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Der Tod des Politikersohns, Leonard von Achalm, beschäftigt auch noch drei Jahre später den damals zuständigen Staatsanwalt Daniel Heerkamp. Ihn lässt das Gefühl nicht los, dass es sich dabei nicht nur um einen Unfall gehandelt hat. Sein Referendar, Constantin Proz, bestärkt ihn in dem Gefühl, als dieser eines Tages verschollene Beweismittel findet. Doch weitere Fragen kommen auf: Wer ist dieser neue Richter, der plötzlich eingesetzt wurde, und was hat er mit dem Tod von Leonard von Achalm zu tun? Und wäre das nicht schon genug, gibt es diese geheimnisvolle Frau, zu der er sich hingezogen fühlt. Doch warum verhält sie sich oftmals so, als wäre sie eine andere Person und wieso verliert sie ständig das Gedächtnis? Auch ihr vernarbter Rücken deutet auf eine dunkle Vergangenheit hin. Am Ende kämpft der junge Staatsanwalt nicht nur um ihr Leben, sondern auch um sein eigenes.
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Seitenzahl: 320
Veröffentlichungsjahr: 2022
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An dieser Stelle möchte ich meinen Dank an alle aussprechen, die es ermöglicht haben, dass ich mein erstes Buch in den Händen halten darf. Ich danke meiner Mama, Katja Kister, dass sie von Anfang an dabei war und den Werdegang meines Buches begleitet hat. Sie stand mir immer mit Ratschlägen zur Seite. Ich danke meinem Papa, Manfred Kister, meiner Oma, Doris Riecke, und meiner Tante, Tessa Riecke, für die Unterstützung. Auch danke ich Friederike Räbiger, die mit einigen unterhaltsamen und zugleich kritischen Anmerkungen, wie zum Beispiel: „Was soll denn das? Das versteh ich nicht?“, meinem Buch den letzten Schliff verpasst hat. Ich möchte mich auch an dieser Stelle an Helke Schulzek und Indra Droste bedanken, die meinem Prolog mitten auf der Autobahn von Köln nach Osnabrück aufmerksam gelauscht haben und bereits angekündigt haben, dass sie jedes einzelne Buch, das im Buchladen steht, kaufen werden. Ich danke auch Thomas Schulzek dafür, dass er sich die Zeit genommen hat, mein Manuskript zu überarbeiten und Barbara Schulzek dafür, dass sie mir den Kontakt zu einem Lektor verschafft hat. Ein weiterer Dank geht auch an Gabriel Yildirim, der mir die nötige Motivation gegeben hat, an meiner Idee weiterzuarbeiten. Meinen Dank möchte ich auch an Carmen Schweers aussprechen, die sich ebenfalls als Hobby-Lektorin die Zeit genommen hat, ein Feedback zu geben. Ich danke auch meinen Osnabrücker-Mädels, die mich bereits bei der Veröffentlichung meiner Kurzgeschichten unterstützt haben. Jedem Einzelnen von euch verdanke ich es, dass ich an meinem Buch weitergeschrieben und nie aufgegeben habe. Ihr habt mir immer gut zugesprochen und seid hoffentlich genauso gespannt, wie ich, auf das Endresultat.
PROLOG
1. Kapitel: Mittwoch - 11.03.2015 – Berlin
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel: Freitag - 13.03.2015
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel: Berlin - 21.03.2015
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel: Berlin - 07.04.2015
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel: Berlin - 13.04.2015 – 09:30 Uhr
23. Kapitel: Berlin - 13.04.2015 – 09:45 Uhr
24. Kapitel
25. Kapitel: Berlin - 17.04.2015
26. Kapitel: Berlin - 17.04.2015 – zur gleichen Zeit
27. Kapitel
28. Kapitel: Berlin - 25.04.2015
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel: Donnerstag - 30.04.2015 – 15:50 Uhr
35. Kapitel: Donnerstag - 30.04.2015 – 15:50 Uhr
36. Kapitel
37. Kapitel: Berlin – 16.03.2012
38. Kapitel: Berlin – 04.05.2015
39. Kapitel: Berlin – 04.05.2015
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel: Berlin – 21.03.2012 - 02:30 Uhr
Epilog: Zwei Jahre später
HINTERGRUND
Behutsam blinzelte er durch sein rechtes Auge. Ein plötzlich auftretender Schmerz am Hinterkopf ließ ihn zusammenzucken und er schloss es wieder schnell. Er versuchte den pochenden Druck zu unterbinden, indem er die Augen fester zusammendrückte. In seinem Kopf herrschte ein komplettes Durcheinander. Wo war er? Er konnte keinen einzelnen klaren Gedanken fassen. Sein Kopf fühlte sich trotz der dunklen Leere schwer an. Der stechende Schmerz wollte nicht aufhören. Er öffnete noch einmal sachte die Augen. Langsam konnte er sie immer mehr weiten und er begann die Umgebung zu untersuchen. Seine Sicht war noch ganz verschwommen. Es war stockfinster um ihn herum. Er müsse sich irgendwo im Freien befinden, dachte er sich. Er konnte keine Wände, Häuser oder andere Gebäude erkennen. Mit der Zeit nahm er einzelne Zweige von dürren Bäumen wahr, die sich leicht dem Wind beugten und sich mit ihm in Einklang in den dunklen Himmel einfügten. Sie erzeugten ein gleich klingendes und sanftes Rauschen. Das hatte etwas Beruhigendes an sich. Die Zweige wurden von dem Vollmond angestrahlt. Dieser leuchtete so stark auf den Boden und in sein Gesicht, dass er sich von ihm abwenden musste, um weiter sehen zu können. Er bewegte vorsichtig seinen Kopf zur Seite, damit er mehr von der Gegend erhaschen konnte.
