Gefährliches Schweigen - Viola Wilke - E-Book

Gefährliches Schweigen E-Book

Viola Wilke

4,8

Beschreibung

Als Jojo ihren Freunden erzählt, dass ihr ein fremder Mann ihre neue Lieblingsjacke abgezogen hat, ahnt keiner von ihnen, dass Jojo ein dunkles Geheimnis mit sich herum trägt. Angst, Scham und Schuldgefühle lassen sie schweigen. Aus Rücksicht auf ihre Familie verstrickt Jojo sich in ein immer enger werdendes Netz aus Lügen. Ohne es zu wollen treibt sie ihre Freunde in ein gefährliches Spiel hinein. Doch dann kommt der Tag, an dem Jojo ihr Schweigen brechen muss. Sie lernt, dass sie mit dem, was geschehen ist, nicht allein zurechtkommen muss.

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Viola Wilke, geboren in Berlin, studierte an der UdK Berlin Musik für das Lehramt und absolvierte an der Musikhochschule Detmold das Masterstudium in Konzertpädagogik/Musikvermittlung.

Neben ihrer Tätigkeit als Lehrerin an einer Berliner Schule, arbeitet sie als Komponistin, Arrangeurin und Textdichterin.

Viola Wilke lebt und arbeitet in Berlin.

Gefährliches Schweigen ist ihr erster Jugendroman.

Es gibt so viele Gründe,

alles beim Alten zu lassen,

und nur einen einzigen

doch endlich etwas zu verändern:

Du hältst es einfach nicht mehr aus!

Hans-Curt Flemming

Inhaltsverzeichnis

Erwischt

Frau Schmidt

Mathestunde

Verregnete Minipizza

Alptraum

Auf der Polizeiwache

Allein zu Hause

Das Geheimnis

Schreck auf dem Schulweg

Vertretungsstunde

Hofpause

Telefongespräch

So ein Saustall

Der Plan

Samstag Vormittag

Die Freitagsbande

Im Fahrradladen

Auf Beobachtungsposten

Auf der Polizeiwache

Vom Gewitter überrascht

Die Verfolgung

Markus Lohmann - endlich

Der Brief

Die Flucht

Die Einladung

Jojos Traum

Arztbesuch

Nurgüls Besuch

Der Stein

Auf der Polizeiwache

Drei Monate später

1. Erwischt

„Na dann, rein in die gute Stube“, sagte Polizeiobermeister Schulte streng und schob Jojo und Nurgül in einen großen Raum. Nurgül beugte sich ein Stück vor und schüttelte unwillig die Hand des Polizisten ab, die schwer auf ihrer Schulter lag. Jojo hielt sich dicht neben ihr und starrte auf ihre Füße. Sie befanden sich auf der Polizeiwache in der Rudolstädter Straße. Jojo kannte das Gebäude bisher nur von außen. Es lag auf dem Weg zum Freibad, direkt an der Autobahn.

Der Polizist, der die Kinder in der Laubenkolonie am Hoffmann-von-Fallersleben-Platz erwischt hatte, drückte die beiden unsanft auf einen Stuhl.

„Hier“, berichtete er einem dicken Kollegen, der hinter seinem Schreibtisch saß, „diese beiden Früchtchen und ein paar andere Kinder, die mir leider entwischt sind, waren gerade dabei, die Fenster einer Laube einzuschmeißen. Netter Zeitvertreib, was?“

Er drehte sich zu Jojo und Nurgül. Seine Stimme bekam etwas Heuchelndes, irgendwie Hinterhältiges.

„Die beiden sind offenbar so verschreckt, dass es ihnen die Sprache verschlagen hat. Ihre Namen waren bisher nicht rauszukriegen.“

Er ist fies, ging es Jojo durch den Kopf. Sie konzentrierte sich angespannt auf ihre Schuhspitzen.

„Ach nee, das ist doch wirklich Mist. Was habt ihr euch denn dabei gedacht?“

Der dicke Polizist am Schreibtisch sah von seinem Kollegen zu Jojo und Nurgül hinüber.

Er ist fett wie eine dicke Bratwurst, kurz vorm Platzen. Jojo beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Sein Hals war puterrot und hatte dieselben Ausmaße wie sein unförmiger Kopf. Aus seiner Hosentasche, die von überhängenden Bauchmassen ganz verdeckt war, zerrte er ein zerknülltes Taschentuch und wischte sich damit schnaufend den Schweiß von der Stirn. Jetzt konnte man den großen nassen Fleck unter seinem Arm sehen. Jojo lief eine Gänsehaut über den Rücken.

