Geblendet in Gaza - Aldous Huxley - E-Book

Geblendet in Gaza E-Book

Aldous Huxley

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Beschreibung

Anthoney Beavis lässt das Leben an sich abprallen. Er wird von Ereignissen seiner Vergangenheit beherrscht, dem Tod seines besten Freundes Brian und der Liebesaffäre mit der manipulativen Mary Amberley. Erst als er erkennt, dass die Distanz, die er zur Welt verspürt, das Resultat seines moralischen Kleinmuts ist, kann er sein Leben ändern. Die von inneren und äußeren Spannungen geladene Geschichte des Anthony Beavis, weitet sich zur Darstellung eines Generationenschicksals. Es ist die Generation zwischen den Kriegen, die die Erschütterung durch die Krisen dieses Jahrhunderts am stärksten an sich erfahren musste.

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Neuauflage einer früheren Ausgabe

 

Eyeless in Gaza at the Mill with slaves

Milton, Samson Agonistes

 

Übersetzung aus dem Englischen von Herberth E. Herlitschka

 

ISBN 978-3-492-97660-2

April 2017

© Piper Verlag GmbH, München 2017

© Mrs. Laura Huxley 1936

Die Originalausgabe erschien 1936 unter dem Titel »Eyeless in Gaza« bei Chatto & Windus, London

© der deutschsprachigen Ausgabe Piper Verlag GmbH, München 1953, 1987

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®; München

Datenkonvertierung: abavo, Buchloe

 

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ERSTES KAPITEL

30. August 1933

 

Die Momentaufnahmen waren fast so verblaßt wie Erinnerungen. Diese junge Frau da, die um die Jahrhundertwende in einem Garten gestanden hatte, sah aus wie ein Geist beim ersten Hahnenschrei. Seine Mutter, das erkannte Anthony Beavis. Ein Jahr oder zwei, vielleicht nur einen Monat oder zwei, bevor sie starb. Aber die Mode, dachte er, während er das braune Phantom besah, die Mode ist eine formfälschende Kunst wie das Bäumestutzen. Diese schwanenhaften Lenden! Diese lange schräge Kaskade des Busens – scheinbar ohne jede Beziehung zu dem nackten Körper darunter! Und diese Masse von Haar – wie eine ornamentale Mißbildung auf dem Schädel! Wunderlich häßlich und abstoßend erschien einem das Ganze im Jahre 1933. Und doch konnte er, wenn er die Augen schloß (und das vermochte er nicht zu unterlassen), seine Mutter schmachtend schön auf ihrer Chaiselongue liegen sehen; oder sich gelenkig beim Tennisspiel bewegen; oder wie ein Vogel über das Eis eines längst vergangenen Winters dahingleiten.

Es war genau so mit diesen Aufnahmen von Mary Amberley, die zehn Jahre später gemacht worden waren. Der Rock war noch ebensolang, und innerhalb der nun engeren Glocke von Draperie bewegten sich die Frauen noch immer füßelos wie auf Rollen fort. Die Brüste allerdings waren ein wenig hochgeschoben, die überrundlichen Posteriora eingezogen. Im Ganzen aber war die Form des bekleideten Körpers noch immer befremdend unwahrscheinlich. Eine Krabbe in einer Schale aus Fischbein. Und dieser riesige, mit Straußfedern geschmückte Hut von 1911 war einfach ein kontinentales Begräbnis erster Klasse. Wie konnte irgendein Mann, wenn er bei Sinnen war, von einer so völlig antiaphrodisiakalischen Erscheinung angezogen worden sein? Und doch erinnerte er sich ihrer, ungeachtet dieser Photographien, als gradezu der Verkörperung des Begehrenswerten. Beim Anblick dieser befiederten Krabbe auf Rollen hatte damals sein Herz schneller geschlagen, sein Atem gestockt.

Zwanzig Jahre, dreißig Jahre nachher enthüllten diese Bilder nur Fernes und Unvertrautes. Aber das Unvertraute ist (betrüblicher Automatismus!) immer das Absurde. Wessen er sich hingegen erinnerte, das war die Gemütsbewegung, die er empfunden hatte, als das Unvertraute noch das Vertraute war, als das Absurde, für gegeben genommen, noch nichts Absurdes hatte. Die Dramen der Erinnerung waren immer Hamlet in moderner Kleidung.

Wie schön seine Mutter gewesen war – schön unter den Schneckenwülsten von Haar und trotz den vorspringenden Posteriora, der langen Schräge des Busens. Und Mary – wie toll begehrenswert sogar in einem Schildkrötenpanzer, sogar unter funebren Straußfedern! Und er selbst – in seinem rehbraunen Überröckchen und seiner roten Schottenmütze; wie der kleine Lord Fauntleroy in grasgrünem Velvetin mit weißen Krausen; auf der Schule in seiner Norfolkjacke und den Knickerbockers, die unterhalb der Knie als zwei enge milchkaffeefarbene Tuchmuffen endeten; sonntags mit gestärktem Hemdkragen und Melonenhut, seiner rot und schwarzen Schulmütze an andern Tagen – auch er, in seiner Erinnerung, immer in moderner Kleidung, nie die absurde kleine Scherzfigur, die diese Momentaufnahmen enthüllten. Nicht schlechter daran, was seine innern Gefühle betraf, als die kleinen Jungen dreißig Jahre später in ihren Jerseys und Shorts. Ein Beweis, so überlegte Anthony, und, wie er gewahr wurde, ganz unpersönlich, während er das Bildnis seiner selbst in Eton mit Zylinderhut und Schwalbenschwanz betrachtete, ein Beweis, daß Fortschritt nur verzeichnet, niemals erlebt werden konnte. Er langte nach seinem Merkbuch, öffnete es und schrieb: »Fortschritt wird vielleicht von Historikern wahrgenommen; er kann nie von denen empfunden werden, die wirklich in diesen vermeintlichen Vorwärtsgang verwickelt sind. Die Jungen werden in die fortschreitenden Umstände hineingeboren, die Alten nehmen sie binnen weniger Monate oder Jahre für gegeben. Fortschritte werden nicht als Fortschritte empfunden. Es gibt da keine Dankbarkeit – nur erbitterte Gereiztheit, wenn aus irgendeinem Grund die neuerfundenen Bequemlichkeiten des Komforts versagen. Die Menschen verbringen ihre Zeit nicht damit, Gott für Automobile zu danken; sie fluchen bloß, wenn der Vergaser verstopft ist.«

Er schloß das Merkbuch und kehrte zu dem Zylinderhut von 1907 zurück.

 

Ein Geräusch von Schritten ließ ihn aufblicken. Helen Ledwidge näherte sich mit ihrem ausgreifenden, federnden Gang über die Terrasse. Unter dem breitkrempigen Hut leuchtete ihr Gesicht im Widerschein ihres feuerroten Strandpyjamas. Als wäre sie in der Hölle. Und tatsächlich, so dachte er weiter, war sie da. Der Geist ist sein eigener Ort; sie trug ihre Hölle mit sich umher. Die Hölle ihrer grotesken Ehe. Vielleicht auch andre Höllen; aber er hatte sich stets davon zurückgehalten, allzu genau nach deren Art zu forschen, hatte stets so getan, als bemerkte er es nicht, wenn sie selbst sich erbötig machte, seine Führerin durch deren labyrinthische Wirrsal zu sein. Die zu erkunden würde ihn in der Himmel mochte wissen was für einem Gefühlssumpf, was für einem Verantwortungsbewußtsein landen lassen. Und er hatte keine Zeit, keine Energie für Gemütsbewegungen und Verantwortlichkeiten übrig. Seine Arbeit ging vor. Alle Neugier unterdrückend, spielte er hartnäckig die Rolle weiter, die er sich längst zugeteilt hatte, – die Rolle des abseitsstehenden Philosophen, des vielbeschäftigten, ganz in Anspruch genommenen Wissenschaftlers, welcher Dinge einfach nicht sieht, die für jeden andern offenkundig sind. Er benahm sich, als könnte er in ihrem Gesicht nichts als die äußern Schönheiten der Form und des Gewebes sehn. Wogegen selbstverständlich Fleisch nie ganz opak ist; die Seele scheint durch die Wände ihres Gefäßes. Diese klaren grauen Augen Helens, dieser Mund mit seiner zart aufgeworfenen Oberlippe waren hart und fast häßlich von einer grollenden Traurigkeit.

Die Höllenflammen erloschen, als sie aus dem Sonnenschein in den Schatten des Hauses trat; aber die jähe Blässe des Gesichts verstärkte nur die verbitterte Schwermut ihrer Miene. Anthony sah sie an, stand aber nicht auf und rief ihr auch keinen Gruß zu. Es galt ein Übereinkommen zwischen ihnen, daß nie ein Getue gemacht werden sollte; nicht einmal das Getue des Gutenmorgensagens. Nicht das geringste Getue. Als Helen durch die offene Glastür das Zimmer betrat, wandte er sich wieder dem Studium seiner Photographien zu.

»Nun, hier bin ich«, sagte sie ohne zu lächeln. Sie riß den Hut vom Kopf und schüttelte mit einer wunderschönen ungeduldigen Bewegung die Locken ihres rötlichbraunen Haars aus der Stirn. »Scheußlich heiß!« Sie warf den Hut auf das Sofa und kam durchs Zimmer zum Schreibtisch, an dem Anthony saß. »Nicht bei der Arbeit?« fragte sie überrascht. Es geschah so selten, daß man ihn anders als in Bücher und Schriften vertieft fand.

Er schüttelte den Kopf. »Keine Soziologie für heute.«

»Was siehst du dir da an?« Neben seinem Stuhl stehend, beugte sie sich über die verstreuten Photos.

»Meine alten Leichen.« Er reichte ihr das Gespenst des toten Etonschülers.

