Gedenke der Toten - James Oswald - E-Book

Gedenke der Toten E-Book

James Oswald

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Beschreibung

Im Höhlenlabyrinth unter den Straßen Edinburghs wird die Leiche des vermissten Journalisten Ben Stevenson entdeckt – die Kehle durchgeschnitten, die Wände mit seinem Blut besudelt. Alles deutet auf einen Ritualmord hin, doch Inspector Tony McLean will sich nicht mit einfachen Antworten zufriedengeben. Schon gar nicht, als die Mächtigen der Stadt seine Ermittlungen massiv behindern. An welcher Story war Stevenson dran, die ihn das Leben kostete? McLean läuft die Zeit davon, denn der Killer hat bereits sein nächstes Opfer im Visier, um die grausame Wahrheit zu vertuschen ...

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Buch

In Edinburgh ist der Enthüllungsjournalist Ben Stevenson vom Radar verschwunden. Eigentlich nicht ungewöhnlich, tauchte der Vermisste doch in der Vergangenheit des Öfteren für Recherchen unter. Auch Inspector Tony McLean ist zunächst skeptisch, als ihn Stevensons Kollegin Jo Dalgliesh um Hilfe bittet. Zumal er die rücksichtslose Skandalreporterin nicht schätzt. Angesichts ihrer ehrlichen Sorge willigt McLean dann aber ein. Doch da ist es bereits zu spät. Kurz darauf wird in der Gilmerton Cove, einem Höhlenlabyrinth unter den Straßen Edinburghs, Stevensons Leiche entdeckt – die Kehle durchgeschnitten, die Wände mit seinem Blut besudelt. Alles deutet auf einen Ritualmord hin, doch McLean will sich nicht mit einfachen Antworten zufriedengeben. Schon gar nicht, als die Mächtigen der Stadt seine Ermittlungen massiv behindern. An welcher Story war Stevenson dran, die ihn das Leben kostete? McLean läuft die Zeit davon, denn der Killer hat bereits sein nächstes Opfer im Visier, um die grausame Wahrheit zu vertuschen ...

Weitere Informationen zu James Oswald sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

JAMES OSWALD

Gedenke der Toten

Thriller

Aus dem Englischen

von Michael Benthack

Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

»Prayer for the Dead« bei Michael Joseph, an imprint of

Penguin Books, Penguin Random House UK.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2015 by James Oswald

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe

2017 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Irmgard Perkounigg

KS · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-19912-8V002

www.goldmann-verlag.de

Für die Ashprington-Crew

Peter, Alice, Jo, Lyle und Io

1

Er kniet vor mir wie ein reuiger Sünder, das Gesicht zur Steinmauer gedreht. Wegen der Plastiktüte über seinem Kopf kann er die Einkerbungen in der Felswand nicht sehen, diese Spuren, die die Steinmetze vor so langer Zeit hinterlassen haben. Ihre Meißel haben diese Höhlen erschaffen. Abermillionen Schläge haben den Sandstein abgetragen und die Geheimnisse ihrer innersten Gedanken in den Mustern zum Vorschein gebracht, die sich rings um uns herum erstrecken. Wer sich die Zeit nimmt, sie zu entziffern, der stößt auf längst Vergangenes und auch Zukünftiges.

»Dies ist der dunkle Ort, das Warme und das Feuchte. Wir sind hier, ungeboren. Wir warten.« Ich spreche lauter als normal und nehme die Rolle der Figur ein, die ich für dieses kleine Drama erfunden habe. Er antwortet nicht. Kann nicht antworten. Sein Mund ist mit einem Klebeband verschlossen. Mit derselben Rolle habe ich ihm die Handgelenke auf dem Rücken gefesselt. Und das Komische daran ist: Er hat es zugelassen.

»Hier erwarten wir unsere Geburt. Gefesselt und geknebelt von unseren früheren Leben.« Ich drücke seinen Kopf nach vorn, fest, aber nicht grob. Einen Augenblick lang wehrt er sich, doch schon bald beugt er sich tief hinunter zu dem schmutzigen Boden. Aus einer in den Fels gehauenen Rinne dringt Wasser, das aus der Stadt über uns herabtröpfelt. Die Männer, die diese Rinne geschaffen haben, kannten die Geheimnisse der Erde, planten diesen Ort so, dass er niemals überflutet werden würde. Es gibt hier überall Wasserrinnen, alle sorgfältig aus dem Stein geschlagen, damit das Wasser in ein Sinkloch fließt. Von dort strömt es geradewegs hinab in die Hölle.

»Bist du bereit, neu geboren zu werden? Bist du bereit für die Mysterien, die sich dir offenbaren werden?«

Ein ganz leichtes Zucken, das Zustimmung signalisieren soll; ich spüre es eher in meiner Hand, als dass ich es in dem fast vollkommenen Dunkel sehe. Wir hatten Kerzen mitgebracht, mein neuer Freund und ich, doch sie liegen auf der anderen Seite dieses aus dem Sandstein gehauenen Raums. Ich werfe einen kurzen Blick auf die Kerzen. Sehe meine Kerze, die noch immer brennt, gerade und hell, seine dagegen ist fast heruntergebrannt und verbraucht den letzten Rest Wachs; langsam erlischt der Baumwolldocht. Ihm bleibt nicht mehr viel Zeit.

»Komm, steh auf und brich auf zur Reise deiner Wiedergeburt.«

Ich helfe ihm beim Aufstehen, halte ihn fest, als er ein wenig taumelt. Er kniet ja schon so lange auf dem kalten Steinboden, ist schwach auf den Beinen. Das Seil um seinen Hals ist zu dünn, als dass er sich damit erhängen kann, und zu kurz. Ein Symbol, so wie die vielen anderen in dieser Zeremonie. Ich ergreife das Seil, ziehe ihn herum.

»Der Weg ist dunkel. Er ist nicht leicht. Vertrauen ist der einzige Weg. Vertrauen in deine Freunde. In deinen Bruder.«

Die Worte sind natürlich Unsinn, aber das, was er hören will. Die ganze Zeremonie ist für ihn gedacht und niemanden sonst. Ich führe ihn hinunter in die schmalen, gemeißelten Gänge, wobei ich darauf achtgebe, die Abschnitte, in denen die Decke besonders niedrig ist, zu meiden. Die meisten jedenfalls. Es ist wichtig, dass er ein bisschen leidet, hier, auf dem letzten Abschnitt seines Weges.

Um das Becken herum führt ein schmaler Pfad, deshalb werde ich nicht nass. Für ihn ist das Ganze weniger angenehm. Mal schlurft er vorwärts, wobei er langsam Vertrauen fasst, dann wieder steht er bis zu den Achseln im kalten Wasser und wehrt sich dagegen unterzugehen.

»Nicht schwächeln auf den letzten Metern.« Ich ziehe am Seil, und einen Augenblick lang strampelt er, ehe er wieder Halt findet und aus dem Becken auftaucht, wie ein Delfin, der in freudiger Erwartung eines Fischs seine Vorstellung gibt. Weil sein Mund mit Klebeband verschlossen ist, kann er nicht schreien, doch ich höre sein angsterfülltes Schnauben. Er bewegt den Kopf von einer Seite zur anderen, als ob er sehen wollte, wo er sich befindet. Ich ziehe ihn ein paar Schritte weiter, bis wir schließlich wieder dort sind, wo wir angefangen haben.

»Komm, Bruder.« Das Messer ist so scharf, wie ich es wetzen kann, die Klinge dünn und spitz. Ich ziehe es aus der Scheide und durchtrenne das Klebeband, das seine Handgelenke fesselt. Seine Hände gehen sofort zum Plastikbeutel über seinem Kopf und reißen ihn herunter – weit aufgerissene, starrende Augen werden sichtbar. Ich werfe einen kurzen Blick auf den aus dem Fels gehauenen Tisch und sehe, wie seine Kerze flackert und dann erlischt. Auf dieses Zeichen habe ich gewartet.

»Willkommen in der Bruderschaft«, sage ich, während er den Arm hebt und sich das Klebeband vom Mund reißt. Da weiß ich, dass er bereit ist, er hat gebeichtet, seine Seele ist rein. Nur die Verdammnis wartet noch auf ihn – oder die Erlösung. Bevor er sich befreien kann, führe ich die Klinge schnell über seinen entblößten Hals, unmittelbar oberhalb des Seils. Mit festem Druck durch die Haut, die Gefäße und den knorpeligen Kehlkopf. Blut tritt aus, als er den Mund öffnet, um etwas zu sagen, und feststellt, dass er nicht einmal mehr nach dem Warum fragen kann. Jedoch kann ich die Frage an seinen Augen ablesen, sie steht ihm ins Gesicht geschrieben. Es ist nicht an mir, ihm zu antworten, während er langsam zu Boden sinkt und sich seine Lebenskraft mit dem Wasser in der aus dem Gestein gemeißelten Wasserrinne vermischt. Schnell geht er an einen viel schöneren Ort, während ich nur zuschauen, hoffen und beten kann, dass meine Zeit noch einmal kommen wird. Und dass man mich, wenn dies geschieht, als ebenso würdig ansehen wird wie ihn.

2

Haben Sie eine Minute Zeit, Inspector?«

Detective Inspector McLean verlangsamte seine Schritte mehr aus Überraschung denn aus dem Wunsch heraus, mit der Person zu sprechen, die, wie durch Zauberhand, neben ihm erschienen war. Er hatte gehofft, vor der Besprechung alle mit der Arbeit zusammenhängenden Gedanken aus seinem Kopf verbannen zu können. Doch das Schicksal meinte es offenbar nicht gut mit ihm.