„Na gut, dann werde ich mich wohl mal ein bisschen mit euch beschäftigen müssen“, schnaufte der Dicke warnend.

„Und das vor der Mittagspause!“

Er rutschte sich die Tastatur des Computers zurecht und gab einen Tastenbefehl ein. Blinzelnd starrte er auf den Bildschirm.

„Name und Anschrift des Laubenbesitzers?“

Seine dicken Finger schwebten unbestimmt über der Tastatur.

Sieht aus, als ob er einen Landeplatz für seine dicke Pranke sucht, dachte Jojo.

„Am Gartentor stand M. Lohmann, Standort der Laube habe ich hier aufgeschrieben.“

Diensteifrig reichte Polizeiobermeister Schulte seinem Kollegen einen Zettel, den dieser mit hochgezogenen Brauen las.

„Mehr konnte ich nicht rauskriegen, Nachbarn waren keine da“, sagte Schulte und hob entschuldigend seine Arme.

„Na, wir werden sehen“, sagte der Dicke, „Sie können gehen, Schulte!“

Schulte tippte mit zwei Fingern an den Schirm seiner Polizeimütze und verließ den Raum, nicht ohne Jojo und Nurgül noch einen tadelnden Blick zuzuwerfen.

Der Dicke erhob sich schnaufend, trat einen Schritt auf die Kinder zu und blickte düster über seinen Brillenrand.

„So, jetzt macht mal hier keine Fisimatenten! Name, Adresse und wer waren die anderen Kinder?“

Schweigen! Jojo und Nurgül betrachteten weiter ihre schaukelnden Füße.

„Also, Kinder“, versuchte es der Dicke jetzt auf die kumpelhafte Tour, „wollt ihr denn allein ausbaden, was die anderen mit ausgefressen haben?“

So kriegste uns nicht, dachte Jojo bei sich. Sie rutschte mit ihrem Po auf der harten Plastikschale des Stuhles herum. Ihre Oberschenkel waren bis zu den Kniekehlen nass geschwitzt. Der Wetterbericht hatte für heute dreißig Grad vorausgesagt. Jojo dachte an das Freibad, das gleich hier um die Ecke hinter der Autobahnbrücke lag. Die anderen aus der Klasse waren bestimmt alle da, irgendwo auf der Nichtschwimmerwiese. Wäre sie bloß mitgegangen! Sie fand Olegs Idee sowieso nicht gut. Viel zu viel Angst hatte sie vor solchen Aktionen. Aber andererseits wäre es unmöglich gewesen, wenn ausgerechnet sie nicht mitgemacht hätte. Schließlich war sie es ja, der die anderen helfen wollten. Jojo fühlte sich schuldig an allem, was passiert war. Wenn doch wenigstens Nurgül mit den anderen weggerannt wäre. Aber Nurgül blieb bei ihr, als der Polizist plötzlich hinter ihnen stand und Jojo am T-Shirt zu fassen bekam. Sie hätte genauso wegrennen können wie Oleg, Lukas, Sarah und Emma. Sie waren über die Zäune der benachbarten Gärten geklettert. Der Polizist konnte nicht hinterher. Dann hätte er Jojo loslassen müssen. Aber er wollte seine Beute nicht freigeben. So blieb ihm wenigstens eine, die er verantwortlich machen konnte.

Jojo stand nur Schmiere, als die anderen die Fensterscheiben mit den Kieseln vom Gartenweg bewarfen. Sie saß im Gebüsch und hätte sich vor Angst beinahe in die Hosen gemacht. Deshalb hatte sie auch nicht den herannahenden Polizeibeamten bemerkt.

Nurgül war wirklich eine gute Freundin, dachte Jojo. Sie war nicht abgehauen. Hoffentlich würde sie von ihren Eltern keinen Ärger deshalb bekommen. Jojo war sehr froh, dass sie hier jetzt nicht alleine sitzen musste.

„Gut, ich kann auch anders!“

Dem Dicken standen Schweißperlen auf der Stirn.

„Wollt ihr diese Nacht in einer Zelle verbringen, oder was?“ schrie er sie an. „Name, verdammt noch mal!“

Jojo hatte Angst. Trotzdem, der Dicke übertrieb. Kinder durfte man in keine Zelle sperren. Das wusste Jojo auch ohne einschlägige Polizeierfahrungen.

„Quatsch, das dürfen Sie gar nicht!“

Es kam Jojo ganz spontan über die Lippen.