„Ah“, stöhnte er plötzlich laut auf. Sein ganzer Hinterkopf pulsierte mit einer Stärke, bei der er das Gefühl bekam, jemand würde seinen Kopf heftig schütteln. Schleichend konnte er wahrnehmen, wie ihm die Galle hochkam. Wo bin ich verdammt nochmal, fragte er sich? Er verzog schmerzlich seinen Mund und wandte sich mit seinem Oberkörper leicht von der einen Seite zur anderen. Das Pulsieren wollte nicht aufhören.
Er wurde wegen der anhaltenden Beschwerden allmählich wütend. Er wollte endlich wissen, was passiert war und ob jemand ihn von seinem Leiden befreien könnte. Auf einmal bemerkte er etwas Weiches an seiner rechten Wange. Es fühlte sich an wie eine Hand, die ihm das Gesicht vorsichtig streichelte. Gott sei Dank, dachte er sich. Ich kann gerettet werden. Aber zu wem gehört die Hand, wo ist diese Person? Er riss seine Augen erneut weit auf, konnte aber nur den grellen Schein des Mondes erblicken. Er versuchte seinen Mund zu öffnen und seine Lippen zu einem Wort zu formen. Er bekam aber keinen Ton heraus. Sein Mund fühlte sich trocken an, als wäre er mit Sand bedeckt. Die warme Hand glitt zärtlich zu seiner Stirn. Dort strich sie mit nur einem Finger weiter über sein blondes lockiges Haar. Erst durch die Wärme der Hand fiel ihm auf, wie kalt ihm eigentlich war. Er begann das Zittern in seinen Fingern und Beinen zu spüren. Sein ganzer Körper fing an zu vibrieren, er hatte das Gefühl, als habe er keine Kontrolle mehr über seine Gliedmaßen. Hilf mir, sagte er verzweifelt in seinen Gedanken, in der Hoffnung, die Person würde ihn hören.
Er schloss wieder die Augen. Sie wurden schwer und er hatte große Mühe, sie aufzuhalten. Das ist alles ein Traum, sagte er zu sich. Du wachst gleich auf und liegst in deinem Bett. Er spürte etwas an seinen Beinen. Es fühlte sich feucht an. Die Nässe zog sich an seinen Fersen hoch. Er bemerkte, wie seine Beine allmählich von einer kalten Masse hinabgezogen wurden. Er versuchte sich gegen den Sog des Wassers zu stemmen, aber vergebens. Seine Beine und Arme waren kraftlos und wollten nicht wie er. Wo war nur die warme Hand? Die unbekannte Person saß direkt neben ihm und starrte zum Himmel. Der kräftige Mondschein strahlte sie an und hinterließ eine Silhouette auf dem Rasen. Leise stimmte sie die Melodie eines Liedes an, das ihm bekannt vorkam. Es erinnerte ihn an zuhause. Die sanfte Stimmfarbe legte sich über seine Ohren und er stellte sich für einen kurzen Moment vor, dass er sich an einem anderen Ort befand. Ein kurzer Anflug von wohliger Wärme und Herzlichkeit überkam seinen Körper. Einige Minuten lag er nur so da und lauschte der Melodie. Dann verstummte die Stimme. Stille umhüllte ihn. Dann vernahm er einen schweren Atem, der sich immer mehr seinem Gesicht näherte. Sein Puls schlug schneller und schneller. Er hatte das Gefühl, als würde ihm gleich das Herz aus der Brust springen. Wieder rang er um Worte. Er versuchte angestrengt seine Lippen zu bewegen, um etwas sagen zu können. Es kamen aber nur undefinierbare Laute heraus. Etwas berührte plötzlich sanft seine Nasenspitze. Dann legten sich volle Lippen auf seine. Sie flüsterten ihm etwas in seinen geöffneten Mund. Für einen Augenblick lang nahm er nur das zarte Rauschen der Grashalme wahr. Er konnte hören, wie sich die Person schrittweise von ihm entfernte.
Nein, bitte komm wieder. Hilf mir, schrie er in Gedanken. War's das jetzt? So soll also sein Leben enden? Wie ist er hierhin gekommen? Er versuchte angestrengt sich an das zu erinnern, was passiert war. Auf einmal kam ihm ein unscharfes Bild in den Kopf geschossen. Er war in der Nähe eines Parks und er hatte sich mit jemandem verabredet. Sie waren zu zweit. Das Bild verschwand so schnell wie es gekommen war. Er horchte auf. Er vernahm das leichte Knacksen der Grashalme. Schritte näherten sich ihm und er spürte, wie diese ganz in der Nähe seines linken Ohrs stoppten. Es wird alles gut, jetzt werde ich gerettet. Er sog die kühle Frühlingsluft ein. Im gleichen Augenblick packten ihn zwei Hände mit einem groben Griff an seine Schulter und er bemerkte einen unsanften Stoß. Sein Körper wurde tiefer ins Wasser gezogen. Schlagartig spürte er einen schweren Druck auf seiner Brust. Es fühlte sich so an, als würde jemand auf ihm sitzen und ihn mit aller Gewalt in die Tiefen des Wassers drücken. Er bekam Panik. Aber er konnte nichts machen. Sein Körper war wie gelähmt. Der Druck auf seiner Brust wurde immer größer und er fühlte das kalte Wasser in seinem Gesicht. Es bahnte sich seinen Weg durch seinen Mund, seiner Nase, seinen Ohren. Er begann zu schreien. Es kamen jedoch nur noch gluckernde Blasen heraus, die in Windeseile nach oben an die Oberfläche emporstiegen. Das Wasser floss über seine Beine, seine Brust. Es zog mit aller Macht seinen tauben Körper an sich. So als besäße es mehrere Hände, die ihn allesamt nach unten auf den Wassergrund zogen. Er war der Kraft des Wassers ausgesetzt. Er nahm eine erdrückende Stille war, die sich um ihn legte. Das beklemmende Gefühl in seiner Brust wurde schwächer, bis es irgendwann nicht mehr zu spüren war. Auch seine Schmerzen am Kopf verblassten mit jeder Sekunde. Er fühlte sich schwerelos und ließ sich von den gleichmäßigen Bewegungen des Wassers treiben – ein letzter Atemzug.
