Gedankenjäger - Iain Levison - E-Book

Gedankenjäger E-Book

Iain Levison

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Beschreibung

Der Polizist Jared Snowe bemerkt bei einem Einsatz plötzlich, dass er Gedanken lesen kann. Während ihn das bei interessanten Frauen oft eher deprimiert – er weiß nun leider sofort, wenn er keine Chance hat –, profitiert er beruflich von seiner Fähigkeit und löst deutlich mehr Fälle als seine Kollegen. Nun soll er den geflohenen Mörder Brooks Denny aufspüren und zurück in die Todeszelle bringen. Snowe findet Denny mühelos, doch als sich die beiden treffen, machen sie eine überraschende Entdeckung: Sie haben beide das gleiche Schlangen-Tattoo auf der linken Schulter. Ein packender Thriller aus den USA, in dem sich die Grenzen zwischen Gut und Böse beständig verschieben.

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Der Polizist Jared Snowe bemerkt bei einem Einsatz plötzlich, dass er Gedanken lesen kann. Während das bei Frauen, die ihn interessieren, oft eher deprimierend ist – er weiß jetzt leider sofort, wenn er keine Chance hat –, löst er in der Folge natürlich deutlich mehr Fälle als seine Kollegen. Nun soll er den verurteilten Mörder Brooks Denny, dem bei einer günstigen Gelegenheit die Flucht gelungen ist, aufspüren und zurück in die Todeszelle bringen. Es ist für Snowe nicht schwer, Denny zu finden, doch als sich die beiden treffen, machen sie eine überraschende Entdeckung: Sie haben beide exakt das gleiche Schlangen-Tattoo auf der linken Schulter. »Gedankenjäger« ist eines jener unheimlichen Bücher, das einen bis in die Träume verfolgt, das Böse zum Greifen nahe.

Deuticke E-Book

Iain Levison

Gedankenjäger

Roman

Aus dem Englischen von

Walter Goidinger

Deuticke

ISBN978-3-552-06332-7

Copyright © 2015 by Éditions Liana Levi

Originaltitel: Mindreader

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe

© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2016

Umschlag: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Foto: © plainpicture/NaturePL/Niall Benvie

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/ZsolnayDeuticke

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Kapitel eins

Wenn er einen ganz bestimmten Augenblick angeben müsste, als es anfing, dann wäre das jener Moment, in dem er dem Junkie vor der Da-Vinci-Apotheke einen Hieb versetzt hatte. Schon die ganze Woche vor dem Faustschlag hatte Snowe eine gewisse … na ja: Sensibilität … an sich bemerkt. So als ob er die Gefühle anderer Menschen spüren könnte. Am Mittwoch, nach der Arbeit, wusste er, dass die Frau, die im Studio auf dem Laufband neben ihm trainierte, verärgert war, und er hatte ein unbestimmtes Gefühl, dass ihr Boyfriend daran schuld war. Damals erschien ihm das als ein beliebiger Einfall. Als er am nächsten Morgen auf dem Weg zur Arbeit in der Cafeteria vorbeischaute, spürte er, dass das Mädchen hinter der Theke erschöpft, verkatert und deprimiert war. Er stellte sich vor, dass sie in Gedanken soeben den lieben Gott angefleht hatte, diese Schicht doch ganz schnell enden zu lassen. Es war allerdings nicht schwer, sich das vorzustellen. Selbst an ihren besten Tagen war diese Frau nicht gerade ein Kind des Frohsinns, und jeder halbwegs empathiebegabte Mensch hätte bemerkt, dass sie von irgendwas geplagt wurde. Und der Typ an der Tankstelle hatte offenbar Stress beim Warten auf seinen Hasch-Dealer, weil der sich verspätete, aber auch hier genügte ein Blick, und jeder hätte sofort die offensichtliche Anspannung in seinem Gesicht gesehen.

Doch als er dem Junkie eine reinhaute, wusste er, dass irgendwas anders war. Er spürte die Angst und den Schmerz des Junkies, und als der Junge versuchte, sich seinem Griff zu entwinden, war ihm bewusst, dass dieser viele Male zuvor geschlagen worden war, von seinem Vater, und der Junkie erlebte einen dieser vergangenen Augenblicke aufs Neue, ohne an das zu denken, was gerade geschah. Snowe war so schockiert von dieser Erkenntnis, dass er den Junkie losließ, doch der versuchte gar nicht abzuhauen, sondern ließ sich am Geländer vor der Da-Vinci-Apotheke herabsinken und streckte kleinlaut seine Hände aus, damit Snowe ihm Handschellen anlegte. Handschellen waren nichts Neues für ihn.

»Sorry«, sagte Snowe, noch immer verwirrt über das, was er sah und spürte. Er hatte sich niemals zuvor bei einem Täter entschuldigt, und schon gar nicht bei einem, der ihn angegriffen und dann versucht hatte, ihm zu entwischen. Bei einem, der versucht hatte, ihn niederzuschlagen. Der Junkie war von der Apotheke gerade durch das Seitenfenster in einen Flur herausgeklettert, die Taschen prall gefüllt mit Pillenfläschchen – eine menschgewordene Rassel. Wisch wisch wisch, schlurfte er den Gang entlang, doch als er Snowe erblickte, stieß er in Panik einen Schrei aus, und sein Wisch-wisch-wisch-Rhythmus beschleunigte sich. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als direkt auf Snowe zuzurennen, was er dann auch tat, kreischend und darum bemüht, größer und furchterregender zu erscheinen, als er war. Allerdings hatte der Bursche nach einer langen Karriere als Drogenkonsument kaum noch Fleisch an den Knochen, während Snowe im Studio trainierte und gut genährt war – viel zu kämpfen war da nicht. Snowe hatte seine Hände hochgerissen, eigentlich gar nicht in Schlagabsicht, eher als Zeichen für »Sofort stehen bleiben!« – ja, und so hatte das wohl alles angefangen.

»Aufstehen«, sagte Snowe, und von dem Kid kam bloß ein Oh God, Oh God, ich wusste, dass das keine gute Idee war. Doch Snowe bemerkte, dass der Junge gar nichts sagte, sondern einfach nur mit ausgestreckten Händen dalag. Sein Mund bewegte sich nicht, trotzdem hörte Snowe ihn reden. Ich hab Tony noch gesagt, dass die bei Da Vinci’s eine stille Alarmanlage haben! Ich hab’s ihm gesagt. Der Junge schwafelte nur so vor sich hin, eine Litanei aus Angst und Reue, und Snowe schaute ihn an, wie er da am Boden lag, und versuchte herauszufinden, warum er Dinge hören konnte, ohne dass irgendjemand was sagte. Da ging’s nicht um Empathie. Das widersprach dem gesunden Menschenverstand. Das war neu und abwegig und komplett anders.