„Aha, die Dame kann also doch sprechen!“, sagte der Polizist mit übertrieben freundlicher Stimme und grinste sie an.

„Ja, natürlich können wir sprechen! Glauben Sie, wir sind blöd?“

Nurgül kam ihr zur Hilfe. Der Blick des Dicken wurde dunkel und die Mädchen hatten den Eindruck, als würde sich vor ihnen ein riesiger Luftballon aufblasen. Der Polizist holte tief Luft.

„Was glaubt ihr hier eigentlich, wo ihr seid? Ich werde schon noch rausbekommen, wie ihr heißt. Ihr denkt wohl, ihr könnt den Mist, den ihr da verzapft habt, aus der Welt schaffen, wenn ihr auf stumm und blöd schaltet.“

Er zog durch die Nase noch einmal Nachschubluft ein.

„Und übrigens, ihr braucht euch gar nicht so sicher sein. Für Kinder gibt es gewisse Erziehungseinrichtungen.“

Er war dicht an die Mädchen herangekommen.

Er hat Mundgeruch, dachte Jojo und drehte ihren Kopf ein wenig zur Seite. Nein, noch einmal würde sie bestimmt nichts sagen.

„Hör mal“, der Dicke fuchtelte mit seinem fleischigen Zeigefinger vor Jojos Gesicht herum, „ich kann es nicht leiden, wenn mich jemand verarschen will!“

Jojo blickte auf den grauen Linoleumboden. Natürlich war es Jojo und Nurgül klar, dass sie irgendwann ihren Namen sagen mussten. Aber jetzt ging es nicht. Nicht hier bei diesem Dicken. Sollte sie dem sagen, dass sie Jojo hieß? Das würde er ihr sowieso nicht glauben. Wer hieß schließlich Jojo? Jojo war kein richtiger Name, aber alle nannten sie so, sogar die meisten Lehrer. Ihre Mutter war wohl die einzige, die Johanna zu ihr sagte. Johanna Joost war ihr voller Name. In der Schule kamen sie ganz schnell darauf, sie Jojo zu nennen. Das gefiel ihr anfangs überhaupt nicht. Aber irgendwann hatte sie sich an ihren Spitznamen gewöhnt und ihn richtig lieb gewonnen. Im Schreibwarenladen kaufte sie sich sogar ein Jo-Jo und fing wie besessen an zu üben, um die kleine Plastiktrommel so lange wie möglich in Bewegung zu halten. Inzwischen machte sie ihrem Namen alle Ehre. Sie hieß nicht nur so, sie war auch die beste Jo-Jo-Spielerin in der Klasse. Da konnte ihr keiner mehr etwas vormachen.

Der Dicke seufzte laut vor sich hin, plumpste wieder auf seinen Drehstuhl und klatschte sich auf seine prallen Hosenbeine. Sein Uniformhemd war aus der Hose gerutscht. Der unterste Knopf fehlte und das Hemd klaffte auseinander. Ein geripptes Unterhemd guckte hervor. Jojo spürte eine aufsteigende Übelkeit. Zum Glück drehte ihr der Dicke jetzt den Rücken zu. Er massierte nachdenklich sein Kinn. Ruckartig drehte er sich wieder um und wandte sich an Nurgül.

„Und du? Wie heißt du?“, fragte er sie.

„Du hast doch gesagt, du bist nicht blöd. Jemandem, der nicht blöd ist, fällt doch sein Name ein!“

Selbstgefällig nickte der Beamte vor sich hin, drehte sich zu seinem Schreibtisch zurück und wippte hin und her. Jojo hoffte, dass der Stuhl unter ihm zusammenbräche. Mit zusammengekniffenen Augen funkelte Nurgül dem Dicken hinterher. Am liebsten hätte sie ihm die Zunge rausgestreckt. Jojo schielte zur Tür. Eigentlich könnten sie ja weglaufen. Das Schlachtschiff käme bestimmt nicht hinterher. Aber Jojo konnte nicht. Wie angenagelt vor Angst fühlte sie sich. Sie wollte nicht hier sein, aber sie konnte sich auch nicht wegbewegen. Es war so, als wüsste sie nicht mehr wohin. Am liebsten würde sie sich nur noch tot stellen. Irgendetwas würde schon passieren. Es lag außerhalb ihrer Kontrolle.

