Gedichte analysieren und interpretieren - Ralf Kellermann - E-Book

Gedichte analysieren und interpretieren E-Book

Ralf Kellermann

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Beschreibung

Wie interpretiert man ein Gedicht? – Schülerinnen und Schülern fällt der Zugang zur Lyrik oft schwer. Als Lehrer kennt Ralf Kellermann die Tücken der Gedichtinterpretation nicht nur genau, sondern weiß zugleich, wie man diesen erfolgreich begegnet: Ausgehend von der besonderen Kommunikationsstruktur des Gedichts führt er Schritt um Schritt und anhand vieler Beispiele in die lyrische Formensprache ein (Metrum, Reim, Stilfiguren etc.), skizziert wichtiges Epochenwissen und stellt unterschiedliche Typen der Gedichtinterpretation vor. Merk- und Infoboxen bieten prägnante Zusammenfassungen und konkrete Hilfestellungen für Klassenarbeit, Klausur und Abitur.Für die Sekundarstufe II geeignet.

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Seitenzahl: 162

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Ralf Kellermann

Gedichte analysieren und interpretieren

Kompaktwissen XL

Reclam

Kompaktwissen XL | Nr. 15234

2017 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG,

Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH,

Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2017

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961257-7

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015234-8

www.reclam.de

Inhalt

1. Einleitung2. Begriffsklärungen: Gedicht – Analyse – Interpretation2.1 Was ist ein Gedicht? Vorurteile und Besonderheiten2.2 Aufgabenbündel: Analysieren und Interpretieren3. Zur Analyse der lyrischen Formensprache3.1 Vers, Metrum, Rhythmus3.2 Reim, Kadenz, Strophe3.3 Lyrische Gattungen bzw. Gedichtformen3.4 Alliteration und andere Klangmittel3.5 Parallelismus, Chiasmus und andere Satzbaumuster3.6 Bildübertragung: Metapher, Metonymie und Co.3.7 Anders gesagt als gemeint: Ironie, Sarkasmus und rhetorische Fragen3.8 Logische Irritationen: Paradoxie und Tautologie, Oxymoron und Pleonasmus3.9 Wie man zusammenfassend über den Stil spricht4. Die Interpretation eines Gedichts aus sich selbst heraus (textimmanent)4.1 Der ›Inhalt‹: Thema und Aussage4.2 Appell: Lyrik und sprachliches Handeln4.3 Das lyrische Ich: Was sagt der Sprecher über sich?4.4 Der Beziehungsaspekt: Nähe und Distanz, Hierarchien4.5 Die Form des Gedichts4.6 Zusammenfassung: Interpretation ohne Kontextbezug5. Die Interpretation eines Gedichts in Kontextbezügen5.1 Literaturgeschichtliche Epochen? Eine begriffliche Bestimmung anhand des Barock als Beispiel5.2 Anwendung literaturgeschichtlichen Wissens in der erörternden Deutung von Gedichten5.3 Gedichtvergleich6. Woran man gute Interpretationen erkennt und wie man Fehler vermeidetKriterium I: angemessenes Abstraktionsniveau der ArgumentationKriterium II: Genauigkeit und Vollständigkeit der InterpretationKriterium III: formale Richtigkeit der DarstellungKriterium IV: Die Schlüssigkeit der Darstellung, das SchreibenLiteraturhinweiseGedichtsammlungenWeiterführende LiteraturSachregisterZum Autor

1. Einleitung

Der vorliegende Band versteht sich als Einführung in die Gedichtinterpretation für Schülerinnen und Schüler, vor allem in der Oberstufe. Er konzentriert sich somit auf die Aspekte der Lyrik, die man kennen muss, wenn man in einer Klassenarbeit oder Klausur eine Gedichtinterpretation oder einen Gedichtvergleich schreibt.

Es sind vor allem zwei Besonderheiten, die den vorliegenden Band auszeichnen: Im Zentrum steht erstens die Frage, was es heißt, ein Gedicht zu analysieren und zu interpretieren. Gelegentlich bleibt ja unklar – in Büchern und manchmal auch im Unterricht –, was eine Interpretation zur Interpretation macht und was dafür mehr geleistet werden muss als in einer Analyse. Die Antwort, die in diesem Buch geboten und illustriert wird, geht davon aus, dass eine Interpretation Thesen voraussetzt und als Text eine besondere Form der textgebundenen Erörterung darstellt. Wer interpretiert, argumentiert. Die Analyse liefert dabei das Material zur Begründung der Argumente.