»Ms Dalgliesh. Ich dachte, Sie wären unten im Parlament. Soll da heute nicht mal wieder über das Unabhängigkeitsreferendum debattiert werden?«

»Heute und jeden Tag, deshalb ist mein Redakteur ja nicht interessiert.« Dalgliesh trug trotz der schwülen Nachmittagshitze den für sie typischen langen Ledermantel. In ihrem Mundwinkel hing eine nicht angezündete Zigarette, was zeigte, dass sie etwas von ihm wollte. Wäre die Zigarette angezündet gewesen, hätte das bedeuten können, dass sie ihm nur einen Höflichkeitsbesuch abstattete, bevor sie ihm das Messer zwischen die Rippen stieß.

»Wie ich höre, konnten Sie diese Ganoven, die die zum Festival gekommenen Touristen ausgeraubt haben, dingfest machen.«

»Interessiert Sie das mehr als Politik?«

»Für mich ist alles interessanter als Politik. Man munkelt, es seien überwiegend Osteuropäer. Die Leute lieben es, wenn man ein bisschen ethnische Spannung in die Berichterstattung reinbringt. Nach dem Motto: Die sind nicht nur hier, um uns die Jobs wegzunehmen, sondern auch noch unser Geld.«

»Tut mir leid, dass ich Ihren Alltagsrassismus enttäuschen muss, aber bei den festgenommenen Bandenmitgliedern handelt es sich durchweg um Einheimische. Morgen, vielleicht am Donnerstag, findet eine Pressekonferenz dazu statt.« McLean beschleunigte seine Schritte, in der Hoffnung, an sein Ziel zu gelangen, bevor es anfing zu regnen. Und bevor Ms Dalgliesh ihn noch mehr nervte.

»Ehrlich gesagt, Inspector, geht es mir gar nicht darum. Ich kann diesen ganzen Quatsch selber nicht mehr ausstehen, aber man muss eben tun, was der Redakteur sagt, sonst gibt’s kein Zeilenhonorar und keine Verfassernennung.« Dalgliesh ging schneller, um mit ihm auf gleicher Höhe zu bleiben, musste jedoch bei jedem dritten oder vierten Schritt einen kleinen Zwischenschritt einlegen.

»Was wollen Sie also dann von mir?«

»Dass Sie mir einen Gefallen tun.«

McLean blieb so unvermittelt stehen, dass Dalgliesh ein paar Schritte weiterlief, bis sie es gemerkt hatte. Sie drehte sich um und trottete zurück; er sah sie entgeistert an.

»Einen Gefallen? Ist das Ihr Ernst? Warum sollte ich auch nur daran denken, Ihnen …?«

»Na ja, zum einen, weil ich Ihnen in dem Fall einen schulden würde.«

McLean musterte die Reporterin und suchte nach Anzeichen dafür, dass sie ihn auf den Arm nehmen wollte. Schwierig zu sagen, denn ihr ewig gleicher Gesichtsausdruck war der einer Frau, die ihr Mäntelchen nach dem Wind hängte. Sicher, er verachtete fast alles, was Dalgliesh tat und wofür sie stand, andererseits war der Goodwill einer Journalistin, vor allem einer Enthüllungsreporterin mit fragwürdiger Berufsmoral, nicht etwas, was man einfach so überging.

»Ich höre«, sagte er – und wurde mit einer längeren Pause belohnt. Was immer Dalgliesh auch wollte, es fiel ihr schwer, darum zu bitten – was heißen musste, dass es sich um etwas Wichtiges handelte.

»Ben Stevenson. Kennen Sie ihn?«

McLean nickte. »Der arbeitet doch auch in Ihrer Branche, oder?«

»Ja. Aber Sie müssen gar nicht so die Nase rümpfen. Ben ist okay.«

»Ich bezweifle, ob Ihnen da jeder zustimmen würde. Ich erinnere mich, dass er in der Vergangenheit nicht besonders nett zu meinem Chef gewesen ist.«

»Dagwood? Über den was auszugraben lohnt sich nicht. Kann schon sein, dass er ein Clown ist, aber er ist einer der ehrlichsten Polizisten, die ich kenne.«

»Ich dachte da eigentlich mehr an Jayne McIntyre. Sie hätte Assistant Chief Constable werden können, wenn Ihr Freund Ben nicht diesen Artikel über ihr Privatleben geschrieben hätte.«

»Ja, na ja, so ist das eben.« Dalgliesh war so anständig, verlegen dreinzuschauen, wenn auch nur zwei Sekunden lang. »Aber egal: Sie wäre da oben an der Spitze sowieso verschwendet. Manche Leute sind eben dazu geboren, Detectives zu sein.«

»Sie sind zu reizend, Ms Dalgliesh. So wie Ihr Freund mit seinen schmutzigen Fantasien. Auf Wiedersehen.« McLean bog in die East Preston Street und machte sich auf den Weg zu den Überresten seines alten Mietshauses und seinem Treffen mit den Leuten von der Baufirma, die das Gebäude sanieren und umbauen wollten.

»Ben wird vermisst!«, rief ihm Dalgliesh hinterher. »Er ist verschwunden.«

McLean blieb stehen. Es wunderte ihn gar nicht, dass ein Journalist eine Zeit lang vom Radar verschwand; es gehörte quasi zum Job. Doch wenn Dalgliesh sich so große Sorgen machte und sich an ihn wandte, dann musste die Angelegenheit sehr viel ernster sein.

»Was meinen Sie damit – verschwunden? Ist er in Urlaub gefahren und hat vergessen, euch anderen das mitzuteilen?«

»Ben hat sich in fünf Jahren nie mehr als ein paar Tage am Stück freigenommen. Er lebt für seinen Job, er kann es nicht ausstehen, untätig herumzusitzen.«

»Also ist er einer Story auf der Spur.« McLean sagte das bloß, weil er nicht in die Sache hineingezogen werden wollte. Aber dafür war es schon zu spät.

»Ja, das stimmt. Aber das Ganze hat sich hier abgespielt. In der Stadt. Und er hat mir anvertraut, dass es ein Knüller werden würde.«

»Hat er gesagt, worum es dabei geht?«

Dalgliesh lehnte sich an die Mauer und zündete sich eine Zigarette an. Nahm einen tiefen Zug und behielt den Rauch ein paar Sekunden in der Lunge, bevor sie ihn wieder ausstieß. »Um sich dann von jemandem wie mir die Story wegschnappen zu lassen? Seien Sie nicht blöd.«

»Woher wissen Sie eigentlich, was er vorhatte?« McLean warf einen Blick über die Straße, wo eben eine funkelnde schwarze Limousine in zweiter Reihe geparkt hatte. Das musste der Leiter der Bauträgerfirma sein, der zu ihrem Meeting kam.

»Ich bin schließlich Reporterin«, sagte Dalgliesh. »Es ist mein Job, meine Nase in die Angelegenheiten anderer Leute zu stecken.«

»Sie glauben also, dass sich Mr Stevenson selbst in Schwierigkeiten gebracht hat?«

»Na ja, er ist seit fast einem Monat nicht mehr in der Redaktion gesehen worden. Hat nicht auf Anrufe geantwortet. Ist nicht zu Hause gewesen, und seine Ex hat seit sechs Wochen auch nichts mehr von ihm gehört.«

»Seine Ex? Warum sollte die das interessieren?«

»Weil er an jedem zweiten Wochenende ihre gemeinsamen kleinen Mädchen zu sich nehmen muss. Sieht ihm gar nicht ähnlich, das zu vergessen.«

Aus dem Auto waren zwei Geschäftsleute in Anzügen ausgestiegen, die sich Schutzhelme aufsetzten und durch die Haustür ins Gebäude hineingeführt wurden.

»Ich kümmere mich um die Sache, sobald ich kann, okay?« McLean zückte sein Handy, drückte auf den Schirm, bis das Notizbuch-Menü erschien, und tippte eine Notiz, mit schlimmen Tippfehlern, als Erinnerungsstütze ein. »Ich müsste im Moment ganz woanders sein.«

Dalgliesh lächelte. McLean fand den Anblick so verstörend, dass er einen Augenblick lang glaubte, ihr Schädel würde sich gleich öffnen und es würde darin irgendetwas Verwestes sichtbar werden. »Sie sind ein Schatz, Inspector. Ich schicke Ihnen alles zu, was ich bereits habe.«

Bilder seines Schreibtischs, der sich schon jetzt unter dem Gewicht des nicht erledigten Papierkrams bog. Noch mehr davon konnte er wirklich nicht gebrauchen.

»Ich verspreche aber gar nichts«, sagte er. »Und sollte dieser Freund von Ihnen sonnengebräunt und mit einer neuen Freundin wieder auftauchen, schulden Sie mir einen doppelten Whisky.«

Er hatte das Haus gemieden. Hatte sich vor dem emotionalen Aufruhr versteckt, für den es stand; das würde jedenfalls Matt Hilton sagen. Vielleicht würde er sogar recht damit haben, doch in erster Linie lag es daran, dass seine Wohnung in Newington auf McLeans zunehmend längerer Liste mit Prioritäten ganz unten stand. Natürlich erklärte das nicht, warum er die Briefe der Anwälte oder des Bauträgers, die Wohnung zu erwerben, nicht beantwortet hatte, und weshalb er nun schon seit Wochen die diesbezüglichen Anrufe ignorierte.