Nurgül bemerkte ihre Blicke. Auch sie schielte zur Tür. Fast unmerklich schüttelte Jojo den Kopf. Nurgül verstand sie nicht und zuckte unmerklich mit den Schultern. Aber Jojo senkte sofort den Blick. Nurgül seufzte leise. Sie richtete sich auf und kämmte sich mit beiden Händen die nassen Haare aus dem Gesicht.

Ein Mann mit einem Aktendeckel in der Hand betrat den Raum. Er trug Jeans und ein blaukariertes, kurzärmeliges Hemd, aber keine Uniform. Er lächelte Jojo und Nurgül zu.

„Na, ihr beiden, auf wen wartet ihr denn hier?“, fragte er die Mädchen freundlich.

„Pff“, der Dicke spitzte seine wulstigen Lippen, „die warten vielleicht auf den gestrigen Tag, aber auf sonst bestimmt nichts! Das sind Chaoten, Randalierer...“, ereiferte er sich.

„Aber Walter“, versuchte ihn der andere zu besänftigen und warf einen Blick auf den Bogen Papier, der vor dem Dicken auf dem Schreibtisch lag, „du hast es hier mit Kindern zu tun! Du hast keine Verbrecher vor dir sitzen!“

„Noch keine Verbrecher“, erwiderte der Dicke mit erhobenem Zeigefinger, „aber warte es nur ab! Zehn Jahre und dann reichen ihnen Steine nicht mehr aus!“

„Nun übertreib mal nicht!“, sagte der Beamte in dem karierten Hemd und klopfte dem Dicken auf die Schulter. „Ich frag mal Schmidtchen, ob sie die beiden übernimmt. Die kommt mit den jungen Leuten immer ganz gut klar.“

Er lächelte den Mädchen aufmunternd zu und winkte sie hinter sich her.

„Mir soll's recht sein!“ Der Dicke schaute auf seine Uhr. „Meine Mittagspause ist sowieso schon überfällig!“

2. Frau Schmidt

Jojo und Nurgül kauerten beide seit fünf Minuten in dem kleinen Raum, in den sie der andere Beamte geführt hatte. Es standen zwei Schreibtischstühle unter dem Fenster, deren Jalousien der Sonne den Eintritt verweigerten. An dem rechten Tisch tippte eine Frau etwas in eine Computertastatur. Die Mädchen hatten ihre Ellbogen auf die Knie und den Kopf auf die Hände gestützt. Sie hoben fast gleichzeitig den Kopf als eine zweite Frau den Raum betrat.

„Hallo, ich bin die Frau Schmidt, aber die meisten nennen mich hier Schmidtchen. Und wie heißt ihr?“

Es kam keine Antwort. Die Polizistin hob beschwichtigend beide Hände.

„Schon gut, schon gut! War nur ein Versuch, ob ihr mir vielleicht doch eure Namen verraten

wollt. Manchmal klappt es halt.“

Sie zuckte mit den Schultern.

„Aber so blöd seid ihr nicht, oder?“

Sie lächelte die Mädchen an. Frau Schmidt sah eigentlich ganz nett aus, dachte Jojo. Irgendwie war sie fast froh, dass sich endlich wieder jemand um sie kümmerte. Sie fühlte sich so verloren in diesem Raum, in dem die andere Polizistin stundenlang auf ihre Computertastatur einhämmerte.

„Dann kommt mal mit. Hier habt ihr schon lange genug herumgesessen. Wir gehen jetzt zu mir ins Büro. Danke, Frau Faber.“

Mit einer einladenden Bewegung forderte Frau Schmidt die Kinder auf, ihr zu folgen und nickte zu der anderen Beamtin hinüber, bevor sie hinter sich und den Mädchen die Tür schloss.

Frau Schmidt hatte lange braune Haare und ein leichtes, blau-geblümtes Sommerkleid an. Sie sah überhaupt nicht aus wie eine Polizistin, fand Jojo, die sie vorsichtig von der Seite musterte. Willenlos folgten sie der Polizistin, die sie in ein anderes kleines Zimmer mit zwei Schreibtischen führte. Außer Frau Schmidt, Jojo und Nurgül war niemand im Raum. Frau Schmidt setzte sich an einen Schreibtisch. Auf dem Tisch surrte ein kleiner Ventilator, der sich hin und her drehte.

„Setzt euch!“, forderte sie die Kinder auf und wies auf zwei Stühle, die vor ihrem Schreibtisch standen.

„Wollt ihr 'ne Cola?“

Jojo und Nurgül nickten, immer noch eisern entschlossen, keinen Ton zu sagen. Frau Schmidt verließ das Zimmer. Eine dicke, grünschillernde Fliege flog lahm durch die stickige Luft und prallte immerzu gegen die Fensterscheibe.