„Herr Gruber hat gerade angerufen, er wird heute zum 12:00 Uhr Termin nicht kommen können, weil er krank ist. Eine ärztliche Bescheinigung lässt er noch zukommen.“
„Ja wunderbar, wieder eine Verhandlung, die neu angesetzt werden muss. Bevor ich den nicht angehört habe, werde ich mich auf keine Einstellung des Verfahrens einlassen“ raunte Daniel genervt in seine Akten, die vor ihm sorgfältig gestapelt lagen und nur darauf warteten, endlich bearbeitet zu werden.
„Danke Silvia fürs Bescheid geben.“ Daniel hob kurz seinen Kopf vom Schreibtisch und blickte zur offenen Tür. „Dank mir nicht zu früh“ lachte Silvia und kam schwungvoll in Daniels Zimmer mit sechs riesigen roten Akten in den Händen hinein. Alle zusammengebunden mit einem Gummiband, das so gespannt wurde, als könne es in jedem Moment auseinanderreißen. Die Akten waren insgesamt so hoch, dass sie das Gesicht von Silvia fast vollständig bedeckten und sie augenscheinlich Schwierigkeiten hatte, dass Gewicht mit ihren zarten Ärmchen tragen zu können.
„Wo sollen die hin?“ fragte sie beinah außer Atem und schaute suchend nach einem geeigneten Platz. Daniel sprang von seinem Stuhl auf und nahm ihr die Akten ab. Silvia schaute ihn mit ihren großen hellblauen Augen dankend an, schob sich die Ärmel ihres olivfarbenen Blazers wieder zurecht und wischte eine Locke aus ihrem Gesicht. Daniel legte sie auf einen langen Tisch, der sich an der Wand des Zimmers befand. Auf diesem dunklen, mit Ornamenten verzierten Tisch, stapelten sich reihenweise viele weitere dieser roten Akten. Daniel verharrte kurz mit seinem Blick auf dem Chaos und seufzte. Wann soll er das alles zeitlich schaffen, fragte er sich.
„Herr Bergau hatte mich beauftragt, dir diese Akten zu geben, da er ab nächster Woche in den Vaterschaftsurlaub geht. Er meinte, du schuldest ihm noch etwas“ sagte Silvia zaghaft als auch sie den großen Stapel auf Daniels Tisch sah.
„Ja, ist schon gut“, murmelte Daniel und drehte sich dabei zu ihr.
„Könntest du für mich etwas einscannen? Die müssen morgen wieder zum Gericht.“ Er zeigte auf drei dicke Bände, die rechts neben seinem Schreibtisch lagen.
„Natürlich, das wird sofort erledigt.“ Silvia drehte sich dabei agil um und ging mit einem eleganten Schritt auf den Stapel zu. Aufgrund ihrer elfenartigen Erscheinung, die durch ihre langen blonden Locken und ihrer Größe von gerade einmal 1,55 cm erzeugt wurde, hob sie die drei großen Bände mit ihrer ganzen Kraft vom Boden auf und schwebte anschließend durch die Tür.
„Ach das sind ja die Sachen Land Berlin gegen Hermann Traute. Die habe ich schon gesucht“ flötete sie in einem heiteren Ton aus ihrem Büro, das sich direkt neben dem von Daniel befand.
„Übrigens bevor ich es vergesse.“ Sie kam wieder zu Daniel und lehnte sich lässig mit einer Schulter gegen den Türrahmen.
„In dem Subventionsbetrugsfall von letzter Woche wird es einen Richterwechsel geben. Richterin Merenzen wechselt das Dezernat.“
„Wer übernimmt dann an ihrer Stelle die Verhandlung?“
„Richter Grautz.“
„Ach der Vollidiot“ kam es sofort aus Daniels Mund geschossen und verdrehte dabei die Augen.
„Wieso das denn? Ich dachte, ihr hättet euch letztens blendend verstanden?“ fragte Silvia ironisch und lächelte Daniel verschmitzt an. Daraufhin machte dieser nur eine abfällige Handbewegung und schüttelte den Kopf.
„Der kann gerne noch einmal von mir eine gratis Stunde über das Strafprozessrecht bekommen, wenn er wieder so einen Schwachsinn von sich geben sollte“ sagte Daniel lachend, während er sich dabei seinen Dreitagebart kratzte. Silvia schmunzelte.
„Wenn du noch etwas brauchst, sag Bescheid. Ich bin heute bis 18:00 Uhr hier.“
„Danke, das werde ich.“ Silvia verschwand eilig in ihr Büro zurück und fing an, die Verfügungspunkte der aktuellen Fälle abzuarbeiten.
Sie nahm ihm viel Arbeit ab. Zuerst hatte er Bedenken, ob sie die geeignete Sekretärin für ihn war. Sie war erst 23 Jahre alt, hatte zwar einen guten Abschluss gemacht, aber noch keinerlei Praxiserfahrung. Sie lebte sich jedoch schnell ein und wurde mit der Zeit eine große Stütze für Daniel. Sie sah die Arbeit. Das mochte er besonders. Er konnte es nämlich nicht ausstehen, wenn sich jemand vor der Arbeit drückte und faul war. Er behauptete von sich, ein richtiges Arbeitstier zu sein. Dass er so wurde, wusste er von Anfang an. Seine Familie bestand nur aus leistungsorientierten Menschen, die einen erst dann respektierten und anerkannten, wenn man den dritten Doktor in Physik gemacht oder eine zwanzigstündige OP am offenen Herzen durchgeführt hatte. Daniel erinnerte sich nicht gern an seine Kindheit. Sie war kühl und distanziert. Seine Eltern waren beide Akademiker. Sein Vater war Anwalt in einer der renommiertesten Kanzleien Deutschlands und seine Mutter war Neurochirurgin. Beide legten sehr viel Wert auf den Verstand und fanden es inakzeptabel, ja sogar absurd, dass man einem Menschen mit Gefühlen erziehen und zu Erfolgen führen konnte. Seine Eltern waren so gut wie kaum zu Hause gewesen. Sein Vater hatte immer bis spät in die Nacht gearbeitet, weil mal wieder ein Schriftsatz kurz vor Mitternacht abgegeben werden musste, und seine Mutter vergnügte sich lieber mit den Gehirnzellen anderer, als Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Für Daniel war es auch unvorstellbar, wie die beiden überhaupt eine zwischenmenschliche Beziehung eingehen konnten. Er stellte sich immer wieder vor, wie seine Eltern an einem Tisch gesessen hätten und sein Vater erst einmal einen Vertrag über ihre Beziehung und ihres Zusammenlebens aufgesetzt hätte. Und beide dann mit einem Händedruck vereinbarten, dass sie nun zusammen sind und Kinder bekommen werden. Er musste bei dem gar nicht so weit hergeholten Gedanken schmunzeln.
