Hoffnung ist Gift - Iain Levison - E-Book

Hoffnung ist Gift E-Book

Iain Levison

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Beschreibung

Jeff Sutton, Taxifahrer in Dallas, USA, fährt eine Frau vom Flughafen in eine noble Villengegend. Da sie nicht genug Geld dabeihat, bittet ihn die Dame noch mit ins Haus. Als kurz darauf ihre zwölfjährige Tochter verschwindet, steht für die Polizei fest, dass hier nur einer als Täter in Frage kommt. Der unbescholtene Taxifahrer wird in Untersuchungshaft genommen und im Trakt der Todeskandidaten untergebracht. Dort ist sein einziger Gefährte Robert, ein gefühlskalter Mörder. Ausgerechnet er glaubt an Jeffs Unschuld - aber glaubt Jeff selbst noch an Gerechtigkeit? Am Tag der Urteilsverkündung nimmt sein Fall eine überraschende Wendung ... Ein Krimi, der auf einer wahren Geschichte beruht.

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Deuticke E-Book

Iain Levison

Hoffnung ist Gift

Roman

Aus dem Englischen von Walter Goidinger

Deuticke

ISBN 978-3-552-06204-7

Copyright © 2011 by Éditions Liana Levi

Originaltitel: The Cab Driver

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe

© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2012

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Für Richard Ricci

ANRUFER: Hi. Ist es dem FBI oder den mit dem Fall befassten Polizeibeamten erlaubt, Herrn Ricci mit Natriumpentothal zu traktieren, um zu klären, ob er mit dem Verschwinden dieses Mädchens etwas zu tun hat? Kann das dann gegen ihn verwendet werden?

GRACE: Ich wünschte, es wäre so, Larry! Unter unserer Verfassung ist das aber leider nicht erlaubt. Kein Natriumpentothal, keine Wahrheitsdrogen, kein Schlagen, keine Folter. Wir müssen warten, bis Ricci aufgibt. Ja, so ist das.

Larry King Live, 11. Juli 2003. Die TV-Moderatorin Nancy Grace beklagt sich darüber, dass Folter nach US-Recht untersagt ist. Der Mann, um den es dabei ging, wurde später von allen Anschuldigungen freigesprochen.

Klar sagen sie, dass er gefährlich ist … wäre er harmlos, wie könnten sie dann Helden sein?

Alfred Hitchcock, Saboteur

Kapitel eins

Dienstag, am frühen Abend, fahre ich zum Flughafen runter. Gleich nach sechs Uhr kommen die Geschäftsreisenden an. Da das auch die anderen Taxifahrer wissen, bildet sich am Taxistand oft eine lange Fahrzeugreihe, und wenn es mehr Taxis als Kunden gibt, kannst du stundenlang warten, ohne eine Fahrt zu bekommen. Aus diesem Grund mach ich mir in der Regel auch nicht allzu viel aus dem Flughafen oder dem Bahnhof, und am Busbahnhof bin ich seit Jahren nicht gewesen (wenn diese Leute Geld für ein Taxi hätten, wären sie wohl nicht mit dem Bus unterwegs …), aber an diesem Abend hab ich ein gutes Gefühl.

Und in der Tat: Schon beim Runterfahren ist der Verkehr dünn, und dann stehen bloß zwei Wagen vor mir in der Reihe. Einer davon ist Charlie White, der wahrscheinlich schon den ganzen Nachmittag hier rumsteht, nur um dann Erster zu sein, wenn die Business-Typen eintrudeln. Charlie sitzt seit dreißig Jahren hinterm Steuer und hängt der Philosophie an, eine einzige gute Fahrt sei allemal besser als ein Dutzend Kleinaufträge. In den achtziger Jahren hat er mal eine Fahrt vom Dallas Fort Worth Airport nach Waco aufgerissen – einige Hundert Dollar, dazu noch ordentlich Trinkgeld. Seither hängt er ständig am Flughafen rum.

Eine Flugzeugladung Anzugträger kommt durch die automatischen Türen raus, alle mit Rollköfferchen im Schlepptau. Ich überlege gerade, wie sich die Mode bei Reisegepäck die Jahre über geändert hat, als ich höre, wie meine Wagentür geöffnet wird. Als ich mich umdrehe, sehe ich eine hübsche blonde Frau in einem hellbraunen Hosenanzug einsteigen. Ich rieche teures Parfum.

»Kennen Sie Westboro?«, fragt sie.

»Ja, kenn ich.« Mindestens eine halbe Stunde Fahrzeit, so viel weiß ich. Da könnten an die sechzig Dollar rausspringen. Jetzt sehe ich Charlie wegfahren, und ich frage mich, ob ihm sein unendliches Warten eine ähnlich gute Fuhre eingebracht hat. Meistens wollen die Geschäftsreisenden ja doch nur in ein Downtown-Hotel.

Sie wirft ihr Rollköfferchen auf den Sitz, steigt ein und nennt mir die Adresse. Dann holt sie, wie jeder andere Fahrgast auch, ihr Mobiltelefon aus der Tasche.

Seit es Mobiltelefone gibt, hat sich der Beruf des Taxifahrers verändert. In den alten Zeiten musstest du jede Menge Konversation machen. Jetzt hörst du nur mehr den Gesprächen der anderen zu. Sieht ganz so aus, als könnte es kein Mensch länger als fünf Minuten in einem Taxi aushalten, ohne einen Freund oder ein Familienmitglied anzurufen, um dem mitzuteilen, man sei gerade in einem Taxi. »Hey Baby, was läuft so? Echt wahr? Ich bin gerade im Taxi …« Taxifahren ist offenbar wesentlich interessanter, als ich immer dachte, sonst würde es nicht ständig zum Thema gemacht.

Ich beobachte sie im Spiegel, während sie mit ihren Kindern telefoniert. »Mutti ist in einer halben Stunde bei euch«, sagt sie frohgemut, dann folgen noch ein paar Fragen über die Schule. Eine selbstbewusste Frau, das hab ich gleich bemerkt – als Mutter und im Berufsleben. Ich bin mir sicher, dass sie zu Hause sagt, wo’s langgeht. Ihre Stimme ist laut und klar.