Die kommt hier auch nicht raus, dachte Jojo.

„Aber wir bleiben dabei“, flüsterte sie Nurgül zu, „kein Wort, okay?“

„Warum eigentlich nicht?“

Nurgül sah Jojo mit ihren großen braunen Augen an.

„Dann käme doch wenigstens raus, was das für ein Schwein ist!“

Jojos Mundwinkel zuckten und sie schluckte.

„Aber du hast es mir versprochen, dass du niemandem etwas sagst. Ich will nicht darüber reden!“

„Meinste, die lassen uns wieder gehen, wenn wir einfach nur unseren Mund halten?“, fragte Nurgül zweifelnd. Jojo zuckte nur mit den Schultern und versuchte den Kloß herunterzuschlucken, der sich in ihrem Hals breit machte. Nurgül hatte bestimmt Recht. Aber was sollte sie tun? Sie konnte einfach nicht darüber reden. Die Angst legte sich wie ein eiserner Ring um ihr Herz und lähmte sie vollkommen. Einfach nichts denken, nichts fühlen, nur tot stellen, versuchte Jojo sich im Stillen zuzureden.

Frau Schmidt kam zurück. In der Hand hielt sie zwei Plastikbecher. Sie stellte sie vor die Kinder auf den Tisch und nahm wieder Platz.

„Die ist leider nicht eisgekühlt. Irgendein Hirsch hat die Flasche neben den Kühlschrank gestellt statt hinein. Ich hoffe, es geht auch so!“

„Ich heiße Jojo und das muss reichen!“ Es kam ganz plötzlich aus Jojo herausgeschossen. Frau Schmidt sah erstaunt zu ihr hin. Damit hatte sie so schnell nicht gerechnet.

„Aha, Jojo“, sagte sie und nickte immer noch leicht verwirrt.

„Bestimmt ein Spitzname, oder?“

Sie sah Jojo fest in die Augen. Jojo hielt diesem Blick nicht stand und sah verunsichert zu Boden.

„Meine Tochter heißt Desirée, aber ihre Freunde rufen sie alle Daisy.“

Frau Schmidt wartete auf eine Reaktion. Nichts. Sie fuhr fort: „Vielleicht fängt dein Vorname mit Jo an? Warte mal, was gibt es denn da? Josefine, Jolande, Johanna..., also mehr fällt mir dazu nicht ein.“

Ihr Blick ruhte auf Jojo.

„Oder spielst du vielleicht gern mit einem Jo-Jo herum? Da gibt es ja richtige Künstler.“

Gar nicht so dumm die Frau, dachte Jojo und fühlte das Plastikgehäuse ihres Jojos in der Hosentasche. Vor der mussten sie auf der Hut sein.

„Ich verstehe nicht ganz, was ihr zu verbergen habt. Ihr seht eigentlich aus wie zwei ganz normale Kinder. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr nachts unter einer Brücke schlaft. Es wird also irgendwann mal jemandem auffallen, wenn ihr nicht nach Hause kommt.“

Frau Schmidt hatte ihren Oberkörper halb auf den Schreibtisch gelegt und sah von einer zur anderen. Sie meinte es bestimmt gut, aber Jojo schwieg. Mehr sagte sie nicht. Die lauwarme Cola hinterließ einen faden Nachgeschmack. Nurgül rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her.

„Habt ihr solche Angst vor euren Eltern?“ Besorgnis legte sich auf Frau Schmidts Stimme. Nurgül schüttelte leicht den Kopf.

„Ich möchte einfach erst mal mit euch reden, aber wenn ich noch nicht mal weiß, wie ich euch ansprechen soll, fehlt mir irgendwie die Gesprächsbasis.“

„Ich heiße Nurgül“, flüsterte Nurgül, „aber ich kann ihnen nichts sagen, ich habe es versprochen.“

Frau Schmidt nickte verständnisvoll.

„Das kann ich verstehen. Versprechen sollte man normaler Weise auch halten, wenn es niemandem schadet. Es war zwar nicht gerade sehr nett, was ihr da angestellt habt, aber so schlimm nun auch wieder nicht. Soviel ist ja zum Glück nicht kaputt gegangen. Ich hoffe, ihr lernt daraus und werdet so etwas nie wieder tun. Wenn ihr die Sache allein ausbaden wollt, müsst ihr von mir aus auch nicht die Namen eurer Freunde verraten. Das könnt ihr mit ihnen selbst ausmachen. Irgendwer muss halt für den Schaden aufkommen.“

Frau Schmidt sprach sehr ruhig. Bittend sah sie von Nurgül zu Jojo.