Nach einem Augenblick schweigenden Betrachtens sagte sie: »Du hast hübsch ausgesehn damals.«

»Merci, mon vieux!« Er gab ihr einen ironisch herzlichen Klaps hinten auf den Schenkel. »Im Pensionat nannten sie mich Benger.« Zwischen seine Fingerspitzen und die gerundete Elastizität ihres Fleisches legte die Seide eine trockene, gleitende Glätte, die sich seltsam unangenehm anfühlte.

»Abkürzung für Bengers Kindermehl. Weil ich so babyhaft aussah.«

»Süß!« sagte sie, ohne die Unterbrechung zu beachten. »Du hast wirklich süß ausgesehn damals. Rührend.«

»Aber das bin ich noch immer«, verwahrte sich Anthony, zu ihr emporlächelnd.

Sie sah ihn einen Augenblick schweigend an. Unterhalb des dichten Haars war seine Stirn wunderschön glatt und heiter wie die Stirn eines nachdenklichen Kindes. Kindlich war auch auf eine mehr komische Art die kurze, ein klein wenig aufgestülpte Nase. Zwischen den verengerten Lidspalten waren die Augen von innerem Lachen belebt, und auch um die Mundwinkel war ein Lächeln – ein leises, ironisches Lächeln, das auf gewisse Weise dem widersprach, was die Lippen durch ihre Form auszudrücken schienen. Es waren volle, fein geschnittene Lippen, sinnliche und dabei ernste, traurige, fast zuckend empfindliche Lippen, als wären sie nackt in ihrer grübelnden Sinnlichkeit, unfähig, sich zu verteidigen, und durch das kleine, unaggressive Kinn darunter ihrer eigenen Hilflosigkeit ausgeliefert.

»Das Schlimmste daran ist«, sagte Helen endlich, »daß du recht hast. Du bist süß, du bist rührend. Gott weiß warum! Denn du solltest es nicht sein. Es ist alles ein Schwindel in Wirklichkeit, ein Trick, damit die Leute dich unter falschen Vorspiegelungen gernhaben.«

»Ach geh!« widersprach er.

»Du bringst sie dahin, dir etwas für nichts zu geben.«

»Aber wenigstens verhehle ich nie, daß es nichts ist. Ich gebe nie vor, es sei die große Leidenschaft.« Er rollte das R und sprach das Sch grotesk zischend aus. »Nicht einmal eine Wahlverwandtschaft«, fügte er hinzu, ins Deutsche verfallend, um diese ganze romantische Angelegenheit von Affinitäten und heftigen Gefühlen besonders lächerlich klingen zu lassen. »Einfach ein bißchen Spaß.«

»Einfach ein bißchen Spaß«, echote Helen ironisch und dachte dabei an die Anfangszeit der Affäre mit ihm, als sie sozusagen auf der Schwelle des Verliebtseins gestanden hatte – auf der Schwelle wartend, hineingerufen zu werden. Aber wie fest (bei all seiner Schweigsamkeit und gewollten Sanftheit), wie endgültig und entschieden er die Tür vor ihr geschlossen hatte! Er wollte nicht geliebt werden. Einen Augenblick lang war sie nahe daran gewesen, sich aufzulehnen; dann hatte sie, ganz im Geist dieser verbitterten und sarkastischen Resignation, mit der der Welt gegenüberzutreten sie gelernt hatte, seine Bedingungen angenommen. Die waren desto annehmbarer, weil keine bessere Alternative in Sicht war; weil er schließlich ein bemerkenswerter Mann war und sie ihn ja doch sehr gernhatte, und auch weil er ihr zumindest körperliche Befriedigung zu geben wußte. »Einfach ein bißchen Spaß«, wiederholte sie und stieß ein kleines, schnaubendes Lachen aus.

Anthony warf ihr einen Blick zu und fragte sich unbehaglich, ob sie beabsichtigte, die stillschweigend zwischen ihnen geschlossene Vereinbarung zu brechen, und auf irgendein verpöntes Thema anspielte. Aber seine Befürchtungen waren grundlos.

»Ja, ich gebe es zu«, fuhr sie nach einem kurzen Schweigen fort. »Du bist gewiß ehrlich. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß du immer etwas für nichts bekommst. Nenne es unabsichtlichen Schwindel, wenn du willst! Dein Gesicht ist dein Glückbringer, vermutlich. An ihren Früchten sollt ihr sie nicht erkennen, in deinem Fall.« Sie beugte sich abermals über die Photographien. »Wer ist das?«

Er zögerte einen Augenblick, bevor er antwortete; dann sagte er mit einem Lächeln, fühlte sich dabei aber recht unbehaglich: »Eine der nicht-großen Leidenschaften. Sie hieß Gladys.«

»Wie denn sonst!« Helen rümpfte verachtungsvoll die Nase. »Warum hast du sie abgebaut?«

»Hab’ ich gar nicht. Sie zog einen andern vor. Nicht, daß ich mir viel daraus machte«, fügte er hinzu, aber sie hatte ihn schon unterbrochen.

»Vielleicht hat der andre manchmal mit ihr gesprochen, wenn sie miteinander im Bett lagen.«

Anthony errötete. »Was willst du damit sagen?«

»Manche Frauen haben es seltsamerweise gern, wenn man mit ihnen spricht in den Pausen. Und da du es nicht tatst … du tust es ja nie …« Sie warf Gladys beiseite und griff nach der Frau in der Kleidung von 1900. »Ist das deine Mutter?«

Anthony nickte. »Und das ist deine«, sagte er und schob ihr das Bild Mary Amberleys in ihren funebren Straußfedern hin. Dann fügte er in einem Ton von Abscheu hinzu: »Diese ganze Last des Erlebten, die man mit sich herumschleppt! Es sollte irgendeine Möglichkeit geben, seine überflüssigen Erinnerungen loszuwerden. Wie ich diesen Proust hasse! Wirklich, ich verabscheue ihn!« Und mit einer reichlich komischen Beredsamkeit begann er das Bild dieses asthmatischen Suchers verlorener Zeit heraufzurufen, wie er da hockte – greulich bleich und schwammig, mit fast weiblicher, aber lang und schwarz behaarter Brust, – immerzu in dem lauwarmen Bad seiner erinnerten Vergangenheit hockte und alle die schal gewordenen Seifenschäume zahlloser früherer Waschungen um ihn herumschwammen, der ganze angesammelte Schmutz von Jahren krustig an den Wänden der Wanne lag oder als dunkle Emulsion im Wasser schwebte. Und so sitze er da, ein bleicher, abstoßender Kränkelnder, schöpfe Schwämmevoll seiner eignen dicken Suppe und drücke sie über sein Gesicht aus, schöpfe Tassenvoll davon und lasse die graue, grusichte Flüssigkeit feinschmeckerisch im Mund umherrinnen, mit ihr gurgelnd und sich die Nase spülend wie ein frommer Hindu im Ganges …

»Du redest von ihm«, sagte Helen, »als wäre er dein persönlicher Feind.«

Anthony lachte nur.

In der folgenden Stille ergriff Helen die verblaßte Photographie ihrer Mutter und begann sie aufmerksam zu studieren wie eine geheimnisvolle Hieroglyphe, die, entsprechend gedeutet, einen Schlüssel bieten, ein Geheimnis enträtseln könnte.

Anthony beobachtete sie eine kleine Weile; dann raffte er sich zu Tätigkeit auf, griff in den Haufen Photographien und zog seinen Onkel James im Tennisdress von 1906 hervor. Nun schon gestorben – an Krebs, der arme Kerl, und mit allen Tröstungen der katholischen Religion versehen. Er ließ das Bildchen fallen und ergriff ein andres. Es zeigte eine Touristengruppe vor schwach erkennbaren Gletscherbergen: seinen Vater, seine Stiefmutter, seine beiden Halbschwestern. »Grindelwald, 1912«, stand in Mr. Beavis’ säuberlicher Schrift auf der Rückseite. Alle vier, so gewahrte er, trugen Alpenstöcke.

»Und ich wollte«, sagte er, als er das Bild hinlegte, »ich wollte nur, meine Tage wären durch unnatürliche Pietätlosigkeit voneinander geschieden.«

Helen blickte von ihrer unenträtselbaren Hieroglyphe auf. »Warum verbringst du dann deine Zeit damit, alte Photographien zu betrachten?«

»Ich habe in meinem Schrank Ordnung gemacht«, erklärte er. »Dabei kamen sie zum Vorschein. Wie Tutankhamon. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehn, sie mir anzusehen. Übrigens ist heute mein Geburtstag«, fügte er hinzu.

»Dein Geburtstag?«

»Zweiundvierzig, auf den Tag.« Anthony schüttelte den Kopf. »Wirklich niederdrückend! Und da man immer gern seine Verdüsterung noch verdüstert …« Er griff eine Handvoll der Photographien auf und ließ sie wieder fallen. »Die Leichname stellten sich sehr gelegen ein. Man entdeckt da die Hand der Vorsehung. Den Huf des Zufalls, wenn du das vorziehst.«

»Du hast sie sehr gerngehabt, nicht wahr?« fragte Helen nach einem abermaligen Schweigen und hielt ihm das geisterhafte Abbild ihrer Mutter hin.

Er nickte, und um das Gespräch abzulenken erklärte er: »Sie zivilisierte mich. Ich war ein Halbwilder, als sie mich in die Lehre nahm.« Er wollte seine Gefühle für Mary Amberly nicht besprechen – besonders nicht (obgleich dies zweifellos ein alberner Überrest von Barbarentum war) mit Helen. »Die Bürde der weißen Frau«, fügte er mit einem Lachen hinzu. Dann griff er wieder nach der Alpenstockgruppe. »Und dies ist eins der Dinge, von denen sie mich erlöste«, sagte er. »Dunkelste Schweiz. Ich kann ihr nie genug dankbar sein.«

»Schade, daß sie nicht sich selbst erlösen konnte«, sagte Helen, nachdem sie die Alpenstockträger betrachtet hatte.