Sie legt auf und ruft gleich jemand anderen an. Diesmal spricht sie mit weicherer Stimme. »Ja«, sagt sie, »es war ein ruhiger Flug. Keine Verspätung.« Jetzt versucht sie, noch leiser zu sprechen, so als würde ich sie neugierig mustern und nicht meine Augen geradeaus auf die Straße richten. Wenn das ihr Mann wäre, würde sie wohl kaum so geheimnisvoll tun. Diese Beziehung will sie geheim halten, sie scheint aber im Metier der Untreue noch ein Neuling zu sein, wenn selbst ein Taxifahrer das so schnell rauskriegt. Möglicherweise war das ja auch gar keine Geschäftsreise. Zum Ende des Gesprächs hin hat sich ihre Stimme bis zur Unhörbarkeit verflüchtigt.

Sie klappt ihr Handy zu und legt es in die Handtasche, lehnt sich auf dem Vinylsitz zurück und beobachtet die Autobahn.

»Sie sind Amerikaner«, sagt sie nach einer Weile. Sie hat meine Taxilizenz am Armaturenbrett studiert.

»Ja, Ma’m.« Wegen der zahlreichen Taxifahrer aus dem Nahen Osten oder aus Asien wird diese Tatsache immer öfter kommentiert. Normalerweise krieg ich als Nächstes ein »verdammte Ausländer« oder so was Ähnliches zu hören, aber diese Lady ist dafür zu fein.

»Ist ewig her, dass ich einen amerikanischen Lenker hatte«, sagt sie. »Ich wusste gar nicht, dass es das noch gibt.«

»Ich geb Ihnen meine Karte«, sage ich. Wenn Sie mich einen Amerikaner nennt, will sie mich in Wahrheit als Weißen bezeichnen. Ihr gefällt das. Wenn wir frei wählen können, haben wir dann nicht lieber Leute um uns, die uns möglichst ähnlich sind? Ich lasse meine Karte durch den Geldschlitz in der Plexiglastrennwand fallen, und sie nimmt sie an sich. Gelegenheiten muss man nützen.

Wir fahren längere Zeit, ohne ein Wort zu wechseln, ich fahre von der Autobahn ab und weiter Richtung Westboro. Keine Fabriken mehr, keine Bohrtürme oder Pipelines. Schluss mit dem Lärm von Sattelschleppern, Eisenbahnen und Flugzeugen. Wenige Häuserblocks nach der Ausfahrt gibt es nichts mehr außer der Stille baumgesäumter Straßen. Langsam fahre ich an einem im Schatten einer Ulme vor einem Café sitzenden Paar vorbei. Gleich darauf passieren wir einen öffentlichen Park, wo sich Kinder auf Schaukeln vergnügen. Nach dem Park werden die Häuser merkbar mächtiger, mit größeren Abständen dazwischen. Die Hauszufahrten sind jetzt länger und die darin geparkten Autos durchwegs groß und von glänzender Noblesse.

»Bis zum dritten Haus«, sagt sie. »Sie können vor die Haustür fahren.«

Der Garten vor ihrem Haus hat die Größe eines Football-Feldes, an den beiden Enden der hufeisenförmigen Zufahrt steht je eine gepflegte Eiche. Ich fahre vor das Eingangstor, da stößt mein Fahrgast mit Blick auf den am Taxameter angezeigten Preis von fünfundachtzig Dollar einen Fluch aus.

»Verflixt«, sagt sie, in ihrer Geldbörse kramend. »Ich hab nur fünfzig dabei. Kommen Sie doch einen Augenblick rein, ich hol mir noch schnell Bargeld von oben.«

»Danke. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gern Ihre Toilette benützen.« Seit mindestens fünf Stunden sitz ich ohne Unterbrechung in diesem verdammten Wagen, krieg schon ganz taube Beine. Ich hab eine Milchflasche unter dem Beifahrersitz, in die ich während der Schicht reinpissen kann. Mein kleines, feines Geheimnis, das die zahlenden Fahrgäste nicht zu wissen brauchen. Dient aber nur für Notfälle. Wenn sich eine Gelegenheit ergibt, die Milchflasche zu vermeiden, nutz ich sie.

Meine ersten zwei oder drei Schritte nach dem Aussteigen sind noch wackelig, bis sich die Muskeln wieder belebt haben. Ich biete an, ihr Gepäck zu tragen, doch sie winkt ab, holt ihre Schlüssel raus und öffnet die Tür. Als ich eintrete, werde ich von einem Schwall kühler Aircondition-Luft mit dem frischen, sauberen Duft von Ahornholz empfangen.

»Das Badezimmer ist gleich hier«, sagt sie und zeigt auf eine Tür neben der Küche. Sie geht die teppichbelegte Wendeltreppe hoch. »Bin gleich zurück.«

Ich gehe ins Badezimmer und genieße die kühle Luft und die Stille dieser opulenten Villa. Was für ein Gegensatz zum ewig dröhnenden Lärm und zur Hitze im Taxi. Ich betrachte mich im Spiegel. Übernächtigt und müde sehe ich aus, die Bartstoppeln sind einen Tag alt. Ich hätte einen wie mich jedenfalls nicht ins Haus gelassen. Nachdem ich die Toilette benutzt habe, wasche ich mir die Hände und bespritze mein Gesicht mit Wasser. Jetzt sehe ich müde und nass aus. Wenigstens ist morgen mein freier Tag.

Ich spüle die Toilette, und als ich ins Foyer zurückkomme, ist sie noch immer nicht mit dem Geld zurück. Ich kann hören, wie sie oben mit jemandem telefoniert, diesmal nicht mit der sanften Stimme ihrer Taxi-Konversation. Ihre Stimme ist hoch, angespannt, aggressiv. Jemand hat sie geärgert. Ich höre, wie sie unmittelbar über mir im Zimmer auf und ab geht, beinahe schreiend.

Ich sehe mich im Erdgeschoss um. Eine Küche mit den Abmessungen meiner Wohnung, in deren Mitte eine mächtige Kochinsel thront, wird durch ein Panoramafenster mit Blick auf den endlos erscheinenden Garten mit Licht geflutet. Ich sehe eine Veranda, die komfortabler und teurer möbliert ist als mein Wohnzimmer. Zu meiner Rechten, hinter dem Treppenaufgang, befindet sich ein Kinderzimmer, dessen Boden mit Spielzeug übersät ist. Ich betrete das Zimmer, vorsichtig den Spielsachen ausweichend, und bemerke, dass die Fenster an der Oberseite einen auffälligen blauen Streifen aufweisen.