Der routinemäßige Ablauf wäre jetzt gewesen, dem Kid am Boden die Handschellen anzulegen, Hände auf dem Rücken, weil du ja nie weißt, was solchen Typen so alles einfällt. Sie könnten versuchen, sich deine Waffe zu krallen, oder sie könnten eine eigene Waffe dabeihaben. Doch Snowe war völlig unbesorgt. Er wusste, dass der Junge keine Waffe hatte, er wusste, dass er keine Schwierigkeiten machen würde. Das Bürschchen hatte aufgegeben. Er dachte darüber nach, wie er im Knast ohne Dope auskommen würde müssen. Er erinnerte sich, wie er im letzten Jahr im Gefängnis auf den Stoff verzichten musste, und wie verdammt hart das gewesen war. Alle zwanzig Minuten ins Knastklo scheißen oder kotzen, und dies vor den Augen dreier anderer Typen, die auch noch stinksauer waren, weil sie nicht schlafen konnten. Der Junkie hasste sich selbst, weil er sich erneut in diese Situation gebracht hatte, und er dachte keinen Augenblick daran, dem Bullen, der ihn gerade ins Gesicht geschlagen hatte, irgendwelche Probleme zu bereiten.

»Steh auf«, sagte Snowe noch einmal. Der Junkie blickte ihn an und überlegte, ob es da noch irgendwo einen Ausweg für ihn gab. Es war nur ein einziger Cop zur Stelle. Andere würden nachkommen, das wusste er, es hatte einen Alarm gegeben, und dieser da war als Erster erschienen. Er musste irgendwas tun, irgendwas sagen, bevor die anderen Bullen auftauchten. Irgendwie musste er diesen Cop dazu bringen, ihn laufenzulassen.

»Ich lass dich sicher nicht laufen«, sagte Snowe. »Du bist in ein Geschäft eingebrochen und hast Waren gestohlen.«

Der Junkie blickte ihn überrascht an. Dieser Cop ist clever. Der errät meine Gedanken. Scheint auch recht nett zu sein. Hat sich für seinen Faustschlag entschuldigt. Ich kann mich da herauswinden. Vergiss Tony. Die alte Lady in der Jefferson Avenue. Erzähl ihm davon, mach einen Deal mit ihm.

»Du … stehst … jetzt auf«, sagte Snowe mit fester Stimme. Sobald du versuchst, nett zu sein, nutzen sie das sofort aus, da machte er sich nichts vor. In seinen ersten Wochen auf Streife war er freundlich gewesen. Nett zu den Huren, nett zu den Junkies, nett zu den schwarzen Kids, die neben den Basketballplätzen ihren Stoff verkauften. Er hütete sich, sie wie die anderen Cops grob anzufassen, herumzustoßen und ihre Köpfe zusammenzuschlagen, wenn er sie auf den Rücksitz seines Streifenwagens setzte. Er wollte anders sein. Eine Hure hatte nur darauf gewartet, bis er sich umdrehte, und versuchte, ihn in die Hoden zu treten. Ein Junkie hatte gewartet, bis er nicht aufpasste, und versuchte, ihn mit einer Nadel zu stechen. »Nett« war offenbar eine Sprache, an die sie nicht gewöhnt waren. Sein Verhalten verwirrte sie.

Der Junkie stand auf, Snowe führte ihn zu seinem Streifenwagen, spreizte mit seinem Bein die Beine des Burschen, und er hörte, wie dieser über Fluchtmöglichkeiten nachdachte. Der Junge begann erneut in Panik zu geraten. Snowe fragte sich, wo seine Kollegen blieben. Er hatte sie vor fünf Minuten angefunkt. Wenn er meinen Arm packt, um mir Handschellen anzulegen, dann sofort Gegenwehr,dachte der Junkie.

Snowe machte einen Schritt zurück und musterte seufzend den Rücken des Mannes, den er gegen seinen Wagen gedrückt hatte. Er war mal fit gewesen, vielleicht Sportler in der Highschool. Das Heroin hatte ihn fertiggemacht, jetzt war er zu einem Knochengerüst mit etwas Fleisch dran verkommen. Doch in der Verzweiflung entwickelt der Mensch enorme Kräfte. Der Junkie wollte auf keinen Fall auf Drogenentzug in den Knast und fing an, im Stillen zu flennen: Nein nein nein, konnte Snowe hören. Snowe wusste, dass er einen Kampf gewinnen würde, doch er wollte nicht kämpfen. Kämpfen war nie gut. In jedem Kampf, selbst in den einfachen, bekommst du Verletzungen ab, und es dauert Tage oder Wochen, bis sie ausheilen – eine verrenkte Schulter, abgeschürfte Knöchel, angeschlagene Knie.

»Nimm die Pillen aus der Tasche«, sagte Snowe, der noch immer ein paar Schritte hinter ihm stand. »Leg sie aufs Auto.«

Langsam folgte der Junkie und zog etwas aus der Tasche. Er wollte abwarten, bis Snowe näher kam, ihm dann einen satten, präzisen Schlag versetzen und abhauen. Er zog ein Fläschchen raus, blickte es an, dann stellte er es auf die Motorhaube des Streifenwagens. Und dann noch ein Fläschchen.

»Was brauchst du«, fragte Snowe, »damit du keine Entzugserscheinungen hast?« Augenblicklich spürte Snowe die Aufregung, die seine Frage auslöste, und gleichzeitig Verwirrung: Warum will dieser Cop das bloß wissen?

Der Junkie hielt eines der Fläschchen hoch. »Ein paar von denen würden reichen«, sagte er.

»Nimm sie.«

Der Junkie drehte sich um, ganz langsam. »Im Ernst?«

»Im Ernst. Nimm, was du brauchst, schnell, bevor meine Kollegen auftauchen.«

Der Kerl begann wie verrückt den Flaschenverschluss zu bearbeiten, schälte die Kunststoffhülle ab und leerte einige Pillen in seine Hand, die er gleich schluckte. Er schüttelte noch ein paar in seine Hand und steckte sie in die Tasche. Snowe verdrehte die Augen.

»Das hat keinen Sinn«, sagte er. »Die nehmen sie dir in der Aufnahme gleich wieder weg. Jetzt schraub die Flasche zu und stell sie zurück.«

Der Junkie tat, was Snowe sagte. Er war jetzt mental entspannt. Dachte nicht an Kämpfen oder Weglaufen. Snowe trat auf ihn zu, zog sanft seine Arme auf den Rücken und legte ihm Handschellen an. »Das bleibt zwischen uns, okay?«

»Klar, Mann.« Die Gedanken des Junkies waren jetzt voller Freude, Entspannung und Gelassenheit. Die Drogen hatten beinahe augenblicklich Wirkung gezeigt. »Vielen Dank.«

Ein weiterer Polizeiwagen bog mit eingeschaltetem Blaulicht in den Parkplatz ein, und Jeff Kleider, einer jener Kollegen, die Snowe am wenigsten leiden konnte, stieg aus. »Hey Snowe, was hamma denn hier Schönes?«

»Ein Kid, hat ganz allein bei Da Vinci’s eingebrochen. Hat sich ’n paar Pillen geschnappt und ist durchs Seitenfenster wieder raus.«

»Hast du’s schon gemeldet?«

»Hatte noch keine Gelegenheit. Hab ihn vor zwei Minuten aufgegriffen.«

Kleider warf einen Blick auf den Junkie, und Snowe hörte ihn denken: Du hässlicher, abgemagerter Scheißkerl. Der Junge blickte Kleider an, und Snowe spürte seine Angst. Du lieber Gott, dachte er bei sich, ich kann nicht nur den Junkie hören, ich höre alle anderen auch. War er dabei, verrückt zu werden? Waren das, was er da vernahm, die wirklichen Gedanken dieser Menschen, oder hatte er bloß angefangen, Stimmen zu hören?