Das Problem war simpel. Er besaß einen Anteil an dem Gebäude, weil ihm eine der Wohnungen gehörte, die bei dem Brand zerstört worden waren. Zwar war es einer cleveren Bauträgerfirma gelungen, die meisten anderen Anteile aufzukaufen, aber sie konnte ohne seine Einwilligung nichts unternehmen. Die Firma hatte ihm Geld angeboten, ziemlich viel Geld, wenn er schnell verkaufte. Und es gab wirklich keinen Grund, warum er das Angebot nicht annehmen und aus der Wohnung ausziehen sollte. Doch er brachte es einfach nicht über sich.

Der Seniorpartner seiner Anwaltskanzlei war persönlich aufs Revier gekommen und hatte eine Stunde lang zusammen mit den Betrunkenen, Obdachlosen und den einfach nur Einsamen im Empfangsbereich gewartet, bis McLean schließlich von einem Tatort zurückgekehrt war. Mehr als alles andere hatte dies McLean schließlich vom Ernst der Lage überzeugt. Das Problem würde nicht verschwinden, wenn er es nur lange genug ignorierte; und außerdem wurden andere Leute durch seine Untätigkeit belästigt. Seine Großmutter wäre über seine Unhöflichkeit entsetzt gewesen.

Und so war er also hier, wieder in Newington, für ein Treffen vor Ort, um den Umbau zu besprechen. Vielleicht glaubten die Bauleute ja, dass er sich anders entscheiden würde, wenn er feststellte, was sie geplant hatten. Doch als er die Fassade sah, immer noch da, mit einem Gerüst davor, die Fenster wie blicklose Augen mit dem Himmel dahinter, trat ihm alles wieder vor Augen. Mit der Haustür war es das Gleiche. Die Farbe war ein wenig verblasst, die Hausnummer weg, aber jemand hatte die Tür etwas offen stehen lassen, genau so, wie es die Studenten im Erdgeschoss früher auch immer getan hatten.

»Detective Inspector McLean?« Eine Stimme hinter ihm. Als sich McLean umdrehte, erblickte er einen Mann im dunklen Anzug, dessen schwarze Schuhe so blank geputzt waren, dass es fast wehtat. Er trug einen Schutzhelm, hätte ansonsten aber auch als Banker oder Steuerberater durchgehen können.

»Das bin ich. Und Sie sind …?«

»McClymont. Joe McClymont.« Der Mann streckte ihm die Hand entgegen. McLean ergriff sie – und wunderte sich, wie fest der Händedruck war. Und die Haut fühlte sich rau an. Hände, die nicht nur einen Kugelschreiber hin und her bewegten.

»Entschuldigen Sie, dass ich etwas schwer zu erreichen war. Ein Tag hat eben nur vierundzwanzig Stunden.«

»Jetzt sind wir ja alle hier. Gehen wir rein, und werfen wir einen Blick auf die Pläne.« McClymont versuchte erst gar nicht, so zu tun, als wäre es keine große Sache, dass das Bauvorhaben seit Monaten in Verzug war. Er ging geradewegs ins Gebäude und schien anzunehmen, dass McLean ihm folgen würde.

Abgesehen vom fehlenden Dach ähnelte der Eingangsbereich erstaunlich dem, an den McLean sich erinnerte, möglicherweise war er sogar etwas gepflegter. Der Regen hatte die großen Fliesen sauber gewaschen, und wegen der zusätzlichen Lüftung waren fast sämtliche Spuren von hundertfünfzig Jahren Katzenpisse entfernt worden. Im hinteren Bereich des Hausflurs führte die Treppe jetzt nur noch rund ein Dutzend Stufen hinauf, das restliche Gebäude war bis auf die Wände des Erdgeschosses abgerissen worden. McClymont trat durch einen Durchlass, der Mrs McCutcheons Wohnungstür gewesen wäre, stieg mehrere neu erbaute Treppenstufen hinunter, dort, wo sich einst die rückwärtige Hauswand befunden hatte, und ging in den Gemeinschaftsgarten. Zwei Mietcontainer waren mithilfe eines Krans dort hinuntergelassen worden und bildeten eine Art Baustellenbüro, aber McLean nahm sich einen Augenblick Zeit: Er drehte sich um und blickte die Rückseite hinauf zu dem, was ehemals sein Zuhause gewesen war. Aber da war nur die Innenseite der vorderen Hauswand, die von mächtigen Stahlträgern und Stützpfeilern gehalten wurde. Die einzelnen Wohnungen waren durch die unterschiedlich farbigen Wände kenntlich, und dort, ganz oben rechts, am Erkerfenster seines Wohnzimmers, hing noch ein Stück der Fußbodenleiste. McLean hatte die Farbe davon abgekratzt, sie so lange geschmirgelt, bis sie glatt war, und anschließend lackiert. Stunden, Tage, Jahre hatte er in diesem Zimmer zugebracht, hatte aus dem Fenster gesehen oder einfach nur auf dem Sofa gesessen, Musik gehört, ein Buch gelesen, mit Freunden – vor allem mit einer Frau – bei Pizza und Wein zusammengesessen. Der Ansturm der Erinnerungen war fast überwältigend.

»Wir müssen die ursprüngliche Vorderfassade erhalten. Das ist Teil der Abmachung mit der Gemeinde. Es wäre für uns viel leichter, wenn wir alles abreißen und neu aufbauen könnten, aber dann wäre das Haus nicht mehr dasselbe, oder?«

Als McLean sich umdrehte, erblickte er einen zweiten Mann in dunklem Anzug, der allerdings keinen Schutzhelm trug. Der Mann war älter, grauhaarig und untersetzt, mit tiefen Falten um die Augen.

»Joe hat mir gesagt, dass Sie hier sind. Kommen Sie mit in die Hütte, dann zeige ich Ihnen, was wir mit dem Gebäude vorhaben.«

3

Die Vorderfassade bleibt erhalten, aber hinten wollen wir das Gebäude auf den ersten vier Stockwerken um drei Meter verlängern. Der fünfte Stock bekommt einen Balkon mit Blick auf die Salisbury Crags, und in die obersten beiden Etagen bauen wir zwei Maisonette-Wohnungen.«

Im Mietcontainer hatte Joe McClymont auf einem großen Tisch die Baupläne im A1-Format ausgebreitet, in einer Ecke stand ein Modell der Umbaumaßnahmen. Wie sich herausstellte, war der ältere Mann Joes Vater, Jock. Er ließ seinen Sohn reden, hatte aber ganz offensichtlich das Sagen. McLean konnte nicht gerade behaupten, dass ihm die beiden Männer sympathisch waren. Trotz ihrer professionellen äußeren Erscheinung, den blank geputzten Schuhen, den Anzügen und dem teuren Auto machten sie auf ihn einen unseriösen Eindruck. Im hinteren Bereich hielt sich eine dritte Person auf, eine Frau mittleren Alters, die McLean nicht vorgestellt worden war. Sie arbeitete an einem Laptop, blickte aber hin und wieder auf und musterte ihn mit kaum verhohlener Feindseligkeit.

»Moment mal. Balkon im fünften Stock und zwei Geschosse obendrauf?« McLean zählte an den Fingern ab. Er hatte nicht wirklich aufgepasst, aber plötzlich wurde ihm dieses Detail bewusst. »Sie wollen hier ein sechsstöckiges Gebäude errichten?«

»Ganz richtig. Sechs Geschosse, ja. Drei Wohnungen in den ersten vier Geschossen und zwei große Wohnungen, die sich über die obersten beiden Stockwerke erstrecken.«

»Wie soll das funktionieren? Das Gebäude hat nur vier Stockwerke.« McLean warf einen Blick auf das Modell in der Ecke, dann schaute er es sich etwas genauer an. Von vorne sah es genauso aus wie das alte Gebäude, aber das musste natürlich auch so sein. Ausgeschlossen, dass die Gemeinde den Abriss gestattete, da machte sie eher jemandem das Leben schwer, indem sie auf den Erhalt bestand. Auch wenn die Hälfte der Häuser in der Straße nicht zueinanderpassten.

»Sehen Sie die Treppe dort, die Sie aus dem Erdgeschoss heruntergekommen sind?« Joe McClymont deutete mit dem Daumen über die Schulter auf die Überreste von Mrs McCutcheons Wohnung. »Wir mussten die ganzen alten Wände, vorne und an der Seite, untermauern. Was bedeutete, fast drei Meter tief zu graben. Sie können sich übrigens gar nicht vorstellen, wie teuer das war. Dadurch haben wir jedoch unter dem ursprünglichen Bau Platz für zwei Souterrainwohnungen bekommen. Die sind zwar recht dunkel, aber die Rückseite geht hinaus zum Garten. Das ist toll für Kinder.«

»Aber das Gebäude bleibt im Besitz der Gemeinde? Und der Garten auch?«

McLean musste kein Detective sein, um den heimlichen Blick wahrzunehmen, den die beiden Bauleute austauschten. »In gewisser Weise, ja«, sagte Joe schließlich.

McLean blickte erneut auf die Bauzeichnungen, jetzt ein wenig aufmerksamer. Das Gebäude sah wirklich beeindruckend aus, aber die Zimmer waren doch eher klein, die Decken niedrig. Er drehte sich ganz um, betrachtete das Modell etwas genauer. Die Vorderseite sah aus wie immer, aber die Geschosse waren versetzt worden. Die Fassade war nur Fassade, und die Wohnungen dahinter würden sehr viel beengter sein als vorher.

