Gedanken in Zeilen - Annika Gehrt - E-Book

Gedanken in Zeilen E-Book

Annika Gehrt

0,0

Beschreibung

Die eigene Stadt wie ein Tourist erleben, einen eigenen Song schreiben und einfach auf eine fremde Party gehen. Mit dem Musiker Nick erlebt Mia einen Sommer, der alles auf den Kopf stellt. Livemusik, eine rockige Band und mit meiner besten Freundin feiern, das ist alles was ich zum Glücklichsein brauche. Wenn man es ganz genau nimmt: der Club muss klein und nicht zu voll, die Musik tanzbar und die Stimmung ausgelassen sein. Ein Roman für Jugendliche und junge Erwachsene.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 325

Veröffentlichungsjahr: 2017

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gedanken in Zeilen

Titel SeiteEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigEpilogDanksagung

Titel Seite

Annika Gehrt

GEDANKEN IN ZEILEN

Für Flummi

©Annika Gehrt, 2017

Alle Rechte vorbehalten

Titelbild: Annika Gehrt

Dieser Roman ist ausschließlich ein Werk der Fiktion. Namen, Charaktere sowie die Handlung sind frei erfunden. Eventuelle Übereinstimmungen mit realen Personen sind rein zufällig

Eins

Livemusik, eine rockige Band und mit meiner besten Freundin feiern, das ist alles was ich zum Glücklichsein brauche. Wenn man es ganz genau nimmt: der Club muss klein und nicht zu voll, die Musik tanzbar und die Stimmung ausgelassen sein.

An diesem Abend trafen all diese Punkte zu: Paula und ich befanden uns auf einem Konzert. In den Club passten nicht mehr als hundert Leute und die erste Band heizte bereits ordentlich ein. Die Temperatur war jetzt schon auf Saunaniveau gestiegen. Mein Gesicht glühte und ich fragte mich, wie ich die nächsten beiden Bands überhaupt noch überstehen sollte. Doch genauso musste es sein: Auspowern, sich von der Musik leiten lassen, alles vergessen, nur im Hier und Jetzt sein – das konnte nur Musik.

„Das ist der letzte Song für heute“, schrie der Sänger ins Mikrofon. „Gebt nochmal richtig Gas!“ Das musste er uns nicht zweimal sagen. Wir genossen die Musik und ließen uns fallen.

Nach dem letzten Lied verabschiedete ich mich auf die Toilette. Bevor ich diese betrat, versicherte ich mich noch ein zweites Mal, dass ich auch wirklich die Damentoilette erwischt hatte. Das machte ich immer, seit ich einmal aus Versehen auf der Falschen gelandet war und deswegen ziemlich entsetzte Blicke geerntet hatte. Doch als ich jetzt die Tür öffnete, sah ich am Waschbecken einen jungen Mann stehen. Verdammt! War ich doch falsch? Nein, das konnte wirklich nicht sein. 

1. Hatte ich extra zweimal nachgeschaut. Die Figur auf dem Türschild trug ohne Zweifel ein Kleid.

2. War ich schon oft in diesem Club gewesen und bisher hatte sich die Frauentoilette immer auf der linken Seite befunden.

„Nicht erschrecken!“ Der Typ lächelte mich an. „Ich singe mich nur ein.“

Auf der Damentoilette? Er musste die Verwirrung in meinem Gesicht gesehen haben, denn er fügte hinzu: „Hier werde ich weniger gestört.“

Jetzt war ich wenn möglich noch verwirrter.

„Ist nicht auf dem Frauenklo immer viel mehr los?“ Ist das nicht allgemein bekannt? Frauen müssen immer anstehen, Männer nie.

„Bei den Männern hatte ich gar keine Ruhe“, entgegnete der Musiker und verließ den Toilettenvorraum.

Als ich von der Toilette kam, stand er immer noch vor der Tür, an die Wand gelehnt und nahm gerade einen Schluck aus einer Tasse. Irgendeine dampfende Flüssigkeit, die nach Ingwer roch. Tee? Trinken Rockmusiker nicht nur Bier oder härteren Alkohol, wie zum Beispiel Wodka?

„Da ist noch jemand drauf, oder?“, erkundigte er sich.

Ich nickte. „Ich hätte gerne gehört, wie du dich einsingst.“

„Da gibt es nicht viel zu hören.“ Er lächelte wieder.

„Ich hätte es trotzdem gerne gehört.“ Ich stellte es mir ziemlich spannend vor. Schließlich hatte man normalerweise nie die Möglichkeit einem Musiker beim Einsingen zu lauschen.

„Das hört sich wirklich nicht besonders toll an. Eigentlich stimme ich nur von einem Ausgangston vier weitere Töne in der Reihenfolge Grundton, Ganzton, Halbton, Ganzton, Ganzton auf- und wieder absteigend an. Dann erhöhe ich den Grundton jeweils um eine kleine Sekunde und wiederhole die Übung. So wärme ich meine Stimmlippen von unten nach oben auf. Mein tiefstmöglicher Ton als lyrischer Tenor ist das ‚A’. Wichtig dabei ist die richtige Adressierung der Stimmlippen im Kehlkopf. Mit dem Mund forme ich für jede Übung abwechselnd ein ‚U’ und danach ein ‚I’. Der Ton muss von ganz weit hinten aus dem Rachenraum locker aus den Stimmbändern schwingen.“

Ich schaute ihn verblüfft an. Mit so einer langen Antwort hatte ich nicht gerechnet. Ich konnte ihm auch nicht so ganz folgen, da ich von diesem Thema wirklich überhaupt keine Ahnung hatte. Aber interessant war es trotzdem.

„Klingt kompliziert.“

„Das zu erlernen ist in der Tat ein längerer Prozess und bedarf der Hilfe eines Gesangslehrers.“ Es war wirklich nicht zu überhören, dass der Sänger vor mir aus Berlin kam.

„Wie lange musst du dich denn einsingen?“, fragte ich ihn. Wann hatte man schon mal die Chance so etwas zu erfahren? Im Gegensatz zu ihm berlinerte ich kaum, obwohl die Hauptstadt ebenfalls meine Heimat war.

„Mindestens 20 Minuten. Das ist aber abhängig von der Konzertlänge, der Tageszeit und genereller stimmlicher Belastung.“ Er lächelte mich an. Obwohl die Beleuchtung ziemlich gedämpft war, fiel mir auf wie strahlend hellblau seine Augen waren. Die Kapuze seines senffarbenen Pullovers hatte er über den Kopf gezogen, doch ein paar dunkelblonde Strähnen schauten darunter hervor.

„Ich muss mich jetzt mal weiter einsingen“, riss der Musiker mich aus meinen Gedanken. Hoffentlich hatte ich ihn nicht zu lange angesehen.