Die zweite Besonderheit des Bandes ist sein methodischer Ansatz: Dieser besteht darin, die Interpretation in Theorie und Praxis eng mit einem kommunikationstheoretischen Modell (Schulz von Thun1) zu verschränken. Wer Probleme damit hat, sich von der bloßen Beschreibung von Inhalt und Form eines Gedichts zu lösen, bekommt mit diesem Modell ein Instrument an die Hand, um auf einem angemessenen Abstraktionsniveau über Gedichte zu reden. Gleichzeitig verdeutlicht diese Bezugnahme auf ein kommunikationstheoretisches Modell, dass die Gedichtinterpretation durchaus viel mit dem Leben jenseits der Schule zu tun hat: Sie ist zwar eine besondere Form der Interpretation, damit aber zugleich auch die besondere Form einer allgemeinen Tätigkeit, mit der man es in der Alltagskommunikation ständig zu tun hat, nämlich der Aufgabe, Menschen zu verstehen und ihr sprachliches Verhalten zu deuten.

Nach diesem einleitenden Überblick geht es im zweiten Kapitel zunächst darum, zu erklären, was man eigentlich tut, wenn man ein Gedicht analysiert und interpretiert. Voraussetzung hierfür ist eine Begriffsklärung. Die drei Begriffe »Gedicht«, »Analyse« und »Interpretation« sind nicht einfach zu fassen, werden aber gerne als bekannt vorausgesetzt. Dieser unreflektierte Begriffsgebrauch führt im Fall des Gedichts nicht selten dazu, dass es mit weit verbreiteten Vorurteilen behaftet ist (»schwierig«, »kann man eh nicht verstehen«, »hat immer was mit Gefühlen zu tun«), die einer guten Interpretation im Wege stehen. Diese Vorurteile sollen hier begründet in Frage gestellt werden. Auch die Vorstellung von dem, was genau unter den Aufgabetypen »Analyse« und »Interpretation« zu verstehen ist, bleibt oft unscharf. Nur selten trauen sich Schülerinnen und Schüler in der Klasse danach zu fragen. Und wenn jemand doch fragt, so fallen die Antworten der Lehrer (aus der Sicht vieler Schüler) nicht immer in der wünschenswerten Klarheit aus. Bevor es an die Details der Gedichtanalyse und -interpretation geht, sind also zu Beginn erst einmal einige grundsätzliche Fragen zu klären. Wer dabei merkt, dass ihm das zu theoretisch ist, kann in den stärker praxisorientierten Teil vorblättern: Vom dritten Kapitel an orientiert sich der Aufbau des Buches am Fortschritt von einfachen zu schwierigeren Aspekten der Textarbeit.

Im dritten Kapitel wird der Leser mit Aspekten und Begriffen der sprachlichen Analyse von Gedichten vertraut gemacht. Die hier üblichen Begriffe hören sich zwar – wie jede Fachsprache – zunächst schwierig an. Sie beziehen sich in der Regel jedoch nicht auf besonders abstrakte oder komplizierte Inhalte, sondern eher auf relativ spezielle. Vor allem zwei Abschnitte des Kapitels befassen sich mit zwei sehr wichtigen Themen, die in vielen Einführungen in die Gedichtinterpretation nicht sehr intensiv behandelt werden. Das ist zum einen das Unterkapitel über den Rhythmus und zum anderen dasjenige über Stil. Beides sind Begriffe, mit denen viele Einzelbeobachtungen am Gedicht zusammengefasst werden. Wer dazu sinnvolle Aussagen macht, kann zeigen, dass er viel von dem verstanden hat, worauf es bei der Analyse und Interpretation eines Gedichts ankommt.