»Mir scheint, Sie haben hier schon ziemlich viel Arbeit investiert.«

»Ein Gebäude wie dieses kommt nicht oft auf den Markt«, sagte Jock McClymont. »Bei diesem Spiel darf man nicht still herumsitzen.«

»Was uns zum eigentlichen Grund unseres Treffens bringt.« Diesmal meldete sich Joe McClymont zu Wort, doch es war offensichtlich, dass sich die beiden abgesprochen hatten.

»Ich soll Ihnen meinen Eigentumsanteil an dem Gebäude verkaufen, das ist mir klar.« McLean hielt kurz inne und beobachtete die Mienen der beiden Männer. Jetzt, wo er Bescheid wusste, sah er, dass es sich um Vater und Sohn handelte. Im Gegensatz zum alten Jock McClymont mit seinem onkelhaften Aussehen und einem Gesicht, das mit den Jahren voller geworden war, wirkte Joe mager und gierig. Und auch wenn Joe gefährlicher zu sein schien, so hatte McLean doch Erfahrung genug, um zu wissen, dass es der Alte war, der ihm Ärger bereiten würde. Hinter ihnen murmelte die Frau irgendwelche unverständlichen Sätze, so, als spräche sie mit einem Ausländer.

»Und wenn ich das nicht möchte?«

In der Ferne unterstrich eine Sirene das lange Schweigen, das folgte. Sogar die Frau hörte auf zu reden.

»Ich verstehe nicht.« In Joes Miene zeigte sich aufrichtige Verwirrung, so, als hätte sich noch nie jemand geweigert zu verkaufen. »Wieso nicht? Ich meine, was ist die Alternative?«

»Ich hatte eigentlich gehofft, dass Sie mir das sagen können. Ich meine, es ist doch ein wenig anmaßend, mit den Bauarbeiten zu beginnen, obwohl einem das Gebäude noch gar nicht gehört, oder?«

»Uns gehört eine Mehrheitsbeteiligung, mein Junge.« Jock McClymonts schroffer, aber freundlicher Ton hatte sich gewandelt. »Wir haben uns bislang nicht mit Ihnen gestritten, weil es ja Ihre Wohnung ist. Aber wir können Ihnen nur bis zu einem gewissen Grad entgegenkommen.«

Interessante Wortwahl. McLean brauchte wirklich nicht den ganzen Ärger, der daraus entstehen konnte, aber er war auch nicht so töricht, entgegen seinen Grundsätzen zu handeln. »Und wenn ich ganz einfach meine Wohnung zurückhaben möchte?«

Joes Blick verengte sich. »Sie wollen eine der Wohnungen kaufen?«

»Nein. Ich will meine Wohnung. Oberste Etage links. Die hellblaue Tür. Drei Zimmer, Vollbad und ein halbes Zimmer, in dem jeder Student gern wohnen würde. Ich will eine Küche, von der ich über den Garten hinwegschauen und Arthur’s Seat sehen kann, wenn ich ein wenig den Hals recke. Das rostige Fahrrad, das ans Treppengeländer gekettet ist, verschenke ich, und wenn es keinen nachhaltigen Geruch von Katzenpisse im Eingangsbereich gibt, wäre das ein Plus.«

Beide McClymonts starrten ihn entgeistert an, mit fast identischen Mienen. Joe fand als Erster seine Sprache wieder.

»Aber die Pläne …«

»… sind ein bisschen schrottig, oder?«, unterbrach ihn McLean. »Sechs Geschosse? Im Ernst? Wie haben Sie das denn beim Bauamt durchbekommen? Sie lassen nur die Vorderfassade stehen und bauen dahinter eine billige moderne Investorenkiste: Glauben Sie wirklich, dass die Stadt so etwas braucht?«

»Was die Stadt braucht, spielt keine Rolle.« Jock McClymonts Stimme klang bedrohlich. »Wir haben einen Haufen Geld in das Haus gesteckt. Und wir haben nicht vor, das Ihretwegen in den Wind zu schreiben. Die Penthouse-Wohnungen werden viel mehr kosten, als Ihr Anteil wert ist. Wenn Sie nicht das Geld nehmen, das wir Ihnen angeboten haben …«

»Ich glaube, Sie haben mich missverstanden, meine Herren. Ich weiß es zwar zu schätzen, wie viel Zeit und Mühe Sie in das alles hier investiert haben«, McLean machte eine umschreibende Armbewegung, »aber was Sie vorschlagen … Ich kann mir auch nicht ansatzweise …« Er griff nach dem obersten Blatt der Baupläne, rollte es auf dem Tisch aus. »Sie müssen schon mit etwas viel Besserem kommen als dem hier, wenn ich Ihnen bei der Realisierung helfen soll. Und wenn Sie mich nun bitte entschuldigen, ich muss zurück an die Arbeit.«

McLean stand vor der Haustür, atmete einmal tief durch und schaute sich auf der Straße um. Sie war ihm so vertraut wie seine Haut, ein Ort, an dem er mehr als fünfzehn Jahre gewohnt hatte, bis zu jenem schrecklichen Brand. Aber das war damals, und dies war jetzt. Er besaß noch ein – viel zu großes – Haus, von dem er sich genauso wenig trennen konnte. Dabei wäre eine Wohnung, die näher am Arbeitsplatz lag, durchaus sinnvoll, und er könnte auch eine kaufen, wenn er es gewollt hätte. Nein, es war etwas weniger Rationales – das Gefühl, dass die Menschen, die in dem Haus gelebt hatten und gestorben waren, es irgendwie besser verdienten. Zudem waren ihm McClymont senior und junior im Lauf des Gesprächs immer unsympathischer geworden. Und schließlich, der Kern der ganzen Sache: Es war über ihn verfügt worden. Die McClymonts wollten, dass er verkaufte, und meinten, das Problem würde verschwinden, wenn sie mit etwas mehr Geld um sich warfen. Sie hätten sich erst die Mühe machen sollen, ihn ein wenig besser kennenzulernen.

Mit gesenktem Kopf, um keinen Augenkontakt mit den anderen Fußgängern herzustellen, machte er sich auf den Rückweg zum Revier, in der Hoffnung, seine Gedanken sammeln zu können. Als sein Telefon in seiner Tasche vibrierte, hörte er keinen der Klingeltöne, die DC MacBride einprogrammiert hatte, damit er wusste, dass er den Anruf beantworten musste, aber das Gedudel hatte trotzdem etwas Dringliches, das er nicht ignorieren konnte. Er zückte das Handy und blickte auf das Display. Eine internationale Nummer. Vielleicht versuchte da jemand, ihm ein betrügerisches Finanzprodukt zu verkaufen oder ihn dazu zu verleiten, sensible Passwörter seines Computers mitzuteilen. Fasziniert drückte er das Icon für Rufannahme und hielt sich das Handy ans Ohr.

»Hallo?«

»Das ist ja gar nicht Gordon. Mist, da habe ich mich wohl verwählt.« McLean erkannte die Stimme, auch wenn es viel zu lange her war, dass er sie gehört hatte, und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Sieht so aus, Phil. Wie geht’s denn so?«

»Warte … warte. Tony? Mann, Kumpel. Wie geht’s dir?«

»Ach, wie immer. Viel zu tun. Du weißt ja, wie es ist.«

»Das musst du mir nicht sagen. Das Leben an der Uni macht mich total fertig. Diese amerikanischen Studenten. Die sind ja so … wie sagt man?«

»Engagiert?«

»Jaja, ganz richtig.« Phil lachte. »Oder sollten es wenigstens sein.«

»Wie geht’s Rae? Ihr beide wollt mich hoffentlich nicht schon wieder bitten, in nächster Zeit Pate zu werden.«

»Rae ist …« Phil machte eine etwas zu lange Pause, er war aus der Übung, sich mit seinem alten Freund, dem Detective, zu unterhalten. »Rae geht’s gut.«

»Du wirst also mit Kalifornien nicht recht warm?« McLean verlangsamte seine Schritte, um die Zeit hinauszuzögern, bevor er im Revier ankam und den Anruf beenden musste. Dann merkte er, dass er sich in der falschen Straße befand, blieb stehen, sah sich um. Er war unwissentlich nach Hause gegangen.

»Verdammt, ich hab ganz vergessen, mit wem ich rede. Aber es stimmt: Sie genießt es auch nicht besonders. Und um ehrlich zu sein: Sie will wirklich Kinder. Ich bin mir bloß nicht sicher, ob ich die hier großziehen möchte, verstehst du?«

McLean sagte nicht: »Und du glaubst, hier drüben ist alles besser?« Obwohl er es gern getan hätte. Es erstaunte ihn, dass Phil überhaupt Kinder in Erwähnung zog, aber es hatte ihn ja auch überrascht, als sein alter WG-Mitbewohner geheiratet hatte. Menschen ändern sich.

»Könnte vielleicht besser sein, nach Hause zu kommen. Wer weiß? In ein paar Monaten ist Schottland ja vielleicht unabhängig.«

»Mach keine Witze darüber, Phil. Die ganze Sache nervt total.«

»Du glaubst nicht, dass Schottland es allein schaffen kann?«

»Kann? Doch, natürlich. Aber sollte? Das ist eine Frage für einen langen Abend mit Bier und Pizza. Und einer Flasche Whisky, um die Sache abzurunden.«

»Klingt wie eine Verabredung. Beim nächsten Mal, wenn ich wieder drüben bin. Hör zu, Tony, es war super, mit dir zu plaudern, aber …«

»Du musst noch Gordon anrufen. Wer immer das ist. Ja, es ist gut, deine Stimme zu hören, Phil. Du solltest dich öfter mal melden. Und du weißt, du kannst mich immer anrufen, jederzeit, ja?«

»Ja, klar. Wird gemacht. Also, bis bald vielleicht.« Und damit war das Gespräch zu Ende.