»Wie geht’s ihr übrigens?«

Helen zuckte die Achseln. »Es ging ihr besser, als sie im Frühjahr aus der Heilanstalt kam. Aber es hat natürlich wieder angefangen. Dieselbe alte Geschichte. Morphium; und Whisky in den Zwischenzeiten. Ich sah sie in Paris, auf der Herreise. Es war entsetzlich!« Sie schauderte.

Mit ihrer ironischen Herzlichkeit schien die Hand, die noch immer ihren Schenkel tätschelte, ganz plötzlich sehr fehl am Ort zu sein. Er ließ sie sinken.

»Ich weiß nicht, was schlimmer ist«, setzte Helen nach einer Pause fort, »der Schmutz – du hast keine Ahnung von dem Zustand, in dem sie lebt, – oder die Bosheit, dieses entsetzliche Lügen!« Sie seufzte tief.

Mit einer Gebärde, die nichts Ironisches hatte, ergriff Anthony ihre Hand und drückte sie ihr. »Arme Helen!«

Sie stand ein paar Sekunden regungslos und ohne zu sprechen, von ihm abgewendet; dann schüttelte sie sich plötzlich wie aus dem Schlaf. Er fühlte ihre schlaffe Hand sich um die seine schließen; und als sie sich ihm zuwandte, war ihr Gesicht von einer tollkühnen und absichtlichen Lustigkeit belebt. »Im Gegenteil! Armer Anthony!« sagte sie und brachte tief aus der Kehle einen sonderbaren, unerwarteten kleinen Laut verschluckten Lachens hervor. »Von falschen Vorspiegelungen zu reden!«

Er wandte ein, daß sie ihr gegenüber echt seien; da beugte sie sich hinab und preßte mit einer Art zorniger Heftigkeit ihren Mund auf den seinen.

ZWEITES KAPITEL

4. April 1934

Aus A. B.’s Merkbuch

Fünf Worte fassen jede Biographie zusammen. Video meliora proboque; deteriora sequor. Gleich allen andern Menschen weiß ich, was ich tun sollte, aber tue weiter, was ich, wie ich weiß, nicht tun sollte. Diesen Nachmittag, zum Beispiel, ging ich den armen Beppo besuchen, den kläglich von der Grippe genesenden. Ich weiß, ich hätte bei ihm sitzen und mir sein Gejammer über die Undankbarkeit und Grausamkeit der Jugend anhören sollen, seine Angst vor dem herannahenden Greisenalter und der Einsamkeit, seinen entsetzlichen Verdacht, daß die Leute ihn langweilig und nicht mehr à la page zu finden beginnen. Die Bolinskys hatten eine Gesellschaft gegeben, ohne ihn einzuladen, Hagworm hatte ihn seit November nicht mehr über ein Wochenende gebeten … Ich weiß, ich hätte ihm mitfühlend zuhören, guten Rat erteilen, ihn beschwören sollen, sich nicht Unvermeidlichkeiten und Nichtigkeiten halber elend zu machen. Der gute Rat wäre zweifellos nicht angenommen worden – wie gewöhnlich; aber man kann nie wissen – und daher soll man es nie unterlassen, ihn zu geben. Statt dessen beschwichtigte ich mein Gewissen im vorhinein, indem ich Beppo ein Pfund teurer Trauben mitbrachte und ihm etwas von einem Komitee vorlog, zu dem ich fast sogleich wegeilen müsse. Die Wahrheit ist, daß ich mich einer Wiederholung der selbstbedauernden Ergüsse des armen B. einfach nicht auszusetzen vermochte. Ich rechtfertigte mein Benehmen ebenso durch Obst im Wert von fünf Schilling wie durch rechtliche Gedanken: mit fünfzig müßte der Mann sich doch etwas Besseres wissen, als erotischen Abenteuern und Einladungen zum Dinner und dem Kennenlernen der Leute, die man kennen muß, Wichtigkeit beizumessen; er sollte kein solcher Esel sein; daher (untadelige Logik) obliege es mir nicht, zu tun, was ich, wie ich wußte, tun sollte. Und so eilte ich schon nach einer knappen Viertelstunde von ihm weg – und überließ den armen Kerl der Einsamkeit und seinem schwärenden Selbstbedauern. Will morgen auf mindestens zwei Stunden wieder zu ihm gehn.

Nein, man kann den Ausdruck nicht gebrauchen und auch nicht in Begriffen, die er impliziert, denken. Aber das heißt natürlich nicht, daß beharrliche Neigungen, sich schlecht zu betragen, nicht existieren, oder daß man nicht die Aufgabe habe, sie objektiv zu untersuchen und zu trachten, hinsichtlich ihrer etwas zu unternehmen. Dabei fällt mir die Bemerkung des alten Miller ein, als wir einige seiner indianischen Patienten in den Bergen besuchen ritten: »In Wirklichkeit und von Natur ist jeder Mensch eine Einheit; aber man hat künstlich die Einheit in eine Dreiheit umgewandelt: einen intelligenten Menschen und zwei Idioten – das habt ihr aus euch gemacht! Ein großartiger Manipulator von Ideen, verbunden mit einer Person, die, soweit es um Selbsterkenntnis und Fühlen geht, einfach ein Trottel ist; und dieses Paar vereint mit einem schwachsinnigen Körper, einem Körper, der hoffnungslos unbewußt ist alles dessen, was er tut und fühlt, der keine Fertigkeiten besitzt, der nicht weiß, wie er sich selbst oder irgend etwas andres gebrauchen soll. Zwei Schwachsinnige und ein Intellektueller. Aber der Mensch ist eine Demokratie, in der die Majorität regiert. Man muß da etwas unternehmen hinsichtlich dieser Majorität.« Dieses Merkbuch ein erster Schritt dazu. Selbsterkenntnis eine wesentliche Vorbedingung der Selbständerung. (Reine Wissenschaft und dann angewandte.) Meine Gewohnheitssünde, die ist Gleichgültigkeit. Ich kann mich nicht abgeben mit Leuten. Oder vielmehr: ich will nicht. Denn ich vermeide sorgfältig alle Gelegenheiten, belästigt zu werden. Ein notwendiger Teil der Behandlung besteht darin, soviele lästige Gelegenheiten als man kann willkommen zu heißen, besondere Anstrengungen zu machen, sie zu schaffen. Gleichgültigkeit ist eine Form von Trägheit. Denn man kann hart arbeiten, wie ich das immer getan habe, und doch in Trägheit schwelgen; fleißig in seinem Beruf sein, aber skandalös faul in allem, was nicht zum Beruf gehört. Denn selbstverständlich macht einem der Beruf Spaß. Wogegen der Nichtberuf – in meinem Fall: persönliche Beziehungen – unangenehm und mühsam ist. Desto mühsamer, je mehr sich die Gewohnheit, persönliche Beziehungen zu meiden, im Lauf der Zeit einfleischt. Gleichgültigkeit ist eine Form von Trägheit, und Trägheit wieder ist eins der Symptome der Lieblosigkeit. Man ist nicht faul, wo es um etwas geht, das man liebt. Das Problem ist: wie zu lieben? (Abermals ist das Wort verdächtig – fettig davon, daß Generationen von Leuten wie Stiggins aus den Pickwickiern es befingert haben. Es sollte ein Verfahren geben zum Chemischreinigen und Desinfizieren von Wörtern. Liebe, Reinheit, Güte, Geist – ein Haufen Schmutzwäsche, der auf die Wäscherin wartet.) Wie also – nein, nicht »lieben«, da das ein ungewaschenes Taschentuch, sondern fühlen, sagen wir, – ein beharrliches, herzliches Interesse für Menschen fühlen? Wie die anthropologische Annäherung – so würde der alte Miller sagen – an sie bewerkstelligen? Nicht leicht zu beantworten.

5. April

 

Den ganzen Vormittag gearbeitet. Denn es wäre doch dumm, mein Material nicht in Form zu bringen. In eine neue Form, selbstverständlich. Meine ursprüngliche Konzeption war die eines Bouvard et Pécuchet von riesigem Umfang, auf geschichtlichen Tatsachen aufgebaut. Ein Bild der Vergeblichkeit, anscheinend objektiv, wissenschaftlich, aber verfaßt, so begreife ich nun, um meine eigne Lebensweise zu rechtfertigen. Wenn die Menschen sich immer entweder wie Halbtrottel oder Paviane benommen hätten, wenn sie sich nicht anders hätten benehmen können, dann wäre ich gerechtfertigt, lässig mit meinem Opernglas im Parkett zu sitzen. Wogegen, wenn sich da etwas tun ließe, wenn ihr Benehmen geändert werden könnte … Mittlerweile wird eine Beschreibung des Benehmens und ein Bericht über die Methoden, es zu ändern, wertvoll sein. Wenn auch nicht so wertvoll, es zu rechtfertigen, daß man sich aller andern Formen von Tätigkeit enthält.

Am Nachmittag bei Miller, wo ich einen Pfarrer antraf, der das Christentum ernstnimmt und eine Organisation von Pazifisten gegründet hat. Heißt Purchas. Mittleren Alters. Mit ein wenig dieses herzhaften-scherzhaften christlichen Gehabens. (Wie schwer, zuzugeben, daß ein Mann abgedroschene Phrasen gebrauchen und doch intelligent sein kann!) Aber von einer sehr anständigen Sorte. Mehr als anständig sogar. Recht eindrucksvoll.