So wichtig der Lyrik allerdings die sprachliche Form ist, so wenig ist noch das zarteste oder verspielteste Gedicht auf die sprachliche Gestaltung zu reduzieren. Gedichte sind Texte, die darauf drängen, verstanden zu werden. Was aber heißt Gedichte zu »verstehen«? Dieser Frage geht das vierte Kapitel nach. Ausgangspunkt ist die These, dass alle Nachrichten – und das gilt auch für gedichtete Nachrichten – nicht mit zwei, sondern mit vier Ohren zu verstehen sind, denn sie verfügen über vier verschiedene Aspekte der Mitteilung: Sie sagen als Selbstaussage etwas über den Sprecher (das lyrische Ich) aus, aber auch etwas über die Beziehung zwischen sprechendem Ich und angesprochenem Du, sie sind als Appell, als ein sprachliches Handeln, zu verstehen und als Sachinformation über einen Gegenstand. Nicht zuletzt ist es daneben aber auch das lyrische Sprechen selbst, das als Geste verstanden werden will: als Gedicht, das nicht nur informieren möchte oder Zustimmung erheischen oder Mitleid erregen, sondern das vor allem darauf aus ist, als Gedicht gelobt zu werden. Nun ist es nicht Aufgabe eines Interpretationsaufsatzes, dieses Lob zu spenden. Eine gute Interpretation sollte aber zeigen, wie ein Gedicht das implizite Publikum für sich einzunehmen versucht. Dafür muss der Interpret neben den bekannten vier Ohren noch ein fünftes aufspannen, um genau diese Botschaft empfangen, einordnen und an seinen Leser weitergeben zu können.

Fast alles, was man einem Gedicht mit fünf Ohren abhören kann, ist dem geschichtlichen Wandel unterworfen. Die inhaltlichen Gegenstände der Gedichte verändern sich, die Vorstellungen von Liebe und Partnerschaft, das Bild vom Menschen, die Art und Weise, sich sprachlich zu seinen Mitmenschen zu verhalten und nicht zuletzt auch die Vorstellung davon, was es heißt, ein wohlgeformtes, ein lobenswertes Gedicht zu schreiben. In exemplarischer Form zeigt das fünfte Kapitel anhand einiger Epochen, wie man die sich geschichtlich wandelnden Vorstellungen für die Gewinnung von Thesen für die Interpretation fruchtbar machen kann.

Das sechste (und letzte) Kapitel schließlich nennt mit einigen Kriterien die Gründe, warum bestimmte Interpretationen für besser gehalten werden als andere und worauf man achten muss, um die eigenen Leistungen zu verbessern. Dieser Kriterienkatalog lässt sich als Ausgangspunkt für ein Portfolio verstehen, in dem man die eigenen Aufsätze auf Stärken und Schwächen hin untersucht, sich Schwerpunkte für die kritische Auseinandersetzung mit seinen Schwächen setzt, sich zu diesen Punkten Übungen besorgt und dann beobachtet, wie man sich selbst verbessert.

Schließlich ist noch zu erwähnen, dass die Reihenfolge, in der die Untersuchungsaspekte im Folgenden vorgestellt werden, nicht eine ideale Abfolge bei der Erarbeitung eines Gedichts vorschreiben möchte. Zum einen gibt es Leser, die hier persönliche Vorlieben haben: Der eine orientiert sich zunächst am Inhalt, um dann die Form zu analysieren, der andere untersucht erst einmal formale Auffälligkeiten (durch Markieren der metrischen Betonungen, Einzeichnen von Reim und Kadenz, Umkreisen von Alliterationen usw.), um in einem zweiten Schritt den Inhalt zu erschließen. Bei der gewählten Reihenfolge gibt es kein Richtig und Falsch. Am Ende muss einfach alles vorkommen: das inhaltliche Verstehen, die Analyse der Form und Kommentare zum Zusammenhang zwischen beidem. Zum anderen unterscheidet sich das Vorgehen aber auch abhängig davon, welches Vorwissen man mitbringt: Wenn man ein Sonett unmittelbar als Sonett erkennt, wird man als erfahrener Leser zunächst sein Vorwissen über diese Gattung aktivieren und mit den dabei geweckten Erwartungen das vorliegende Gedicht daraufhin untersuchen, wo es die Erwartungen inhaltlich und formal erfüllt und wo es abweichende Auffälligkeiten aufweist. Wer dieses Wissen nicht so sicher parat hat, wird erst einmal Einzelheiten beobachten und formale Auffälligkeiten detalliert herausarbeiten, um in einem zweiten Schritt mit einer zusammenfassenden Aussage über das Gedicht aufzuwarten. Der eben zuerst genannte deduktive Ausgang von Vorkenntnissen und Erwartungen an ein Gedicht liegt auch dann nahe, wenn man mit einem Autor schon vertraut ist, was bei Goethe, Eichendorff, Heine oder Brecht ja schon einmal der Fall sein kann. Hier wird man mit einer bestimmten Erwartung lesen und schon bei der ersten Lektüre kultur- und literaturgeschichtliches Hintergrundwissen aktivieren und mit bestimmten Erwartungen auf Einzelheiten achten. Dies gilt ähnlich auch für Gedichte, die einer bestimmten Epoche oder Richtung (Romantik, Expressionismus, hermetische Lyrik nach 45 usw.) zuzuordnen sind. In Kürze: der Weg vom Einfachen zum Komplizierten führt im Einzelfall nicht immer von der textnahen Analyse hin zu Kontexten. Wenn man etwas über den Kontext weiß, ist dieser das Bekannte, an dem man sich als einfache Basis orientiert, um sich dem besonderen Text als neuer Herausforderung zu nähern.