Vor zwölf Jahren, bevor ich den Job beim Taxiunternehmen bekam, hatte ich als Fenstermonteur für die Firma Pierson Home Improvement gearbeitet, und dieses Fenster hier ist eines ihrer Produkte. Alle ihre Fenster haben diesen kleinen blauen Streifen. Ich erinnere mich, dass Paul Pierson, der Eigentümer, die Fensterbank an der Innenseite jedes Mal mit einem winzigen »PP« markierte, wenn er mit einer Montage fertig war. Ich drücke das nicht versperrte Fenster leicht auf, um zu sehen, ob ich die Initialen finde. Sie sind nicht da, ich drücke das Fenster wieder zu. Einer von Piersons Angestellten muss es installiert haben, oder vielleicht hat er die Gewohnheit aufgegeben. Keine Ahnung. Ich geh wieder zurück und warte an der Eingangstür.

Wenn ich aus alldem etwas gelernt habe, dann dies: Rühr niemals die Fenster fremder Leute an!

Die Frau da im oberen Stockwerk wird später behaupten, ihre Fenster seien immer verriegelt. Ohne Ausnahme! Sie sei geradezu eine Sicherheitsfanatikerin, wird sie erklären. Sie wird dies vor einem Richter aussagen.

Außerdem habe ich aus der Sache gelernt, dass jeder lügt, sogar trauernde Mütter.

Gleich darauf kann ich hören, wie sie zornig ins Telefon schreit, dann legt sie auf. Sie schlägt eine Schlafzimmertür zu und läuft so schnell die Treppe runter, dass ich fürchte, sie könnte stolpern und hinfallen. Noch immer makellos gekleidet, ist sie jetzt barfuß und rennt wie ein Teenager.

»Tut mir leid, dass Sie warten mussten«, sagt sie und drückt mir eine um zwei Zwanzigdollarnoten gewickelte Fünfzigdollarnote in die Hand. Ich will um das Wechselgeld in meine Tasche greifen, aber sie winkt wieder ab. »Stimmt so.«

»Danke schön.«

»Gute Fahrt«, sagt sie noch, während ich mich umdrehe und das Haus verlasse.

»Ebenfalls«, sage ich automatisch. Bevor die Sinnlosigkeit meiner Antwort sich richtig entfalten kann, sitz ich schon wieder in meinem Wagen.

Ich fahre wieder durch Westboro, an den Ulmen und Cafés vorbei, zurück zur Autobahn, in die Hitze und den Lärm.

Berühre niemals anderer Leute Fenster. Jeder lügt.

Die restliche Nacht ist ruhig, ein typischer Dienstag, und gegen zwei am Morgen mach ich mich auf den Heimweg. In der Nähe des College fallen mir zwei junge Frauen auf, die schon recht unsicheren Schrittes die Hauptstraße entlangziehen und offenbar versuchen, autozustoppen. Ich nehme an, sie sind zu den College-Unterkünften unterwegs, die ungefähr eine Meile entfernt hier an der Straße liegen. Für mich liegt das unmittelbar am Weg, also halte ich an.

»Wir haben aber kein Geld dabei«, sagt eine der beiden. Durchs Fenster dringt eine Alkoholwolke herein.

»Ihr wollt wohl zu den Studentenheimen da vorne?«

»Exakt.« Das junge Ding hat kaum das gesetzliche Alter für Alkoholkonsum, mit schweren Lidern und leicht schwankend redet sie mich an.

»Kein Problem. Ich nehme euch auch so mit. Ihr wisst aber schon, dass es keine gute Idee ist, hier in der Nacht autozustoppen.«

Sie starrt mich lange an und scheint dabei zu überlegen, ob ich wohl einer von denen bin, vor denen ich sie gerade gewarnt habe, doch ihre Gehirnzellen haben den Dienst für diese Nacht eingestellt. In ihrem besoffenen Zustand ist sie zu keinem vernünftigen Urteil in der Lage, und ihr Starren wird langsam unangenehm.

»Kommt ihr nun mit oder nicht?« Das Geräusch meines laufenden Motors fängt an, mich zu nerven. Ich mag nicht mehr in diesem Wagen sitzen.

Sie wendet sich ihrer Freundin zu, die zwar wie bewusstlos ist, sich aber erstaunlicherweise noch auf den Beinen hält.

»Kelly«, sagt sie. Als Kelly nicht antwortet und stattdessen mit leerem Blick die Tramhaltestelle auf der anderen Seite der unbelebten Straße anstarrt, fasst sie ihre Kumpanin am Arm und zieht sie zum Auto. Nach ein paar Fehlversuchen kriegt sie die Wagentür auf und drückt Kelly hinein, die sich augenblicklich auf den Rücksitz fallen lässt, die Beine noch immer auf der Straße. Nachdem sie Kellys Beine auch noch irgendwie in den Wagen manövriert hat, stolpert sie selbst rein und kommt halb auf ihrer Freundin zum Sitzen.

»Danke«, sagt sie lauter als nötig, während sie die Tür zuschlägt. »Das ist wirklich sehr nett von Ihnen.« Während ich anfahre, stochert sie in ihrer Handtasche herum und zieht schließlich ihr Handy heraus.

Die Straßen der Stadt sind um diese Zeit zwar gottverlassen, aber die abgestimmten Ampeln halten mich auf – eine Rotphase nach der anderen. Die Fahrt dauert länger als erwartet.

»Hi«, hör ich das Mädchen sagen. »Ja. Ein Taxifahrer hat uns gratis mitgenommen. Nein. Ich hab ihm gesagt, dass wir kein Geld haben. O ja. Ein echt cooler Typ. Er heißt Jeff Sutton.«

Meine Daten hat sie von der Lizenzmarke abgelesen und gibt sie jetzt weiter, zur Sicherheit, falls ihr was zustoßen sollte. Das ist heutzutage so üblich. Viele Frauen, die in der Nacht zusteigen, hinterlassen den Namen des Taxifahrers auf einem Anrufbeantworter. Keiner vertraut keinem mehr. War das überhaupt je anders?

Ich stoße einen unterdrückten Fluch aus, als mich die nächste rote Ampel zu einem etwas härteren Bremsen zwingt. Ich vernehme ein Aufschlagen, offenbar ist Kelly vom schwarzen Kunststoffsitz auf den Boden gefallen.