Das Ziel ist, die Organisation dieses Purchas zu benützen und zu erweitern. Die Einheit eine kleine Gruppe wie die frühchristliche Agape oder die Kommunistenzelle. (Anzumerken, daß alle erfolgreichen Bewegungen aus Ruderachten oder Fußballelfen aufgebaut wurden.) Die Gruppen dieses Purchas schicken ihren Versammlungen christliche Andachten voraus. Empirisch ergibt sich, daß eine andachtsvolle Atmosphäre die Wirksamkeit erhöht, den Geist der Zusammenarbeit und Selbstaufopferung verstärkt. Aber Andacht nach christlichen Begriffen wird großenteils unannehmbar sein. Miller hält eine nichttheologische Praxis der Meditation für möglich. Die er natürlich mit einem Training, nach den Richtlinien von F. M. Alexander, im Gebrauch des Selbst verbinden möchte, beginnend mit Beherrschung des Körpers und durch sie (da Geist und Körper eins sind) Beherrschung der Impulse und Gefühle erreichend. Aber das sei praktisch nicht möglich. Die nötigen Lehrer gebe es nicht. »Wir müssen uns damit begnügen, von der geistigen Seite her zu tun, was wir können. Die physische wird uns natürlich im Stich lassen. Das Fleisch ist auf so viel mannigfaltigere Weise schwach, als wir vermuten.«

Ich willigte ein, Geld beizusteuern, Flugschriften vorzubereiten und zu verschiedenen Gruppen zu sprechen. Das letzte ist das Schwierigste, da ich mich immer geweigert habe, öffentlich zu reden. Als Purchas gegangen war, fragte ich Miller, ob ich Unterricht im Sprechen nehmen solle.

Antwort: »Wenn Sie Unterricht nehmen, bevor Sie gesund und Ihr Körper in allen Teilen und Organen koordiniert ist, werden Sie bloß noch eine Art und Weise lernen, von sich selbst schlechten Gebrauch zu machen. Werden Sie gesund, erreichen Sie Koordination, verwenden Sie sich selbst richtig, und Sie werden imstande sein, auf jede Weise zu sprechen, die Sie wollen. Die Schwierigkeiten, angefangen vom Lampenfieber bis zur Stimmentfaltung, werden nicht mehr vorhanden sein.«

Miller gab mir hierauf eine Lektion im Gebrauch des Selbst. Lernen, auf einem Sessel zu sitzen, von ihm aufzustehn, sich darauf zurückzulehnen und vorzuneigen. Machte mich aufmerksam, daß es anfangs ein wenig sinnlos scheinen könnte, daß aber das Interesse und Verständnis mit dem Erreichten wachsen würde. Und daß ich die Lösung des Problems video meliora proboque, deteriora sequor finden würde: eine Technik für die Umsetzung guter Absichten in Taten und dafür, sicher zu sein, das zu tun, was man, wie man weiß, tun soll.

Verbrachte den Abend mit Beppo. Nach dem Anhören eines ganzen Katalogs von Leiden und Nöten ihm nahegelegt, es gebe keine Kur, nur Verhütung. Vermeide die Ursache! Er reagierte darauf mit leidenschaftlichem Zorn: Ich raube seinem Leben den Zweck, verurteile ihn zum Selbstmord. Ich wies darauf hin, daß es da mehr als einen Zweck gebe. Er sagte, er würde lieber sterben als den seinen aufgeben; geriet dann in andere Stimmung und wünschte zu Gott, er könnte ihn aufgeben. Aber wofür? Ich schlug Pazifismus vor. Aber er sei bereits Pazifist, sei es immer gewesen. Ja, ich wisse das; aber ein passiver sei ein negativer Pazifist. Es gebe so etwas wie aktiven und positiven Pazifismus. Er hörte zu, sagte, er wolle es überdenken, meinte, es wäre vielleicht ein Ausweg.

DRITTES KAPITEL

30. August 1933

 

Von dem flachen Dach des Hauses wurde das Auge zuerst nach Westen gezogen, wo die Pinien sanft zum Meer abfielen – zu einer blauen Mittelmeerbucht, von knochenbleichen Felsen umfaßt und zwischen hohe Berge eingebettet, die auf den tieferen Hängen grün waren von Weinstöcken, grau von Ölbäumen, dann piniendunkel, dann erdrot und steinfahl oder von dürrem Heidekraut rosigbraun. Hinter einer Lücke in den näheren Bergen trat der lange gerade Kamm der Sainte-Baume metallisch klar, aber durch die Ferne gebläut hervor. Gegen Norden und Süden war der Garten von Pinien eingeschlossen; ostwärts aber stiegen die Weinberge und die Ölgärten in Terrassen von roter Erde zu einem Kamm an; und die letzten Bäume hoben sich manchmal dunkel und brütend, manchmal von flimmerndem Silber belebt, gegen den Himmel ab.

Es lagen Matratzen für Sonnenbäder auf dem Dach; und auf einer derselben lagen sie beide, die Köpfe im schmalen Schatten der südlichen Brüstung. Es war fast Mittag; das Sonnenlicht fiel steil aus dem fleckenlosen Blau; aber eine schwache Brise regte sich und erstarb und schwoll wieder zu Bewegung an. In diese stoßweise gemilderte Hitze eingehüllt, schien die Haut eine lebhaftere Empfindlichkeit zu erwerben, fast ein unabhängiges Bewußtsein, als tränke sie ein neues Leben aus der Sonne. Und dieses fremdartige, heftige, flammende Leben aus dem Weltraum schien die Haut zu durchschlagen, ins Fleisch darunter zu dringen, es zu verwandeln, bis der ganze Körper ein Ding aus fremdem Sonnenstoff war und die Seele selbst sich aus ihrer eignen Identität schmelzen und etwas andres werden fühlte, etwas von einer andern, einer andern als menschlichen Art.

Es gibt so wenige mögliche Gesichtsausdrücke, eine so spärliche Zahl, verglichen mit all den Gedanken und Gefühlen und Empfindungen, solch eine demütigende Armut an Reflexen, ja sogar an bewußt ausdrucksvollen Gesten! Noch immer klaren Geistes in seiner Selbstentfremdung, beobachtete Anthony die Symptome dieses Totenbetts, an dem auch er, als Mörder und Mitopfer, teilhatte. Ruhelos wandte sie den Kopf auf dem Kissen hin und her, als suchte sie, aber stets vergeblich, eine wenn auch noch so geringe Erleichterung, einen wenn auch nur augenblicklangen Aufschub von ihrem unerträglichen Leiden. Manchmal verschränkte sie mit der Bewegung eines Menschen, der verzweifelt betet, daß ein Kelch von ihm genommen werde, die Finger und hob die Hände an den Mund, biß in die krampfhaft gekrümmten Knöchel oder preßte das Handgelenk zwischen ihre geöffneten Zähne, als wollte sie ein Schluchzen ersticken. Das verzerrte Gesicht war eine Maske äußersten Kummers. Es war das Gesicht, so gewahrte er plötzlich, als er sich zu diesen gequälten Lippen niederbeugte, einer der heiligen Frauen Rogier van der Weydens am Fuß des Kreuzes.

Und dann, von einem Augenblick zum andern, Stille. Das Opfer rollte nicht mehr seinen gemarterten Kopf auf dem Kissen. Die beschwörenden Hände fielen schlaff herab. Der qualvolle Ausdruck von Schmerz wich einer übermenschlichen und verzückten Verklärtheit, der Mund wurde ernst wie der einer Heiligen. Was für eine selige Schau hatte sich hinter den geschlossenen Lidern dargeboten?

Sie lagen lange Zeit in einer goldenen Betäubung von Sonnenlicht und gestillter Begierde. Anthony regte sich als erster. Von der stummen, gedankenlosen Dankbarkeit und Zärtlichkeit seines befriedigten Körpers getrieben, streckte er eine liebkosende Hand aus. Die Haut, die er berührte, fühlte sich heiß an wie eine Frucht in der Sonne. Er stützte sich auf den Ellbogen und öffnete die Augen.

»Du siehst aus wie ein Gauguin«, sagte er nach einem Augenblick. Braun wie ein Gauguin und auch, so fiel ihm auf, sonderbar flach wie ein Gauguin; denn die Sonnenbräune unterdrückte diese perlmutterartigen Schimmer von Karmin und Blau und Grün, die dem ungebräunten, dem weißen Körper seine eigenartige Üppigkeit der Modellierung geben.

Der Klang seiner Stimme brach aufscheuchend in Helens warme, köstliche Trance von Bewußtlosigkeit ein. Sie zuckte beinahe schmerzvoll zusammen. Warum konnte er sie nicht in Ruhe lassen? Sie war so glücklich gewesen in der andern Welt ihres verklärten Körpers; und nun rief er sie zurück – zurück in diese Welt, zurück in ihre gewohnte Hölle von Leere und Dürre und Unzufriedenheit. Sie ließ seine Worte unbeantwortet, und die Augen noch fester vor der Drohung der Wirklichkeit verschließend, versuchte sie sich ihren Rückweg in das Paradies zu erzwingen, aus dem sie herausgezerrt worden war.

Braun und flach wie ein Gauguin … Aber den ersten Gauguin, den er je sah (und dabei, wie er sich erinnerte, vorgab, daß er ihm viel besser gefalle, als er ihm tatsächlich gefiel), hatte er mit Mary Amberley damals in Paris gesehn – während jener aufregenden und für ihn, den zwanzigjährigen jungen Menschen, der er damals war, außerordentlichen und apokalyptischen Zeit.