 

Ein Hinweis zur Benutzung des Bandes: Bei der Analyse und Interpretation von Gedichten wird eine Reihe von Fachbegriffen verwendet. Nicht immer ist es möglich, sie bei der ersten Verwendung auch umfassend zu erklären. Das Sachregister im Anhang listet sie auf und verweist auf die Stelle im Buch, an der die ausführliche Erläuterung zu finden ist.

2. Begriffsklärungen: Gedicht – Analyse – Interpretation

2.1 Was ist ein Gedicht? Vorurteile und Besonderheiten

Die Frage, was genau ein Gedicht ist, erscheint nur auf den ersten Blick einfach. Tatsächlich ist sie so schwer zu beantworten, dass auch die Wissenschaft an dieser Stelle noch lebhaft diskutiert. Nun kann einem die Definition eines Gedichts in einer Klausur zunächst relativ gleichgültig sein. Typischerweise heißt es in der Aufgabenstellung ja nicht »Entscheiden Sie, welcher der drei Texte ein Gedicht ist, und begründen Sie Ihre Entscheidung«, sondern einfach: »Interpretieren Sie das Gedicht«. Wichtig ist die begriffliche Bestimmung aber insofern, als über Gedichte viele Vorurteile im Umlauf sind, die eine fruchtbare Auseinandersetzung mit dem Text behindern. Das betrifft zunächst Vorbehalte gegenüber der Lyrik überhaupt: so zum Beispiel die Idee, dass Gedichte sich grundsätzlich durch krause oder unklare Gedanken und eine künstlich verdunkelte Sprache auszeichnen und darum prinzipiell unverständlich seien. Nichts für klare Denker also. So als ginge es in der Lyrik eher um ein wichtigtuerisches Geraune, das man nicht verstehen, sondern allenfalls bewundern und anbeten könne. In seiner Wirkung ist dieses Vorurteil verwandt mit dem, dass es in Gedichten immer um Gefühle gehe, über die man als rational orientierter Mensch eigentlich nicht sinnvoll sprechen könne. Diese beiden Vorurteile sind deshalb so problematisch, weil sie nahelegen, dass man als vernünftiger Schüler eine Gedichtinterpretation am besten gar nicht beginnen sollte. Oder, wenn man in einer Klausur dazu gezwungen wird, keine ordentlichen Ergebnisse produzieren könne. Daneben gibt es auch Vorstellungen, die die Durchführung einer Gedichtinterpretation zwar nicht grundsätzlich, jedoch im Einzelnen behindern: so zum Beispiel die Idee, dass Gedichte unmittelbarer Ausdruck des seelischen Innenlebens des Autors seien. Was insofern eine wenig hilfreiche Unterstellung ist, als so der Eindruck entsteht, dass es bei der Gedichtinterpretation gar nicht so sehr auf das Gedicht als Text ankomme, sondern auf die zu ergründende Psyche des Dichters. Als ob Dichter nicht vor allem darum interessant wären, weil sie interessante Gedichte geschrieben haben. Die hier genannten Vorstellungen von Gedichten sind zwar nicht vollkommen falsch, sie erweisen sich aber als wenig hilfreich für die Interpretation.