Daniel saß auf seinem Drehstuhl und schaute auf das einzige Bild, das er in einem Bilderrahmen auf seinem Tisch gestellt hatte. Es zeigte ihn mit seinem älteren Bruder Georg in früheren Zeiten. Es war Sommer 1990. Beide trugen eine Badehose, Georg stand hinter Daniel und legte in einer stolzen Haltung seine Hände auf Daniels Schultern. Hinter ihnen erstreckte sich ein zehn Meter langer eingebauter Pool. An den Seiten ragten riesig weiße Marmorskulpturen empor. Eine von diesen stellte einen Löwen mit weit aufgerissenem Maul dar. Fürchterlich hässlich fand er diese Statuen. Seine Mutter hingegen liebte sie. Im gesamten Garten standen diese Figuren verteilt herum, auch im Haus gab es kaum eine Ecke, die nicht von diesem geschmacklosen Kitsch verschont geblieben war. Daniel war damals zehn Jahre alt. Georg war bereits 17. Das Bild war an dem Tag entstanden, als Daniel sein Silberabzeichen im Schwimmen abgelegt hatte und ihm dieses auf seine grüne Badehose genäht wurde. Georg war deswegen sehr stolz auf ihn.
„Siehst du, trotz deiner Angst vor dem Wasser hast du es geschafft. Du hast es mit dem Wasser aufgenommen und es mit deiner Kraft besiegt.“ Das hatte Georg an diesem Tag zu ihm gesagt. Er war so stolz und er hatte ihn immer ermutigt, niemals aufzugeben und seine Ziele zu erreichen.
„Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ Georg zitierte in solchen Momenten immer seinen liebsten Schriftsteller und Dramatiker Bertold Brecht. Er war sehr belesen. Daniel war immer von seinem Wissen und von seinem Können beeindruckt. Nichts konnte Georg aufhalten, er hätte es mit jedem aufnehmen können. Mutter und Vater prahlten gerne vor ihren “Freunden“ und Arbeitskollegen mit Georgs Leistungen. Er war in jedem Jahrgang Klassenbester, hat mehrmals den Buchstabierwettbewerb gewonnen und erhielt mehrere Auszeichnungen für soziales Engagement. Er sollte später genau wie Vater Anwalt werden. Noch bevor er angefangen hatte Jura zu studieren, wurde er bereits als nächster Juniorpartner gehandelt. Georgs Leben war die Definition für Perfektionismus.
Doch dann kam es zu dem einen Tag, an dem sich alles veränderte. Georgs damaliges farbenfrohes Leben wurde durch eine erdrückende Schwärze übermalt.
Daniel lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück, legte den Bilderrahmen zur Seite und schaute zum Fenster. Es war heute ein sonniger Tag. Der Wind bewegte sanft die Blätter der Bäume, die sich vor dem Bürofenster rankten. Nur ein paar vereinzelte Wolken schauten ab und zu vorbei. Der Frühling war endlich da. Zum Glück ist diese kalte Jahreszeit um, dachte er sich. Wie sehr er doch den Schnee verabscheute. Kein Mensch braucht das. Er legte seinen Kopf auf die Lehne seines Stuhls und schloss für einen kurzen Moment die Augen.
Sofort kam ihm Georgs Gesicht in den Kopf. Er strahlte Daniel an, drückte ihn ganz fest und sagte zu ihm: „Du musst hier für mich die Stellung halten, bis ich wieder komme – schaffst du das?“ Dann drehte er sich um, stieg in sein Auto und fuhr mit quietschenden Reifen davon. Daniel öffnete seine Augen wieder und starrte an die Decke. Diese war mit weißen, einheitlichen Kacheln, die an manchen Ecken schwarze Flecken aufwiesen, versehen. Tick, tack, tick, tack. Daniel richtete seinen Kopf zur Wanduhr. 11:15 Uhr zeigte sie an. In einer dreiviertel Stunde machte er Mittagspause. Immer gegen 12:00 Uhr meldete sich seine innere Uhr und sein Magen kündigte mit einem lauten Grummeln den Hunger an. Was soll es denn heute geben? Während der Mittagspause nach Hause zu fahren und dort zu kochen, würde er heute nicht schaffen. Sein Schreibtisch war zu voll mit Arbeit. Vor allem jetzt auch noch mit den neuen Akten würde er kaum noch hinterherkommen. Auf chinesische Nudeln hätte er wieder Lust, die hatte er schon lange nicht mehr gegessen. Daniel stützte sich mit seinem Oberkörper nach vorne und stellte das Bild von sich und Georg wieder an die Seite.
„Du hast die Familie wenigstens noch zusammengehalten.“ Das schrille Klingeln seines Handys ließ ihn aufschrecken. Hektisch kramte er in seiner rechten Jackentasche seines schwarzen Mantels. Auf dem Display stand der Name „Clara“.
„Was will denn meine Mutter von mir“, grummelte er leise vor sich hin und betätigte den Abhörknopf.
„Daniel?“ fragte Clara mit einer hohen, fast kreischenden Stimmlage.
„Ja, was gibt’s denn?“
„Du kommst diesen Freitag um 19:00 Uhr zum Essen.“
„Wieso?“ entgegnete Daniel mit einem leicht genervten Unterton.