Er zog die Stirn in Falten; diese seine Vergangenheit wurde lästigl Doch als er sich, um ihr zu entfliehn, niederbeugte und Helens Schulter küssen wollte, fand er die von der Sonne erwärmte Haut imprägniert mit einem schwachen, aber durchdringenden Geruch, zugleich salzig und rauchig, einem Geruch, der ihn augenblicks in einen großen Kreidesteinbruch in der Flanke der Chilternhügel versetzte, wo er mit Brian Foxe eine unerklärlich vergnügliche Stunde damit verbracht hatte, zwei Feuersteine aneinanderzuschlagen und mit Genuß an der Stelle zu riechen, wo der Funke sein charakteristisches Brenzeln mariner Verbrennung hinterlassen hatte.

»W-wie R-rauch unter dem M-meer«, war Brians gestotterter Kommentar gewesen, als ihm die Feuersteine zu riechen gegeben wurden.

Sogar die scheinbar festesten Stücke gegenwärtiger Wirklichkeit waren voller Fallgruben. Was konnte unzweideutiger da sein, in der Gegenwart, als ein Frauenleib im Sonnenlicht? Und doch hatte der ihn getrogen. Der feste Boden dieser sinnlichen Unmittelbarkeit und seiner eignen körperlichen Zärtlichkeit hatte sich unter seinen Füßen geöffnet und ihn in eine andre Zeit und an einen andern Ort stürzen lassen. Auf nichts war Verlaß; diese Haut sogar hatte den Geruch von Rauch unter dem Meer, diese lebendige Haut, diese gegenwärtige Haut; aber es waren fast zwanzig Jahre seit Brians Tod.

Ein Steinbruch, eine Gemäldegalerie, eine braune Gestalt in der Sonne, hier nach Salz und Rauch riechend, und hier (wie Mary, so erinnerte er sich) wildenhaft nach Moschus. Irgendwo in seinem Geist mischte ein Schwachsinniger ein Spiel Momentaufnahmen und teilte sie aufs Geratewohl aus, mischte sie abermals und teilte sie in andrer Reihenfolge aus, wieder und wieder, endlos. Es gab keine Zeitordnung. Der Idiot erinnerte sich keines Unterschieds zwischen vorher und nachher. Der Steinbruch war so wirklich und lebhaft wie die Galerie. Daß zehn Jahre die Feuersteine von den Gauguins trennten, war nicht eine gegebene sondern eine nur bei einigem Nachdenken vom rechnenden Verstand entdeckbare Tatsache. Die fünfunddreißig Jahre seines bewußten Lebens gaben sich ihm unverzüglich als ein Chaos zu erkennen – als ein Päckchen Momentaufnahmen in den Händen eines Irren. Und wer entschied, welche aufzubewahren und welche wegzuwerfen waren? Ein angstvolles oder libidinöses Tier, so sagten die Freudianer. Aber die Freudianer waren Opfer der »rührenden Täuschung«, unverbesserliche Rationalisierer, immerzu auf der Suche nach zureichenden Gründen, nach begreiflichen Motiven. Furcht und Lust sind die am leichtesten zu begreifenden Motive von allen. Daher … Aber die Psychologie hat kein größeres Recht, anthropomorphistisch oder sogar ausschließlich zoomorphistisch zu sein, als irgend eine andre Wissenschaft. Nebst einer Vernunft und einem Tier war der Mensch auch eine Ansammlung von soundsovielen, den Gesetzen des Zufalls unterworfenen Teilchen. Manches wurde seiner Nützlichkeit wegen Gegenstand der Erinnerung, oder weil es die höheren Geistesfähigkeiten ansprach; manches wurde, von dem den Vorsitz führenden Tier, seines Gefühlsinhalts wegen im Gedächtnis bewahrt (oder absichtlich vergessen). Aber was war’s mit den unzähligen Erinnerungen ohne jeden besondern Gefühlsinhalt, ohne Nützlichkeit oder Schönheit oder vernünftige Bedeutung? Das Gedächtnis schien in diesen Fällen bloß Glückssache zu sein. Zur Zeit des Ereignisses waren gewisse Teilchen zufällig in einer günstigen Position. Klick! Das Ereignis sah sich erwischt, unauslöschlich festgehalten. Aus gar keinem vernünftigen Grund. Es wäre denn, fiel ihm nun recht beunruhigend ein, es wäre denn, der Grund läge nicht vor dem Ereignis sondern nach ihm, in dem, was die Zukunft gewesen war. Wie, wenn jene Bildergalerie zu dem einzigen und ausdrücklichen Zweck aufgenommen und in den Kellern seines Geistes aufbewahrt worden wäre, um in diesem gegenwärtigen Augenblick ins Bewußtsein heraufgebracht zu werden? Heute heraufgebracht, wo er zweiundvierzig und ausgeformt war, zweiundvierzig und gesichert, unveränderlich er selbst; heraufgebracht mitsamt jenen kritischen Jahren seiner Jünglingszeit, mitsamt der Frau, die seine Lehrmeisterin gewesen war, seine erste Mätresse und nun ein kaum noch menschliches Geschöpf, das dem Tod entgegenschwärte, allein, in einem schmutzigen Unterschlupf. Und wie, wenn jenes alberne kindliche Spiel mit den Feuersteinen einen Zweck gehabt hätte, einen tiefgründigen Zweck, nämlich einfach den, Erinnerung zu werden auf diesem glühend heißen Dach, jetzt, als seine Lippen mit Helens von der Sonne gewärmtem Fleisch in Berührung kamen? Damit er mitten in diesem Akt unbeteiligter und verantwortungsloser Sinnlichkeit gezwungen wäre, an Brian zu denken und an die Dinge, für die Brian gelebt hatte; ja, und für die er gestorben war – gestorben, daran erinnerte ihn plötzlich ein andres Erinnerungsbild, am Fuß eines genau solchen Felsabbruchs wie der, an dessen Fuß sie als Kinder in der Kreidegrube gespielt hatten. Ja, sogar Brians Selbstmord, das vergegenwärtigte er sich jetzt mit Entsetzen, sogar jenes arme Häuflein Körper auf den Felsen war geheimnisvoll in diese heiße Haut einbegriffen.

Eins, zwei, drei, vier – jede Bewegung seiner Hand zählend, begann er sie zu liebkosen. Die Geste war magisch, würde, genügend oft wiederholt, ihn über Vergangenheit und Zukunft, über Recht und Unrecht hinaus in die verschwiegene, die selbstgenügsame, die atomare Gegenwart versetzen. Teilchen von Denken, Begehren und Fühlen, die sich beliebig unter Teilchen von Zeit umherbewegten, in zufällige Berührung kamen und sich ebenso zufällig schieden. Ein Kasino, ein Irrenhaus, ein Zoo; aber auch, in einem Winkel, eine Bibliothek und jemand, der dachte. Jemand, der großenteils auf Gnade und Ungnade den Croupiers, den Irren und den Tieren ausgeliefert, jedoch noch immer ununterdrückbar und unermüdlich war. Noch ein paar Jahre, und die »Elemente der Soziologie« wären vollendet. Trotz allem; ja, trotz allem, dachte er mit einer Art herausfordernden Hochgefühls und zählte: »Zweiunddreißig, dreiunddreißig, vierunddreißig, fünfunddreißig …«

VIERTES KAPITEL

6. November 1902

 

Ein Paar kurzer Hörner und dazwischen ein Gekräusel gelbroter Haare; ein rosiges Maul, forschend zu einer winzigen Tasse und Untertasse gesenkt; Augen, die ein mehr als menschliches Erstaunen ausdrückten, »DER OCHS«, wurde in zwanzig Zentimeter großen Buchstaben verkündet, »DER OCHS IN DER TEETASSE«. Das sollte ein Grund sein, Fleischextrakt zu kaufen, – war ein Grund.

Ochs in Tasse. Die Worte und das platt komische Bild fleckten in diesem Sommer und Herbst die Londoner Umgebung wie ein Ausschlag. Eine von einem Dutzend häßlicher und schimpflicher Infektionskrankheiten. Der Zug, der Anthony Beavis nach Surrey hineintrug, rollte durch kilometerlange Ekzeme von Vulgarität. Pillen, Seifen, Hustenplätzchen und – noch greller entzündet und noch schorfiger als alle übrigen – Fleischextrakt, der eingedickte Ochse.

»Einunddreißig, zweiunddreißig«, murmelte der Junge und wünschte, er hätte zu zählen begonnen, als der Zug abfuhr. Zwischen dem Waterloo-Bahnhof und Clapham Junction mußten es schon Hunderte von Ochsen gewesen sein, Millionen.

Gegenüber, in seine Ecke zurückgelehnt, saß Anthonys Vater. Mit der Linken beschattete er die Augen. Unter dem braunen Hängeschnurrbart bewegten sich seine Lippen.

»Harr meiner dort«, sagte John Beavis zu der Person, die hinter seinen geschlossenen Lidern manchmal noch lebendig, manchmal das kalte, starre Objekt seiner allerjüngsten Erinnerungen war:

 

»Harr meiner dort, in jenem Tal;

Ich komm gewiß zu dir einmal.«

 

Es gab selbstverständlich keine Unsterblichkeit. Nach Darwin, nach den Medienschwestern Fox, nach John Beavis’ eignem Vater, dem Chirurgen, wie konnte es da eine geben? Jenseits jenes Tals war nichts. Aber dennoch, oh, dennoch, harr meiner dort, harr meiner!

»Dreiunddreißig.«

Anthony wandte sich von der vorübereilenden Landschaft ab und sah sich dieser die Augen verdeckenden Hand, diesen sich lautlos bewegenden Lippen gegenüber. Daß er überhaupt daran gedacht hatte, die Ochsen zu zählen, schien ihm auf einmal schändlich, schien ihm ein Verrat zu sein. Und Onkel James, auf dem andern Ende der Polsterbank mit den Times – und seinem unterm Lesen alle paar Sekunden in plötzlichem nervösem Krampf zuckenden Gesicht – er hätte wenigstens so anständig sein sollen, sie nicht jetzt zu lesen – jetzt, während sie unterwegs waren zu … Anthony weigerte sich, die Worte zu formen; Worte würden alles so klar machen, und er wollte es nicht zu klar wissen. Die Times zu lesen mochte schändlich sein; aber dieses andre war schrecklich, zu schrecklich, als daß man daran denken konnte. Und doch so schrecklich, daß man nicht anders konnte als daran zu denken.