McLean stand am Rand der Meadows und betrachtete die nachmittäglichen Spaziergänger, die Studenten, die auf den Rasenflächen lagen oder Fußball spielten. Ein Pärchen ging vorbei, es hielt das Töchterchen jeweils an einer Hand. Bei jedem dritten, vierten Schritt verlor die Kleine das Gleichgewicht; doch es vertraute dem festen Griff der Eltern, überzeugt, dass ihm keinerlei Gefahr drohte. Eine solche Unschuld war ebenso berührend wie beunruhigend. Bittere Erfahrungen hatten McLean zynisch gemacht, aber das hieß ja nicht, dass es allen so ergehen musste. Er schüttelte den Kopf über seine merkwürdigen Gedanken und den noch seltsameren Umstand, der diese ausgelöst hatte. Ein Blick auf die Uhr an der Ecke des alten Dick-Vet-Gebäudes verriet ihm, dass es schon spät war und er nicht zurück aufs Revier gehen, sondern lieber einen wohlverdienten freien Abend zu Hause verbringen sollte.

Der aber vermutlich doch nicht stattfinden würde …

4

Immer auf den Kleinen …

Sie hacken auf mir herum, nur ich weiß, dass die Lehrer gepetzt haben. Sie haben allen von meinen Eltern erzählt. Ich erkenne es an ihren Blicken, daran, dass sie mich weder anschauen noch mit mir sprechen. Sie wollen mich hänseln, so wie im letzten Halbjahr, aber etwas hält sie davon ab. Allerdings reden sie noch immer hinter meinem Rücken über mich, nur eben so leise, dass ich es nicht wirklich hören kann. Johnson, Bain und Cartwright, die wissen, dass sie nicht gemein zu mir sein können, was jedoch nur bewirkt, dass sie es umso öfter sein wollen.

Also lassen sie es an dem Kleinen aus.

Der Junge ist neu. Seine Eltern wohnen in einem großen Haus um die Ecke von meinem. Sie sind gerade von Übersee – wo immer das ist – wieder hierhergezogen. Die Schulhofschläger bearbeiten ihn jetzt schon seit einer Woche, aber er schluckt ihren Köder nicht, geht auf ihre Hänseleien einfach nicht ein. Das ist nicht gut. Ich habe es auf die harte Tour gelernt. Wenn man sie ignoriert, verschwinden sie nicht einfach, es macht sie nur grausamer. Er wird’s noch lernen, aber wie lange wird das dauern? Und wie sehr werden sie ihm wehtun?

Er steht jetzt in der Ecke, sie umringen ihn. Johnson ist wohl ein Jahr älter als ich, Bain und Cartwright sind in meinem Alter. Sie alle sind groß – und dumm. Der neue Junge ist ziemlich klein. Als wäre er erst vier oder so. Er hat echt keine Chance. Und er wohnt um die Ecke von Großmutters Haus, was vermutlich der Grund ist, weshalb ich mich einmische.

»Lasst ihn in Ruhe.« Meine Stimme bebt, als mir klar wird, was ich getan habe. Zieh nie die Aufmerksamkeit auf dich, lautet die Regel Nummer eins.

Johnson dreht sich langsam um, seine Schweinsäuglein suchen nach dem, der ihn unterbrochen hat. Zunächst glaube ich, er will mich schlagen. Wäre nicht das erste Mal, wird nicht das letzte Mal sein. Aber dann sieht er, wer das war, und seine Miene ändert sich. Liegt eine Spur Unsicherheit darin, ein Anflug von Angst?

»Was hast du gegen ihn?«

»Nichts.«

»Ach ja, nichts.« Johnson hält einen Augenblick lang inne, dann schlägt er Bain auf die Schulter, seine böse Miene wird zu einem Grinsen, wodurch er wie der Depp aussieht, der er ist. »Ey, an alle, McLean ist ’n Homo. Er hat ’n neuen Freund.«

Bain und Cartwright lachen, als wäre es das Lustigste, was sie je gehört hätten. »Homo! Homo!« Und dann rennen sie den Gang runter, auf der Suche nach einem anderen, den sie schikanieren können.

»Geht’s dir gut?«, frage ich den Jungen. Er sagt nichts. Nickt nur. Die Augen immer noch weit aufgerissen.

»Am besten, du hältst dich von denen fern. Du bist Bale, stimmt’s?«

Er nickt erneut. »N… Norman.«

»Ich bin Tony. Ich wohne bei dir um die Ecke. Weißt du, dass die alte Dame, die früher in deinem Haus gewohnt hat, in ihrem Bett gestorben ist? Sie ist monatelang nicht gefunden worden.«

Das stimmt zwar nicht. Na ja, nicht ganz. Mrs Leslie ist wirklich im Bett gestorben, aber meine Grandma war bei ihr, und die alte Dame wurde eine Woche später auf dem Friedhof beerdigt. »He, jetzt wohnt doch deine Mutter in dem Zimmer, oder?«

Normans Augen weiteten sich noch mehr, die Farbe wich aus seinem Gesicht.

»Das … glaubst du?«

Ich will gerade antworten, ihm sagen, dass das unwahrscheinlich ist, aber die Pausenglocke unterbricht mich. »Ich muss mich beeilen. Ich hab gleich Mathe.«

Erst als ich im Klassenzimmer das Übungsheft aufschlage, wird mir bewusst, dass ich genauso gemein zu ihm gewesen bin wie Johnson, Bain und Cartwright.

5

Beeilen Sie sich, Constable. Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.«

McLean hielt die rückwärtige Tür zum Revier auf und wartete, bis Detective Constable MacBride hereinkam. Es goss in Strömen, das Wasser spritzte vom Asphalt des Parkplatzes bis zu den Knien des Constable, während er vom Einsatzwagen weglief, aus dem er eben ausgestiegen war. Es spielte keine Rolle; als er schließlich an der Tür ankam, war er nicht weniger durchnässt, als wenn er langsam gegangen wäre – oder in einen Swimmingpool gefallen.

»Verdammt. Woher ist das denn gekommen?« MacBride schüttelte sich wie ein Hund; McLean ließ die Tür zuschwingen. Im Eingangsbereich spritzte das Wasser nur so gegen die ohnehin glatten Bodenfliesen, die schmuddeligen Wände und den Detective Inspector.

»Prima. Genau das, was ich brauche.« McLean schlug die nasse Aktenmappe gegen die Hosenbeine, damit sie wenigstens ein bisschen trocken wurde. Er hatte den Regenguss um Sekunden verpasst und sich glücklich geschätzt, dass er der Vorgesetzte war – was bedeutete, dass MacBride gefahren war und den Wagen abschließen musste.

»Tut mir leid, Sir.« MacBride neigte den Kopf wie ein Leibeigener vor einem Edelmann und fuhr sich mit der Hand durch die nassen Haare. Die lang waren, wie McLean auffiel. Vielleicht etwas zu lang, wenn’s nach den Bestimmungen ging, aber er wollte nichts dazu sagen. Bei der Kripo ging es ohnehin ein wenig lockerer zu, und da war noch diese andere Sache …

»Haben Sie noch immer Ärger wegen Ihrer Narbe?«

MacBrides Hand verharrte mitten in der Bewegung, ein vertrauter Hauch rötete seine Wangen. Trotz des langen, dünnen roten Haars konnte McLean die Narbe deutlich sehen. Wenn überhaupt, dann ließ jeder Versuch, sie zu verbergen, sie noch auffälliger wirken.

»Sie wissen ja, wie Polizisten so sind. Alles Schwachköpfe.« MacBride strich die Haare nach vorn, wobei es ihm jedoch nicht ganz gelang, die knallrote Narbe auf der Stirn zu verdecken. Eine Glasscherbe, die aus dem Fenster einer explodierenden psychiatrischen Klinik herausgeplatzt war, hatte ihn getroffen und ein blitzförmiges Wundmal hinterlassen.

»Nennt man Sie immer noch Constable Potter?«

»Und Schlimmeres. Die sind total kindisch.«

McLean versuchte, nicht zu lachen. DC MacBride sah aus, als hätte er bis vor Kurzem selbst noch die Schulbank gedrückt.

»Die haben mir einen Umhang in den Umkleideschrank gehängt. Müssen ihn einem Uniprofessor oder so geklaut haben.«

»Könnte schlimmer sein. So wie ich die kenne, hätten sie vermutlich eine schwarze Katze darin versteckt, wenn sie eine gefunden hätten.«

MacBride sah ihn an, als wäre er verrückt.

»Sie wissen doch – Zauberei, Hexenzirkel, solche Sachen.«

»Sie haben doch nicht wirklich die Harry-Potter-Bücher gelesen, oder, Sir?«

McLean schüttelte den Kopf. »Ich habe mir vor einiger Zeit einen Teil des Films im Fernsehen angesehen. Bin möglicherweise vor dem Ende eingeschlafen.«

»Es gab acht Folgen, Sir. Bestimmt haben Sie nicht bei allen geschlafen.«

»Ach ja?« Er schlug sich erneut mit der Aktenmappe ans Bein. »Na ja, wenigstens haben die etwas Harmloses, auf das sie sich konzentrieren können. Pete Robertson wird mit allen möglichen Spottnamen bedacht, dabei hat sich der arme Kerl einen Rückenwirbel gebrochen.«

McLean fügte nicht hinzu, dass sich beide Unfälle ereignet hatten, als er im Dienst war. Er wusste nur zu gut, was die jungen Detectives und die Uniformierten hinter seinem Rücken redeten. In der Hälfte der Fälle verdiente er es.