„Okay“, antwortete ich. Irgendwie verschlug er mir ein bisschen die Sprache.

„Bis später.“ Er warf mir noch ein Lächeln zu und verschwand wieder auf dem Frauenklo. Ich blieb noch einen kurzen Moment stehen um diese Begegnung zu verarbeiten. Irgendwie fühlten sich meine Knie ein wenig weich an. Mein Blick fiel auf die Tür, die sich gerade hinter ihm geschlossen hatte. Ich hätte ihm wirklich gerne zugehört, doch durch die schwere Metalltür drang kein Ton. Aufgeregt kehrte ich zu Paula zurück. Sie saß auf der Fensterbank, mit einem Bier in der Hand, wobei sie etwas einsam aussah.

„Sorry, dass es so lange gedauert hat.“

„War die Schlange so lang?“

„Nee, aber ich habe den Sänger der nächsten Band getroffen.“

Paula grinste mich an. Ihr war wohl die Euphorie in meiner Stimme eben so wenig entgangen wie mir.

„Auf dem Klo?“

„Er hat sich dort eingesungen.“

Meine Freundin schaute mich an, als hätte ich sie nicht mehr alle. Ich konnte das Grinsen auf meinem Gesicht nicht abstellen. In diesem Moment betraten zwei Männer die Bühne. Einer setzte sich ans Schlagzeug, der andere schnappte sich eine E-Gitarre aus dem Gitarrenständer. Sie war schwarz mit einigen Buchenblättern darauf. Was für eine tolle Gitarre! Die würde ich ihm am liebsten klauen. Wir beobachteten sie bei ihrer letzten Überprüfung des Sounds, wobei Paula mich zwischendurch noch mit Fragen zu meiner Begegnung ausquetschte.

Schwarz-weiß-karierter Fußboden, blau leuchtende Scheinwerfer. Das Schlagzeug begann. Nebel vermischte sich mit der heißen Luft. Ein Instrument nach dem anderen setzte ein. Eigentlich waren Paula und ich wegen der letzten Band des Abends hier, doch jetzt war meine Vorfreude aufGroßstadtlebenbeinahe genauso groß. Ich konnte es kaum erwarten, dass der Sänger endlich auf die Bühne stürmte. Irgendwann hatte ich schon mal ein Video von ihnen auf Youtube gesehen und war richtig gespannt, wie sie sich live anhörten. Vor allem jetzt, wo ich den Sänger gerade kennengelernt hatte. Endlich nahm er am Mikrofon Platz und aufgeregt lauschte ich den ersten Zeilen. Es klang völlig anders, als das Lied, das ich von ihnen gehört hatte. Damals hatten sie noch auf Englisch gesungen, jetzt hatten sie zu Deutsch gewechselt. Die Gesangssprache zu ändern, schien mir momentan so etwas wie eine Modeerscheinung zu sein. Die meisten unbekannten Bands, die ich kannte, hatten auf Englisch angefangen und sangen seit kurzem auf Deutsch, was natürlich auch eine Änderung des Bandnamens mit sich trug.

„Vielen Dank Crystal Club! Wunderschön! Wir sindGroßstadtleben.“

Nach zwei weiteren Songs machte der Sänger eine Pause: „So jetzt stelle ich euch mal meine Band vor. Zu meiner linken steht unser Gitarrist Tom. Ganz netter Kerl. Den kenne ich schon seit…“ Seine Stirn legte sich in Falten, während er überlegte.

„Zu lange“, warf der gerade vorgestellte Musiker grinsend ein.

„So lange wie ich lebe, gefühlt. Zu meiner rechten seht ihr Jacob, unseren Bassisten, der jetzt offensichtlich beschlossen hat, nicht mehr mit zu spielen.“ Der Bassist hatte sein Instrument abgestellt und trank Berliner Pilsner aus der Flasche. „Keine Lust? Ja, dann hau doch ab.“

Lachend sprang Jacob von der Bühne und hörte sich das weitere Gequatsche von unten an.

„Und nicht zu vergessen hinter uns an den Kesseln noch ziemlich neu in der Band Jan, unser viel zu geiler Drummer, der wirklich jedes Instrument spielen kann, das er in die Hände bekommt. Das ist der Wahnsinn! Er hält die ganze Truppe halbwegs zusammen, damit ihr Spaß habt hier. Triangel kann er auch spielen.“ Ich musste lachen. „Ich bin übrigens Nick. Ja, wir sind nicht nur eine Band, sondern auch richtig gute Freunde. Diesen Song haben wir zusammen am Müggelsee geschrieben. Viel Spaß dabei.“

Neugierig lauschte ich den ersten Tönen. Sie waren langsam und lösten direkt das Gefühl von einem lauen Sommerabend in mir aus. Dann wurde es zunehmend rockiger und ich ließ mich mitreißen. Zwischendurch schaute ich kurz zu Paula herüber und stellte zufrieden fest, dass sie den Augenblick genauso genoss wie ich.

Zwei

Beim Frühstück hatte ich die ganze Zeit über einen Ohrwurm. Dabei konnte ich eigentlich nicht mehr als zwei Zeilen des Refrains. Aber eben diese liefen unaufhörlich durch meinen Kopf. Paula und ich saßen in unserem Lieblingscafé, an unserem Lieblingstisch ganz hinten in der Ecke, und ließen uns ein Frühstück mit Latte Macchiato, gekochten Eiern und einem bunten Obstsalat schmecken. Es war irgendwann zu einer Tradition geworden, dass wir nach Konzertbesuchen hier frühstücken gingen. Ich konnte mich gar nicht mehr daran erinnern, wann wir damit angefangen hatten. Ich wusste nur, dass es mittlerweile zu einem festen Bestandteil nach einer durchtanzten Nacht geworden war. Warum wir immer ausgerechnet nach Konzerten hier hingingen, wenn wir völlig übermüdet waren und wohl eigentlich besser ins Bett gehörten, wusste ich nicht. Aber auch wenn ich jetzt wieder so müde war, dass ich mich kaum mit Paula unterhalten konnte, genoss ich es mit ihr hier zu sitzen, den besten Kaffee überhaupt zu schlürfen und dabei mit ihr den Abend noch einmal gedanklich durchzugehen. Wir konnten nicht nur ständig auf Konzerte gehen, wir konnten auch stundenlang darüber reden. Das war schön, so hatte ich wenigstens ein bisschen das Gefühl, das Konzert wäre noch nicht ganz vorbei, denn nach jedem Livegig war ich neben aller Euphorie auch immer ein bisschen traurig, dass es schon wieder vorbei war.