Anthony blickte wieder aus dem Fenster, durch Tränen. Die grün-goldene Helle des Nachsommers schwamm in einem verdunkelnden Irisieren. Und plötzlich begannen die Räder des Zugs einen artikulierten Singsang. »Tot-a-tot-a-tot«, schrien sie, »tot-a-tot-a-tot …« Unaufhörlich. Die Tränen flossen über, waren einen Augenblick lang warm auf seiner Wange, dann eiskalt. Er zog sein Taschentuch hervor und wischte sie weg, wischte den Nebel aus seinen Augen. Im Sonnenschein leuchtend, glich die Welt vor ihm einem riesigen, kunstreichen Juwel. Die Ulmen waren zu blassem Gold verwelkt. Hoch über die Kornfelder aufragend und regungslos, schienen sie in dem kristallnen Licht des Vormittags nachzudenken, schienen sich zu erinnern, schienen hart am Rand der Auflösung zurückzublicken und in einer letzten Ekstase des Gedenkens den ganzen langdauernden Triumph des Frühlings und Sommers, in diesen strahlenden Augenblick der Herbstzeit zusammengefaßt, noch einmal zu leben.

»TOT-A-TOT«, gellten die Räder in einer plötzlichen Raserei, als der Zug über eine Brücke fuhr. »A-TOT-A-TOT!«

Anthony versuchte, nicht hinzuhören, – vergebens; dann versuchte er, die Räder etwas andres sagen zu lassen. Warum sollten sie nicht sagen: Ziehst die Kette du schnell, hält der Zug auf der Stell? Das sagten sie doch gewöhnlich. Sich mit einer großen Anstrengung darauf einstellend, zwang er sie, ihren Kehrreim zu ändern.

»Ziehst die Kette du schnell, hält der Zug auf der Stell, ziehst die Kette du a-tot-a-tot-a-tot …« Es half nichts.

Mr. Beavis nahm für ein paar Sekunden die Hand von den Augen und blickte zum Fenster hinaus. Wie bunt diese herbstlichen Bäume! Grausam bunt wären sie einem erschienen, beleidigend bunt, wenn ihre Regungslosigkeit nicht etwas Verzweifeltes gehabt hätte, eine gewisse gläserne Gebrechlichkeit, die – oh! Unheil anzog, die prophetisch das Kommen der Finsternis verkündete und die wie in Folterqual zwischen Sternen zuckenden schwarzen Äste, den nassen Schnee, Pfeilen gleich im heulenden Wind.

Onkel James wandte ein Blatt seiner Times um. Die Ritualisten und die Kensitisten lagen einander wiederum in den Haaren, so las er; und er war entzückt. Mochte ein Hund den andern beißen!MR. CHAMBERLAIN IN DER SCHULE DES UNIVERSITY COLLEGE.« Worauf war der alte Halunke diesmal aus gewesen? Hatte eine Gedenktafel für die im Krieg gefallenen ehemaligen Schüler enthüllt. »Mehr als hundert junge Männer gingen an die Front, und zwölf von ihnen brachten in Südafrika ihr Leben dar für ihr Land. (Applaus.)« Verblendete Idioten! dachte Onkel James, der immer leidenschaftlich für die Buren gewesen war.

Zwischen den wirklichen Kühen auf ihrer Weide die gemalten riesigen Hörner, das Dreieck gelbroten Gekräusels, die forschenden Nüstern, die Teetasse. Anthony verschloß die Augen vor dem Anblick.

»Nein, ich werd’ nicht!« sagte er sich mit der ganzen Entschlossenheit, die er vorher gegen die Räder angewendet hatte. Er weigerte sich, das Entsetzliche zu kennen; er weigerte sich, den Ochsen zu kennen. Aber was half es, sich zu weigern? Die Räder schrien noch immer drauflos, und wie konnte er die Tatsache unterdrücken, daß dieser Ochse der vierunddreißigste zur Rechten war, von Clapham Junction angefangen? Eine Zahl blieb immer eine Zahl, auch wenn man unterwegs war zum … Aber zu zählen war schändlich, Zählen war wie Onkel James’ Zeitunglesen. Zählen war ein Sichdrücken, war ein Verrat. Und doch war das andre, das andre, woran sie hätten denken sollen, wirklich gar zu entsetzlich. Irgendwie zu unnatürlich.

»Wie immer wir über die Ursachen, die Notwendigkeit, die Gerechtigkeit des Kriegs, der nun glücklicherweise zu Ende ist, gedacht haben mögen oder noch denken, ich glaube, wir müssen alle ein Gefühl tiefer Befriedigung empfinden, daß, als das Land seine Kinder zu den Waffen rief, die Mannheit der Nation aufsprang und …« Mit vor Gereiztheit zuckendem Gesicht legte Onkel James die Times beiseite und sah auf seine Uhr.

»Zwei und eine halbe Minute Verspätung«, sagte er ärgerlich.

»Wenn es doch hundert Jahre Verspätung wären!« dachte sein Bruder. »Oder zehn Jahre Verfrühung – nein, zwölf, dreizehn. Das erste Jahr unsrer Ehe.«

James Beavis blickte aus dem Fenster. »Und wir sind noch mindestens eine Meile vor Lollingdon«, setzte er hinzu.

Als wäre es eine offene Wunde, ein schmerzender Zahn, wanderten seine Finger wieder zu dem Chronometer in seiner Westentasche. Zeit um ihrer selbst willen. Immer die herrische Zeit, die kategorische Zeit – Zeit, auf seine Uhr zu sehn, um die Zeit zu sehn …

Die Räder sprachen immer langsamer und zuletzt ohne Worte. Die Bremsen kreischten.

»Lollingdon, Lollingdon!« rief der Stationsdiener.

Aber Onkel James war schon auf dem Bahnsteig. »Schnell!« rief er und schritt langbeinig neben dem noch rollenden Zug her. Seine Hand fuhr abermals zu dem mystischen Geschwür, das immerzu an seinem Gewissen nagte. »Schnell!«

Ein plötzlicher Groll regte sich im Gemüt seines Bruders. »Wozu will er denn, daß ich mich beeile?« Als ob sie in Gefahr wären, etwas zu versäumen – ein Vergnügen, eine allzu kurze Unterhaltung!

Anthony stieg aus und folgte seinem Vater. Sie gingen dem Ausgang zu, an einer Wand von Wörtern und Bildern entlang. EINE GUINEE DIE PACKUNG EIN SEGEN FÜR ALLE DIE PICKWICK MIT DER EULE VERTILGT MOTTEN KÜCHENSCHABEN UND BLÜTENWEISS DAS KIND BEIM NAMEN UND BRANSON’S KAMPIERKAFFEE DER OCHS IN … Und da waren plötzlich die Hörner, die ausdrucksvollen Augen, die Tasse – die fünfunddreißigste Tasse – »nein, ich werd’ nicht, ich werd’ nicht« – aber dennoch die fünfunddreißigste, die fünfunddreißigste von Clapham Junction an, auf der rechten Seite.

Der Einspänner roch nach Stroh und Leder. Nach Stroh und Leder und nach dem Jahr – achtundachtzig war’s doch? Ja, achtundachtzig; jene Weihnachten, als sie zu dem Ball bei den Champernownes gefahren waren – er und sie und ihre Mutter – bei solcher Kälte, mit der Schafpelzdecke über den Knien. Und wie zufällig (denn er hatte noch nie gewagt, die Bewegung absichtlich zu machen) hatte sein Handrücken den ihren gestreift; gestreift wie durch Zufall; hatte wie absichtslos dort geruht. Ihre Mutter hatte über die Schwierigkeit, Dienstboten zu bekommen, gesprochen – und wenn man sie bekomme, hätten sie keine Ahnung von etwas und seien faul. Maisie hatte ihre Hand nicht bewegt. Hieß das, daß sie nichts dagegen habe? Er wagte es; seine Finger schlossen sich um die ihren. Sie hätten keinen Respekt, setzte ihre Mutter fort, sie seien ganz … Er fühlte einen erwidernden Druck, und aufblickend erriet er in der Dunkelheit, daß sie ihm zulächelte.

»Wirklich wahr«, sagte ihre Mutter, »ich weiß nicht, wo das alles noch hinführen wird!« Und er hatte wie einen stummen Kommentar das verschmitzte Aufblitzen von Maisies Zähnen gesehn; und der Gegendruck der kleinen Hand war köstlich verschwörerisch gewesen, geheim und unerlaubt.

Gemächlich einen Huf vor den andern setzend, zog der alte Gaul sie auf Heckenstraßen langsam ins Innere des großen herbstlichen Juwels von Gold und Kristall; und blieb endlich ganz in dessen Mittelpunkt stehn. Im Sonnenlicht war der Kirchturm wie grauer Bernstein. Die Turmuhr, das bemerkte James Beavis mit Mißbilligung, ging nach. Sie traten unter das Kirchhoftor. Befremdlich und häßlich schwarz gingen vier Leute den Weg vor ihnen dahin. Zwei riesige Frauen (Anthony erschienen sie alle wie Riesinnen) ragten als große tintenschwarze Stoffkegel von den Steinplatten auf. Mit ihnen, durch die Zylinderhüte noch höher aussehend, ging ein Paar ungeheuer großer Männer.