»Tja, wenn die sich in ihrem Job genauso anstrengen würden wie dabei, andere zu verarschen …«

Diesmal lachte McLean nicht. »Sie waren zu lange mit Grumpy Bob zusammen. Sie hören sich schon genau an wie er.«

»Habe ich da eben meinen Namen gehört?«

McLean und MacBride drehten sich um – und erkannten Detective Sergeant Laird, der aus Richtung der Kantine kam. Er hatte sich eine Zeitung unter den Arm geklemmt, trug in der anderen Hand einen großen Styroporbecher mit Kaffee und sah aus wie jemand, der nach einem leeren Einsatzraum suchte, in dem er ein Schläfchen halten konnte.

»Bin schon da.« McLean hielt dem Sergeant die Aktenmappe hin. »Hier. Fangen Sie schon mal an, die Sachen darin miteinander abzugleichen? Ich muss mich gleich mit Dagwood treffen.«

Einen Augenblick lang wirkte Grumpy Bob perplex, dann nahm er den Kaffeebecher in die andere Hand und griff nach der Mappe. »Haben Sie irgendwas verbrochen?«

»Hoffentlich nicht. Aber bei Dagwood weiß man ja nie.«

»Wie ich höre, haben Sie diese Taschendiebe geschnappt, die in der Altstadt ihr Unwesen treiben.«

McLean stand auf seinem vertrauten Platz, auf der falschen Seite des Schreibtischs von Detective Superintendent Duguid, im großen Büro im dritten Stock, in dem früher Jayne McIntyre residiert hatte. Dass Dagwood ihm nicht gleich beim Eintreten einen Streifen abgerissen hatte, beunruhigte ihn ein wenig. Denn wenn man zum Chef zitiert wurde, bekam man normalerweise einen Anschiss. Hatte man seine Sache gut gemacht, wurde man meistens ignoriert, abgekanzelt nur dann, wenn man irgendwas vergeigt hatte.

»Ich kann mir das nicht als Verdienst anrechnen, Sir. DC MacBride hat den Einsatz gemeinsam mit DS Laird koordiniert. Und wenn irgendjemand Lob verdient, dann DC Gregg. Sollte sie es irgendwann leid sein, hier zu arbeiten, kann sie Karriere als Schauspielerin machen.«

Duguid blickte zu ihm auf, als wären ihm die Namen nur vage vertraut. Es war nicht gerade ein bedeutender Einsatz gewesen. Jedes Jahr, wenn die Stadt vor Touristen überquoll, die die Veranstaltungen des Festivals und des Fringe sehen wollten, tauchten Diebesbanden auf. Diese Gang war noch nicht mal besonders gut organisiert, sondern so dumm, dass sich alle Mitglieder im selben Haus aufhielten, nur am Bargeld und den Smartphones interessiert, die sie geklaut hatten. Ein winziger Peilsender in der Tasche des Detective Constable hatte das Team der Uniformierten exakt bis vor die Tür geführt. McLean war nur insofern an dem Einsatz beteiligt gewesen, als er dem Plan zugestimmt und die Geldmittel zugewiesen hatte.

»Mit so einer Einstellung kommt man aber nicht weit, wissen Sie.« Duguid lehnte sich in seinem Sessel zurück, dass die Federn quietschten.

»Wieso weit kommen, Sir? Falls Sie es noch nicht bemerkt haben, ich habe es nicht wirklich auf eine Beförderung abgesehen. Ich bin glücklich da, wo ich bin.«

Worauf der Anflug eines Lächelns Duguids schmale Lippen umspielte. »Glücklich?«

»War vielleicht keine glückliche Wortwahl. Sagen wir mal so: Ich habe keine Lust auf den Posten eines Chief Inspector, von etwas Höherem ganz zu schweigen. Und ich nehme auch nicht an, sehr weit zu kommen, selbst wenn ich wollte.«

»Tja. Wenigstens wissen Sie, was Sie wollen.« Für einen Moment schwieg Duguid. McLean wollte gerade fragen, was er von ihm wolle, als Duguid endlich wieder das Wort ergriff.

»Wie Sie wissen, gehe ich in den Ruhestand. Ende des Jahres.«

»Ja, Sir. Das haben Sie mir schon im Winter gesagt. Im Krankenhaus. Als …«

»Als diese Dreckskerle meinen Wagen gestohlen haben. Sie haben die immer noch nicht gefunden, oder?«

Das stimmte. Weitaus mehr Arbeitsstunden als gerechtfertigt waren in die Ermittlungen eingeflossen, und trotzdem gab es noch immer keine Spur. Als ob der Täter – wer immer den Detective Superintendent überfallen, aus seinem geliebten Range Rover gezerrt, ihn massiv mit den Füßen zusammengetreten und dann das Auto entwendet hatte, niemals existiert hätte. Angesichts der anderen Vorkommnisse an jenem verhängnisvollen Abend, von denen MacBrides Zauberernarbe noch das unbedeutendste war, hätte das durchaus der Fall sein können, fand McLean.

»Tut mir leid. Wir haben alles versucht. Vermutlich ist der Wagen inzwischen längst im Nahen Osten oder in Afrika. Möglicherweise in China. Es ist bedauerlich, aber hochpreisige Autos werden andauernd gestohlen. Kaum jemand schlägt noch Scheiben ein, um eine Brieftasche zu klauen oder wegen des Drogengeldes ein Autoradio rauszureißen, aber wenn man etwas im Wert von hundert Riesen auf der Straße parkt …«

»Muss ich Sie daran erinnern, dass er nicht geparkt war?« Duguids Stimme sank eine Oktave.

»Nein, Sir, keineswegs. Aber wir haben getan, was wir konnten, und ich habe das wenige, das wir gefunden haben, an die National Crime Agency weitergeleitet. So etwas ist eine nationale, keine lokale Angelegenheit. Wir müssen denen die Sache überlassen.«

Darauf reagierte Duguid mit einem Mittelding aus einem Schulterzucken und einem Nicken.

»War das alles, weswegen Sie mich sprechen wollten, Sir?« Ein Klopfen an der offenen Tür unterbrach McLean. Als er sich umwandte, erblickte er DC MacBride.

»Constable?«, sagte Duguid

»Äh, Entschuldigen Sie, dass ich störe, Sir. Ich dachte nur, Sie würden es gern wissen. Man hat eine Leiche gefunden. Draußen in Gilmerton. Verdächtige Umstände.«

Prompt klingelte McLeans Handy. Er zückte es – und sah eine Textnachricht der Einsatzleitung in Bilston Glen.

»Wie’s aussieht, brauchen die meine ganz besondere Expertise in der Angelegenheit – worum auch immer es dabei geht.« Er hielt das Handy in die Höhe und das Display so, dass Duguid es sehen konnte. Der Detective Superintendent schüttelte den Kopf, als wollte er nichts davon wissen. Oder als interessierte es ihn nicht.

»Machen Sie nur. Fahren Sie da hin, und finden Sie raus, was der ganze Wirbel zu bedeuten hat.«

McLean drehte sich wortlos um und ging zur Tür; er rechnete damit, dass Duguid noch etwas sagen würde, einfach nur, um ihn zu stoppen, aber ausnahmsweise schwieg er. Während DC MacBride sich ihm anschloss und sie beide schweigend über den Flur liefen, konnte er nicht anders, als sich zu fragen, was Duguid ihm tatsächlich hatte sagen wollen. Bestimmt ging es nicht um den gestohlenen Range Rover, was bedeutete, dass es sich wohl um seine Pensionierung, seinen Nachfolger drehte. Nun, es hatte schon genügend Spekulationen gegeben, und er wollte da durchaus ein Wörtchen mitreden. Wer immer es war, McLean würde mit ihm zusammenarbeiten, so gut er konnte. Entweder das oder eine Stelle bei der Sitte.

6

Wegen seiner Lage auf den Hügeln im Süden der Stadt, mit Blick auf Castle Rock, Arthur’s Seat und den Firth of Forth hätte Gilmerton ein schöner Ort zum Leben sein können. Früher, als die großen Herrenhäuser in Burdiehouse und The Drum erbaut worden waren, hatte sich die sanft gewellte Landschaft sicherlich für lange Spaziergänge und sommerliche Picknicks angeboten, zumindest für den Landadel. Jetzt befand sich hier die viel befahrene Kreuzung an der Old Dalkeith Road, auf der die Pendler in die Stadt hineinströmten oder aus ihr herausfuhren, nach Midlothian und Borders. Graubraune Reihenhäuser versperrten die schönsten Ausblicke, in den Plattenbauten aus den Siebzigerjahren waren ein paar mit Brettern vernagelte Läden und eine Bücherei untergebracht. Der einzige Laden, in dem etwas los war, war das Wettbüro.

DC MacBride hatte auf der ganzen Fahrt kaum ein Wort gesagt und den Wagen mit grimmiger Entschlossenheit gelenkt, was nahelegte, dass er noch immer wütend war wegen der Narbe. Polizisten waren manchmal auf genauso dumme Weise grausam wie Kinder, was McLean nur allzu gut wusste. Wahrscheinlich hatte man den Detective Constable auch schon in der Schule schikaniert.