„Dein Vater bekommt Besuch von seinen Partnern aus Italien und wir wollen sie als vereinte Familie hier herzlichst empfangen.“
„Familie.“ höhnte Daniel ins Telefon.
„Was hast du gesagt?“ fragte Clara und ihre Stimme erhob sich wieder zu einem schrillen unangenehmen Ton. Ihre hohe Stimmfarbe löste in Daniel einen Anfall von Migräne aus.
„Ich werde da sein, sagte ich.“
„Gut, was anderes habe ich auch nicht erwartet“ erwiderte sie, wobei sie jedes Wort einzeln betonte, um ihrem Anliegen noch mehr Gewicht zu verliehen.
„Komm pünktlich“ und mit diesen Worten lag sie auf.
Valentinas Absätze klapperten auf den dunklen Steinboden. Sie hatte es eilig und war mal wieder zu spät dran. Schnell huschte sie zwischen den Menschenmengen, die sich vor dem Brandenburger Tor zu mehreren Gruppen aufgestellt hatten, hindurch. Schon wieder eine Demonstration kam es ihr in den Sinn und sie schaute mit einem kurzen Blick über ihre Schultern auf das Geschehen. Menschen in Tierkostümen saßen in Käfigen, die an den verschiedensten Stellen drapiert wurden. Andere Teilnehmer standen um diese herum und hielten Plakate hoch mit den Aufschriften „Stoppt die Massentierhaltung“, „Tiere haben auch Gefühle“. Vor dem Brandenburger Tor wurde eine Bühne errichtet, die mit einem schwarzen Stoff umrandet war. Ein Mann mit einem Megafon stand darauf und zitierte von seinem zerknitterten Blatt Verstöße gegen das Tierschutzgesetz. Durch die Zurufe der neugierigen Zuschauer wurde der Mann in seiner Rede weiter animiert und er erhob seine Stimme mit jedem Satz so laut, dass es nur noch ein einziges Brüllen war. Um die Menschenmasse herum standen uniformierte Polizisten und beobachteten mit eiserner Miene das Spektakel. Sie alle standen regungslos und mit verschränkten Armen dort und visierten mit ihren Augen jeden Schaulustigen und Demonstranten an. Was für ein ätzender Job dachte sie sich. Darauf zu warten, dass etwas passiert, um dann von irgendwelchen aufgeplusterten, testosterongesteuerten Gestalten verbale und körperliche Beleidigungen zu kassieren.
Valentina hastete weiter die Straße herunter. Wieso nahm sie nicht die andere U-Bahn? schimpfte sie innerlich und war verärgert über sich selbst. Sie mochte es zwar lieber spazieren zu gehen, als sich in die dreckige Bahn oder in einen stinkenden Bus mit zahlreichen anderen Menschen zu quetschen. Allerdings trug sie heute ausnahmsweise Absatzschuhe und die waren für einen längeren Spaziergang keine gute Idee. Sie spürte langsam, wie sich die Haut an einer Stelle ihrer Hacke mit jedem Schritt mehr und mehr löste. Das gibt eine großartige Blase. Ob sie noch ein Blasenpflaster in ihrer Tasche hatte? Nein, es ist keine Zeit zum Nachschauen. „Das ist jetzt deine eigene Schuld, also reiß dich zusammen. Das nächste Mal versuchst du gefälligst früher loszugehen“, raunte sich Valentina wütend zu. Sie bewegte sich humpelnd durch die belebten Straßen und seufzte leise auf, als sie das Gebäude vom Bundestag sah. Dort drüben war gleich die nächste U-Bahn-Station. Dann konnte sie endlich ihren Fuß etwas schonen. Warum sind auch all ihre hohen Schuhe immer so schmerzhaft. Egal von welcher Marke oder welches Modell sie auch kaufte, sie bekam ständig Blasen in ihren hohen Schuhen. Deswegen trug sie kaum welche, nur zu besonderen Anlässen oder bestimmten Terminen, so wie heute. Valentina erhaschte einen kurzen Blick auf ihre Uhr. Sie würde es gerade noch rechtzeitig schaffen, wenn in zwei Minuten die U-Bahn kommt.
An der Station angelangt, raste sie schnurstracks die Treppe hinunter. Vereinzelt lagen dort Verpackungen von Essen herum, Kaugummis klebten am Boden oder an den Wänden und an manchen Ecken türmten sich Zigarettenstummel. Einige von ihnen glühten noch für einen kurzen Moment, bevor sie erloschen.
Unten angekommen, blieb sie stehen und ließ für einen kurzen Augenblick ihre verletzte Hacke aus ihrem Schuh gleiten und hielt diesen in der Luft. Das tat gut. Durch quietschende Räder und einem immer stärker werdenden Rauschen kündigte sich die U-Bahn an. Valentina prüfte auf dem Monitor der Anzeige für die Abfahrten die Nummer der U-Bahn und schlängelte sich dann in die offene Tür hinein. Die Tür zog sich direkt nach ihr zu und die U-Bahn setzte ihre Fahrt fort. Valentina war kein Freund des U-Bahn-Fahrens. Nicht nur wegen der unangenehmen Gerüche, die sich immer in einem Abteil aufstauten, sondern auch wegen des hohen Geräuschpegels. Mehrere Menschen telefonierten angeregt, Kinder stritten sich und ein paar Betrunkene, die zusammengekauert zwischen den Gängen saßen, sangen irgendwelche Schlagerhymnen. So viele unterschiedliche Geräusche beunruhigten sie.