„Es war so toll. Ich wünschte, wir könnten die Zeit zurückdrehen“, sagte ich seufzend. Ich schmierte Honig auf mein Rosinenbrot und biss davon ab. Mit Frühstück im Magen, löste sich die Müdigkeit, die mich wie ein Nebelschleier umgab, wenigstens ansatzweise auf.

„Ja, das wäre toll. Aber wir gehen sicher bald auf das nächste Konzert.“

„Zum Glück.“

„Am besten vonBroken Home.Ich vermisse Max jetzt schon wieder. Hast du gesehen, wie er bei dem Gitarrensolo abgegangen ist?“, schwärmte Paula. „Und wie er weitergespielt hat, obwohl sein Gitarrengurt gerissen ist?“ Dabei glänzten ihre Augen so wie sie es nur taten, wenn sie von Max sprach.

Ich musste grinsen. Paula und ihr Max. Ihr wurde es nie langweilig von ihm zu schwärmen und egal was der Gitarrist tat, Paula fand es toll. „Du und dein Max!“, sprach ich meine Gedanken laut aus.

„Was denn? Hast du gesehen, wie er einfach weitergespielt hat? So als ob gar nichts passiert wäre. Das muss doch verdammt anstrengend sein ohne Gurt. Er hat sich überhaupt nicht davon stören lassen, dass alle um ihn rumgefuchtelt haben, um den Gurt provisorisch festzukleben.“

Ich stimmte ihr zu. Sie hatte ja recht, aber die Euphorie mit der sie darüber sprach, brachte mich einfach zum Schmunzeln. Auch das restliche Frühstück drehte sich unser Gespräch fast ausschließlich um den vergangenen Abend. Zwischendurch schwiegen wir, zu müde zum Sprechen und einfach unseren Gedanken nachhängend. Die einzigen Momente, in denen Stille zwischen uns entstehen konnte, kamen nach durchfeierten Konzertnächten vor. Sonst plauderten wir Nonstop.

„Was machen wir heute noch?“, fragte Paula mich, nachdem wir bezahlt und uns von unserer Lieblingsbedienung verabschiedet hatten. Ich mochte sie sehr. Sie hatte immer für jeden Besucher ein Lächeln auf den Lippen. Bei ihr hatte ich jedes Mal das Gefühl, dass sie das nicht nur tat, weil es ihr Job war, sondern weil ihre Arbeit ihr wirklich Freude bereitete.

„Irgendwas Ruhiges.“ Trotz Kaffee fühlte ich mich nicht bereit für große Unternehmungen. „Ich habe auch nicht mehr so lange Zeit. Ich wollte nachher noch zu Elias.“

„Vielleicht einen Film gucken?“, schlug Paula vor.

„Gute Idee. Coco hat sich doch den neuen Film mit Kostja gekauft. Hast du den schon gesehen?“

„Nein, noch nicht.“

„Dann wäre ich für den!“

„Wartest du nochmal kurz? Ich hätte gerne noch einen Latte zum Mitnehmen.“ Paula drehte sich um und öffnete die Cafétür, die sich gerade erst hinter uns geschlossen hatte. Paula war süchtig nach dem Kaffee mit Nussgeschmack. Aber ich konnte es ihr nicht verübeln. Das Zeug war auch einfach zu gut.

„Willst du auch noch einen?“ Da konnte ich nicht Nein sagen. Mit unseren zwei Kaffeebechern machten wir uns schließlich auf den Weg zu Paulas Wohngemeinschaft. Wir hatten es nicht weit und so konnten wir es uns schnell auf ihrem Bett gemütlich machen. Obwohl der Film super witzig war, nickte ich zwischendurch mehrmals kurz ein.

Drei

„Alles Gute zum Geburtstag“, gratulierte ich Elias erneut, als ich sein Geschenk auf den Tisch stellte. Ich gab ihm einen Kuss, bevor ich das kleine Päckchen zu ihm herüber schob.

Mein Freund bedankte sich und kämpfte ungeduldig mit dem Schleifenband. Amüsiert beobachtete ich ihn dabei. Seine Neugier war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben und sein Ärger darüber, dass das Innere der Verpackung nicht schnell genug zum Vorschein kam auch. Schon beim Einpacken war mir klar gewesen, dass meine Bemühungen das Geschenk schön zu verpacken, bei ihm nicht auf Begeisterung stoßen würde. Da war er ein typischer Mann. Einfaches Geschenkpapier reichte für ihn. Zu meinem Geburtstag hatte er mir ein Päckchen überreicht, das in Papier mit roten und goldenen Christbaumkugeln eingeschlagen war. Und das, obwohl ich im Mai Geburtstag habe. Ich liebte es die Geschenke zu kleinen Kunstwerken umzuwandeln und so hatte ich es mir nicht nehmen lassen, das braune Packpapier mit zwei Schleifen und einem Geburtstagsstempel zu verzieren. Happy birthday stand dort in blauen Buchstaben. Als Elias schließlich den Kampf gegen die Bänder gewonnen hatte, riss er das Papier einfach auf, ohne sich die Mühe zu machen, das Tesafilm abzuknibbeln. Endlich kam das Geschenk zum Vorschein: Er zog den kleinen Fußball heraus, an dem ein Schlüsselring hing. Daran hatte ich eine Papierrolle befestigt.

„Gutschein“, las er meine geschwungene Handschrift. „Wir schauen uns zusammen ein Spiel von Hertha BSC an. Du darfst die Begegnung wählen. Ich zahle. Getränke inklusive.“ Ein breites Grinsen legte sich auf sein Gesicht. „Das ist genial! Danke Mia!“ Er stand auf und nahm mich in den Arm. Er drückte mich fest, hielt mich dann ein kleines Stück von sich weg und schaute mich an. „Vielen Dank. Dass du mich zum Fußball begleitest ist echt das beste Geschenk.“ Ich freute mich über seine Reaktion. Natürlich kannte ich Elias gut genug, um zu wissen, dass ich mit diesem Geschenk nicht falsch liegen konnte, aber dass er sich so sehr darüber freute, damit hatte ich nicht gerechnet. Normalerweise weigerte ich mich immer, meinen Freund ins Stadion zu begleiten. Aber da er mich schon so oft gefragt hatte, hatte ich mir gedacht, es wäre ein gutes Geburtstagsgeschenk. Elias küsste mich lange. Zwischendurch hauchte er mir ein „Danke“ auf die Lippen. Erst als ein seltsames Zischen aus Richtung des Herdes ertönte, löste ich mich von ihm. Verdammt! Das Wasser war übergekocht und lief auf das Ceranfeld. Dort verbrannte es, wobei es einen ekelhaften Geruch und schwarze Flecken auf der Herdplatte hinterließ. Ich senkte die Temperatur und probierte eine Nudel. Sie war genau richtig. Ich rührte noch einmal die Sauce um, die köstlich nach Taccogewürz duftete. So gut, dass ich mich am liebsten gleich hinein gesetzt hätte. Schnell füllte ich das Hühnchen mit der Taccossauce in eine Schüssel und stellte sie auf den Tisch. Daneben platzierte ich die Spaghetti und eine Schale mit grünem Salat.