»Tut leid«, sage ich. Mein Gott, ist immerhin eine Gratisfahrt. Ansprüche sind da nicht drin. Hoffentlich keine gebrochene Nase, dann müsste ich mit einer Anzeige rechnen und zugeben, dass ich die beiden entgegen den Vorschriften kostenlos mitgenommen habe. Das Ganze würde mit meiner Entlassung enden. Vielleicht hätte ich mir das überlegen sollen, bevor ich mich gegenüber zwei schwer besoffenen Mädels zum edlen Ritter der Nacht aufschwingen musste.

»Ach du liebe Scheiße«, heult das Mädchen am Handy jetzt auf. Ihre Stimme hört sich so panisch an, dass ich ranfahre und stehenbleibe.

»Was ist los?«, frage ich mit Blick über meine Schulter durch die zerkratzte, kugelsichere Plexiglasscheibe. Sofort wird mir klar, was passiert ist. Kelly ist auf dem Boden und gibt Geräusche von sich, die ich eigentlich nur aus einschlägigen TV-Dokus kenne, wenn ein Wildtier von einer Löwin zerrissen wird. Der Geruch von frischer Kotze sickert durch die Löcher der Trennwand. Wiederholt bäumt Kelly sich auf, jedes Mal begleitet vom Geräusch zu Boden klatschender Flüssigkeit.

»Das tut mir ja so schrecklich leid«, sagt das andere Mädchen immer wieder, wie ein Mantra. Dabei ist die Sache so schlimm auch wieder nicht. Ich fahre seit elf Jahren Taxi, da lernst du den einen oder anderen Trick. Erst vor einigen Tagen hab ich Plastikmatten gekauft, um den abgewetzten Teppich abzudecken, und der Rücksitz ist aus glattem Vinyl. Im Umgang mit der Öffentlichkeit ist es stets von Vorteil, wenn du jeden Quadratzentimeter, den die Leute berühren könnten, mit einem Schlauch abspritzen kannst. Vom pflegeleichten Plastik der Rücksitze hab ich schon alle möglichen Körperflüssigkeiten weggespritzt, bis hin zum Ohrenschmalz. Vor ein paar Wochen hatte ich einen Geschäftsmann auf dem Rücksitz, Typ netter älterer Herr, den ich beobachtete, wie er mit einem Ding in seinem Ohr herumstocherte und seine Beute an meinem Sitz abwischte.

Vor dem Studentenheim halte ich an. Ich hol von unter dem Fahrersitz ein paar Lappen hervor – noch so ein alter Taxilenkertrick. Wenn du’s mit der Öffentlichkeit zu tun hast, sieh zu, dass du immer genug Lappen griffbereit hast. Ich öffne die Tür und schaffe es, Kelly auf die Beine zu stellen, ohne mich mit Erbrochenem zu beschmutzen. Das andere Mädchen, das seinerseits nicht weit davon entfernt ist, Tierlaute auszustoßen, stolpert auf die andere Wagenseite herüber. »Tut mir echt leid«, murmelt sie immer und immer wieder, während ich ihr Kelly übergebe.

»Ist halb so schlimm.« Ich steck mir eine Zigarette an, teilweise um den Gestank abzutöten, zum Teil aus Gewohnheit. So gut wie jedes Mal, wenn ich aus dem Taxi aussteige, steck ich mir eine Zigarette an. »Ihr kennt den Weg?«

Die Mädchen deuten in Richtung des Heimportals, das gut beleuchtet ist. In der Lobby ist ein Security-Mann zu sehen.

»Na, dann eine gute Nacht noch.« Die beiden torkeln zum Eingang.

Ich rauche meine Zigarette fertig, steig in den Wagen und fahre zur Garage runter. Nachdem ich das Erbrochene mit einem Schlauch in einen Kanal gespritzt habe, gönne ich dem Rücksitz ein paar Durchgänge mit dem neuen Dampfreiniger. So wirst du üble Gerüche am sichersten wieder los.

Wenn ich aus der Sache was gelernt habe, dann dieses: Geh niemals mit dem Dampfreiniger übers Auto, nachdem du die Fenster fremder Leute berührt hast!

Ich geb meine Rechnungen im Büro ab, wortlos macht Denise mir die Abrechnung. Nach Abgaben und Steuern bleiben mir einhundertsechzehn Dollar. Nicht gerade großartig für einen Achtzehnstundentag, aber auch nicht schlecht für einen Dienstag.

Wie immer gehe ich die zwei Meilen zu Fuß nach Hause, um meinen Beinen ein wenig Durchblutung zu verschaffen, bevor ich mich schlafen lege. Meine Woche beginnt freitags und endet dienstags, das heißt, ich hab jetzt zwei Tage frei, und während meines gesamten Heimwegs entlang zerrissener Maschendrahtzäune und über verlassene Grundstücke denke ich daran, wie gut es sich anfühlt, wieder eine Woche hinter sich gebracht, wieder sieben Tage überstanden zu haben.

Am nächsten Tag ist heller Sonnenschein, und die Luft fühlt sich schwer an, wie eine unsichtbare Last. Der Zigarettenrauch, den ich, vor der Münzwäscherei stehend, in die Luft blase, wabert träge um meinen Kopf herum. Ich schwitze im Sitzen, trotzdem ist es hier draußen noch erträglicher als drinnen, wo die Feuchtigkeit von den Waschmaschinen und die von den Trocknern abgehende Hitze die reinste Saunaatmosphäre geschaffen und die Fensterscheiben mit undurchsichtigem Dampf belegt haben. Jedes Mal, wenn ein Kunde rauskommt, dringt der ätzende Geruch von Waschmitteln raus auf die Straße.

Manchmal sitze ich im Waschsalon und lese, doch heute sind sämtliche Frauen aus der Nachbarschaft anwesend und unterhalten sich kreischend und kichernd über irgendwelche Bilder in Klatschmagazinen. Ihre Stimmen werden von der Betonziegelwand zurückgeworfen und prallen mit aller Schärfe auf mein Trommelfell. Der Inhalt ihrer Gespräche ist jede Woche der gleiche, nur mit anderen Personen. Wie fein das wäre, so reich oder so schön wie diese oder jene Filmschauspielerin zu sein oder ein wenig vom Talent dieses großartigen Reality-TV-Stars abbekommen zu haben. Sieh dir bloß mal die Autos an, die dieser Typ sammelt. Eines davon würde mir vollauf genügen. Ich fände auch diese Villa ganz nett, mit Blick über diese griechische Insel …

Einmal hab ich halbherzig durch eines dieser Magazine geblättert, bloß um zu gucken, worüber die ständig quasseln. Da war ein Hochglanzfoto nach dem anderen zu sehen, Bilder von schönen Menschen mit Villen, Autos und Diamanten. Der reinste Finanzporno.

