mr Baylor«, sagte Emily. Plötzlich zog sie Islas Brief aus der Tasche. »Hier habe ich einen Brief von meiner Freundin bekommen, in dem sie mir schreibt, dass sie in der nächsten Woche Lord Roseberry heiratet. Solch einen dummen Spaß würde sich meine Freundin niemals mit mir erlauben. Ich bin zur Hochzeit gekommen. Gibt es denn nur diesen einzigen Lord Roseberry? Ich kenne seinen Vornamen nicht.«
John Baylor sah, dass er Emily verängstigt hatte. »Es gibt schon noch einen anderen Lord Roseberry. Er heißt Aymon, während jener, den ich meine, Lenox heißt. Aber dieser junge Lord Aymon Roseberry lebt in London und kommt nie ins Schneehaus. Er ist mit seinem Onkel verfeindet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Lord Aymon im Schneehaus heiraten würde. Aber nun habe ich Sie ganz durcheinandergebracht. Das tut mir sehr leid.« John Baylor zuckte die Schultern. »Was weiß man schon von den Familienangelegenheiten anderer Leute? Eben das, was man so hört. Wie alt ist denn Ihre Freundin?«
»Dreiundzwanzig Jahre«, antwortete Emily.
»Das wäre wirklich etwas zu jung für einen Fünfundsechzigjährigen. Aber nun wollen wir einmal probieren, ob Ihr Wagen wieder anspringt.« John Baylor versuchte zu starten.
»Er läuft wieder«, rief Emily erfreut. »Vielen herzlichen Dank. Wie soll ich das nur gutmachen?«
John Baylor wischte sich die verschmutzten Hände an einem Lappen ab, den er aus der Seitentasche seines Motorrades geholt hatte. »Indem Sie mal etwas von sich hören lassen, Miss Wilkens. Ich würde zu gern wissen, was Sie im Schneehaus angetroffen haben. Wenn Sie in Bulcote nach mir fragen, kann Ihnen jeder zeigen, wo ich wohne. Ich lebe mit meiner Mutter in einem kleinen Haus.« Er zögerte kurz, ehe er weitersprach. »Wenn Sie irgendwie Hilfe brauchen sollten, lassen Sie es mich wissen. Es kann nämlich Schlimmeres passieren, als dass ein Wagen streikt. Aber jetzt will ich Ihnen nicht schon wieder Angst einjagen. Fahren Sie diesen Weg immer weiter. Er führt genau auf das Schneehaus zu. Wenn Sie dort Einlass finden, werden Sie seit vielen Jahren der erste Mensch sein, dem das glückt. Sollten Sie umkehren müssen, dann quartieren Sie sich im ›Drive-Inn‹ ein. Ich werde am Abend dort vorbeikommen, um zu sehen, ob ich Sie antreffe. Sind Sie damit einverstanden?«
Wie unter einem Zwang sagte Emily: »Ja. Danke, dass Sie so fürsorglich sind.«
»Sie gefallen mir sehr gut.« Das sagte John Baylor aus so ehrlicher Überzeugung, dass Emily nicht böse sein konnte. Es gefiel ihr sogar.
Deshalb sagte sie nun wieder lachend: »Sie mir auch, Mr Baylor.«
»Vielleicht war eine geheime Kraft dahinter, dass Ihr Wagen gerade hier sein Lebenslicht auspusten wollte«, meinte der junge Mann. »Schauen Sie mich nicht so verwundert an. Auch ein Mann von zweiunddreißig Jahren darf an so mysteriöse Dinge glauben, wie sie geschehen müssen, damit sich gerade zwei bestimmte Menschen kennenlernen. Ich habe mich jedenfalls sehr gefreut, Ihnen begegnet zu sein. Und nun Glück auf, Miss Emily. So heißt das bei uns im Kohlenrevier.«
Emily setzte sich in ihren Wagen.
So eilig sie es vorher gehabt hatte, ins Schneehaus zu kommen, jetzt wäre sie gern noch eine Weile stehen geblieben. Und das nicht nur, weil ihr vor dem Besuch etwas bange geworden war. Sie hätte sich gern noch mit diesem jungen Ingenieur unterhalten.
Stattdessen winkte sie ihm nach, als er sich auf sein Motorrad setzte und davonfuhr.
*
Es dauerte nicht lange, bis Emily zwischen vielen Bäumen ein Haus entdeckte. Aber je näher sie ihm kam, umso langsamer fuhr sie. Sie konnte kaum auf den Weg achten, weil ihre Blicke immer wieder von dem Haus angezogen wurden.
Es war schneeweiß gestrichen, aber es wirkte durch tiefschwarze Fensterrahmen und Türen eher wie ein Trauerhaus. Noch nie hatte sie einen solchen Anstrich gesehen.
Ein hohes, breites Tor versperrte ihr den Weg. Sie musste aussteigen. Neben der Pforte war eine Glocke angebracht.
Emily musste sich überwinden, um daraufzudrücken. Eine innere Stimme sagte ihr, dass sie lieber umkehren sollte, statt Einlass zu verlangen.