„Oh, das sieht aber gut aus.“

„Ich hoffe, es schmeckt auch so.“ Das Rezept hatte ich zwar vorher schon einmal ausprobiert und es hatte wunderbar geschmeckt, aber für Elias' Geburtstag hatte ich mir besonders viel Mühe geben wollen. Das konnte dann auch schief gehen. Als Elias probierte und mein Essen lobte, atmete ich erleichtert auf und konnte mir auch selbst etwas auf meinen Teller füllen.

„Wie war dein Tag bisher? Hast du auf der Arbeit wenigstens etwas gefeiert?“

Elias machte gerade eine Ausbildung zum Graphikdesigner.

„Ein bisschen. Ich hatte Kuchen mitgebracht, den haben wir in der Mittagspause gegessen. Deswegen hatte ich heute immerhin mal ein paar Minuten Pause.“

Ich schaute in seine dunklen Augen. Die vielen Überstunden der letzten Wochen hatten Spuren hinterlassen.

„Na immerhin, besser als nichts. Was machen wir gleich noch?“

„Ich dachte, wir könnten erstmal was trinken und danach vielleicht noch etwas feiern gehen.“

Mir gefiel es, dass wir seinen Geburtstagsabend alleine verbringen würden. Die Party mit seinen Kumpels würde erst am Wochenende starten.

„Hallo Elias!“ Meine Mutter kam in die Küche. Ihre Haare waren zerzaust und ihre runde Brille saß ziemlich schief auf der Nase. „Ich brauche mal eine kurze Pause.“ Momentan verbrachte sie jeden Abend und oft auch die halbe Nacht damit, die Klausuren ihrer Abiturienten zu korrigieren. Sie schaute von Elias zu mir und dann auf das Essen und die Kerzen auf dem Tisch. Dadurch schien es bei ihr Klick zu machen.

„Elias, du hast ja heute Geburtstag! Alles Gute!“ Meine Mutter nahm ihn in den Arm. Wenn sie am Arbeiten war, vergaß sie oft alles um sich herum. Ich konnte froh sein, dass ihr wieder eingefallen war, dass mein Freund Geburtstag hatte. Das hätte sonst ziemlich peinlich werden können.

„Ich will euch nicht länger stören.“ Sie nahm sich ein Glas Wasser und verschwand wieder aus der Küche.

Nach zwei Cocktails für mich und mehreren Flaschen Bier für Elias, zogen wir weiter. Ohne weiteren Plan liefen wir durch Kreuzberg, auf der Suche nach einem Club, in dem wir noch etwas feiern und den Abend ausklingen lassen konnten.

„Hier scheint doch was los zu sein. Sollen wir rein gehen?“ Elias hatte mich schon zum Eingang gezogen. Eine kleine Schlange hatte sich davor gebildet. Doch er spürte mein Zögern und blieb stehen.

„Hast du keine Lust?“

„Weiß nicht“, wich ich aus.

„Du magst das Crystal doch, oder? Warst du hier nicht letztens mit Paula auf einem Konzert?“ Damit hatte Elias genau ins Schwarze getroffen. Hier hatte ich mit Paula vor kurzem einen absolut genialen Abend verbracht. Und Nick kennengelernt. Keine Ahnung warum, aber irgendwie wollte ich genau aus diesem Grund nicht mit Elias hierher.

„Die Musik klingt doch gut“, versuchte mein Freund mich weiter zu überzeugen, als er keine Antwort bekam. Zugegeben sie klang nicht schlecht, aber es war eben keine Livemusik. In dem Club schien ordentlich Stimmung zu sein, aber etwas in mir sträubte sich dennoch dagegen ihn zu betreten. Doch Elias blickte mich erwartungsvoll an und wartete auf eine Reaktion. Ich nickte also geschlagen und reihte mich in die Schlange ein. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Ich konnte ja schlecht sagen, dass ich nicht hier rein wollte, weil ich letztens einen Musiker kennengelernt hatte, der leider heute nicht hier sein würde. Die Schlange wurde schnell kürzer und eine von Elias' Zigarettenlängen später betraten wir das Crystal. Hitze, grelles Licht und laute Musik empfingen uns. Die tanzenden Menschen verschluckten uns und ließen uns an ihrer Party teilhaben. Wir tanzten ein paar Songs durch. Mit jedem Lied fühlte ich mich müder und wünschte mir eigentlich auf der Stelle nach Hause zu fahren. Eine Strähne klebte auf meiner verschwitzen Stirn und ich strich sie mir aus dem Gesicht. Im Discolicht schimmerten meine mandelbraunen Haare leicht rötlich.

„Willst du was trinken?“, schrie Elias mir zu.

„Einen Apfelcaipi bitte“, rief ich ihm zu.

Er schaute mich fragend an, zuckte mit den Schultern und zeigte auf seine Ohren. Ich versuchte noch lauter zu schreien, aber er verstand mich wieder nicht.

„Wie immer?“ Seine tiefe Stimme übertönte die Musik.

Ich nickte. Gut, dass er mein Lieblingsgetränk kannte. Leider gab es diesen Cocktail nur in wenigen Locations. Einer von vielen Gründen, warum ich das Crystal eigentlich sehr mochte. Erschöpft lehnte ich mich an die Wand und beobachtete Elias, wie er sich durch die tanzenden Menschen einen Weg zur Bar bahnte. Elias und ich waren schon öfter hier gewesen. Es war also absolut nichts Seltsames daran mit ihm hier feiern zu gehen. Und trotzdem fühlte es sich nicht richtig an. Mein Blick fiel auf die lila Wand neben der winzigen Bühne. Und augenblicklich konnte ich Nick genau vor mir sehen. Wie er lässig an dieser Wand lehnte, seine Füße, die in blauen Chucks steckten, überkreuzt, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Dabei bewegte er den Kopf im Takt. Der Rest seines Körpers war unbeweglich. Verrückt, dass ich mir dieses Bild so detailliert eingeprägt hatte. So als würde er wirklich dort stehen. Doch das tat er nicht. Seine Band war längst weitergezogen. Etwas Eiskaltes an meinem Arm ließ mich zusammenzucken.

„Bitte schön.“ Elias überreichte mir meinen Cocktail.

„Danke.“ Durstig nahm ich einen großen Schluck. Die Flüssigkeit brannte in meinem trockenen Hals. Ich knabberte an einem Apfelstückchen an einem glitzernden Spieß und nahm dann einen weiteren Schluck. Auch wenn ich es nicht wollte, sah ich Nick dabei immer noch vor mir. Die Musik hörte ich nur im Hintergrund. Die Discokugel über mir sorgte dafür, dass mir leicht schwindelig wurde. Warum musste sie sich auch so schnell drehen?