»Der Typ ist ein verdammter Drecksack«, sagte Kleider beiläufig und in normaler Lautstärke. »Den hab ich letztes Jahr schon mal hoppgenommen.« Kleider sah sich die Pillenfläschchen auf der Motorhaube von Snowes Streifenwagen an und nahm eines davon genauer unter die Lupe. Das gibt’s doch gar nicht, dachte Snowe. Kleider überlegte tatsächlich, wie er die Pillen an sich bringen könnte. Er konnte seine Gedanken ganz klar hören: Diese blauen sind achtzig Mäuse das Stück wert. Zweihundert in einer Flasche, scheiß mich an, das macht allein schon sechzehn Riesen. Die geb ich einem meiner Spitzel und kassier die Hälfte in Cash. Snowe spürte die Aufregung Kleiders. Zu Snowe sag ich, ich geb sie für ihn als Beweisstück ab. Der wird nicht merken, wenn eine Flasche fehlt.

Kleider stellte die Flasche ab und wandte sich zu Snowe, der dabei war, den Junkie auf den Rücksitz seines Autos zu verfrachten. Der Junkie bekam glasige Augen und schwere Lider. Die Leute waren in der Regel wesentlich einfacher zu behandeln, wenn sie zugedröhnt waren. Der Junkie bedankte sich regelrecht für die Festnahme. »Ich weiß das sehr zu schätzen, Mann«, lallte er. »Du bist in Ordnung.«

»Hey Snowe, ich reich die als Beweisstücke für dich ein«, sagte Kleider in einem bemüht fröhlichen und hilfsbereiten Ton. Snowe war sprachlos. Er hatte Kleider nie gemocht, allerdings hauptsächlich weil der sich gegenüber Verdächtigen so beschissen benahm. Einmal hatte er ein junges, schwarzes Mädchen an der Gurgel gepackt, nur weil sie seine Fragen nicht schnell genug beantwortete, und Snowe hatte ihn beobachtet, wie er einen anderen Mann mit dem Kopf gegen die Wand schlug, nachdem er ein Messer in seiner Jackentasche gefunden hatte. Wegen Typen wie Kleider wurden Polizisten von so vielen Leuten gehasst. Aber dass Kleider auch ein Dieb war – auf die Idee war er bisher noch nicht gekommen.

»Ich krieg das schon hin«, sagte Snowe. »Lass mich nur machen.«

»Ach was, ich übernehm das für dich«, erwiderte Kleider und fing an, die Pillenfläschchen in eine Asservatentüte zu stopfen, die er ganz zufällig in seiner Hosentasche fand. Snowe sah ein, dass er ihn nicht zurückhalten konnte, ohne ihm die Diebstahlsabsicht direkt ins Gesicht zu sagen, was ihm widerstrebte. Kleider war Senior Patrolman, drei Jahre länger bei der Truppe als Snowe und stand vor der Beförderung zum Sergeant.

Snowe beobachtete Kleider, wie dieser die Tüte mit den Beweismitteln wie nebenbei durchs offene Fenster seines Streifenwagens warf und sich dann vom Vordersitz eine Taschenlampe holte. »Gute Arbeit, Snowe«, sagte er gut aufgelegt. »Ich schau mal nach dem hinteren Fenster, mach ein paar Beweisfotos.« Snowe war klar, dass er ins Da Vinci’s reingehen und sich noch mehr Pillenfläschchen holen würde. »Okay für dich, wenn du den Drecksack aufs Revier bringst?«

Snowe nickte. »Sag mal, wieso hast du eigentlich so lange gebraucht, bis du hier warst?«, fragte er. »Ist immerhin zehn Minuten her, seit ich um Back-up gebeten hab.«

»Ich war drüben am anderen Stadtrand«, sagte Kleider, und Snowe wusste augenblicklich, dass das gelogen war. Er war eine Meile entfernt gewesen, hatte einen Coke-Dealer aufgemischt, in der sogenannten Wilderness, einer heruntergekommenen Wohnanlage, die für nahezu die Hälfte aller Einsätze der Polizeiwache verantwortlich war – und für fast alle ernsten Fälle. Snowe hatte Kleider nur deshalb gefragt, weil er wissen wollte, ob er die Antwort als Lüge entlarven würde. Und natürlich war sie das. Wie aber konnte er das wissen? Wieso konnte er plötzlich hören, was andere Leute dachten? Träumte er? Hatte er ein Erkältungsmittel genommen oder was gegessen, oder war er irgendeiner Chemikalie zu nahe gekommen, einer Strahlung oder was auch immer, das einem in den Comic-Heften plötzlich besondere Kräfte verlieh? Er versuchte sich an irgendetwas zu erinnern, was er in den letzten Tagen anders als sonst gemacht hatte, es fiel ihm aber nichts ein. War einfach eine ganz normale Woche gewesen.

Snowe nickte. Er war zu verwirrt von seiner neuen Fähigkeit, um sich auf eine Konfrontation einzulassen. Er traute der Sache nicht. Es fühlte sich an, als habe er eine Begabung, aber auch so, als ob er gleich verrückt würde. Er musste sich jetzt konzentrieren. Er benötigte Zeit für sich allein. Er ließ Kleider vor dem offenen Fenster der Da-Vinci-Apotheke stehen, wo dieser alle Pillen an sich raffen konnte, die er für was immer für Nebengeschäftchen benötigte, und kümmerte sich um den Junkie auf seinem Rücksitz. Er stieg in seinen Wagen und fuhr zurück auf die Polizeistation – gerade in dem Augenblick, als zwei weitere Streifenwagen auf dem Schauplatz erschienen.

Der Wärter hatte ein Clipboard und eine Stoppelfrisur und blankpolierte Schuhe. Terry Dyer wusste sofort, dass er eine Militärvergangenheit hatte. Die meisten Gefängniswärter waren im nahe gelegenen Fort Polk angeheuert worden. Nachdem ihre Militärzeit endete, wechselten sie stracks in den Zivilsektor. Da gab’s bessere Bezahlung und keine Außeneinsätze. Und auch das Gefängnis war zufrieden: Man konnte sich aus einem Pool potenzieller Mitarbeiter bedienen, die an Uniformen, autoritäre Strukturen und Gewalt gewöhnt waren. Für alle Beteiligten eine Win-Situation.