»Die Champernownes«, sagte James Beavis; und die Silben des vertrauten Namens waren wie ein Schwert, noch ein Schwert, im Innersten seines Bruders. »Die Champernownes und – wart’ mal, wie heißt doch der junge Mensch, den ihre Tochter heiratete? Anstey ? Annerley ?« Er sah fragend John an; aber John blickte starr vor sich hin und schwieg.

»Amersham? Atherton?« James Beavis zog gereizt die Stirn in Falten. Ein Pedant, maß er Namen und Daten und Zahlen eine ungeheure Wichtigkeit bei; er war stolz auf seine Fähigkeit, sie korrekt wiederzugeben. Ein Versagen seines Gedächtnisses brachte ihn in Wut. »Atherton? Anderson?« Und was es noch aufreizender machte, war, daß der junge Mann so gut aussah, sich so gut hielt – nicht auf diese dumme, steife, militärische Art wie sein Schwiegervater, der General, sondern graziös, ungezwungen … »Ich werde nicht wissen, wie ich ihn anreden soll«, sagte er sich; und seine rechte Wange begann zu zucken, als wäre etwas Lebendiges unter der Haut eingeschlossen worden und trachtete nun mit aller Macht, zu entkommen.

Sie gingen weiter. Anthony hatte ein Gefühl, als hätte er sein Herz geschluckt – als Ganzes geschluckt, ohne zu kauen. Es war ihm recht übel; als erwartete er vom Lehrer ein paar Tüchtige mit dem Rohrstock.

Die schwarzen Riesen blieben stehn, wandten sich um und kamen zurück, um sie zu begrüßen. Hüte wurden gelüpft, Hände geschüttelt.

»Und der liebe kleine Anthony!« sagte Lady Champernowne, als zuletzt er an der Reihe war. Impulsiv bückte sie sich und küßte ihn.

Sie war schwammig fett. Ihre Lippen hinterließen eine eklig feuchte Stelle auf seiner Wange. Anthony haßte sie.

»Vielleicht sollte auch ich ihm einen Kuß geben«, dachte Mary Amberley, während sie ihrer Mutter zusah. Es wurde von einem erwartet, daß man solche wunderliche Dinge tat, wenn man verheiratet war. Vor sechs Monaten, als sie noch Mary Champernowne und frisch aus der Schule war, wäre es undenkbar gewesen. Aber jetzt … man konnte nie wissen. Zuletzt jedoch entschied sie, daß sie den Knaben nicht küssen werde. Es wäre wirklich zu lächerlich gewesen. Sie drückte ihm nur wortlos die Hand, lächelte nur aus der fernen Sicherheit ihres geheimen Glücklichseins. Sie war schon fast im fünften Monat und hatte diese letzten zwei oder drei Wochen in einem tranceartigen Zustand schläfrigen Glücks gelebt, der unaussprechlich köstlich war. Seligkeit in einer Welt, die nicht zum Wiedererkennen schön und reich und gütig geworden war. Die Landschaft, durch die sie an diesem Morgen in dem sanft schaukelnden Landauer gefahren waren, war wie das Paradies gewesen; und dieser kleine Fleck von Grün hier zwischen den goldenen Bäumen und dem Turm war ein wahres Eden. Die arme Mrs. Beavis war gestorben – allerdings; so hübsch noch, so jung. Wie traurig das war! Aber die Traurigkeit berührte doch nicht diese ihre geheime Seligkeit, blieb zutiefst belanglos für sie, als wäre sie die Traurigkeit jemands auf einem andern Planeten.

Anthony sah einen Augenblick lang in das lächelnde Gesicht auf, das so hell war in der schwarzen Umrahmung, so leuchtend von innerem Frieden und Glück; dann wurde er von Schüchternheit überkommen und senkte die Augen.

Fasziniert hatte mittlerweile Roger Amberley seinen Schwiegervater beobachtet und sich gefragt, wie es jemand möglich sei, so unfehlbar seiner Rolle getreu zu leben; wie man es fertig bringe, ein wirklicher General zu sein und dabei genau so auszusehen und sich anzuhören wie ein General auf der Operettenbühne. Sogar bei einem Begräbnis, sogar während er dem leidtragenden Witwer ein paar wohlgewählte Worte sagte! Unter Rogers schönem braunem Schnurrbart zuckten die Lippen ununterdrückbar.

»Sieht schwer getroffen aus«, dachte der General, während er mit John Beavis sprach; und der arme Kerl tat ihm leid, während er ihn noch immer nicht ausstehn konnte. Denn natürlich war dieser Mensch ein langweiliger, affektierter Heuchler, zu gescheit, aber dabei doch ein Narr. Und das Schlimmste, kein Mann für Männer. Immer von Unterröcken umgeben. Unterröcken von Müttern, Unterröcken von Tanten, Unterröcken von Ehefrauen. Ein paar Jahre beim Militär hätten ihm unendlich gut getan. Immerhin, er sah schrecklich schwer getroffen aus. Und Maisie war ein süßes kleines Ding gewesen. Zu gut für ihn, selbstverständlich …

Sie standen so einen Augenblick, dann schritten sie alle zusammen der Kirche zu, Anthony in ihrer Mitte, ein Zwerg unter Riesen. Ihre Schwärze engte ihn ein, verdunkelte den Himmel, verdeckte den bernsteinfarbenen Turm und die Bäume. Er ging wie auf dem Grund eines sich fortbewegenden Brunnens, dessen schwarze Wände rings um ihn raschelten. Er begann zu weinen.

Er hatte nichts wissen wollen – hatte sein möglichstes getan, nichts zu wissen, außer oberflächlich, – wie man zum Beispiel weiß, daß fünfunddreißig nach vierunddreißig kommt. Aber dieser schwarze Brunnen war finster vom geballten Grauen des Todes. Es gab kein Entkommen. Seine Schluchzer brachen unbeherrschbar hervor.

Mary Amberley, die in verzückte Betrachtung der am blassen Himmel sich wie ein Muster abzeichnenden goldenen Blätter verloren gewesen war, blickte eine Sekunde lang hinunter auf dieses kleine Geschöpf, das dort auf einem andern Planeten vor sich hin weinte, und wandte sich wieder ab.

»Armes Kind!« sagte sein Vater; und dann, sich gleichsam überbietend, fügte er bewußt hinzu: »Armes mutterloses Kind!« und war froh (denn er wollte leiden), daß die Worte auszusprechen ihn soviel Schmerz kostete. Er blickte auf seinen Sohn hinunter, sah das gramverzogene Gesicht, die vollen, sensitiven Lippen, so verquält von Weh, und über der tränenfleckigen Verzerrung die breite hohe Stirn, anscheinend unbewegt in ihrer glatten Reinheit; sah das alles und fühlte sein Herz von einem zusätzlichen Schmerz umkrampft.

»Lieber Junge!« sagte er laut und dachte dabei, daß dieser Kummer sie gewiß einander näherbringen werde. Es war irgendwie so schwierig mit einem Kind – so schwer, natürlich zu sein, einen Kontakt herzustellen. Aber gewiß, gewiß, diese Trauer und ihre gemeinsamen Erinnerungen … Er drückte die kleine Hand in der seinen.

Sie waren an der Kirchentür. Der Brunnen zerfiel.

»Man könnte in Tibet sein«, dachte Onkel James, als er den Hut abnahm. »Warum nicht ebensogut auch die Schuhe?«

Im Innern der Kirche war ein uraltes Dunkel, das nach Jahrhunderten ländlicher Frömmigkeit roch. Anthony tat zwei Atemzüge von dieser süßlich abgestandenen Luft und fühlte sein Zwerchfell sich in einem Schwall von Ekel heben. Furcht und Elend hatten ihn bereits dahin gebracht, sein Herz zu schlucken; und mm dieser Geruch, dieser abscheuliche Geruch, der bedeutete, daß dieser Ort voll von Bazillen war … »Strotzend von Bazillen!« Er hörte ihre Stimme – ihre Stimme, die immer ganz anders wurde, wenn sie von Bazillen sprach, sich veränderte, als spräche ein andrer Mensch. Zu gewöhnlichen Zeiten, wenn sie nicht böse auf ihn war, klang ihre Stimme so weich und irgendwie trage – lustig träge oder sonst ermüdet träge. Bazillen machten sie plötzlich fast wild und dabei ängstlich. »Du mußt immer ausspucken, wenn es irgendwo schlecht riecht«, hatte sie ihm gesagt. »Da können Typhusbazillen in der Luft sein.« Speichel sammelte sich, während er sich der Worte erinnerte, in seinem Mund. Aber wie konnte er hier, in der Kirche, ausspucken? Es ließ sich nichts tun, als den Speichel herunterzuschlucken. Er schauderte, als er es tat, vor Angst und einem überwältigenden Ekel. Und wie, wenn er wirklich erbrechen müßte, hier wo es so stank? Die Befürchtung ließ ihm noch übler werden. Und wie benahm man sich während des Trauergottesdiensts? Er war noch nie bei einem Begräbnis gewesen.

James Beavis sah auf seine Uhr. In drei Minuten sollte der Hokuspokus beginnen. Warum hatte John nicht auf einem nichtkirchlichen Begräbnis bestanden? Die arme Maisie hatte doch nicht viel Wert auf so etwas gelegt. Ein dummes kleines Frauchen; aber nie religiös verdummt. Die ihre war die schlicht weltliche Dummheit bloßer weiblicher Frivolität gewesen: die Dummheit, auf dem Sofa liegend Romane zu lesen, abwechselnd mit der Dummheit von Teegesellschaften, Picknicks und Bällen. Unglaublich, daß John es zuwege gebracht hatte, sich mit dieser Art von Albernheit abzufinden, – ja anscheinend sogar Gefallen daran gefunden hatte. Weiber, die wie Hennen um den Teetisch kackelten! James Beavis zog in zorniger Verachtung die Brauen zusammen. Er haßte Weiber – verabscheute sie. Alle diese weichen Ausbuchtungen ihrer Körper. Greulich! Und diese Stumpfsinnigkeit, diese Hirnlosigkeit! Aber jedenfalls war die arme Maisie nie eine dieser Kuratenanbeterinnen gewesen. Nein, es war wegen dieser gräßlichen Verwandten von ihr. Es gab Diakone in der Familie – Diakone und Diakonissinnen. John hatte sie nicht kränken wollen. Eine Schwachheit von ihm. Man mußte aus Prinzip solche Leute vor den Kopf stoßen!