„Hörst du mir überhaupt zu?“

„Was?“ Hatte jemand etwas gesagt?

„Scheinbar nicht. Woran denkst du?“

„Ich bin ziemlich müde“, versuchte ich mich herauszureden. Elias schaute mir in die Augen. Er stützte sich mit einer Hand links neben meinem Kopf an der Wand ab und gab mir einen Kuss. Seine Lippen schmeckten nach Baccardi. Einen Geschmack, den ich überhaupt nicht ausstehen konnte. Leider war Baccardi Cola neben Bier Elias' Lieblingsgetränk. Schnell nahm ich einen Schluck meines Caipirinhas und benetzte meine Lippen mit dem säuerlichen Apfelgeschmack.

„Tanzen wir?“, fragte Elias direkt in mein Ohr, als ich meinen Cocktail ausgetrunken hatte und auf einem Eiswürfel rumkaute. Ich wusste, dass Elias es überhaupt nicht leiden konnte, wenn ich das tat. Aber es war eben eine Angewohnheit von mir. Ich machte es automatisch, oft ohne es zu merken. Allerdings machte ich es diesmal schon etwas absichtlich. Elias nahm mir das Glas aus der Hand, stellte es auf einem Tisch in der Nähe der Bar ab und zog mich dann wieder auf die Tanzfläche. Ich fühlte mich etwas wackelig auf den Beinen. Beinahe stolperte ich über meine eigenen Füße, doch Elias hielt mich fest. Er zog mich eng an sich und wiegte mich im Takt der Musik.

„Ich bin wirklich müde.“ Ich nutzte die Stille zwischen zwei Liedern.

„Möchtest du schon nach Hause?“ Mein Freund klang enttäuscht.

„Ich bin echt fertig.“ Auch wenn es mir leid. Schließlich war es sein Geburtstag, aber ich war einfach zu müde. Die Woche war richtig stressig gewesen und den letzten Cocktail hätte ich mir wohl besser verkniffen.

„Okay, nur noch ein Lied ja?“

Meine Antwort war ein Nicken. Was blieb mir auch schon anderes übrig? Ich konnte mich nicht mehr so schnell bewegen, wie der Takt des Liedes es eigentlich verlangt hätte. Elias Bewegungen waren viel dynamischer als meine. Ich bewegte nur geringfügig meine Hüften und ließ den Blick immer wieder zu der grellen Wand neben der Bühne schweifen. Es hatte so lässig und entspannt ausgesehen, wie Nick dort nach seinem Auftritt gestanden und der Hauptband zugehört hatte. Als das Lied zu Ende war, ging ich auf den Ausgang zu und Elias folgte mir widerstrebend. Erleichtert atmete ich die klare Luft ein. Eine herrlich warme Sommernacht empfing uns. Ganz ohne diese schwüle Gewitterluft, die in den letzten Tagen oft über der Stadt gehangen hatte. Langsam schlenderten wir zur Haltestelle.

„Kommst du noch mit zu mir?“, fragte Elias mich.

„Gerne!“ In der Bahn schlief ich an seine Schulter gelehnt schon nach wenigen Stationen ein.

Vier

Was für ein Sommer! Schon seit mindestens zwei Wochen knallte die Sonne erbarmungslos vom nahezu dauerhaft wolkenlosen Himmel.

„Was machen wir heute?“, wollte Paula wissen. Ich lag auf dem Rücken in meinem Bett und schwitzte schon, ohne mich auch nur einen einzigen Millimeter zu bewegen. Zu großen Aktionen war ich also definitiv nicht mehr zu überreden. Schon den Hörer an mein Ohr zu halten war bei dieser Hitze fast zu viel Anstrengung.

„Nicht so viel. Es ist viel zu heiß. Vielleicht ein Eis essen?“, schlug ich vor.

„Wie die letzten drei Tage?“ Paula klang gelangweilt. „Ich werde bald selber aussehen wie eine Eiskugel.“

„Andere Vorschläge?“

„Ein Fotograf, den ich letztens auf einer Party kennengelernt habe, hat auf seiner Facebookseite gepostet, dass heute eine Wasserschlacht stattfindet. Am Fernsehturm. Also da an dem Brunnen. Das hört sich doch richtig cool an. Bist du dabei?“

Wasserschlacht? Das klang etwas zu verrückt. Andererseits eine Abkühlung konnte bei diesen Temperaturen wirklich nicht schaden.

„Warum nicht“, antwortete ich zwar nicht ganz überzeugt, aber Paula freute sich trotzdem riesig, dass ich dabei war. Ich nahm einen Schluck Cola aus meinem Glas, in dem sich mehr Eiswürfel als Cola befanden. Trotz der eisigen Flüssigkeit, die durch meinen Hals lief, fühlte ich mich wie kurz vor einem Hitzeschlag.

„Cool! Das wird super. Kannst du ein paar Flaschen mitbringen? Oder Eimer? Oder Becher? Was immer du zu Hause hast. Treffen wir uns in einer Stunde am Alex?“ Ich musste über ihre Euphorie lachen. Wasserschlacht klang eher nach einer Aktion nach Paulas Geschmack, aber ich wollte ihr den Spaß nicht verderben. Und eine gehörige Portion kaltes Wasser war wirklich mehr als verlockend. Wir verabschiedeten uns und legten auf. Schnell schlüpfte ich in ein dunkles Sommerkleid, das konnte wenigstens nicht durchsichtig werden, falls ich geduscht wurde.

Paula stand schon unter der großen Weltzeituhr, als ich die Rolltreppe hochfuhr. Auch wenn wir keine Touristen waren, trafen wir uns oft hier, wenn wir etwas in Mitte unternehmen wollten. Wir beide liebten unseren Alex. Außerdem lag er so zentral, dass wir von hier aus viele unserer Unternehmungen starteten. Touristenmassen tummelten sich bei diesem herrlichen Sonnenschein in unserer Stadt. Unzählige Kameras waren auf die Uhr und natürlich auf den Fernsehturm dahinter gerichtet. Verständlich. Ich würde es als Touri sicherlich genauso machen. Gemeinsam schlenderten wir zum Neptunbrunnen, wo sich schon viele Verrückte versammelt hatten. Ausgerüstet mit Wasserpistolen, Wasserbomben und allen möglichen Behältern bespritzten und überschütteten sie sich mit Wasser. Fasziniert schauten wir uns diese Szene einen Moment an, dann nahm Paula meine Hand und zog mich einfach mitten ins Geschehen. Von überall landete Wasser auf uns. Paula schüttelte ihre Mineralwasserflasche und als sie sie öffnete, spritzte das Wasser mir genau ins Gesicht. Ich schrie erschrocken auf, bevor ich einen Plastikbecher nahm, ihn in den Brunnen tauchte und dann aus Rache über Paulas Kopf entleerte.