»Ich bin Sergeant Coffey«, sagte er, ohne die Hand zum Gruß auszustrecken. Terry fragte sich, ob das daran lag, dass sie eine Frau war, oder ob es vielleicht irgendein besonderes Protokoll für Handshakes gab. »Sie sind wegen diesem Denny hier?«

»Brooks Denny«, sagte sie mit einem zustimmenden Nicken.

»Folgen Sie mir.« Auf seine Aufforderung hin ertönte ein Summton, ein Stahltor öffnete sich, und sie gingen einen sauberen, in fluoreszierendes Licht getauchten Flur entlang. Es folgte ein weiteres Stahltor, das sich summend öffnete. Diesmal hatte es ein Fenster, offenbar aus kugelsicherem Glas, in dem sich ein Drahtgitter abzeichnete. Noch ein Flur, noch ein Tor, darüber eine Aufschrift, »Trakt D – Permanente Unterbringung«. Permanent war im Fall der Todeszellen ja durchaus nicht übertrieben.

Der neue Flur, den sie nun betraten, war von Türen gesäumt, und Coffey blieb an der mit »Besuche-C« beschrifteten dritten Tür stehen. Er spähte vorsichtig durch das kleine Fenster, dann wandte er sich zu Terry und nahm, das Clipboard fest unter den Arm geklemmt, die militärische »Ruht«-Haltung ein.

»Auf dem Tisch ist eine weiße Linie eingezeichnet. Diese weiße Linie dürfen Sie mit keinem Teil Ihres Körpers überschreiten. Sie dürfen den Insassen nicht berühren. Haben Sie verstanden?«

Terry nickte.

»Sie müssen mir das mündlich bestätigen, Ma’am.«

»Ja. Ich habe verstanden.«

»Wenn Sie dem Häftling einen Gegenstand geben wollen, geben Sie den zuerst mir, und ich geb ihn dann weiter. Haben Sie das verstanden?«

»Ja.« Terry dachte einen Augenblick nach. »Sagen Sie, werden Sie eigentlich die ganze Zeit bei uns bleiben?«

»Ja, Ma’am.«

»Wär’s nicht möglich … äh … könnten wir nicht ein wenig unter uns sein?«

»Nein Ma’am, ist nicht möglich.«

»Aber …«, sie hielt einen Moment lang inne. Wie sollte sie das erklären, ohne den Mann zu beleidigen? »Es handelt sich um eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit. Sie haben meine ID gesehen. Sie wissen, wer ich bin. Ich muss mich mit Denny vertraulich unterhalten können, wenn auch nur für ein paar Minuten.«

»Sie hätten das Formular für einen Ehegattenbesuch ausfüllen sollen«, sagte Coffey. Er zog das Clipboard unter seinem Arm hervor. »Ich hab hier nur einen Antrag auf einen Standardbesuch.« Er zeigte ihr das Formular, das sie ein paar Tage zuvor unterschrieben hatte. Sie war sich nicht bewusst gewesen, dass es überhaupt eine Möglichkeit für eine intimere Besuchsvariante gab.

»Ich brauche etwas Privatsphäre«, sagte sie traurig. Vielleicht war ja mit der Verzweifelte-Frau-Masche was auszurichten bei dem Kerl. »Die Angelegenheit ist topsecret.« Sie strich sich die Haare hinter die Ohren und sah sich mit leicht verzweifeltem Gesichtsausdruck um. Sergeant Coffey blickte sie an wie eine Statue. Scheiße. Vielleicht funktionierte flirten? Sie warf ihm einen hilflosen Rehleinblick zu, der ihn ein wenig zu erweichen schien. Er starrte durch das Fenster auf den Insassen.

»Dieser Idiot hat was mit der nationalen Sicherheit zu tun?«, fragte er.

Terry nickte. »Nur am Rande. Ich muss ihm ein paar Fragen stellen.« Sie setzte ein trauriges Lächeln auf, als sei sie besorgt, er würde erneut ablehnen. Er sollte sich ruhig vorstellen, wie sehr sie das zermürben würde.

Coffey zuckte mit den Achseln. »Na gut. Ich warte auf dieser Seite der Tür. Die Regeln übers Berühren gelten aber trotzdem. Ich beobachte euch durchs Fenster.«

»Vielen, vielen Dank, Sergeant«, sagte sie, während sie leicht seinen Arm berührte und ihre Gesichtszüge sich aufhellten. Er errötete leicht, nickte dann unwirsch und zog die schwere Stahltür auf. Sie liebte Männer. Bei einer weiblichen Gefängnisbeamtin hätte sie nicht den Funken einer Chance gehabt.

Denny saß auf einem Stuhl, mit einem orangen Overall bekleidet. Um seine Beine war eine Kette gelegt, die am Boden verklinkt war. Die Hände auf den Knien ruhend, blickte er sie mit einem harten, intelligenten Ausdruck an, während sie ihren Stuhl herauszog und ihm gegenüber am Tisch Platz nahm. Der Tisch war aus schwerem Holz und an den Boden sowie an die Wand geschraubt, wohingegen die Stühle, wie sie bemerkt hatte, überraschend leicht und zart waren. Wahrscheinlich, vermutete Terry, weil die Stühle für den Fall, dass da jemand die Kontrolle über sich verlor, am ehesten als Waffen oder Wurfgeschosse herhalten mussten. Die Tür wurde hinter ihr geschlossen und abgesperrt.

»Ich würde ja aufstehen«, sagte Denny. »Meine Momma hat mir beigebracht, mich zu erheben, wenn eine Lady den Raum betritt. Aber …« Er zeigte auf die Kette, die seine Bewegungsfreiheit erheblich einschränkte.

»Schon gut, danke«, sagte Terry. Sorgsam darauf bedacht, alles auf ihrer Seite der weißen Linie zu behalten, legte sie ihre Aktenmappe auf den Tisch und holte Mr. Dennys Akte heraus. »Ich heiße Terry Dyer«, sagte sie. »Ich bin Regierungsbeamtin und hätte einige Fragen an Sie.«

Denny nickte. Bevor sie hier runtergekommen war, hatte ihr Boss, Section Chief Emmanuel Bentham, sie gewarnt, dass Häftlinge, selbst Mörder, in der Regel ganz normal rüberkamen. Wenn du sie erlebst, ist zwischen ihnen und ihren Taten oft ein Abstand von vielen Jahren, hatte er erklärt. Aber sie solle nie vergessen, wozu sie fähig sind. Dennoch war sie überrascht, wie normal ihr Denny erschien. Wenn sie sich nicht im Todestrakt, sondern in einem Café begegnet wären – würde er sich so stark von den anderen unterscheiden? Sie hatte gelesen, dass er vor seiner Verhaftung bei den Ladys in seiner Stadt beliebt gewesen war. War gut vorstellbar. Er kam ihr vor wie einer der Typen, mit denen man in einer Bar ein Gespräch anfängt, wenn man Lust auf unverbindlichen Spaß hatte.