Ich mach das, was ich meistens am ersten meiner freien Tage mache: vor dem Waschsalon in einem der billigen Plastikstühle sitzen und über mein Leben nachdenken, während sich drin die Trommel mit meiner Wäsche dreht. Zurückgelehnt blicke ich an mir runter und stelle fest, dass ich langsam ein ganz nettes Bierbäuchlein ansetze. Gut möglich, dass das Netzunterhemd, das ich an Waschtagen für gewöhnlich trage, diese Tatsache auch noch unterstreicht, die mir in letzter Zeit allerdings schon öfter aufgefallen ist.

Das Taxifahren macht mich kaputt. Wortwörtlich. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang hinter dem Lenkrad sitzen, den ganzen Tag ohne Bewegung, davon sind meine einst so kräftigen Beine ganz verkümmert und dürr geworden. In der Highschool hab ich Football gespielt, meine Beine so stark wie Stahlträger. Jetzt bin ich verweichlicht, wie ein eins neunzig großer Marshmallow oder wie eines dieser Kinderspielzeuge ohne scharfe Kanten. An meinen freien Tagen schießen mir stechende Schmerzen in den Rücken ein, eine Folge der Tatsache, dass ich nie irgendwelche Muskeln benutze, abgesehen von denen, die zur Betätigung von Gaspedal und Bremse dienen. Die unbenutzten Muskeln begehren natürlich auf, wenn sie dann eine Ladung Schmutzwäsche das Treppenhaus runterschleppen sollen.

Anfangs hab ich mich tapfer bemüht, möglichst fit zu bleiben. Ich erinnere mich, wie ich in meinem ersten Jahr in der Garage den Oldies beim Kartenspielen zusah und erstaunt ihre Bäuche registrierte, die ihnen nicht erlaubten, näher an den Tisch heranzurücken. Also mussten sie ihre Arme ganz schön strecken, wenn sie Geld in den Topf werfen wollten. Ihre Zähne waren braun vom Kaffee aus dem Laden nebenan, ihre Arme und Beine infolge Nichtgebrauchs spindeldürr. Damals nahm ich mir ganz fest vor, nicht so zu enden wie diese Typen, egal wie lange ich in dem Laden arbeiten würde.

In meinen ersten Jahren war ich Mitglied im Fitnessclub und ging an meinen freien Halbtagen und Tagen regelmäßig zum Training hin. Ich versuchte, die Schichten mit maximal zehn Stunden zu begrenzen, und ging immer zu Fuß nach Hause, damit meine Glieder auch was anderes zu tun bekamen, als bloß auf die Pedale zu drücken. Dann ging die Miete rauf, der Fitnessclub wurde zur nicht unbedingt notwendigen Ausgabe, und längere Arbeitsschichten abzulehnen, war auch nicht mehr drin. Die schrecklichen Kräfte des Verfalls begannen ihr Werk an meinem Körper. Ich habe ständig gearbeitet, und wenn ich mal frei hatte, war ich zu müde, um irgendwas anderes zu tun, als mich auszuruhen, um für die nächste Schicht fit zu sein.

Immerhin hab ich einen Job. Nicht wie die Penner, die hier rund um den Waschsalon rumhängen – schwitzende, zahnlose Kerle mit Zottelbärten und fleckigen T-Shirts. Sie wissen, dass unsereins Kleingeld dabeihat. Ich geb einem von ihnen, der mich vom letzten Mal noch kennt, ein paar Münzen. Sein Anblick erinnert mich daran, dass ich mich rasieren muss. Es ist schließlich nur ein kleiner Schritt von den sexy Dreitagestoppeln der Models in den Magazinen zum Strubbelbart eines verwahrlosten Trinkers.

»Vielen Dank, Sir«, sagt er und nickt mir mit einer leichten Verbeugung zu. Macht mir nichts aus, diesem Typen jede Woche ein paar Münzen zuzustecken, wo er doch immer so dankbar ist. »Gott segne dich, Gott segne dich.« Jede Menge Dankbarkeit für nur fünfundsiebzig Cent. Aus dem Gefühl heraus, so viel Dank nicht verdient zu haben, biete ich ihm eine Zigarette an, die er mit dem Ausdruck noch weiter gesteigerter Dankbarkeit entgegennimmt.

Ein Mercedes fährt vorbei, den er mit derselben Intensität betrachtet, mit der die Frauen drinnen auf die Bilder griechischer Villen starren. »Mann, kann ich mir gut vorstellen, in so einer Karre zu sitzen. Mit dem vornehmen Leder-In-te-ri-eur …« Die letzten Silben zieht er lachend in die Länge, in der Erwartung, dass ich mitlache. Ich lache nicht. Einer wie ich, der sechzehn Stunden am Tag hinterm Lenkrad sitzt, fantasiert nicht über Autos.

»Autos geben Ihnen wohl nichts?«, fragt er.

»Ich fahr den lieben langen Tag ein Taxi«, erkläre ich. Meine Phantasien drehen sich hauptsächlich um Blockhütten, einsame Behausungen im Stil des Unabombers, weit weg vom Schmutz und der Hitze der Stadt. Orte, wo es keinen Verkehr gibt, keine Dieselabgase, keine Kleingeld schnorrenden Penner. Ich träume von Frieden und Ruhe, nicht von phantastischen Besitztümern.

Er aber blickt unverwandt die Straße hinunter, dem Mercedes hinterher. Schon möglich, dass er sich in einer winzigen Ecke seines Gehirns vorstellt, dass er selbst eines Tages so einen besitzen wird. Mit ein wenig Kartenglück, dem richtigen Lotterielos, oder wenn er nur die richtigen Leute kennenlernt, wäre so ein Ding ohne weiteres drinnen. Derlei Gedankenspiele halten ihn aufrecht, und dass ich mich seinem Traum verweigert habe, hat ihn beleidigt. Jetzt macht er sich davon, meine Zigarette rauchend, grußlos.

Der erste freie Tag ist für Wäschewaschen, der zweite für Ausruhen, Erholung und allgemeines Reinemachen reserviert. Ich versuche, meine Agenda möglichst früh abzuarbeiten, damit am Nachmittag ein wenig Zeit für Vergnügen bleibt.