„Ihr versaut euch bloß den ganzen schönen Nachmittag.“

Jojos Augen füllten sich mit Tränen. Sie wollte hier raus, aber sie wollte nichts sagen. Verunsichert sah Frau Schmidt sie an.

„Oder ist da vielleicht noch etwas anderes, was ihr mir sagen solltet?“

Frau Schmidts Frage bohrte sich tief in Jojos Bauch. In ihrem Kopf lief alles wie ein Film noch einmal ab. Jojo konnte sich an jede Einzelheit erinnern.

3. Mathestunde

Vor zwei Monaten fing alles an. Jojo und ihre Mutter waren gerade umgezogen, von einer Straßenseite auf die andere. Die neue Wohnung war ein bisschen kleiner als die alte, aber dafür viel heller. Und sie hatten endlich einen Balkon, den sie gleich mit Geranien und Kräutern bepflanzten. Drinnen roch es nach Farbe und in allen Ecken standen leere Colaflaschen herum. Jojos Mutter trank, während der Renovierung, Unmengen von der braunen Flüssigkeit. Um wach zu bleiben, entschuldigte sie sich. Sonst duldete sie keine süßen Getränke im Haus. Zu ungesund und schlecht für die Zähne, fand sie das Zeug. Die Fenster waren vom Tapezieren beschlagen und überall standen Kisten herum. Jeden Morgen musste Jojo in den Kartons kramen, um etwas zum Anziehen zu finden. Sie schlief auf einem Matratzenlager in einer freigeräumten Ecke ihres neuen Zimmers. Ihre Mutter schlief fast gar nicht. So kam es Jojo jedenfalls vor. Bis spät in die Nacht malerte sie, rückte Möbel und räumte Kisten aus. Für den Umzug hatte sie nur einen Tag frei bekommen. Sie war Zahnarzthelferin in einer Praxis in Spandau. Jojo hatte ihren eigenen Schlüssel. Bis nachmittags um vier war sie im Schülerclub und ging von da aus allein nach Hause. Ihre Mutter kam frühestens um sechs. Und einen Vater gab es nicht, jedenfalls nicht hier in Berlin. Jojos Eltern waren geschieden und ihr Vater lebte nun schon seit einigen Jahren in Norwegen, wo er wieder geheiratet hatte. Jojo verbrachte seitdem jedes Jahr ein paar Wochen ihrer Ferien dort.

Für Dienstag war Jojo gleich nach der Schule mit Sarah verabredet. Sie brauchte nicht in den Schülerclub zu gehen. Ihre Mutter hatte dort schon angerufen und sie für diesen Tag abgemeldet.

Aber es kam alles anders. In der dritten Stunde hatten sie Mathe beim Gorgonzola. Der Gorgonzola hieß eigentlich Frau Blau. Und weil Frau Blau nicht sehr beliebt war und oft nach Schweiß roch, wurde sie von den Schülern nach dem stinkenden Blauschimmelkäse benannt. Frau Blau war sehr streng. Wer das Einmaleins nicht beherrschte, war bei ihr unten durch. Jojo brauchte sich vor Frau Blau nicht zu fürchten. Mathe war ihr bestes Fach. Trotzdem mochte sie die Lehrerin nicht besonders.

Seit zwei Wochen beschäftigte der Gorgonzola die 5a mit Dezimalbrüchen. Am Anfang jeder Stunde stolzierte sie mit klackenden Stöckelschuhabsätzen durch das Klassenzimmer und hielt Ausschau nach ihrem ersten Opfer. Heute traf es Sarah, die verbissen in ihr Matheheft starrte und versuchte, sich ganz klein zu machen. Aber der Gorgonzola sah sie trotzdem. So schlecht war Sarah eigentlich gar nicht in Mathe, jedenfalls, wenn man sie in Ruhe ließ und sie allein im Heft rechnen konnte. Nur wenn sie an der Tafel stand, war sie immer so aufgeregt, dass sie nicht mehr denken konnte. Jojo hatte Sarah schon oft geraten, den Gorgonzola selbstsicher anzugucken und so zu tun, als ob sie unbedingt drankommen wollte. Der Gorgonzola hatte nämlich die Vorliebe, sich genau die Schüler herauszupicken, die schon so aussahen, als ob sie lieber nicht nach vorne kämen.