»Was wollen Sie?«, fragte Denny. Er sprach leise und direkt. Seine frei beweglichen Hände ließ er auf den Knien liegen. Vielleicht eine Vorschrift hier, dachte Terry.

»Auf Ihrem Gefängniskonto liegen 1700 Dollar«, sagte Terry. »Letztes Jahr um diese Zeit hatten Sie 18,42 Dollar auf dem Konto.«

Denny nickte. »Richtig. Na und?«

»Wo ist das Geld hergekommen? Es sind keine Einzahlungen von außen dokumentiert.«

»Andere Insassen«, sagte Denny, den die Art der Befragung offensichtlich langweilte. Er sah sich im Raum um, auch wenn es da nichts zu sehen gab, abgesehen von den weißen Ziegelwänden. Seine Hände lagen noch immer auf seinen Knien. »Kommen Sie von der Steuerbehörde?«

»Derlei Einnahmen sind Sache der einzelnen Bundesstaaten, die US-Regierung besteuert das nicht«, sagte sie mit einem freundlich gemeinten Lächeln. »Warum sollten andere Insassen Ihnen 1700 Dollar geben?«

Denny zuckte mit den Achseln und starrte sie unverwandt an. Genau das ist das Problem, wenn du versuchst, von Bewohnern des Todestrakts Informationen zu bekommen – du kannst ihnen mit nichts drohen. Sie haben nichts zu verlieren. Was also tun, um einen zum Tode Verurteilten zum Reden zu bewegen?

»Was wünschen Sie sich? Es muss doch was geben, das Sie gern hätten. Einen Fernseher, oder besseres Essen, ein Buch, eine Zeitschrift? Ich kann Ihnen das alles besorgen.«

Er machte ein verwundertes Gesicht, etwas verärgert, nicht hoffnungsvoll oder gierig, wie sie gehofft hatte. »Sagen Sie ihnen, sie sollen aufhören, mich mit meinem Termin zu ärgern. Die haben schon dreimal meinen Termin verschoben.«

»Ihren Exekutionstermin?«

Er nickte. »Mein letzter Termin war der 6. August. Zwei Tage vorher sagen sie mir, sie haben schon wieder verschoben. Sagen Sie ihnen, sie sollen mir einen Termin geben und den dann auch einhalten. Können Sie das für mich tun?«

Terry dachte einen Augenblick nach. Sie konnte ihm das sicher versprechen, wenn es ihn glücklich machte. Wenn er im nationalen System gewesen wäre, hätte sie dafür sorgen können, dass er noch am selben Tag angebunden und mit einer Spritze zu Tode gebracht wurde, aber die bundesstaatlichen Gerichte waren schwieriger. Bei einer Todesstrafe ging es ja gerade darum, den Verurteilten aus dem Entscheidungsprozess draußen zu halten. Nur weil da einer sterben wollte, war das kein Grund zur Eile. Die hatten schließlich ihren Opfern auch nicht erlaubt, über den Zeitpunkt zu bestimmen – warum also sollte man ihnen den Gefallen tun? War eine Sache des Prinzips. Terry nickte. »Kein Problem«, sagte sie.

»Das ist alles Scheiße, was Sie da labern«, sagte Denny ruhig, die Hände noch immer auf den Knien, als ob er eine beiläufige Bemerkung übers Wetter machte. »Sie sind von der Bundesbehörde. Auf ein Oklahoma-Gericht haben Sie keinen Einfluss.«

»Wir haben überall Einfluss«, sagte Terry, aber das war gelogen, und er wusste es. So hatte sie sich das Gespräch nicht vorgestellt. Sie war dabei, die Kontrolle zu verlieren. Mit Absicht hatte Denny sie um etwas gebeten, von dem er wusste, dass sie es ihm nicht geben konnte, um ihre Aufrichtigkeit zu testen – und sie war ihm auf den Leim gegangen. Wenn sie ihm sagte, was sie wirklich tun konnte, was sie zu tun beabsichtigte – nämlich ihn hier rauszuholen –, würde er ihr nie glauben. Doch zuvor musste sie wissen, wo sein Geld hergekommen war.

Einige Sekunden lang saßen sie nur da und sahen einander an, Denny mit den Händen auf den Knien und Terry mit ihrer offenen Mappe vor sich auf dem Tisch. Sie wusste einfach, dass er zu ihnen gehörte. Inzwischen hatte sie so viel Erfahrung, dass sie so was augenblicklich schnallte: Er war online. Vielleicht lag es an der Art, wie sie redeten, oder an einem Blick, den sie dir zuwarfen, als ob sie dich restlos durchschauten, als ob niemand vor ihnen etwas geheim halten konnte. Niemandem außer ihr, aber das war ihm noch gar nicht aufgefallen.

Es war das Selbstbewusstsein, die Energie. Die Energie zeigte sich in ihren Gesichtern. Er versuchte sie zu lesen, schien aber nicht frustriert darüber, dass er keine Informationen bekam. Üblicherweise war dies der Moment, an dem sie feststellten, dass irgendwas anders war mit ihr. Vielleicht hatte seine Zeit im Gefängnis die gesamte Dynamik verändert. Er war weniger gut sozialisiert gewesen.

»Wo ist das Geld hergekommen?«, fragte Terry.

Denny schaute sich schweigend im Raum um, blickte ins Leere, dann seufzte er. »Ich hatte eine Katze«, sagte er. Jetzt hob er zum ersten Mal eine Hand vom Knie und kratzte sich bedächtig am Kinn. »Letztes Jahr hat mir die Gefängnisverwaltung eine Katze geschenkt. Süß war die. Ein kleines Kätzchen. Ich nannte sie Pebbles. Sie kennen doch auch diese ganze Familie-Feuerstein-Scheiße. Weil sie so ’ne Starke war.« Er lächelte zaghaft. »Sie gaben mir ein Katzenklo und eine Futterschale und all das Zeug, und die Katze leistete mir Gesellschaft in der Zelle. Hat zu so ’nem Programm gehört, in dem sie testen wollten, ob die Insassen weniger gewalttätig sind, wenn sie ein Haustier haben. Dann erwischten sie mich mit Schmuggelware und nahmen mir das Tier wieder weg.«

»Schmuggelware?«

»Ein Metalllöffel. Ich hab den im Hof am Boden gefunden, dreckverschmiert. Ist aber nicht erlaubt, so was zu besitzen. Ich hab ihn in meine Zelle gebracht, und sie haben ihn bei einer unangekündigten Kontrolle gefunden.«

»Sie hätten den Löffel nicht an sich nehmen dürfen. Sie kennen die Regeln«, sagte Terry.