»Parken Sie hinter dem Gebäude, dort hinten.« Er wies auf eine schmale Durchfahrt am Ende der Häuserzeile, und MacBride wendete schnell, womit er sich das wütende Hupen des entgegenkommenden Fahrzeugs einhandelte. Im hinteren Bereich des Parkplatzes, hinter der Leihbücherei, standen mehrere Streifenwagen.

»Jemand hat irgendwas von einer Leiche gesagt.« McLean sprach einen der Uniformierten an, die mit dem Rücken an einer Mauer in der Nähe lehnten. Der Geruch von Zigarettenqualm umgab den, der sich aufrichtete und dann zum Auto herüberkam.

»Ja, Sir. Um die Ecke, hinter dem Wettbüro.« Er unternahm einen halbherzigen Versuch, dort hinzuzeigen, wobei er aussah wie ein Einarmiger, der Brust schwamm, nur eben ohne Wasser.

»Sie sehen das hier ein bisschen locker, scheint mir«, sagte McLean. »Sollten Sie das Gelände nicht absperren? Die Öffentlichkeit fernhalten?«

Der Constable zuckte die Achseln. »Kann ja keiner sehen, Sir. Ich bring Sie hin.«

McBride parkte, dann verließen er und McLean hinter dem Constable den Parkplatz und gingen um die Ecke. Neben einer unscheinbaren schwarzen Tür, die McLean für eine Wohnungstür hielt, stand ein zweiter Constable. Der Constable nickte und trat beiseite, damit sie eintreten konnten.

Ein dunkler Raum mit Postern an den Wänden und einer kleinen Ladentheke direkt hinter der Tür. Erst nach einer Weile erkannte McLean, dass es sich weder um eine Wohnung noch einen Laden handelte, sondern um eine Art Touristenattraktion.

»Was ist das hier?«

»Gilmerton Cove, Sir«, antwortete der Uniformierte. »Haben Sie noch nie davon gehört?«

»Ehrlich gesagt, nein.« McLean betrachtete die Poster an den Wänden. Sie ähnelten denen in vielen Ausflugszielen: eine Reihe historischer Karten, auf denen die Sehenswürdigkeit erklärt wurde. Er hatte gerade angefangen, etwas über die Covenanters zu lesen, als im hinteren Bereich des Raums eine vertraute Stimme ertönte.

»Ich hatte mir schon gedacht, dass man dir den Fall zuschieben würde, Tony. Du scheinst wirklich immer die seltsamen Fälle zu kriegen.«

Im Türrahmen stand Angus Cadwallader, der Rechtsmediziner der Stadt. Er trug einen weißen Overall und, ziemlich unpassend, einen Schutzhelm und grüne Gummistiefel.

»Das Gleiche könnte ich über dich sagen, Angus.« McLean hütete sich, Cadwallader die Hand zu geben, vor allem an einem Tatort.

»Stimmt, aber ich kann mir die Fälle aussuchen. Ich lasse sie mir nicht von irgendeiner Einsatzzentrale in Bilston Glen zuteilen.« Cadwallader blickte auf seine Stiefel. »Ob das nun besser oder schlechter ist, weiß ich allerdings auch nicht.«

»Vielleicht sollte ich mir das Ganze einmal ansehen und mir selbst ein Urteil bilden.« Als McLean an dem Rechtsmediziner vorbeispähte, sah er ein Zimmer, das noch kleiner war als das erste. »Sind noch keine Kriminaltechniker da?«

»Doch. Nur ist hier nicht besonders viel Platz. Und auch nicht viel Luft.« Cadwallader musste die Belustigung in McLeans Miene bemerkt haben. »Du hast wirklich keine Ahnung, worum es sich hier handelt?«

McLean schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Dann komm mal mit, ich zeige dir die Geheimnisse von Gilmerton Cove.« Cadwallader trat zur Seite, damit McLean den kleinen Raum betreten konnte. »Vielleicht wäre es besser, wenn der junge MacBride draußen bliebe.«

Wie sich herausstellte, handelte es sich bei Gilmerton Cove um eine Reihe von Höhlen und unterirdischen Gängen, die unmittelbar unterhalb des Bürgersteigs und der großen Straßenkreuzung lagen. Obwohl Cadwallader gesagt hatte, es sei eng hier drin, war der Komplex überraschend groß. Umso mehr, als dass alles, wie McLean erfuhr, von Menschenhand erschaffen worden war.

»Keiner weiß genau, wer das hier alles aus dem Fels gehauen hat. Manche sagen, es waren die Covenanters, andere der Hellfire Club. Ähnliche Höhlen gibt es oben am Rosling Glen Way und unter dem Hawthornden Castle. Vermutlich gibt es noch viel mehr Höhlen zu entdecken.«

McLean hörte sich die Kurzversion der Geschichte an, während er in einen Standardoverall stieg und Papierüberzieher über die Schuhe streifte. Sie waren mehrere steile, in den Fels gehauene Stufen hinabgestiegen und befanden sich jetzt in einer Höhle mit gewölbter Decke, voll mit zerbeulten Aluminiumkoffern mit kriminaltechnischer Ausrüstung. Weiter hinten, in einem schmalen Gang, erhellten Strahler etwas, was normalerweise ein dunkler, klaustrophobisch enger Raum war. Bestimmt befand sich dort auch das Opfer.

»Wer hat denn die Leiche gefunden?« McLean hatte die Frage schon einmal gestellt, aber dann wurde ihm bewusst, dass Cadwallader ja nicht der leitende Beamte am Tatort war. »Entschuldige bitte. Pure Gewohnheit.«

»Wir haben die Leiche eben untersucht, Tony. Wollen wir reingehen und sie uns ansehen?«

Cadwallader lief in einem Labyrinth von Gängen voran, durch auf seltsame Weise aus dem Fels gehauene Räume, darin grob gemeißelte Tische und Bänke, die aus dem Boden und den Wänden geschlagen worden waren. Der Boden war mit feinem Kies bestreut, außer dort, wo Wasserrinnen in den Fels gemeißelt worden waren, die zu einem Sinkloch führten, in dem das Wasser Gott weiß wohin, besser: Teufel wohin, abfloss. Ein schweres gusseisernes Gitter bedeckte die Öffnung, vier Rinnen führten von vier Punkten aus dorthin, ähnlich den Zeigern eines Kompasses. In allen Rinnen strömte Wasser, zweifellos aufgrund der jüngsten Regenfälle. Wegen der Feuchtigkeit war es in der Höhle unangenehm kühl. Drei der Wasserrinnen waren offen, die Rinnsale schlammigen Wassers flossen in den Brunnen. Die vierte Rinne lag weitgehend verborgen unter einem provisorischen, erhöhten Steg, den die Kriminaltechniker errichtet hatten.

Wegen des Stegs war McLean sicher, dass sie sich in der Nähe der Leiche befanden. Doch Cadwallader ging weiter, durch eine Metalltür, die auch in einem U-Boot nicht fehl am Platze gewirkt hätte, und beugte sich vor, als der Gang, dem sie folgten, immer niedriger wurde. Links und rechts waren Felsbrocken zu sehen – als wäre dieser Bereich erst vor Kurzem geöffnet worden. Oder als wäre kürzlich die Decke eingestürzt. Für die letzte Strecke musste McLean in die Hocke gehen, wobei das Gewicht des Felsgesteins ihn niederdrückte – als wäre er Atlas, was eine tief sitzende Angst in ihm auslöste, die schwierig zu unterdrücken war. Als er aus der letzten Höhle heraustrat, war er erleichtert. Zumindest einen Augenblick lang.

Die Leiche lag vor einer Wand, gegenüber der Stelle, an der Cadwallader und er die Höhle betreten hatten. McLean stellte fest, dass es sich um einen Mann handelte, ein blutiger, klaffender Schnitt zog sich quer über seinen Hals. Eine weitere Wasserrinne führte von der liegenden Gestalt weg zu einer nahen Senke voll mit dunklem, stillem Wasser. Im Dämmerlicht sah es wie Blut aus, aber keine Leiche hätte eine solche Menge ergeben können.

»Zusammengefasst lässt sich sagen: Es muss schnell gegangen sein.« Cadwallader trat vorsichtig über den Leichnam und kniete sich ein wenig mühsam hin. Zwei Kriminaltechniker in weißen Anzügen hatten sorgfältig etwas untersucht, das wie ein weiterer Eingang wirkte, voller Geröll und kleiner Haufen aus Felsbrocken. Die beiden hatten in ihrer Arbeit innegehalten, als McLean hereinkam, und beobachteten ihn jetzt, warteten darauf, dass er irgendwo hintrat, wo er nicht hintreten sollte, damit sie ihn wegschicken konnten. Obwohl ihre Gesichter hinter Mundschutz und Papierhaarnetz verborgen waren, glaubte er, ihre mürrischen Mienen zu erkennen. Als könnte sich einer dieser begriffsstutzigen Detectives der irrigen Hoffnung hingeben, einem Tatort irgendwelche wichtigen Informationen zu entlocken …

»Haben wir schon die persönlichen Daten?«

»Auch das solltest du den Beamten fragen, der als Erster am Tatort war. Leider musste er ins Krankenhaus.«

»Ins Krankenhaus?« McLean trat näher, wobei er darauf achtgab, nicht vom provisorischen Steg abzurutschen. Das bleiche, halb in den feinen Kies gedrückte Gesicht der Leiche hatte etwas schrecklich Vertrautes.