Sie klammerte sich fest an eine der Haltestangen und versuchte sich abzulenken, indem sie an etwas Schönes dachte. Sie erinnerte sich an ihren letzten gemeinsamen Urlaub auf Norderney. Dieser Urlaub war für sie das komplette Gegenteil zu ihrem Leben hier in Berlin. Es war dort so ruhig und idyllisch. Die Menschen waren immer sehr freundlich zu ihr gewesen. Wenn sie abends etwas essen waren, lernten sie immer ein paar Menschen, entweder Touristen oder Insulaner, kennen. Ihr gefiel das minimalistische Inselleben. Dort konnte sie durchatmen und eine Auszeit von allem nehmen. Sie gingen tagsüber viel am Wasser spazieren, sammelten Muscheln und sahen auf einer Düne dem Sonnenuntergang zu. Wie gerne wäre sie wieder an diesem Ort, auch nur für einen Tag. Sie brauchte Abstand. Abstand von der Hektik, von den Menschen, einfach von allem. Nur würde sie nicht ohne ihn gehen. Diesen Ort verband sie mit ihm. Plötzlich riss sie ein gellender Ton von der Tür der U-Bahn aus ihren Gedanken.
“Berliner Hauptbahnhof“ stand auf dem Banner der Anzeige. Valentina stieg aus und ging eiligen Schrittes in Richtung der Treppen. Sie musste nun den Bus nehmen. Zu Fuß würde sie das nicht zeitlich schaffen. Ihre Blase machte ihr immer mehr zu schaffen. Ob die Wunde schon blutig ist und jeder das sehen kann, fragte sie sich, während sie sich darauf konzentrierte den richtigen Bus zu finden.
„Busnummer 123, wo bist du nur?“ murmelte sie vor sich hin. Direkt gegenüber der Straße stand dieser, der jedoch bereits im Begriff war, weiterzufahren. Valentina rannte los. Sie versuchte trotz des Schmerzens an ihrer Hacke, so schnell es ging über die Straße zu kommen.
„Halt, Stopp!“ rief sie dem Busfahrer zu und winkte mit ihrer linken Hand hektisch in seine Richtung, um auf sich aufmerksam zu machen. Tatsächlich blickte der Busfahrer für einen Moment in ihre Richtung und wartete auf sie.
„Haben Sie vielen Dank.“
„Jo, nu aber schnell rin junge Frau. Wo jeht es hin?“ fragte der Busfahrer kaugummikauend in dem typischen Berliner Dialekt.
„Turmstraße bitte.“
„Dit macht dann 3,50 €.“
Valentina kramte fieberhaft nach ihrem letzten Kleingeld. Sie hatte es zum Glück gerade noch so passend. Sie bezahlte sonst alles mit EC-Karte. Deswegen hatte sie so gut wie nie welches dabei. Noch bevor Valentina sicheren Halt fand, drückte der Busfahrer auf das Gaspedal und der Bus fuhr mit einem unsanften Ruck los. Sie taumelte zu einem der freien Sitze und ließ sich fallen. Sie war froh, dass der Bus nicht voll war, wie sonst. Es gab noch genug freie Plätze. Ihren kaputten Fuß mit der Blase nahm sie wieder aus ihrem Schuh, damit der schmerzende Druck für einen kurzen Moment aufhörte. Hör auf, auf deinen Lippen herumzukauen, das sieht doch schrecklich aus, ermahnte sie sich selbst als sie bemerkte, dass ihre untere Lippe mal wieder blutig war. Sie war nervös. Und wenn sie das war, dann biss sie sich immer auf ihre untere Lippe. Das war schon immer ein Tick von ihr. Menschen, die sie gut kannten, wussten das sofort und fragten dann direkt, ob alles bei ihr in Ordnung sei.
Was er wohl gleich mit mir besprechen will, fragte sie sich in einer Tour. Hatte sie auf der Arbeit etwas Falsches gemacht? Sie hatte sich so bemüht, sich in die neue Abteilung einzuarbeiten und sich mit den Kollegen gut zu stellen. Sie wollte alles anders angehen als vorher. Auf ihrer alten Arbeitsstelle wurde sie gemieden. Es wurde ständig hinter ihrem Rücken getuschelt, wenn sie zur Arbeit kam. Zornige Blicke durchbohrten sie Tag für Tag. Ihr damaliger Arbeitgeber meinte beim Gespräch über ihre Kündigung, dass sie versuchen solle, an sich und an ihren Umgang mit anderen Menschen zu arbeiten. Ihre Kollegen haben sich immer in ihrer Arbeit gestört gefühlt, wenn sie Selbstgespräche mit sich geführt hatte.
Jeder redet doch mit sich selbst, damit man sich besser konzentrieren kann, dachte sie sich. Sie war einerseits verärgert über diese Negativität, die ihr entgegen gestoßen war, andererseits war sie auch erleichtert über die Kündigung. Sie war nicht glücklich dort. Die Menschen waren zu unentspannt, niemand lachte dort. Alle waren nur auf ihre Arbeit konzentriert. Sie weiß noch, wie schlimm es für sie war, keine Arbeit von einem auf den anderen Tag zu haben. Seitdem sie denken kann, hatte sie sich immer selbst versorgt und dafür gesorgt, dass ihr Leben nicht aus den Fugen geriet. Aber diese Situation hatte sie eingenommen. Sie war für eine längere Zeit in ihrem Leben hilflos und wusste nicht mehr weiter. Sie dankte immer noch ihrer guten Freundin Elli dafür, dass sie sie aufgemuntert und dazu bewegt hat, sich neu zu bewerben und wieder geradeaus zu blicken.
„Nächster Halt: Stendaler Straße.“ Eine helle Frauenstimme kündigte die nächste Haltestelle an. Valentina war heilfroh, sie schaffte es mit Ach und Krach doch noch pünktlich zu ihrem Termin. Schnell schlüpfte sie wieder in ihre Schuhe. In diesem Moment hätte sie aufschreien können vor Schmerzen, aber das war nebensächlich. Sie musste nur noch zwei Straßen entlang. Wenn sie die Staatsanwaltschaft erreichte, war es nicht mehr weit zu ihrer Arbeit. Ihr Humpeln wurde mit jedem Schritt stärker. Sie fing zudem noch an zu schwitzen. Verdammt, hör auf zu schwitzen. Du kannst doch nicht so fertig dort ankommen. Ob sie schon unangenehm roch? Sie hatte aber für solche Notfälle immer ein Parfüm parat. Während sie weiter die Straße entlang rannte, beziehungsweise sie versuchte so schnell wie es ging zu laufen, kramte sie in ihrer großen schwarzen Handtasche herum. Sie hatte alles dabei, nur kein Parfüm mehr. Oder warte doch mal, da ist...