Zum ersten Mal ließ Denny es zu, dass in seinem Gesicht eine Emotion aufblitzte, die sich aber gleich wieder verflüchtigte. Ein kurzes zorniges Aufflackern. Es gefiel ihm nicht, zurechtgewiesen zu werden. Sie hätte gefühlvoll reagieren sollen, als er ihr die Katzengeschichte erzählte, doch diese Gelegenheit hatte sie verpasst.

»Soll ich mich dafür einsetzen, dass sie die Katze zurückbekommen?«

»Sie wurde nach draußen vergeben. Die ist weg«, sagte Denny. Doch seine Stimme hatte sich merklich verändert. Ins Zornige. Der Polizistenmörder war jetzt knapp unter der Oberfläche. »Ist ohnehin nur auf Zeit. Wir kriegen sie ein paar Monate, bis der Tierschutzverband ein Zuhause für sie findet.«

»Was war dann das Problem?«

»Sie haben sie mir einfach weggenommen. Ohne Warnung. Sind einfach in meine Zelle gekommen, während ich im Hof war, und als ich zurückkam, war sie weg. Keine Gelegenheit, goodbye zu sagen.«

Du lieber Gott! Das war ja alles ganz interessant, diese Große Katzentragödie,doch was zum Teufel wollte er eigentlich? Was konnte sie für ihn tun, um so weit sein Vertrauen zu gewinnen, dass mit ihrer Sache was weiterging? Terry lehnte sich über den Tisch und streckte beide Arme bis zur weißen Linie aus. Ob Sergeant Coffey jetzt durch das Fenster spähte, um zu checken, ob sie die Grenze überschritt, die von der gedachten Wand oberhalb der Linie gebildet wurde? Sie hielt Denny ihre offenen Handflächen hin, als befände sich eine Glasscheibe zwischen ihnen, dann fragte sie ihn noch einmal mit flehentlicher Stimme: »Aber was soll ich denn bloß machen? Was kann ich für Sie tun?«

Denny zuckte mit den Achseln, seine Verärgerung verflog. Vielleicht wollte er nur darüber sprechen. Wie oft hatte er schon Gelegenheit, sich mit Leuten zu unterhalten, die keine Kriminellen waren? Noch dazu mit einer Frau! »Ich spiele Karten um Geld. Ich zocke. Wir spielen Karten. Zufrieden? Und jetzt nehmen Sie mir das Geld vom Konto und geben es irgendeinem Beamtenarsch, damit der sich ein Steak zum Abendessen leisten kann?« Er lächelte, beinahe liebenswürdig. »Oder womöglich behalten Sie’s ganz für sich?«

Sie lächelte zurück, in der Hoffnung, es würde freundlich ankommen. »Nein. Es ist Ihr Geld. Meine Behörde kümmert sich darum nicht.«

»Was für eine Behörde ist das? Worum geht es Ihnen eigentlich?«

»Ach, wir kümmern uns um Geldsachen und so Zeug. Wie sind Sie ein so guter Kartenspieler geworden?«

Er zuckte mit den Achseln. Er war es gewohnt, Geheimnisse für sich zu behalten, das wusste sie. Bevor er den Cop getötet hatte, war er einige Jahre lang eine größere Nummer im Drogengeschäft gewesen, ziemlich erfolgreich. Er hatte den Ruf eines Mannes, der nur dann sprach, wenn es unbedingt sein musste. »Ich war schon immer gut im Pokern.«

Terry seufzte. Mal kurz das Thema wechseln, dachte sie, vielleicht nützt’s ja was. Sie warf einen Blick auf die erste Seite seines Gefängnisaktes. In der Rubrik Besondere Kennzeichen stand: Tätowierung, linke Schulter. Schlange, schwarz und rot. »Sie haben eine Tätowierung auf der linken Schulter.«

Dieser neue Gesprächston überraschte ihn. »Yeah, hab ich in der Army machen lassen. In Alaska.« Er schob den Ärmel seines orangen Overalls hoch und zeigte es ihr, das kleine Kriechtier mit der roten Schwanzspitze, das sie so viele Male zuvor gesehen hatte. »Mann, ich war so besoffen in der Nacht, kann mich nicht mal erinnern, wie ich dazu gekommen bin. Ich hab auch Angst vor Schlangen«, sagte er lachend. »Keine Ahnung, was mich dazu gebracht hat, mir eine Schlange tätowieren zu lassen.«

Terry lächelte zurück. Zum ersten Mal erlebte sie ihn angeregt. Es wurde ihr klar, dass er einsam war. Er sehnte sich nach jemandem, mit dem er einfach nur mal plaudern konnte. Er war eingesperrt in seiner Zelle und wollte sterben. Wollte nur reden. Es war ihm eigentlich gar nicht wichtig, weshalb sie gekommen war.

Die Tür öffnete sich hinter ihr. »Fünf Minuten«, sagte Sergeant Coffey, ehe er die Tür wieder schloss. Terry drehte sich um und nickte ihm zu.

»Irgendeinen Einfluss müssen Sie wohl haben, sonst hätten Sie den Scheißkerl nicht dazu gebracht, draußen zu warten«, sagte er in einem Tonfall, in dem nach Terrys Empfinden so was wie Anerkennung für sie durchklang.

»Siebzehnhundert Dollar«, sagte sie im gleichen bewundernden Ton. »Das ist richtig viel Geld. Wie kommt es, dass Sie so gut mit Karten sind, Brooks?«

»Brooks«, lachte er. »Jetzt bin ich also Brooks, nicht wahr? Verdammt lange her, dass mich jemand so genannt hat.« Lächelnd schüttelte er den Kopf. Er legte die Hände wieder auf die Knie. »Sie wollen wissen, wie ich beim Kartenspielen gewinne?«

Sie nickte.

»Sie werden mir nicht glauben.«

Sie zuckte mit den Achseln. »Versuchen Sie’s doch mal.«

»Es ist so, als könnte ich die Karten, die die anderen in Händen halten, sehen. Ich weiß, dass Sie mir nicht glauben, und mir ist das auch scheißegal. Ich hab das noch nie jemandem erzählt, aber ich kann das Blatt der anderen Spieler sehen. Es fing einige Tage vor meinem letzten Exekutionstermin an. Wissen Sie, ich dachte, das hätte was damit zu tun, dass ich mich dem Tod näherte. Auf einmal konnte ich alles rund um mich sehen und spüren. Total abgefahren.«

Terry nickte und lächelte. »Das ist tatsächlich abgefahren«, sagte sie, wohl wissend, dass sie kokett klang. War aber kein Problem, zumal sie sehr erleichtert darüber war, dass Denny bestätigte, was sie ohnehin schon wusste. Emmanuel war überhaupt nicht begeistert davon, dass sie hier runterging. Er konnte nichts Besonderes darin erkennen, dass Denny so viel Geld auf dem Insassenkonto liegen hatte. Schließlich hatte er zugestimmt, damit sie Ruhe gab.

»Ich sag Ihnen noch was«, sagte Denny, nach vorne gebeugt und mit gesenkter Stimme. »Kennen Sie den Wärter da draußen, den Coffey?«

Terry nickte.