„Na warte“, rief sie. Paula schüttete ihre Flasche direkt über mir aus. Das Wasser lief mir durchs Gesicht und durchnässte mein Kleid. Doch das machte mir nichts. Im Gegenteil: es war eine herrliche Abkühlung. Mit dem restlichen Wasser erfrischte Paula ein Mädchen neben uns, die daraufhin laut kreischte und Paula mit einer Wasserpistole bespritzte. Als mich eine große Ladung eiskaltes Wasser im Nacken traf, zuckte ich leicht zusammen. Es fühlte sich ziemlich ekelhaft an, wie es mir den Rücken herunterlief. Ich drehte mich um und schaute zu meiner Verwunderung in ein bekanntes Gesicht. Es dauerte allerdings ein paar Sekunden, bis ich es zuordnen konnte. Der Typ trug eine Capy und sah irgendwie anderes aus, als auf der Bühne, doch sein Lächeln enttarnte ihn: Nick! Er schien ebenfalls zu überlegen, woher er mich kannte. Seine Augenbrauen zogen sich für einen kurzen Moment zusammen, dann lächelte er. Dieses Lächeln war nicht so schadenfroh wie das, das er mir zugeworfen hatte, direkt nachdem ich mich umgedreht hatte.

„Du warst doch letztens auf einem Konzert von uns, oder?“

Bevor ich antworten konnte, leerte jemand einen Eimer Wasser über uns aus.

„Tja, nicht aufgepasst“, sagte der Übeltäter grinsend. Er war aus Nicks Band, aber ich war mir nicht sicher, ob es der Bassist oder der Gitarrist war.

„Das kriegst du zurück.“ Nick füllte einen Eimer mit Wasser und jagte hinter seinem Bandkollegen her, wobei er allerdings einen Großteil des Wassers verlor. Ich schaute ihnen lachend hinterher und beobachtete, wie Nick den anderen Musiker schließlich fast erreichte und ihn mit dem restlichen Wasser auf dem Rücken traf. Dann beteiligte ich mich weiter an der Wasserschlacht. Als sich die Gruppe von bestimmt mehr als fünfzig Leuten langsam auflöste, war ich so nass, als hätte ich unter der Dusche gestanden oder als wäre ich kopfüber in das Brunnenbecken eingetaucht.

„Das war der Hammer!“ Paula lachte laut, geladen von Adrenalin. Sie wrang den unteren Teil ihres Kleides aus, wodurch das Wasser über ihre gebräunten Beine lief. Ich löste mein Haargummi und schüttelte meine triefenden Haare aus. Paula kniff die Augen zusammen, da einige Tropfen sie im Gesicht trafen. Als ich den Kopf wieder hob, sah ich Nick und seinen Bandkollegen auf uns zukommen.

„Na, ihr seid ja auch gut nass geworden.“ Nick grinste uns an. Er war ebenfalls von oben bis unten durchnässt. Er hatte seine Capy abgenommen und seine Haare klebten platt am Kopf. Jetzt wo sie so nass waren, sahen sie mehr braun als blond aus. Sein weißes Shirt war ziemlich durchsichtig geworden und ließ seine Muskeln und eine Tätowierung auf der Brust durchschimmern. „Hat voll Bock gemacht, oder?“

„Auf jeden Fall.“ Mehr fiel mir nicht ein. Irgendwie schien mein Gehirn das Denken einzustellen, wenn Nick mir gegenüberstand.

„Ich bin übrigens Nick“, sagte er zu Paula gewandt und reichte ihr die Hand. „Und das ist Jacob.“ Der Bassist oder Gitarrist reichte uns ebenfalls die Hand.

„Habt ihr hier schon mal mitgemacht?“, wollte Jacob wissen.

„Gab es das schon öfter? Das wusste ich gar nicht“, antwortete Paula, die von der Aktion ja nur zufällig gelesen hatte.

„Ja. Vor vier Jahren bin ich hier aus Versehen rein geraten und habe dort meine Freundin kennengelernt. Lena. Sie steht da hinten bei ihren Freundinnen.“ Er deutete auf eine Gruppe Mädchen, die kichernd über ein Handy gebeugt standen. Sicher schauten sie sich Fotos von der Wasserschlacht an. „Seitdem organisieren wir es jedes Jahr am gleichen Tag.“

„Das ist ja süß“, quietschte Paula begeistert. „Wir sind nächstes Jahr auf jeden Fall wieder dabei, oder Mia?“

„Klar.“ Wenn Nick auch wieder mitmacht auf alle Fälle.

„Naja, wir werden uns jetzt mal trocken legen“, erklärte Nick und schaute an sich herab. „Danach haben wir noch Probe.“

„Tretet ihr bald mal wieder auf?“, gelang es mir endlich einen vollständigen Satz herauszubringen.

„Nächsten Freitag im Caro.“

„Gehen wir dahin?“, fragte ich an Paula gewandt.

„Klar, warum nicht.“ Gut, dass meine Freundin für spontane Aktionen immer zu haben war.

„Cool. Dann bis nächste Woche.“

Nick und Jacob verabschiedeten sich von uns. Grinsend schaute ich ihnen hinterher. Was für ein Zufall, dass wir den beiden hier begegnet waren.

„Stehst du auf ihn?“ Paula stupste mir mit dem Ellenbogen in die Seite.

„Was? Nein? Wie kommst du darauf?“

„Weil du so grinst.“

„Ich finde es einfach cool, dass wir sie hier getroffen haben.“

„Kommst du noch mit zu mir?“

„Ich habe keine Wechselsachen dabei.“ Ich schaute an meinem durchnässten Kleid herab.

„Ich kann dir doch was leihen.“

Dann begleitete ich Paula natürlich gerne. In ihrer WG fühlte ich mich pudelwohl. Ich verbrachte dort so viel Zeit, dass ich mich dort schon wie zu Hause fühlte. Ich mochte Coco, ihre Mitbewohnerin, sehr. Zu dritt hatten wir schon viele Nächte in der WG-Küche durchgequatscht. Meistens mit leckerem Essen und einem Glas Wein.

„Kaffee?“, fragte Paula, als ich in ein Handtuch gewickelt aus dem Badezimmer kam.

„Sehr gerne. Was kann ich anziehen?“

„Such dir einfach was aus.“

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. So gerne, wie ich in Paulas Bad ihre verschiedenen Shampoos, Duschgels und Cremes ausprobierte, die alle immer so wunderbar dufteten, so gerne bediente ich mich an ihrem Kleiderschrank. Ich entschied mich für ein blaues, kurzärmeliges Kleid mit weißen Punkten.