»Ja. Er hat sich übergeben, ist ohnmächtig geworden und hat sich an dem Stein dort drüben den Schädel aufgeschlagen.« Cadwallader deutete zur Tür, und da sah McLean das Blut.

Über die gesamte Rückwand war es in großen Wirbeln und Mustern verschmiert. Klebrige, dunkle Wirbel, die unter dem grellen Licht wie die Schleimspuren dämonischer Schnecken glänzten. Als McLean einen Schritt zurücktrat, um sie besser erkennen zu können, rutschte er mit einem Fuß vom Steg ab; dann fing er sich wieder; ein scharfes Luftholen erinnerte ihn daran, dass man ihm zuschaute.

»Sind das Wörter?« Er neigte den Kopf, versuchte hinter den Sinn zu kommen, allerdings ohne Erfolg.

»Am besten, Sie erlauben uns, alles zu fotografieren. Wir können Trickfilter einsetzen, damit alles klar und deutlich rauskommt.« Einer der Kriminaltechniker hob den Fotoapparat an, der ihm um den Hals hing, nur für den Fall, dass McLean nicht wusste, wie man so etwas machte.

»Gute Idee. Tut mir leid.« McLean zog den Kopf ein, ging vorsichtig wieder zurück zur Leiche und setzte sich neben Cadwallader in die Hocke.

»Soll ich auf eine Todesursache tippen?«, fragte der Rechtsmediziner.

»Ich dachte, das wäre mein Job. Aber ich kann sie mir schon denken.« McLean deutete auf das, was ehemals die Kehle des Mannes gewesen war.

»Danach zu urteilen, wie weit das Blut gespritzt ist, dürfte nicht mehr viel davon in ihm sein. Es sei denn, es wurde mit irgendetwas gemischt, damit es besser ausläuft. Wir entnehmen eine Probe.«

»Aber er wurde hier ermordet.«

»Ja, höchstwahrscheinlich. Und zwar schon vor einiger Zeit. Vor Tagen, vielleicht Wochen. Schwer zu beurteilen, wenn die Bedingungen so günstig für die Konservierung sind. Nach der Obduktion weiß ich mehr. Hast du eine Ahnung, wer der Mann sein könnte?«

McLean lehnte sich zurück und drehte den Kopf, damit er sich das Gesicht genauer ansehen konnte. In den Kies gedrückt, beinahe weiße Haut. Das eine Auge war nicht zu sehen, doch das andere starrte ihn blicklos an, glasig. Helles, kurz geschnittenes Haar, schmächtige Statur, die Körpergröße schwer einzuschätzen, wie er dort gekrümmt auf dem Boden lag. Ein Durchschnittsmann, aber das Gesicht hatte er vor Kurzem gesehen. Nein, er war kürzlich daran erinnert worden. Den Mann hatte er schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen.

»Ich wünschte, ich hätte keine Ahnung, aber ich habe eine.«

7

Hier war keiner drin. Alles war abgeschlossen.«

Sie hatten die Leihbücherei um die Ecke vom Häuschen mit dem Besucherzentrum in Beschlag genommen, das sich vor dem Höhleneingang befand. In Kürze würde alles zum Revier verfrachtet werden, wo DC MacBride und Grumpy Bob bereits einen Einsatzraum herrichteten. Die wenigen Augenzeugen wollte McLean möglichst schnell befragen.

»Abgeschlossen? Was soll das heißen?« Er saß in einem kleinen Bereich zwischen Bücherregalen. Auf der anderen Seite des wackligen Tischs hatte die Touristenführerin des Besucherzentrums Platz genommen. Sie war nervös und blass, pulte an den Fingernägeln und schob sich hin und wieder die Brille die Nase hoch.

»Wissen Sie irgendetwas über die Höhle?«, fragte sie. McLean schüttelte den Kopf.

»Nun, sie ist alt, mindestens ein paar Jahrhunderte alt, wahrscheinlich noch viel älter. Es gibt Gänge, die vom Hauptkomplex in alle Richtungen abzweigen, aber die sind alle eingestürzt oder voller Geröll. Wir würden die liebend gern alle untersuchen, nur, na ja, für so etwas gibt es kaum Geld. Und da wir abseits vom Touristenrummel liegen, nehmen wir nicht so viel ein, wie wir uns wünschen. Außerdem gibt es da noch das Problem, dass sich einige Gänge direkt unter der Straßenkreuzung befinden. Die Ingenieure werden langsam nervös.«

»Aber Sie haben die Höhle trotzdem geöffnet. Diejenige, in der wir den Leichnam gefunden haben.«

»Eine Zeit lang ist eine Gruppe vom Fachbereich Archäologie der Universität hierhergekommen. Die haben die Höhle für Untersuchungen genutzt, solche Sachen. Haben ein bisschen Geld zusammenbekommen und wollten einen Plan der versperrten Tunnel anfertigen. Vor ein paar Monaten haben sie diesen Höhlenraum geöffnet und die Metalltür eingesetzt, damit er so lange vor der Öffentlichkeit geschützt ist, bis wir herausgefunden haben, ob er sicher begehbar ist.«

»Es konnte also niemand in den Raum gelangen?«

»Nur wenn er den Schlüssel dafür besaß. Zudem benötigt man weitere Schlüssel, um überhaupt in das Höhlensystem hineinzugelangen.«

»Und wer hat diese Schlüssel?«

Wieder schob die Fremdenführerin ihre Brille die Nase hinauf. »Ich besitze einen Bund mit Schlüsseln zum Besucherzentrum und zu den Höhlen. Mein Sohn besitzt auch einen, außerdem habe ich noch einen Ersatzbund zu Hause. Ich weiß nicht, wer aus dem Archäologieteam den Schlüssel besaß, aber ich hatte ihn nie. Sie konnten nur bis zu der Tür gelangen, wenn ich oder mein Sohn sie vorher in die Höhlen hineingelassen hatten.«

McLean blickte zu der Stelle, an der die Archäologiestudenten saßen. Sie sahen nicht aus, als würden sie die Uni besuchen. Als er in ihrem Alter war, hatte er allerdings auch nicht so alt gewirkt, dass man ihn für einen Studenten halten konnte.

»Als Nächstes spreche ich mit denen«, meinte er. »Aber erst einmal möchte ich einen zeitlichen Ablauf in die Sache hineinbringen. Wann hatten Sie zum letzten Mal geöffnet?«

»Das Besucherzentrum? Jetzt ist Hauptsaison. Im Sommer haben wir täglich geöffnet.«

»Und was ist mit der Höhle?«

»Nein, die ist abgeschlossen, und das Archäologieteam ist seit ein paar Monaten nicht mehr hiergewesen. Ich glaube, seit Juni ist da niemand mehr drin gewesen. Na ja, abgesehen von …« Die Fremdenführerin wurde ganz blass.

»Hätte jemand eine Führung mitmachen, sich verstecken und drinbleiben können, nachdem Sie abends abgeschlossen hatten?« Ein etwas weit hergeholter Versuch, aber er musste das fragen.

»Ich glaube, nein. Wir zählen die Besucher ab, die Zahl beim Reingehen und beim Rauskommen muss identisch sein. Außerdem mache ich als Letztes immer einen Rundgang durch die Höhle, bevor wir abschließen und nach Hause gehen. Da unten kann man sich nirgendwo verstecken, wirklich nicht.«

»Außer in dieser verschlossenen Kaverne. Wenn man einen Schlüssel dafür hätte.«

»Ja, vermutlich. Hat er lange dort gelegen? Wissen Sie das?«

McLean stutzte. Das war schließlich die Kernfrage der Ermittlungen. Die Leichenstarre hatte eingesetzt und sich wieder gelöst, und die Kernkörpertemperatur war die gleiche wie in der Höhle, was bedeutete, dass der Tod nicht in den vergangenen Stunden eingetreten war; aber darüber hinaus hatte Angus nur ganz vage Vermutungen angestellt. Angesichts der Temperaturverhältnisse in der Höhle konnte der arme Kerl wochenlang darin gelegen haben.

»Das finden wir schnell heraus. Bis dahin, fürchte ich, müssen wir die Höhle eine Weile schließen. Zumindest so lange, bis die Kriminaltechniker den Tatort vollständig untersucht haben.«

»Das habe ich mir gleich gedacht, als ich hörte, was sie gefunden haben, nachdem sie die Tür geöffnet hatten.« Das Gesicht der Fremdenführerin sprach Bände. Die Höhle stellte eine eher unbedeutende Touristenattraktion dar, momentan war Hauptsaison. Die Einkommenseinbußen würden sie schwer treffen.

»Ich will versuchen, die Kriminaltechniker dazu zu bringen, so rasch wie möglich wieder zu verschwinden«, sagte McLean, auch wenn er wusste, dass er das nicht tun würde. »Nur eine letzte Frage noch: Sie waren doch heute Vormittag als Erste hier – bevor die Archäologen aufgetaucht sind?«

Das beantwortete sie mit einfachem Nicken.

»Ist Ihnen da auf dem Boden Blut aufgefallen? Irgendein Hinweis darauf, dass sich jemand dort aufgehalten hatte, nachdem Sie am Vorabend gegangen waren?«

»Blut?« Wieder wurde die Fremdenführerin blass. »Nein. An Blut erinnere ich mich nicht, nur dass der bedauernswerte junge Mann durch den Gang nach draußen gelaufen ist. Ihm war speiübel, wissen Sie.«