»Der spielt den superanständigen Kerl, dabei betrügt er seine Frau mit einer weiblichen Kollegin namens Andrea, die in der Aufnahme arbeitet. Keine Ahnung, Mann, warum ich das weiß, ist total verrückt. Ich weiß es einfach.«

Terry lachte. Das war eben ein kleines Info-Schnäppchen gewesen, das vielleicht ganz gelegen kam. Doch Denny war noch nicht fertig.

»Das Verrückteste kommt aber noch«, lachte er. »Bevor sie mir die Katze wegnahmen, konnte ich die ebenfalls denken hören. Als ob ich gewusst hätte, wann sie hungrig war oder gekrault werden wollte …«

Die Farbe war aus Dennys Gesicht gewichen, ohne dass er es beim Reden und in seiner vergnügten Stimmung merkte. Du meine Güte, dachte sie, dieser Typ versteht Tiere. Er muss seit mindestens einem Jahr online sein. Der ist ein verdammter Level One. Sie versuchte wieder zu lächeln und sich vorzubeugen, als ob das Gespräch noch im Gang wäre. Hinter ihnen öffnete sich die Tür.

»Die Zeit ist abgelaufen«, sagte Coffey.

»Trotzdem komisch«, sagte Denny, obwohl die Tür offen war und Coffey vor ihm stand. »Sie.«

»Was ist mit mir?«, fragte Terry, wohl wissend, was jetzt kommen würde.

»Ich sehe nichts … ich höre nichts«, suchte er nach Worten. Er war ein Level One, und ihm fehlten selbst die einfachsten Begriffe, um zu erklären, was vor sich ging. »Von Ihnen empfange ich rein gar nichts.«

»Ich bin ein vielschichtiges Mädchen«, sagte Terry und machte ihre Aktentasche zu. »Auf Wiedersehen. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.«

Sergeant Coffey und Denny machten beide ein überraschtes Gesicht über die Freundlichkeit der Verabschiedung – als ob sie von einer Dinner Party nach Hause aufbräche.

Nachdem sich die Tür geschlossen hatte und sie den blank gescheuerten, weißen, fluoreszierenden Flur in Richtung Haupttor entlangschlenderten, fragte Terry: »Wie stehen die Chancen, dass ihr ihn den Bundesbehörden übergebt?«

»Dafür bin ich nicht zuständig, Ma’am. Aber ich schätze, die sind gleich null.«

Sie gingen durch den Aufnahmebereich, den ersten Raum auf ihrem Weg, der ein Fenster zum Gefängnishof hinaus hatte. Terry bemerkte, dass es regnete. Innerhalb des Gefängnisses gab es keinen Regen, keinen Himmel, keine natürliche Welt. Der Regen erinnerte sie daran, dass sie ein menschliches Wesen war. Polizistenmörder oder nicht – ab und zu musste man daran erinnert werden.

Die Justizbeamtin im Aufnahmekäfig, eine korpulente, dunkelhaarige, junge Frau mit einem hübschen Gesicht und üppigem Make-up, schob der vorbeigehenden Terry das Registrierheft zu. »Sie müssen sich austragen, Ma’am«, sagte sie.

Terry sah sie an. Auf ihrem Namensschild stand »A. Marcotti«.

»Wofür steht eigentlich das A?«, fragte Terry.

»Andrea«, sagte die Frau, die anscheinend nicht im Geringsten an einer Fortsetzung der Konversation interessiert war. Sie zeigte in die entsprechende Spalte des Formulars. »Hier bitte«, sagte sie.

Terry blickte Andrea eine Sekunde lang an, dann Sergeant Coffey. War eindeutig im Bereich des Möglichen. Sie schaute auf die Uhr und unterschrieb das Formular. »Danke. Bye.«

Sergeant Coffey nickte, Andrea gab keine Antwort. Terry zog sich den Mantel über den Kopf hoch, während sie in den warmen Oklahoma-Regen hinausging. Ein Level One also. Total heiße Sache, das!

Kapitel zwei

Snowe war zurück in seinem Apartment und zappte sich durch die Kanäle, erleichtert, dass er die Gedanken der Protagonisten in den TV-Sendungen nicht lesen konnte. Nie war er glücklicher darüber gewesen, dass er allein wohnte. Als der Pizzalieferant an der Tür gestanden hatte, hatte er dreißig Sekunden dessen Gedankenstrom mitgehört, während er nach einem Zwanziger suchte … wird der Mann mir ein Trinkgeld geben. Shit, ich hoffe, der lässt sich nicht bis auf den letzten Cent rausgeben, hat ein nettes Apartment, so eins hätte ich auch gern, keine Mitbewohner, Mann, ich muss wirklich ausziehen und mir meine eigene Wohnung suchen, auch ’n tolles TV-Gerät, was ist das für einer, ein 36-Zoll-Flatscreen … Da ist sein Wechselgeld, da fällt kein Trinkgeld ab für mich …

»Behalten Sie den Rest«, sagte Snowe und verzichtete lieber auf volle sieben Dollar Wechselgeld, als sich den Nonsens noch länger anhören zu müssen.

»Wow, im Ernst? Thanks, Man«, geile Sache … was für ein cooler Typ. Könnte der bitte jeden Abend was bestellen?!

Snowe hatte versucht, ihm nicht die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Er ging ein paar Minuten in seiner Wohnung umher, die Pizzaschachtel lag mit geöffnetem Deckel auf dem Esszimmertisch, und er bemühte sich, nicht durchzudrehen. Hatte der Fahrer wirklich diese Gedanken gehabt, oder hatte er sich das nur vorgestellt? Und der Junkie letzte Nacht? Und Kleider, der Pillendieb? Nachdem er mit seinem Papierkram fertig war und Jenny, der Nachtdienst-Kollegin, eine gute Nacht gewünscht hatte, hatte die dann wirklich gedacht, Snowe habe einen kessen Hintern und dass sie ihn gern nackt sehen würde? Sie war sechzig Jahre alt, verheiratet mit vier erwachsenen Kindern, und sie backte Kekse für die Beamten, die sonntagmorgens Dienst hatten. Und war Sergeant Townes, der Schichtdienst machte, tatsächlich schwul? Snowe hatte ihn denken gehört, wie sehr er sich wünschte, Officer Aguilar, den erst kürzlich eingestellten Latino-Neuling, flachzulegen. Vielleicht treib ich mich einfach in der Umkleide bei den Spinden rum, wenn Aguilar in die Dusche geht. Sergeant Townes war Mitte fünfzig und sehr auf die Einhaltung der Vorschriften erpicht. Unter seinem Kommando mussten die Officer stets geschniegelt und frisch rasiert auf Streife gehen, darauf legte er großen Wert.