An meinem zweiten freien Tag hole ich mir immer wieder ein paar Bücher aus der Bibliothek, von denen ich mir Ratschläge zur Änderung meines Lebensplans erhoffe. Dann stelle ich mir vor, wie es wäre, ein Anwalt zu sein, Botaniker oder Küchenchef, oder so viel Geld zu sparen, dass ich mir eine Immobilie in Belize leisten könnte. Für ein juristisches Studium müsste ich zunächst mal mehrere Jahre die Abendschule besuchen, nur um an der juristischen Fakultät aufgenommen zu werden, also habe ich diesen Plan bald fallengelassen. Und als ich draufkam, dass ich als Taxifahrer mehr verdiene als ein Botaniker, habe ich das auch aufgegeben. Auf die Idee mit dem Küchenchef hat mich ein echter Chefkoch gebracht, der in Wochenendnächten ein regelmäßiger Fahrgast war. So um zehn Uhr nachts hab ich ihn von seinem Restaurant abgeholt, einem feinen Lokal in einer teuren Gegend, und runter zur Corinth Street gebracht, wo er Koks für seine Küchenbrigade gekauft hat. Auf der Rückfahrt war er stets ein wenig gesprächiger; er würde mich jederzeit als Souschef anstellen, wenn ich das Taxifahren mal aufgeben wollte.

Vor einigen Jahren ist Belize zu einer beliebten Feriendestination geworden, und Amerikaner haben alle guten Strandlagen aufgekauft.

Ich brauche neue Träume, also besorge ich mir ein Buch über Costa Rica, und ein anderes über Gärtnern in Großstädten.

Vor etwa zwei Jahren hab ich begonnen, eine der öffentlichen Gartenparzellen zu nutzen, die man auf einem der leerstehenden Grundstücke in der Nähe meiner Wohnung eingerichtet hatte. Aber im ersten Jahr zerstörten Vandalen und Diebe alle meine Tomaten und Kürbisse, und im zweiten Jahr kamen plötzlich die Leute von der Wasserbehörde an und behaupteten, das Grundstück gehöre ihnen, ich solle gefälligst abhauen. Ab und zu denke ich daran, noch einen Versuch zu starten, diesmal mit offizieller Genehmigung der Stadt.

Als ich mit meinen Büchern ins Apartment zurückkehre, hab ich eine Nachricht von Charlie White auf dem Anrufbeantworter. Er sitzt im Sullivan’s, einer Bar in meiner Straße, und will wissen, ob ich mich anschließen will. Auf ein Bier mit Charlie White zu gehen, hat Vor- und Nachteile. Auf der Habenseite ist zu verbuchen, dass Charlie jede Woche seine regelmäßigen Fuhren absolviert und alles, was darüber hinaus anfällt, an seine Saufkumpane abgibt. Wenn ich zur Bar runtergehe, springen möglicherweise vier oder fünf zusätzliche Aufträge für mich raus. Auf der Negativseite ist zu sagen, dass Charlie, wenn er erst ein paar Biere intus hat, mit seinen endlosen Geschichten über die guten alten Tage des Taxifahrens nervt, über die frühen achtziger Jahre, als sie alle in Geld und Kokain schwammen. Oder die Geschichte über das Dreihundert-Dollar-Trinkgeld nach einer Fahrt nach Waco, oder die mit allerhand Augenzwinkern und vagen Andeutungen garnierte Story über die Stripperinnen, die ihn zu einer Party ins Marriott-Hotel eingeladen hatten. Ich vermute, der gute Charlie lag am Ende bewusstlos in einer Ecke, und die Stripperinnen stiegen auf dem Weg ins Badezimmer über ihn hinweg. Nun gut, ich denke, heute halt ich ihn aus. Bevor er anfängt, ins Land der Nostalgie aufzubrechen, ist er ein recht angenehmer Gesprächspartner, und die Extra-Fuhren kann ich auch gebrauchen.

Ich ruf Charlie an und sag ihm, ich würde in ein paar Minuten dort sein. Ich schnapp mir die Wohnungsschlüssel, meine Brieftasche und mein Handy. Gerade als ich in Richtung Sullivan’s aufbrechen will, klopft es an der Tür.

Mittags um eins an einem Donnerstag. Wer zum Teufel ist das? Vielleicht ein Paket von UPS. Ich bestelle ziemlich viel bei Amazon.

Nachdem ich die Tür geöffnet habe, stehe ich drei Männern gegenüber, einem uniformierten Polizisten und zwei Typen in Anzügen mit überaus ernstem Blick. Mein erster Gedanke ist, dass möglicherweise ein entfernter Verwandter gestorben ist und die drei hier die traurige Nachricht überbringen. Gleich drei Leute als Trauerboten auszusenden, erscheint mir eine Verschwendung von Steuergeld.

»Hey«, sage ich. »Was gibt’s?«

Einer der Zivilen legt eine Hand gegen die Tür und drückt sie weiter auf. Er steckt seinen Kopf in meine Wohnung und sieht sich um. »Können wir reinkommen?«, fragt er.

Das war eindeutig keine Frage, und schon ist er dabei, sich an mir vorbeischiebend, mein Apartment zu betreten, während ich ihn verwirrt anstarre. Die anderen beiden folgen ihm auf dem Fuß, wir stehen jetzt gemeinsam in meinem Flur, und die drei Bullen betrachten mich forschend.

»Was läuft hier ab?«, frage ich.

Keiner antwortet. Der erste Kriminalbeamte, ein älterer Mann mit schütterem Haar, riecht nach Zigarettenrauch. Er blickt sich in meinem gerade eben geputzten Apartment um. Auf meinem abgenutzten, beigen Teppich sind frische Staubsaugerspuren zu bemerken. Die beiden anderen starren mich konzentriert an, während sie sich an mir vorbeischieben, um ebenfalls in die Wohnung zu gelangen.

»Ist was passiert?«, frage ich. Sieht ganz nach schlechten Nachrichten aus, weshalb es mir seltsam erscheint, dass der erste, nach Zigarettenrauch stinkende Typ jetzt mein Schlafzimmer betreten hat. Im ersten Augenblick bin ich nur froh, dass ich das Bett gemacht habe. Erst dann frage ich mich, was zum Teufel der Mann in meinem Schlafzimmer zu suchen hat. Ich steh hier draußen und bin jederzeit bereit, falls es sich um eine Todesnachricht handeln sollte.