Ja, Gedichte sind oft etwas schwerer zu verstehen als andere Textformen. Das liegt aber in aller Regel nicht daran, dass hier unnötig verworren oder »dunkel« gesprochen wird, sondern dass hier jedes sprachliche Detail bedeutsam ist, dass der Sinn hier besonders konzentriert und auch in diesem Sinne »verdichtet« erscheint. Gedichte illustrieren sehr anschaulich eine Eigenschaft, die der amerikanische Dichter Ezra Pound (1885–1972) ganz allgemein zum Merkmal der »großen Literatur« erklärte, nämlich: dass sie »in größtmöglichem Maße mit Sinn aufgeladen sei« (»charged with meaning to the utmost possible degree«). Wenn Gedichte schwer verständlich erscheinen, dann nicht, weil sie besonders chaotisch sind, sondern weil sie eine besonders komplizierte Ordnung aufweisen. So schwierig sie im Einzelnen auch sein mögen: Gedichte sind immer sprachliche Aussagen, die darauf abzielen, von einem Leser oder Zuhörer verstanden zu werden. Im Grenzfall sind sie vielleicht auch zu verstehen als provozierend schwer verständliche Aussage, durch die die unkomplizierte Alltagskommunikation in Frage gestellt wird, vielleicht auch als Appell ans Gefühl, mit dem signalisiert wird, dass es neben vernünftigen Dialogen auch andere Dimensionen des Miteinanders gibt. Aber auch Appelle an Gefühle und provozierend rätselhafte Gesten müssen ja als solche verstanden werden, um angemessen beantwortet zu werden. Das gilt für schwer zu verstehende Gedichte ganz ähnlich wie für schwer zu deutende kommunikative Gesten im Alltag, für plötzliche Tränenausbrüche oder das rätselhafte Türknallen, nachdem jemand wortlos den Raum verließ: man versteht den Sinn oft nicht sofort, aber Gesten sind immer Gesten, die danach verlangen, gedeutet und beantwortet zu werden. Sprachliche Äußerungen – und somit auch schwer verständliche Gedichte – enthalten grundsätzlich immer die metasprachliche Anweisung: »Versteh mich!« Und noch deutlicher signalisiert die Veröffentlichung von Gedichten, dass diese für eine verstehende Leserschaft entworfen wurden. Auch ein schwer verständliches Gedicht ist also kein Stein am Kiesstrand, der ohne Sinn einfach nur daliegt, sondern immer auch eine Aufforderung an den Leser, sich deutend mit ihm zu beschäftigen, seinen Sinn zu erfassen.

Ja, und offensichtlich handeln Gedichte tatsächlich oft von Gefühlen. Besonders seit der Epoche der Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert setzt sich der Eindruck durch, dass es der lyrischen Dichtung wesentlich sei, Gefühle zum Thema zu machen. In Abgrenzung zur rhetorischen Lyrik des Barock und der rational orientierten Dichtungstheorie der Aufklärung entwickelte sich erst eine empfindsame Lyrik und dann die Dichtung des Sturm und Drang, in denen intensives Fühlen nicht nur zum Thema wurde, sondern die leidenschaftliche Ergriffenheit des Sprechens auch durch die sprachlichen Mittel (Ausrufezeichen, Ellipsen, kurze Verse) variantenreich betont wurde. Gleichwohl sind Gedichte aber nie unmittelbar der Spiegel von Gefühlen, sondern immer gestaltete sprachliche Aussagen, die den Eindruck des Emotionalen erzeugen sollen. Wenn Gedichte von Gefühlen handeln, dann in einer sprachlichen Form, die zeigen soll, dass der Sprecher von bestimmten Gefühlen bewegt wird. Da wir es auch in einer sehr emotionalen Sprechweise immer noch mit einer Art des gedanklich vermittelten Sprechens zu tun haben, kann und muss diese Rede aber durchaus auch mit intellektuellen Mitteln, mit dem Verstand, gedeutet und verstanden werden. Beim Gedicht geschieht dies in der Regel auf zwei Ebenen: Zum einen wird man das sprachliche Handeln als solches betrachten und beispielsweise eine traurig vorgetragene Klage als Klage verstehen. Schon hier handelt es sich nicht unmittelbar um ein Gefühl, sondern um eine kommunikative Artikulation desselben. Es ist ein Unterschied, ob man bloß traurig ist oder ob man dies auch kommunikativ mitteilt. Und dann geht es ja in Gedichten nie unmittelbar darum, dass jemand traurig (oder besonders glücklich) ist, sondern im Gedicht sind Gefühle immer modellhaft dargestellt. Wenn ein Dichter eine Klage als Gedicht gestaltet, klagt er ja nicht einfach, sondern er stilisiert das Klagen symbolisch verallgemeinert zum Kunstwerk. Die Aussage lautet nicht einfach: »Mir geht es schlecht!«, sondern eher: »So fühlt es sich (im Allgemeinen) an, wenn man über etwas sehr unglücklich ist!« Entsprechend provoziert ein Gedicht als angemessene Reaktion in der Regel auch kein Mitleid (»Der arme Goethe!«), sondern allenfalls Rührung (»Das hat er aber gut zum Ausdruck gebracht!«). Der Dichter erwartet als Antwort auf ein trauriges Gedicht keinen Trost, sondern Lob. Spätestens hier wird aber auch deutlich, dass die lyrische Artikulation von Gefühlen ein erhebliches Maß an Gestaltung und kompositorischer Rationalität erfordert. Wo im Leben wortlose Tränen ein deutliches Zeichen sind, muss der Dichter seine emotionale Haltung in einer bestimmten Situation mit Worten veranschaulichen. Was für den Leser die Konsequenz hat, dass er als Interpret in besonderer Weise gefordert ist. Er muss aufmerksam jedes Detail unter die Lupe nehmen und erörtern, ob es eher in dieser Weise oder in jener zu verstehen ist. Wer gerne mit viel analytischem Verstand an Dinge herangeht, muss um Lyrik also keinen weiten Bogen machen, er findet hier eher eine spannende Herausforderung. Tatsächlich ist die Interpretation eines Gedichts der textgebundenen Erörterung weitaus näher verwandt, als es auf den ersten Blick scheint.