Die Orgel spielte. Eine kleine Prozession von Chorhemden kam durch die offene Tür herein. Ein paar Männer trugen etwas – scheinbar einen großen Haufen Blumen. Es wurde gesungen. Dann Stille. Und dann, mit einer außergewöhnlichen Stimme, – »Nun ist Christus auferstanden von den Toten« – der Geistliche; und so ging es weiter und weiter, alles über Gott und Tod und Tiere in Ephesus und über den natürlichen Leib. Aber Anthony hörte kaum, denn er konnte an nichts denken als an diese Bazillen, die noch immer da waren, trotz dem Geruch der Blumen, und an den Speichel, der sich immerzu in seinem Mund sammelte und den er ungeachtet des Typhus und der Influenza schlucken mußte, und an dieses entsetzliche Übelkeitsgefühl in seinem Magen. Wie lange würde es noch dauern?

»Wie ein Geißbock«, sagte sich James Beavis, während er dem Intonieren hinter dem Bibelpult zuhörte. Er blickte abermals auf diesen jungen Schwiegersohn der Champernownes. Anderton, Abdy …? Was für ein schönes, klassisches Profil!

Sein Bruder saß mit gesenktem Kopf da, die eine Hand vor den Augen, und dachte an die Asche in der Urne dort unter den Blumen – die Asche, die ihr Körper gewesen war.

Der Trauergottesdienst war endlich vorbei. »Gott sei Dank!« dachte Anthony, während er verstohlen in sein Taschentuch spuckte und die Bazillen in seine Tasche wegfaltete, »Gott sei Dank!« Er hatte nicht erbrechen müssen. Er folgte seinem Vater zur Tür und atmete, als er aus dem Zwielicht hinaustrat, verzückt die reine Luft. Die Sonne schien noch. Er sah umher und hinauf zu dem blassen Himmel. Von oben, aus dem Kirchturm, kam ein plötzliches Geschrei von Dohlen – wie der Lärm eines Steins, der, schräg auf einen gefrorenen Teich geworfen, mit wiederholtem gläsern klimperndem Aufprallen über die Eisfläche hüpfte.

»Aber, Anthony, du darfst keine Steine auf das Eis werfen!« hatte seine Mutter ihm zugerufen. »Sie frieren dort an, und wenn dann die Schlittschuhläufer …«

Er erinnerte sich, wie sie im Bogen herbeigeschwungen gekommen war, auf einem Fuß, – heranflitzend, so hatte ihm geschienen, wie eine Möwe; ganz in Weiß, wunderschön. Und nun … Die Tränen stiegen ihm wieder in die Augen. Aber, oh, warum nur hatte sie darauf bestanden, daß er Eislaufen lerne?

»Ich will aber nicht«, hatte er gesagt; und als sie ihn nach dem Grund fragte, war es unmöglich gewesen, den zu erklären. Er hatte sich natürlich gefürchtet, ausgelacht zu werden. Leute machten sich so lächerlich. Aber wie hätte er ihr das sagen können? Am Ende hatte er zu weinen begonnen – vor allen Leuten. Es hätte nicht schlimmer sein können. Er hatte sie fast gehaßt an jenem Vormittag. Und jetzt war sie tot, und die Dohlen dort oben in dem Turm warfen Steine auf das Eis des vergangenen Winters.

Und nun standen sie an dem offenen Grab. Abermals drückte Mr. Beavis seinem Sohn die Hand. Er versuchte der Wirkung dieser letzten, allerschmerzlichsten Augenblicke auf die Seele des Kindes zuvorzukommen.

»Sei tapfer!« flüsterte er. Die Mahnung galt ebensosehr ihm selbst wie dem Knaben.

Sich vorneigend blickte Anthony in das Loch. Es schien außerordentlich tief zu sein. Er schauderte, schloß die Augen; und sogleich war sie wieder da, auf ihn zuflitzend, weiß wie eine Möwe, und wiederum weiß in dem seidenen Abendkleid, wenn sie ihm gute Nacht sagen kam, bevor sie zum Abendessen ausging, mit diesem Parfüm an sich über ihn, der im Bett lag, gebeugt, und mit der Kühle ihrer bloßen Arme. »Du bist wie eine Katze«, pflegte sie zu sagen, wenn er seine Wange an ihrem Arm rieb. »Warum schnurrst du nicht auch gleich dabei?«

»Immerhin«, dachte Onkel James mit Befriedigung, »er blieb wenigstens fest, was die Verbrennung betraf.« Den Christen war da ein Punkt abgewonnen worden. Auferstehung des Leibes, wahrhaftig! Im Jahre 1902!

Wenn für ihn die Zeit käme, dachte John Beavis, wäre dies der Platz, wo er begraben würde. In diesem selben Grab. Seine Asche bei der ihren.

Der Geistliche sprach abermals, mit dieser außergewöhnlichen Stimme. »Du kennst, o Herr, das Geheimnis unserer Herzen …« Anthony öffnete die Augen. Zwei Männer ließen in das Loch eine kleine Terrakottakiste hinab, die kaum größer war als eine Keksdose. Das Kistchen erreichte den Boden; die Stricke wurden heraufgezogen.

»Erde zu Erde«, meckerte die Ziegenstimme. »Asche zu Asche.«

»Meine Asche zu ihrer Asche«, dachte John Beavis. »Vermischt.«

Und plötzlich erinnerte er sich jener Zeit in Rom, ein Jahr nach ihrer Heirat; jener Juninächte und der Glühwürmchen unter den Bäumen in den Doriagärten; wie tollgewordene Sterne.

»Wer wird unseren elenden Leib verwandeln, daß er Deinem glorreichen Leibe gleiche …«

»Elend, elend?« Seine innerste Seele protestierte.

Erde fiel, ein Spatenvoll, dann noch einer. Das Kistchen war fast bedeckt. Es war so klein, so gräßlich und unerwartet winzig … Das Bild des riesigen Ochsen, der winzigen Teetasse stieg in Anthonys Phantasie auf – stieg schamlos auf; ließ sich nicht austreiben. Die Dohlen kreischten wiederum oben im Turm. Wie eine Möwe war sie zu ihm herangeflitzt gekommen, wunderschön. Aber der Ochse war noch immer da, noch immer in der Teetasse, noch immer erbärmlich und abscheulich; und er selbst noch erbärmlicher und noch abscheulicher.

John Beavis ließ die Hand des Knaben los, legte ihm den Arm um die Schultern, drückte den kleinen Körper an den seinen – fest, fest, bis er im eignen Fleisch das Schluchzen fühlte, von dem der erschüttert wurde.

»Armes Kind! Armes, mutterloses Kind!«

FÜNFTES KAPITEL

8. Dezember 1926

 

»Das würdest du dich nicht trauen«, sagte Joyce.

»Doch, ich würde mich trauen.«

»Nein, du würdest’s nicht.«

»Ich sag’ dir, ich würde!« Dabei blieb Helen Amberley mit noch mehr Nachdruck.

»Du würdest ins Gefängnis gesteckt werden, wenn man dich erwischte«, entgegnete, zum Rasendwerden vernünftig, die ältere Schwester. »Nein, nicht ins Gefängnis. Du bist zu jung. Man würde dich in eine Besserungsanstalt stecken.«

Das Blut stieg Helen ins Gesicht. »Du und deine Besserungsanstalten«, sagte sie in einem Ton, der verachtungsvoll sein sollte, aber vor ununterdrückbarem Zorn bebte. Diese Besserungsanstalt war eine persönliche Beleidigung. Ein Gefängnis war etwas Schreckliches; so Schreckliches, daß es etwas Edles hatte. (Sie war in Chillon gewesen, sie war über die Seufzerbrücke gegangen.) Aber eine Besserungsanstalt – nein! die war ganz und gar unedel. Eine Besserungsanstalt stand auf derselben Stufe wie eine Bedürfnisanstalt oder eine Station der Untergrundbahn. »Besserungsanstalten!« wiederholte sie. Es war typisch für Joyce, an Besserungsanstalten zu denken. Sie zerrte immer alles Belustigende und Abenteuerliche in den Kot. Und was es noch viel schlimmer machte: sie hatte gewöhnlich ganz recht. Der Kot waren die Tatsachen. Der Kot war Hausverstand. »Du glaubst, ich werde mich nicht trauen, weil du dich nicht trauen würdest«, fuhr Helen fort. »Na, ich werde mich trauen. Nur um dir’s zu zeigen. Ich werde aus jedem Laden, in den wir gehn, etwas stehlen. Aus jedem. So!«

Joyce begann sich ernstlich beunruhigt zu fühlen. Sie blickte ihre Schwester fragend an. Ein Profil, nun blaß und starr, das Kinn trotzig gehoben, war alles, was Helen sie sehn ließ.

»Also, nun hör mal …« begann sie streng.

»Ich will nichts hören«, sagte Helen geradeaus vor sich hin ins unpersönliche Leere.

»So sei doch keine kleine Närrin!«

Es kam keine Antwort. Das Profil hätte das einer jungen Königin auf einer Münze sein können. Sie bogen in die Gloucester Road ein und gingen auf die Kaufläden zu.