»Sie wollten gerade aufbrechen?«, fragt der zweite Bulle in Zivil und deutet auf die Schlüssel und das Mobiltelefon in meiner Hand. Er ist jünger, mit einem verschmitzten Lächeln, das offenbar Freundlichkeit signalisieren soll. Eine irgendwie seltsame Grimasse unter den gegebenen Umständen, die wohl kaum je einen von ihm verhörten Gauner beeindruckt hat. Wirkt eher wie eine Art Power-Grinser, ein hämisches Grinsen, das dich daran erinnert, wer hier wirklich die Macht hat. Instinktiv weiche ich vor ihm zurück und gebe die Antwort dem Jüngsten der drei, einem schwerfälligen Uniformierten, der mit einem Notizblock in der Hand im Eingang steht.

»Ich treff einen Freund in der Bar gleich da vorne.«

Der ältere Bulle kommt aus dem Schlafzimmer zurück – langsam, mäandernd, gleichsam alles um sich herum penibel registrierend. »Suchen Sie die Toilette?«, frage ich ihn. Anders kann ich mir sein Interesse an den anderen Zimmern in meinem Apartment nicht erklären. Ohne Antwort wandert er weiter in die Küche, wo das gespülte Geschirr gestapelt auf einem Tuch zum Trocknen liegt. Er starrt es an, als ob er daraus irgendwelche Rückschlüsse ziehen könnte.

Ich will ja nicht unfreundlich sein, zumal Unfreundlichkeit gegenüber Polizisten selten was bringt, vor allem für Leute, die ihren Führerschein zum Überleben brauchen. Ein falsches Wort, und du bist das Papier für ein Jahr los, das weiß jeder Taxifahrer. Wir sind schon aus diesem Grund recht gefügige Burschen. Trotzdem hätte ich gerne eine Erklärung für ihre Anwesenheit, immerhin wartet da drüben ein Bierchen auf mich, und zwar im wahrsten Sinn des Wortes, denn wie ich Charlie kenne, hat er bereits für mich bestellt.

»Also, meine Herren«, sage ich. »Was ist eigentlich los?«

Ich habe bemerkt, dass mich die beiden Kripoleute jedes Mal bloß anstarren, wenn ich was sage, als wollten sie herausfinden, welche Gedanken sich hinter den eben gesagten Worten verbergen. Ich komme mir vor wie ein Versuchskaninchen in einem Experiment, als würden sie sich in Gedanken immer dann, wenn ich was sage, ihre Notizen machen. Alles über mich interessiert sie, nur nicht, was ich tatsächlich sage.

»Wo waren Sie Dienstagnacht?«, fragt der Power-Grinser. Während er spricht, zieht er meine Rollos hoch, das eindringende Sonnenlicht beleuchtet meine schmutzverkrusteten Fenster. Auf diese Weise will er mir zeigen, dass er über meine Dinge verfügen kann, dass er hier den Ton angibt. Es handelt sich eindeutig nicht um eine Todesnachricht.

»Ich hab gearbeitet«, sage ich mit fester Stimme. Diese Leute sollen gehen. Ich will nicht, dass sie meine Rollos hochziehen, wodurch meine Wohnung zu einem Treibhaus wird, sodass die Klimaanlage volles Rohr zu arbeiten beginnt und meine Stromrechnung in die Höhe schießt. Ich will nicht, dass sie herumgehen und mein Badezimmer oder mein Essgeschirr anstarren. Diese Herren sind mir unheimlich, und ich hab definitiv anderes zu tun. »Fragen Sie bei Dillon Cab.« Ich übergebe dem Power-Grinser meine Taxi-Visitenkarte.

»Ich muss jetzt gehen«, sag ich zum massigen Polizisten, der an der Eingangstür steht. Der macht keine Bewegung.

Der ältere Typ mit dem schütteren Haar, der nach Zigaretten riecht, ist von seiner Wanderung durch meine Wohnung zurückgekehrt. »Mit denen haben wir bereits gesprochen«, sagt er.

»Warum seid ihr dann hier?«

Es folgen einige Sekunden Stille, die Bullen blicken einander an. »Vielleicht sollten wir uns am Revier weiter unterhalten«, sagt der ältere.

»Unterhalten worüber? Worum geht’s hier überhaupt?«

»Wir sprechen am Revier drüber«, sagt Power-Grinser. Dann löst er seine Handschellen vom Gürtel und fordert mich auf, mich umzudrehen.

»Was verdammt …«, rufe ich aus und hebe instinktiv die Arme. Jetzt tritt der große Bulle vom Eingang her auf mich zu. Ich spüre, dass er auf mich losgehen will, und mache einen Schritt zurück. Der ältere Bulle fasst mich fest am Arm und dreht diesen herum, während der vierschrötige Uniformierte auf mich zusteuert: »Nur immer ganz sachte.« Ein paar Sekunden später liege ich mit dem Gesicht nach unten auf meiner Couch, die Knie am Boden. Der große Bulle drückt mir ein Knie in den Rücken, und die Handschellen sind so fest angelegt, dass ich spüre, wie sich das Blut in meinen Handgelenken ansammelt.

Nachdem man mich wieder aufgerichtet hat, sehe ich Power-Grinser mit zufriedenem Gesichtsausdruck an der Tür stehen. Die beiden anderen sind hinter mir, einer an der linken und der andere an der rechten Schulter.

»Wir reden unten am Revier weiter«, sagt Power-Grinser fröhlich.

Auf dem Weg zum Polizeirevier gehe ich die Ereignisse von Dienstagabend noch einmal in Gedanken durch, um herauszufinden, was das hier alles bedeuten könnte. Das Einzige, was mir einfällt, ist die Gratisfahrt für die beiden Mädchen. Jemand muss mich da verraten haben, obwohl es mir als Überreaktion erscheint, dass man mir drei Bullen ins Haus schickt, die mich auf die Couch werfen und mir Handschellen anlegen, alles nur wegen einer Gratisfahrt. Wie ernst nimmt der Taxilenkerverband eine derartige Angelegenheit? Mir ist klar, dass es unerwünscht ist, aber ich hab mir niemals Gedanken über mögliche Konsequenzen gemacht.

Wir fahren auf die Autobahn und dann Richtung Westboro. Raus aus Dallas. Hier geht’s nicht um die Gratisfahrt.