„Verdammt, passen Sie doch auf, wo sie hinlaufen“ rief ihr eine wütende Männerstimme plötzlich zu. Valentina zuckte zusammen und blieb ruckartig stehen. Sie hatte gar nicht mehr auf die Straße geachtet, als sie mit dem Inneren ihrer Tasche beschäftigt war. Sie bemerkte nicht, dass sie jemandem vor die Füße lief. Sie blickte zuerst auf den Boden, wo sich eine große Lache aus gebratenen Nudeln ausbreitete. Dann sah sie die perfekt dunkelbraunen geputzten Lackschuhe, auf denen sich vereinzelt ein paar Nudeln rankten. Ihre Blicke folgten den weiteren Essensresten auf der Hose und dem Hemd, bis sie dann in ein rot angelaufenes Gesicht schaute.
„Haben Sie noch irgendwas zu sagen oder wollen Sie weiter auf mein verdorbenes Essen starren?“ gab Daniel zornig von sich, während er versuchte, sein weißes Hemd von der Soße zu befreien, allerdings vergebens. Die Soße verlief gerade über seine Brust in Richtung seines Hosenbundes. „Entschuldigen Sie bitte, ich habe Sie nicht gesehen und ich habe es auch ziemlich eilig.“
„Ich habe es auch eilig, aber achte trotzdem darauf, wohin ich laufe. Na großartig, das komplette Hemd kann ich vergessen. Das muss in die Reinigung.“ Valentina spürte ein Kribbeln in ihren Fingerspitzen und nahm die aufsteigende Hitze in ihren Wangen wahr. Sie wurde wütend. Was macht er sie so blöd von der Seite an? Er hätte doch selbst von sich aus ausweichen können. Er hat doch ebenfalls nicht geschaut. Schrei ihn an, schrei ihn an brüllte ihr eine dunkle Stimme in ihrem Kopf zu. Er hat dich jetzt auch aufgehalten, seinetwegen kommst du zu spät. SCHREI IHN AN!
„Sie Vollidiot, müssen mich nicht hier so klein machen, Sie haben doch selbst nicht auf die Straße geschaut. Sie Ar...“ Sie brach abrupt ab. Was hast du dir vorgenommen für solche Situationen fragte nun eine sanfte und besonnene Stimme. Nicht mehr so schnell wütend werden und toben. Valentina schüttelte sich kurz und erhob ihren Blick in Richtung Daniels Gesicht.
„Entschuldigen Sie bitte.“ stammelte sie vor sich hin.
„Ich weiß gerade nicht, wo mir der Kopf steht. Ich war so gedankenverloren und dann sind wir zusammengeprallt und Sie haben mich so angeschrien...“
Daniels Gesichtsfarbe wurde langsam etwas blasser und er schaute die Frau, die ihn angerempelt hatte, nun genauer an. Sie machte auf ihn einen so verzweifelten Eindruck. Sie wirkte aufgelöst. Jetzt tat sie ihm leid. Vielleicht war er doch zu laut ihr gegenüber gewesen. Sein Hemd war zwar ruiniert, aber er wäre nicht Daniel, wenn er nicht für alle Notfälle vorgesorgt hätte. In seinem Büro hängt noch ein frisch gebügeltes Hemd, das er gleich anziehen kann.
„Nein, es ist schon gut. Ich war gerade so in Rage und da habe ich wohl meine Stimme Ihnen gegenüber zu laut erhoben.“
„Ich kann das nachvollziehen, schließlich habe ich Ihr Hemd ruiniert und wie Sie aussehen, war es bestimmt nicht billig.“ Valentina reiß dich zusammen, so etwas kannst du doch nicht sagen. Warum hat sie das gerade laut ausgesprochen? Ihre Zunge war manchmal schneller als ihr Kopf. Sie biss sich auf ihre Unterlippe und spürte, wie der Riss darauf tiefer wurde und leicht anfing zu bluten. Sie traute sich gar nicht mehr, in das Gesicht des Mannes zu blicken. Der läuft doch gleich wieder rot wie eine Tomate an. Was soll sie tun? Am besten einfach schnell weglaufen und hoffen, dass sie diese unangenehme Situation sofort vergisst. Daniel lachte kurz laut auf. Valentina schaute ihn verdutzt an. Hatte er gerade über ihren abfälligen Kommentar gelacht.
„Sie sind eine gute Beobachterin“ scherzte er weiter. Er war amüsiert über die Direktheit dieser Frau. Er selbst war gerne ab und an etwas schroffer zu seinen Freunden, die dann auch nur betreten zu Boden schauen. Er war nicht erbost über ihre Aussage, im Gegenteil, er musste darüber lachen. Sein Aussehen sah wirklich wie geschniegelt und geleckt aus. Er trug, wie es auch der klassische Jurist gern machte, ein weißes Hemd, das er mit allergrößter Fürsorge und Sorgfalt ohne eine Falte in seine Anzughose steckte. Seine Hüfte war verziert mit einem schwarzen Gürtel, auf dem ein großes Logo von Hugo Boss in silberfarbenen Schriftzügen prunkte. Kombiniert hatte er das Outfit mit seinen dunkelbraunen Lackschuhen von der Marke Dinkelacker. Vom Aussehen her würde er eher in eine renommierte Großkanzlei passen als in die Staatsanwaltschaft.
„Ich bin erleichtert, dass sie das mit Humor nehmen“ sagte Valentina und strich sich dabei eine von ihren braunen, schulterlangen Locken verlegen aus ihrem Gesicht.