„Es steht dir viel besser als mir“, stellte Paula fest. Sie platzierte zwei Kaffeetassen auf dem Küchentisch. Zufrieden ließ ich mich auf die alte Küchenbank fallen und atmete den köstlichen Duft ein. Ich mochte diese Küche sehr. Die hellblauen Tassen, die dazu passenden Blumen auf dem Tisch. Die Wimpelkette im Fenster und der Kräutergarten auf der Fensterbank. Trotz des dreckigen Geschirrs, das sich im Spülbecken stapelte, und der fettigen Pfanne auf dem Herd, war es hier unheimlich gemütlich. Paula stellte eine Keksdose auf den Tisch, ebenfalls in hellblau, und setzte sich zu mir. Ich nahm mir einen Zuckerkringel und tauchte ihn in meine Kaffeetasse.

„War echt witzig“, gab ich zu.

„Weil wir Nick getroffen haben?“

„Nein. Weil es eine echt coole Aktion war“, widersprach ich ihr. Ich verbrannte mir die Lippen, als ich einen Schluck Kaffee nahm. Vor Schmerzen verzog ich das Gesicht. „Aber es war natürlich ein toller Zufall, dass wir ihm dort begegnet sind.“

„Voll süß, dass Jacob und seine Freundin das jedes Jahr organisieren, weil sie sich dort kennengelernt haben.“ Paula klang gerührt. Es steckte eben doch eine Romantikerin in ihr, auch wenn sie es nach eigenen Aussagen im Moment aufgegeben hatte nach einer festen Beziehung zu suchen. Momentan lebte sie ein Studentenleben ganz nach Klischee. Ständig schleppte sie nach irgendwelchen Partys einen Typen ab, was nie in mehr als einem One-Night-Stand endete.

„Ja, wirklich“, stimmte ich ihr zu. „Hätte ich ihm gar nicht zugetraut.“

„Du meinst, weil er Musiker ist? Die können doch auch romantisch sein.“

„Scheinbar schon.“ Dieser Jacob zumindest.

„Und was ist mit Nick? Meinst du, er hat auch so eine romantische Ader?“

„Woher soll ich das wissen?“ Ich zuckte mit den Schultern. Paula konnte vielleicht Fragen stellen. „Wo wir gerade beim Thema Jungs sind: Was ist eigentlich mit dem Typen von der Hutparty?“ Wir hatten bei einer Freundin von mir gefeiert und Paula hatte die Party ziemlich schnell wieder verlassen. In Begleitung natürlich.

„Ach der.“ Paula tat die Bekanntschaft mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. „Ein schöner Abend. Mehr kann man mit diesem Sebastian nicht anfangen.“

Typisch Paula. „Wie lange willst du damit eigentlich noch weitermachen?“

„So lange wie ich keinen Bock auf eine feste Beziehung habe.“

In diesem Punkt konnte ich Paula wirklich nicht verstehen. Ich unternahm einen zweiten Versuch einen Schluck aus meiner Tasse zu trinken. Mittlerweile war der Kaffee ein kleines bisschen abgekühlt.

„Du verstehst das nicht, Mia.“

Stimmt.

„Dafür kapiere ich nicht, wie man es so lange mit ein und demselben Typen aushalten kann.“

Das war gar nicht so schwer. Elias und ich waren mittlerweile seit vier Jahren zusammen und wenn ich zurückblickte kam es mir längst nicht so lange vor, obwohl seitdem so viel passiert war. Damals waren wir in der zwölften Klasse gewesen. Seitdem hatte ich mein Abi gemacht und mit dem Sprachenstudium begonnen. Vieles hatte sich in meinem Leben in den letzten Jahren verändert, aber Elias war geblieben.

„Soll ich uns gleich noch etwas zu Essen machen?“ Paula steckte sich noch einen Keks in den Mund. Sie hatte schon einige gegessen, aber scheinbar schien sie davon genauso wenig satt zu werden wie ich.

„Gerne.“ Trotz der Hitze hatte ich ziemlichen Hunger.

„Melonensalat?“ Als Paula mir diesen Salat das erste Mal vorgeschlagen hatte, hatte ich nur angeekelt das Gesicht verzogen. Doch jetzt wusste ich wie gut ihre Kreation war, weshalb ich begeistert zustimmte.

„Kann ich dir was helfen?“

„Wenn du gute Musik auflegst, reicht das schon.“

Ich fuhr ihren Laptop hoch, schloss mein Handy an und stellte eine Mischung aus ihren und meinen Songs zusammen, während Paula mit einem großen Messer mit der Wassermelone kämpfte. So sah unsere Arbeitsteilung meistens aus, womit ich sehr zufrieden war. Paula war in jedem Fall die bessere Köchin von uns beiden und ich hatte die größere Musiksammlung. Meine Playlist startete mit einem Song von Flash Forward. Natürlich gefiel Paula diese Auswahl. Sie lächelte zufrieden und stimmte beim Refrain lautstark mit ein.

„Ich freu mich schon total auf nächste Woche.“

Paula sah mich mit einem vielsagenden Grinsen an. Sie musste gar nichts mehr sagen – ich wusste genau, was sie dachte. Ich warf mit einem Küchenhandtuch nach ihr. Sie hob es auf, tauchte es ins Spülbecken und schüttelte es dann in meine Richtung aus. Lachend lief ich aus der Küche.

Fünf

Die Uniwoche war endlich überstanden und wir waren bereit das Wochenende mit einem Konzert einzuläuten. Ungeduldig warteten Paula, Coco und ich vor der Disco. Ein typischer Berliner Club im Shaby-Chick-Style. Der Hinterhof, in dem der Eingang lag, war mit einer Lichterkette überspannt, die sicherlich schon bessere Zeiten gesehen hatte. Nur noch ungefähr jede zweite Birne leuchtete und das auch nicht mehr besonders hell. Wir ließen uns auf einer schmalen Holzbank – eher ein Holzbalken – nieder. Es war noch ziemlich viel Zeit bis zum Einlass und so konnten wir unsere Füße noch etwas schonen, während wir uns ein Bier genehmigten.

„Habt ihr schon das Bier mit Ginger und Minze probiert?“, fragte Coco.