Die Fahrt ist lange genug, dass mein Adrenalinspiegel Zeit hat, wieder ein wenig runterzukommen, und ich kann wieder normalere Gedanken fassen. Ich stell mir Charlie vor, wie er in der Bar sitzt und sich fragt, wo ich wohl bleibe. Der wird diese Geschichte zum Kreischen finden, wenn wir uns später treffen. Die Schwarzen lieben Geschichten, in denen sich die Polizei blöd anstellt. Ich hoffe nur, die Sache wird sich noch rechtzeitig aufklären lassen, um Charlie noch in der Bar anzutreffen.

Wenn ich telefonieren darf, könnte ich Charlie anrufen und ihm sagen, dass ich zu spät komme.

Wir fahren von der Autobahn an derselben Ausfahrt ab, die ich am Dienstag auch mit der Frau vom Flughafen genommen habe. Dieselbe Ausfahrt, dann dieselbe Straße entlang, an den Ulmen und Cafés vorbei. Zu meinem Erstaunen sehe ich dasselbe Paar vorm Haus am Tisch sitzen. Sie nehmen keine Notiz von dem schwarzen Polizeiwagen, der da vorbeifährt, sind sich auch nicht bewusst, dass ich hier vor weniger als achtundvierzig Stunden schon mal vorbeigefahren bin. Ich sehe einen jungen Mann mit dünnem Haar im Gespräch mit seiner Freundin lachen. Haben diese Leute eigentlich keine Jobs?

Bevor wir an dem Haus der Lady vorbeikommen, die ich vom Flughafen heimgefahren habe, biegen wir links ab und fahren noch eine baumgesäumte Straße entlang, dann noch eine. Dann passieren wir ein Feuerwehrhaus und ein anderes Gebäude, das wie ein Kommunikationszentrum aussieht, dann rein in eine Parkgarage. Wir halten an einer schweren Stahltür, vor der zwei rauchende Polizisten postiert sind. Sie treten zur Seite, um Platz für unseren Wagen zu machen.

Ich bemerke, wie mich die beiden Polizisten beim Aussteigen beobachten. Ihr Interesse erscheint mir auffällig übersteigert. Einer der beiden zeigt mit seiner Zigarette auf mich und fragt den älteren, schütter behaarten Ermittler: »Ist er das?« Seine Stimme widerhallt in der Parkgarage.

»Das ist er«, sagt der Kommissar.

»Gute Arbeit, Dave«, sagt der Polizist mit der Zigarette.

»Das ging aber schnell«, stimmt der andere zu. »Gute Arbeit.«

Dave und Power-Grinser nicken wie Clint Eastwood, nachdem er einen Bösewicht zur Strecke gebracht hat. So als würden sie die Komplimente zwar zur Kenntnis nehmen, ihrer aber gar nicht bedürfen, weil sich der Erfolg von selbst versteht. Keiner der zwei Polizisten in der Garage nimmt Augenkontakt mit mir auf. Irgendwas stimmt hier nicht.

Power-Grinser fummelt ein wenig mit den Schlüsseln herum, dann öffnet er die Metalltür und wir betreten ein Betonziegel-Treppenhaus, von dem aus wir mit einem Dienstaufzug in den vierten Stock fahren. Power-Grinser behält die ganze Zeit über seine Hände an meinen gefesselten Handgelenken, als wäre ein Fluchtversuch meinerseits zu befürchten. Ich spüre die Festigkeit seines Griffs auf dem Metallstück zwischen den Handschellen, ein Ausdruck seiner Beherrschung der Situation.

Der Aufzug bringt uns in ein Großraumbüro mit zahlreichen Arbeitsnischen, die mit Leuchtstoffröhren beleuchtet sind. Telefone, Computer und geschäftige Leute allenthalben.

»Ist er das?«, ruft jemand.

»Das ist er«, antwortet Dave. Es folgt ein allgemeines Stehenbleiben und mich Anstarren, während ich an den Arbeitskojen vorbeigeführt werde.

»Gute Arbeit, Dave«, sagt jemand und erntet dafür allgemeine Zustimmung. Eine Tür einer eingeglasten Bürozelle öffnet sich, und ein älterer Mann mit klarem, eindringlichem Blick steckt seinen Kopf heraus.

»Ist er das?«, fragt er.

»Das ist er«, sagt Dave.

Wie’s aussieht, bin ich es. Ich werde nochmal abgetastet und nach neuerlichem Schlüsselsuchen in ein Verhörzimmer mit drei Stühlen und einem kleinen Tisch gebracht. Außer Sicht der anderen, drückt Power-Grinser mich in den Industrie-Bürostuhl und wirft mir einen hasserfüllten Blick zu.

»Da hinsetzen«, sagt er, obwohl ich bereits sitze. Ich denke, er wird mir die Handschellen abnehmen, er aber geht bedrohlich hinter meinem Rücken auf und ab. Gleichsam spielerisch drückt er meinen Kopf nach vorne, und als ich nicht reagiere, drückt er fester.

Ich blicke mich um, kann den Kopf aber nicht so weit herumdrehen, dass ich ihn sehe. »Was machen Sie da?«, frage ich.

Am anderen Ende des Raumes ist eine Überwachungskamera angebracht, wobei er sich außerhalb des Bildfeldes befinden dürfte. Plötzlich spüre ich am Hinterkopf einen harten Schlag und beuge mich instinktiv vorwärts. Vor Schmerz kneife ich die Augen zu, es geht aber schnell vorbei, wenngleich meine Sicht einige Sekunden lang verschwommen ist. Dann höre ich, wie die Tür geöffnet, geschlossen und versperrt wird. Ich bin allein im Raum.

Dies ist definitiv das Verrückteste, was mir je passiert ist.

Ich höre im Flur Menschen reden, dann und wann ein Telefon klingeln und Leute, die auf dem Teppichboden da draußen vorbeigehen. Stimmen, die Alltägliches besprechen. »Zwei Burritos … nein, Danny will keinen Käse auf seinem. Nimm extra Pommes mit.« Dann geht’s um die unten wartenden Presseleute, die offenbar nach näheren Details fragen. Wieder klingelt ein Telefon. Noch jemand trottet an der Tür vorbei. Unterdrückte Stimmen auf der anderen Seite der Tür, dann dreht sich ein Schlüssel im Türschloss. Dave und Power-Grinser kommen rein und sperren hinter sich ab.