Kurz nachdem er sich das Frühstück zubereitet hatte, erhielt er einen Anruf von einem Telefonverkäufer, der ihm eine Aktualisierung seines Telefonvertrags anbot, und er dehnte das Gespräch einige Minuten länger als nötig aus, froh darüber, dass er nichts weiter als die Stimme des Mannes hörte. Letztlich hatte er dem neuen Vertrag nur aus Erleichterung darüber zugestimmt, dass er die inneren Stimmen übers Telefon nicht hören konnte. Der Verkäufer schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte, zumal er das Gespräch mit Snowe alle paar Minuten unterbrach, um nachzufragen, »Mr. Snowe, sind Sie noch da?« Snowe hatte keine Ahnung, was er da jetzt vereinbart hatte. Er wusste nur, dass seine Mobiltelefonrechnung jetzt höher sein würde – und dass er die Gedanken einer anderen Person nur dann hören beziehungsweise lesen konnte, wenn er mit dieser in einem Raum war.

Vielleicht sollte er mit jemandem darüber sprechen. Aber mit wem? Wer würde ihm glauben? Und würden die Menschen sich nicht unwohl in seiner Gegenwart fühlen und ihn womöglich meiden? Er wusste bereits, dass einer seiner Kollegen ein Dieb war, ein anderer schwul, ein weiterer geil – und all das nach wenigen Minuten. Was würde dann nach einer Stunde ans Tageslicht kommen? Wie konnte er eine ganze Schicht mit einem Partner absolvieren, acht Stunden in einem Auto mit einem anderen Streifenpolizisten, von dem er jedes noch so triviale Detail, das ihm durch den Kopf ging, ungefiltert mitbekommen würde? Es ging ja nicht nur um die Geheimnisse, es ging auch um die Banalitäten.

Jemanden ins Vertrauen zu ziehen war also keine Option. Aber was dann? Er ging ins Internet und suchte nach »Gedankenlesen«. Ein Wust technischer Artikel über neue medizinische Geräte für Gelähmte. Technischer Jargon. Schnittstellen zwischen Gehirn und Computer, LOHA-Navigatoren, Software, die die eigenen Gedanken in Computeraktionen umzusetzen verstand. Und für die Fans von Stanniolhüten jede Menge Kopfgeschirr aus Metall, das andere Menschen davon abhalten sollte, ihre Gedanken zu lesen. Aber keine Informationen darüber, was du tun sollst, wenn du plötzlich diese Fähigkeit an dir feststellst.

Er klickte sich von einer Site zur nächsten, um irgendetwas zu finden, was zu seiner Situation passte. Auf der achten Ergebnisseite, nach einem Artikel, den ein Mann verfasst hatte, der »intuitiv wusste«, dass die US-Regierung für Nine Eleven verantwortlich war und obendrein unser Trinkwasser vergiftete, entdeckte er einen Eintrag auf einer Website über mentale Gesundheit mit dem Titel »Hilfe, ich kann die Gedanken anderer Menschen hören«.

Snowe klickte den Thread an und war sogleich enttäuscht, dass das Posting so kurz war. Es stammte von einem User, der sich als mindreader1234 bezeichnete. Der einfallslose Benutzername ließ darauf schließen, dass der Account hastig eingerichtet wurde, nur um das Posting abzusetzen.

Helft mir!, schrieb mindreader1234. Letzte Woche in der Arbeit fing ich an zu glauben, dass ich die Gedanken anderer Menschen lesen kann. Es ist aus dem Nichts gekommen. In meiner Familie hat’s nie so was wie Geisteskrankheiten gegeben. Keine Ahnung, was das soll.

Das war alles, mehr stand nicht in dem Posting. Die Antworten kamen sämtlich von gutmeinenden und hilfsbereiten Postern, die ihm vorschlugen, sich unverzüglich an einen Psychiater zu wenden. Der Ausdruck »Schizophrenie« kam häufig vor, dazu Anekdoten über Bekannte, die ähnliche Symptome gezeigt hatten, ehe sie diagnostiziert wurden. Ein Poster fragte, ob er in letzter Zeit einen Psycho- oder Persönlichkeitstest gemacht habe, und mindreader1234 antwortete: Nicht seit der Militärzeit. Es folgten keine weiteren Postings oder Antworten.

Der Eintrag war mit August 2008 datiert und schien zur Website eines psychiatrischen Krankenhauses in Pennsylvania zu gehören. Dieses Krankenhaus war mit einer Kette von Drogen-Reha-Zentren und Websites über Suchtkrankheiten in allen Teilen des Landes verlinkt.

Snowe ging durch den Hausflur und klopfte an die Tür seines Nachbarn. Das war ein tätowierter Musiker mit struppigem Haar, mit dem Snowe in den vergangenen drei Jahren bloß zweimal gesprochen hatte, und zwar jedes Mal nur, um ihn zu bitten, weniger Krach zu machen. Der Typ wusste, dass Snowe Polizist war, weshalb er sich fügte, doch Snowe hatte das Gefühl, der Nachbar wäre wohl ungemütlich geworden, hätte er sich nicht einem Angehörigen der Exekutive gegenübergesehen. Soviel Snowe von der Exfreundin des Musikers, die er mal in der Waschküche getroffen hatte, gerüchteweise hörte, war der Mann auch als Computer-Hacker aktiv.

Der Typ öffnete die Tür und blickte sich verwirrt um, zumal seine Stereoanlage gar nicht durchs Haus dröhnte. »Hey«, sagte er, um Freundlichkeit bemüht. Du meine Güte, was will dieser Bullenarsch. Bin froh, dass er nicht vor zwanzig Minuten aufgetaucht ist, da hätte er mich ein hübsches Pfeifchen rauchend angetroffen. Ich wünschte, dieser Scheißkerl würde ausziehen. Der macht mich noch ganz paranoid.

Snowe ignorierte die Gedanken, was ihm ohne Mühe gelang, obwohl das Phänomen kaum vierundzwanzig Stunden alt war – du kannst nicht auf die Gedanken der Leute reagieren, sondern bloß darauf, was sie sagen. Aus dem hinteren Zimmer wehte ihn ein leichter Geruch von Haschrauch an; auf der Couch des Musikers da hinten erspähte er eine junge Frau unter einer Decke liegend. »Sie müssen mir einen Gefallen tun«, sagte Snowe. »Ich zahle dafür.«

»Worum geht’s?«

»Sie kennen sich gut mit Computern aus, oder?«

Der Mann zuckte mit den Achseln. Er war älter, als Snowe ihn in Erinnerung hatte. Wegen seines Lebensstils hatte Snowe ihn auf höchstens Anfang zwanzig geschätzt; jetzt, so bei Tageslicht betrachtet, hätte Snowe ihm gute dreißig gegeben. Seine Haut war zerfurcht und lederartig. Snowe fragte sich, wie viel Geld man heutzutage mit Musik machen konnte. Konnte er sich sein Apartment und die neue Dodge-Ram-Karosse allein von dem leisten, was er als Bass-Spieler samstagnachts im HyperGrill verdiente?

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