„Ja, machen Sie sich keine Sorgen. Ich wollte sowieso damit anfangen, Dinge etwas gelassener anzugehen. Und heute sollte ich mit der Umsetzung beginnen“ sprach Daniel in einem verzückten Ton und schaute ihr dabei tief in die Augen. So schöne, smaragdgrüne Augen hatte sie noch nie gesehen. Sie fügten sich perfekt in sein markantes Gesicht, mit dem Dreitagebart ein. Sein kurzes, aber dennoch leicht gewelltes schwarzes Haar hatte er mit Gel versehen, das dieses in der Sonne schimmern ließ. Valentina, Valentina drang eine tiefe Stimme in ihren Kopf. Du musst weiter zu deinem Termin.
Entsetzt schaute sie auf ihre Armbanduhr und zuckte zusammen. Sie schafft es nicht mehr pünktlich zu ihrem Termin, so ein verdammter Mist.
„Ich muss jetzt weiter“ sagte sie in einem gehetzten Tonfall und sprintete los. Egal, wie sehr ihre Blase an ihrer Hacke brannte, egal wie verschwitzt sie war, sie musste alles dransetzten, um nicht noch unpünktlicher zu werden. „Ähm ich“ stotterte Daniel und sah ihr verdutzt nach. Was war das nur für eine merkwürdige Begegnung. Jeden anderen Menschen, der ihn so angerempelt hätte, hätte er zur Schnecke gemacht. Niemand vermiest ihm sein Essen und dazu noch sein Hemd. Aber als er in ihre Augen sah, verschwand die Wut mit einem Mal und er hatte den Drang, ihr näher zu kommen, mit ihr zu reden.
Daniel stand eine ganze Weile so dar und schaute in die Richtung, in der sie verschwand. Dann schüttelte er den Kopf, kreiste einmal seine Schultern und ging zum nächsten Mülleimer, um seine leere Nudelpackung wegzuschmeißen. Die Uhr zeigte ihm 12:30 Uhr an. Seine Mittagspause war vorbei. Bevor er zurück in das Gebäude der Staatsanwaltschaft zurückging, knurrte sein Magen so laut, als würde er mit Daniel schimpfen. Er erblickte auf der gegenüber liegender Straßenseite einen Kiosk. Dort würde er sich eine Kleinigkeit holen, dachte er sich und ging schnurstracks über die Straße.
Valentina lief die dunkelgraue Treppe des Landesamts Berlin für Gesundheit und Soziales hoch, durch die Lobby, bis hin zu den Fahrstühlen. Mit den großen Fenstern, die zur West- und Ostseite gerichtet waren, bekam die Lobby etwas Imposantes. Das Mobiliar war zum Teil noch aus den 80er Jahren. Sie mochte den Stilbruch mit dem modernen Einschlag. Vereinzelt liefen Mitarbeiter durch den Raum, zu ihren Schreibtischen. Es herrschte gerade noch die Mittagsflaute, die meisten gingen bei schönem Wetter raus zu einem Schnellimbiss und aßen auf einer Bank im Freien.
Hastig drückte sie auf den silberfarbenen Knopf. Schneller, schneller, nun komm schon du olles Teil, betete sie und hüpfte von einem Bein auf das andere. Nach ein paar Sekunden öffnete sich die Tür des Fahrstuhls und ließ sie einsteigen. Sie betätigte die Zahl drei auf dem Bedienungsfeld. Sie spürte, wie sich der Fahrstuhl in Gang setzte und nach oben gezogen wurde. Das Innere des Fahrstuhls bestand nur aus Spiegeln. Sie riskierte einen kurzen Blick in einen dieser Spiegel und erschrak, als sie sich näher betrachtete. Ihre Haare waren durcheinander, ihr roséfarbener Lippenstift und ihre Wimperntusche waren leicht durch das Schwitzen verschmiert. Sie kramte aus ihrer Tasche einen kleinen roten Kamm hervor und versuchte ihre Haare zu bändigen. Auch das Parfüm hatte sie endlich griffbereit und sprühte sich mit drei Spritzern ein. Ihre Wimperntusche wischte sie mit ihrem Finger weg und zog ihren Lippenstift nach. Sie schloss ihre Tasche und in diesem Moment ertönte auch schon das Signal des Fahrstuhls und kündigte damit an, dass er die gewünschte Etage erreichte. Eilig verließ sie diesen und ging direkt in den rechten, mit cremefarbenen Fliesen belegten Flur. Es befanden sich auf beiden Seiten zahlreich geschlossene Türen, mit Aufschriften, die angaben, welcher Mitarbeiter dort arbeitete. Am Ende des Flurs angelangt, klopfte sie zögerlich an die linke Tür.
„Herein“ ertönte dahinter eine rauchige Männerstimme. Vor ihr stand, mit dem Rücken zugewandt, ein kleiner glatzköpfiger Mann. Er trug eine weite beige Hose, mit einem grünen Strickpulli und in der Hand hielt er einen schmalen Hefter. Als Valentina den Raum betrat, schlug der Mann ruckartig den Hefter zu und schaute sie über seine runde blaue Brille an.
„Entschuldigen Sie bitte Herr Schulte-Voigt, dass ich zu spät komme. Ich will mich gar nicht herausreden, aber ich hatte vorhin einen Zusammenstoß mit einem Passanten und er.“
„In Ordnung Frau Seidel, ich bin heute gut gelaunt und sehe über die Verspätung hinweg.“ Der Mann grinste sie an, zeigte mit seiner Hand auf den freien Stuhl vor seinem Schreibtisch und setzte sich.
„Frau Seidel, ich habe Sie heute zur mir gebeten, weil ich über Ihre letzten Wochen sprechen wollte“ bei diesen Worten, beugte er sich über seinen Tisch, schaute sie eindringlich an und knetete seine Handrücken.
„Sie haben Ihre Arbeit ordentlich gemacht. Bis jetzt gab es keine Fehler oder sonstige Beschwerden, die Ihre Arbeit betreffen. Ich bin sehr zufrieden, dass Sie sich in unser System einfinden konnten.“ Valentina war erleichtert. Ihre Schultern sanken wieder nach unten und sie entspannte. Sie hatte Angst gehabt, dass sie wieder rausgeschmissen würde.