Aber da waren die Gedanken an ihre Freundin Isla, an ihren glücklichen Brief. Es konnten doch nur unselige Umstände sein, die dafür sorgten, dass plötzlich alles so düster aussah und John Baylor so merkwürdig von diesem Lord Roseberry gesprochen hatte. Bald würde sich alles aufklären, und sicher hatten sie und Isla noch heute guten Grund, über ihre Ängste zu lachen.
Das dachte Emily für kurze Zeit, aber dann erinnerte sie sich wieder daran, dass John Baylor gesagt hatte, es müsse ein Wunder geschehen, wenn sie im Schneehaus Einlass finden würde.
Nun meinte sie das auch, denn auf ihr Läuten rührte sich nichts. Die Auffahrt hinter dem Tor war nicht lang, man konnte die Fenster und die große schwarze Haustür gut beobachten. Nirgends war ein Mensch zu sehen.
Nun wurde Emily ärgerlich, sie wollte es erzwingen, in das Haus zu kommen. Deshalb drückte sie ununterbrochen auf den Klingelknopf.
So verging geraume Zeit, in der sie das hörbare Läuten immer nervöser machte. Plötzlich zuckte ihr Finger zurück, und sie konnte einen leisen Aufschrei nicht unterdrücken.
Die Haustür war endlich geöffnet worden. Heraus kam ein kleiner alter Mann. Selbst auf diese Entfernung hin wirkte er lächerlich. Er trug eine schneeweiße Livree mit schwarzen Biesen. So etwas hatte Emily noch nicht gesehen. Einen jungen hübschen Pagen hätte sie sich in solch einer Kleidung vorstellen können, aber nicht diesen kleinen Mann, der jetzt langsam auf sie zukam. In seinem Gesicht konnte sie nur Falten sehen.
»Ich möchte zu Miss Isla Cameron«, rief ihm Emily entgegen. Sie musste zu dieser Frage all ihren Mut zusammennehmen. Das Zittern ihrer Knie spürte sie nicht, weil sie auf die Antwort zu gespannt war.
»Wer sind Sie?«, wurde sie mürrisch gefragt, statt dass sie etwas von Isla hörte oder der alte Mann ihr aufschloss.
»Ich bin Emily Wilkens aus London, die beste Freundin Islas. Sie hat mich eingeladen, sie hier zu besuchen und an ihrer Hochzeit teilzunehmen.«
Der Mann sah sie aus wasserhellen Augen abweisend an. »Ich weiß nicht, von wem Sie sprechen. Eine Isla Cameron ist hier nicht bekannt.«
»Aber das gibt es doch gar nicht. Wenn ich hier vor dem Schneehaus des Lord Roseberry stehe, müssen Sie auch Isla Cameron kennen. Wer sind Sie eigentlich?«
Der Mann machte auf einmal ein sehr würdevolles Gesicht. Emily glaubte schon, er werde sich verneigen, als er sagte: »Ich bin Crispin, seiner Lordschaft Diener.«
»Wenigstens seine Lordschaft gibt es hier.« Um nicht noch aufgeregter zu werden, wollte sich Emily in einen Scherz flüchten. »Was meinen Sie, wie froh ich bin, wenigstens das feststellen zu können. Bitte, führen Sie mich zu Lord Roseberry.« Hartnäckig setzte sie hinzu: »Ich verlange das von Ihnen, wenn Sie sein Diener sind. Sie werden mir hoffentlich nicht zumuten, noch länger vor dem Tor stehen zu bleiben, wenn ich mir schon die weite Fahrt von London hierher gemacht habe.«
Crispin, dieser ablehnende Diener, schien lange überlegen zu müssen, aber dann rasselte er doch mit einem großen Schlüsselbund und schloss die Pforte auf. Das tat er aber so umständlich, als habe er die Macht, die Tür zu einem Himmelreich aufzuschließen.
Ohne noch ein Wort zu sagen, ging er voraus. Er drehte sich auch nicht ein einziges Mal um. Das Haus betrat er auch zuerst. Als Emily die Tür hinter sich offen stehen ließ, sah er sie vorwurfsvoll an. Schnell holte sie das Versäumte nach.
Dann zeigte der Diener in der hohen düsteren Halle auf eine Sesselgruppe und ging danach die breite Treppe hinauf.
Emily hatte keine Ruhe, sich hinzusetzen. Verschüchtert sah sie sich um. So weiß das Haus und die Livree des Dieners waren, hier drinnen kam es ihr vor, als sei alles nur schwarz.
Sie musste längere Zeit warten, bis von oben jemand kam. Es war wieder der Diener. »Seine Lordschaft erwartet Sie im Grünen Salon. Bitte, folgen Sie mir.« Er kehrte auf halber Treppe wieder um.
Es gibt einen Grünen Salon, dachte Emily erlöst. Gott sei Dank! Demnach ist hier doch nicht alles nur in weiß und schwarz gehalten.
Auf der Treppe lag ein dicker Teppich, aber er sah aus, als habe er seit Jahren keine Bekanntschaft mit einem Staubsauger oder einer Bürste mehr gemacht. Sie meinte, dass bei jedem ihrer Schritte gleich Staub aufwirbeln werde.
So kam es ihr auch vor, als sie im ersten Stock einen breiten Flur entlangging. Sie musste an vielen Türen vorbei, ehe Crispin eine öffnete.
Er ließ sie eintreten, ging auf den Flur zurück und zog die Tür hinter ihr zu.