„Ja. Das ist richtig lecker“, antwortete Paula. „Das gab es doch letztens auch auf der Party von Michi.“

„Wie war die Party eigentlich?“, erkundigte ich mich. Ich war auch eingeladen gewesen, aber konnte meine Freundinnen leider nicht begleiten, da ich Babysitten musste. „Ihr habt noch gar nichts davon erzählt.“

„Super witzig. Michi hat versucht uns das Tanzen beizubringen. Du glaubst gar nicht, wie schnell er seine Füße bewegen kann. Wir hatten alle keine Chance“, erzählte Coco sichtlich beeindruckt. Paula stand auf, drückte mir ihre Flasche in die Hand und versuchte Michi nachzuahmen. Ihre Bewegungen sahen allerdings ein wenig verkrampft aus. „Naja ungefähr so. Nur viel schneller und viel cooler natürlich.“

Als sich der Hinterhof langsam füllte, erhoben wir uns von unseren Plätzen. Wir wollten ja nicht, dass die, die später gekommen waren, sich einfach vordrängelten.

„Welche Tür ist eigentlich der Eingang?“ Fragend blickte Paula erst zu der einen und dann zu der gegenüberliegenden Tür.

„Keine Ahnung“, erwiderte ich achselzuckend. Ich hatte den Namen des Clubs zwar schon oft gehört, war aber selbst noch nie hier gewesen.

„Wo geht es denn zum Konzert vonGroßstadtleben?“, fragte ich eine Frau, die das Logo des Clubs auf ihrem T-Shirt trug. Sie musste es ja wissen.

„Ich glaube da links.“

„Hoffentlich stimmt das“, sagte ich, als wir uns als erstes vor die dunkle, mit Aufklebern übersäte Metalltür stellten. Hinter uns reihten sich einige andere Konzertbesucher auf. Ohne, dass ich etwas hörte, strömten auf einmal die Hälfte aus unserer Reihe zu der andern Tür.

„Wehe die Tür hier ist falsch. Wir waren so früh da, jetzt will ich auch in die erste Reihe“, schimpfte Paula. In dem Moment sah ich, wie Jacob mit seinem Instrumentenkoffer in den Hinterhof kam, gefolgt von Nick mit zwei großen Taschen beladen. Sie steuerten auf unseren Eingang zu. Jacob lächelte mir zu, während er vorbeiging.

„Hi“, begrüßte Nick mich, als er mich entdeckte und nahm mich zur Begrüßung in den Arm. „Alles gut?“ Es fühlte sich so an, als würden wir uns schon ewig kennen.

„Auf jeden Fall.“ Ich spürte die neidischen Blicke der anderen Mädchen in meinem Rücken. „Und bei dir?“

„Auch! Wir freuen uns schon riesig auf den Abend. Das wird richtig geil!“

„Weißt du zufällig, wo der Eingang ist?“ Ich wollte unbedingt wissen, ob wir in der richtigen Schlange standen, schließlich wollte ich nicht umsonst so früh dagewesen sein. Die erste Reihe stand auf dem Spiel. Paula und ich waren ziemlich verwöhnt, was das betraf, da es uns fast immer gelang ganz vorne zu stehen. Wir waren zuerst da gewesen, hatten also ein Recht darauf!

„Nee, keine Ahnung. Ich darf ja einfach so rein“, antwortete Nick schulterzuckend.

„Kannst du mich nicht mitnehmen?“

„Wenn wir so tun, als wärst du meine Freundin bestimmt.“ Ich schaute ihn einen Moment verwirrt an. Meinte er das jetzt ernst? Meine Frage sollte eigentlich nur ein Scherz gewesen sein. Da ich zögerte, nahm Nick wie selbstverständlich meine Hand und zog mich an den anderen Mädchen vorbei zur Tür.

„Bis gleich. Ich halte euch einen Platz frei“, rief ich meinen Freundinnen noch schnell zu.

Eifersüchtige Blicke verfolgten mich, bis die schwere Metalltür mit einem Knall hinter uns ins Schloss fiel.

„Komm, ich stell dir die anderen vor.“ Er hielt noch immer meine Hand, obwohl es so dunkel war, dass es sowieso niemand sehen konnte. Die einzelne Glühbirne an der Decke konnte den langen Flur mit dem schwarzen Boden und den dunklen Wänden nicht nennenswert erhellen. Auch als Nick mich den anderen Jungs vorstellte, lag meine Hand noch immer in seiner. Seine Fingerkuppen fühlten sich rau auf meiner Haut an. Spielte er etwa auch Gitarre?

„Boys, das ist Mia. Mia das ist Tom.“ Er ließ meine Hand los und deutete auf den braunhaarigen Jungen mit Brille, der gerade seine Gitarre stimmte. Meine Hand fühlte sich immer noch warm an, auch wenn Nick sie nicht mehr festhielt.

„Das ist Jan und Jacob kennst du ja schon.“ Die beiden reichten mir die Hand und aßen dann ihre Pizza weiter.

„Wir machen gleich Soundcheck. Setz dich doch so lange noch“, forderte Nick mich auf und deutete auf das Sofa. Wo genau zwischen Pizzakartons, handgeschriebenen Setlisten und leeren Flaschen? Er deute meinen Blick richtig und schob alles in eine Ecke, so dass ich auf der anderen Seite Platz fand. Er quetschte sich daneben. Die von ihm freigeräumte Fläche war so schmal, dass sich unsere Oberschenkel und Arme berührten. Spürte Nick das genauso deutlich wie ich? Wenn ja, ließ er es sich auf jeden Fall nicht anmerken.

„Ist das deine neue Freundin?“, wollte Jan wissen.

„Heute Abend schon.“ Nick grinste mich an und nahm meine Hand, so als ob ich wirklich seine Freundin wäre. „Wenn schon, dann spielen wir es auch richtig“, flüsterte er mir zu. Mir stieg die Röte ins Gesicht, daran ließen meine glühenden Wangen keinen Zweifel. Ich hoffe die Jungs schoben es auf die unerträgliche Wärme in diesem muffigen Zimmerchen.

„Möchtest du etwas trinken?“ Nick stand auf.

„Gerne. Was gibt es denn?“

„Cola, Bier?“

„Eine Cola.“ Nick holte ein Flasche aus dem Kühlschrank und reichte sie mir. Ich hielt sie mir zur Abkühlung an mein glühendes Gesicht. Dabei saugte ich die Atmosphäre in mir auf. Ich hätte niemals gedacht, dass ich so einen Raum jemals betreten würde. Nach einer Weile verzogen Tom und Jan sich und schalteten den Fernseher ein, um Fußball zu schauen, während Jacob, Nick und ich in der Sofaecke blieben. Das Leder unter mir klebte an meinen Hosenbeinen, mit den Füßen schob ich irgendwelchen Müll zur Seite, es roch nach Bier und Zigarettenrauch.

„Sicher hast du dir das Backstageleben spannender vorgestellt, oder?“, erkundigte sich Jacob. Im Gegensatz zum letzten Mal, als ich ihn gesehen hatte, umspielte ein leichter Bartschatten seine Wangenknochen.