Ja, und sicher erwecken viele Gedichte zunächst den Eindruck, dass sie von Erfahrungen, Gefühlen und Ideen des Autors handeln. Besonders naheliegend ist dieser Eindruck etwa bei den sogenannten Sesenheimer Gedichten des jungen Johann Wolfgang Goethe (1749–1832). Der in »Willkommen und Abschied« (1775/89)2 dargestellte Ritt eines jungen Mannes zu seiner Geliebten beispielsweise weist viele Parallelen zu dem auf, was Goethe bei den Besuchen bei der Sesenheimer Pfarrerstochter Friederike Brion erlebte und empfand. Aber: Ginge es tatsächlich »nur« um das privat Erlebte des Dichters, würden sich heute kaum noch Menschen für diese Gedichte interessieren. Es gäbe unter dieser Voraussetzung auch kaum einen vernünftigen Grund, Schülern diese Gedichte zur Lektüre zu empfehlen. Bei allem Respekt vor dem Dichter als Mensch, aber Goethe wird wohlgemerkt als Dichter verehrt. Also nicht so sehr, weil er so ein spannendes oder vorbildliches Leben führte, sondern weil er gute Gedichte schrieb. Diese Gedichte sind nicht darum so gut, weil hier der Autor etwas über sich sagt (»so fühlte sich Goethe, als er verliebt durch die Nacht ritt«), sondern weil er Erfahrungen im Gedicht eine allgemeine Form gibt (»so kann es sich anfühlen, wenn man verliebt durch die Nacht reitet«). Und weil er dem Leser zeigt, wie man über Gefühle, Leidenschaften und insgesamt über sich als Mensch reden kann. Es geht also nur am Rande um das Erleben des jungen Goethe, sondern allgemeiner um eine als sprachliches Modell gestaltete Erfahrung intensiven Liebens und leidenschaftlichen Lebens, um eine im Text verdichtete Form der Selbstwahrnehmung. Was uns heute noch anspricht in diesen Gedichten, ist die Botschaft: »So intensiv kann man als Mensch die Welt erleben«, oder (etwas anspruchsvoller): »So kann man sich mit den Mitteln der Sprache als leidenschaftlicher Mensch darstellen«. Das sind die Dinge, die uns heute noch dazu anregen können, über uns und über das menschliche Leben nachzudenken. Das sind die Dinge, die auch heute noch intellektuelle und emotionale Reaktionen provozieren, durch die wir uns bewusst werden, was an Wünschen, Ängsten und Vorstellungen in uns steckt. Es geht um die Dinge in uns, über die wir gelegentlich etwas erfahren wollen, die wir aber nicht wahrnehmen, wenn wir in den Spiegel sehen. Die Frage, was Goethe von dem, was er da erdichtet hat, selbst erlebt hat, ist für diese Fragen relativ irrelevant.

Ja, und schließlich ist jedes Gedicht natürlich eine Art sprachliche ›Bastelarbeit‹. Jedem Gedicht ist die sprachliche Formung