Gefährliches Vermächtnis - Emilie Richards - E-Book

Gefährliches Vermächtnis E-Book

Emilie Richards

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Beschreibung

Aurore Gerritsen ist tot. Mit eiserner Hand hat sie die Geschicke ihrer Familie gelenkt - und lenkt sie immer noch! Mit gemischten Gefühlen fährt ihre Enkelin Dawn zur Testamentseröffnung: Auch der Journalist Ben Townsend wird anwesend sein, ihre große Liebe - die zerbrach, weil er Dawn die Mitschuld an einem schrecklichen Tod gibt. Doch mehr als die Konfrontation mit Ben erwartet die junge Fotografin auf Grand Isle: Dunkle Geheimnisse werden enthüllt, ein vertuschter Mord kommt ans Tageslicht, es geht um die getrennten Welten von Schwarz und Weiß in den Südstaaten. Und während ein Hurrikan den Himmel verdunkelt, ahnt Dawn: Diesen Sturm können sie nicht alle überleben.

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Seitenzahl: 628

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Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der

gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Emilie Richards

Gefährliches Vermächtnis

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Barbara Minden

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Rising Tides

Copyright © 1997 by Emilie Richards McGee

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Trevillion, Brighton, UK

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz /

Galen McGee – Peak Definitions Productions

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN (eBook, PDF) 978-3-86278-401-1 ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-400-4

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

PROLOG

New Orleans, 1965

Die schwüle Mailuft war getränkt mit dem Geruch nach getrockneten Rosenblättern, Vetiver und Tod. Es gab kein Entkommen. Aurore war gerade aufgewacht. Ihr graute davor, Luft zu holen. Noch beunruhigender war nur der Gedanke, dass sie schon wieder von Rafe geträumt hatte.

Rafe erschien ihr immer, wenn sie ihn am wenigsten erwartete. Es gab auch andere Geister, die sie im Traum verfolgten und in den Momenten, wenn sie darüber nachdachte, wie wenig Zeit ihr noch blieb. Aber Rafe kam nur, wenn sie tief und fest schlief. Rafe, der Episoden aus ihrem Leben pflückte wie Wildblumen auf einer Sommerwiese und der sie ihr dann vor Augen hielt.

Aurore zwang sich, zu atmen, obwohl die Luft immer drückender zu werden schien. Sie hatte den Hausangestellten verboten, in diesem Teil des Hauses die Klimaanlage anzustellen. Man hatte die Fenster geschlossen, während sie schlief; vermutlich damit das Gekreische der Spottdrosseln draußen auf dem Magnolienbaum sie nicht weckte. Das Personal verstand einfach nicht, dass Aurore jeden wachen Moment als kostbares Geschenk betrachtete. Ein Geschenk, das nur alte Menschen wirklich zu schätzen wussten.

Aurore war alt, obwohl sie es jahrelang geleugnet hatte. Mit sechzig war sie davon überzeugt gewesen, dass Aktivität ein wirksames Mittel gegen das Altern war, und mit siebzig hatte sie geglaubt, sie könnte den Tod genauso hartnäckig ignorieren wie andere unerfreuliche Dinge des Lebens. Inzwischen war sie siebenundsiebzig, und der Tod lungerte schon seit Wochen in ihrem Schlafzimmer herum. Beim ersten Anzeichen von Schwäche würde er sich auf sie stürzen. Doch sie war noch nicht bereit zu sterben. Noch nicht. Es gab zu viele Geheimnisse, die darauf warteten, gelüftet zu werden.

Aurore hatte fast zu lange damit gewartet. Sie hätte ihre Familie schon vor Jahren zusammenrufen und wie eine herrische Matriarchin zwingen sollen, den Geschichten einer alten Frau zuzuhören. Sie hätten es nicht gewagt, sich ihrer Aufforderung zu widersetzen.

Aber sie hatte gewartet. Aber jetzt, wo der Tod bereits seinen Anspruch auf sie erhob, konnte sie es nicht länger aufschieben. Als sie die Augen öffnete, stellte sie fest, dass es draußen bereits dunkel wurde. Sie hatte die Dämmerung immer als besonders friedvoll empfunden. Nun blieb ihr keine Zeit mehr, um innezuhalten. Niemals wieder.

Neben dem Bett raschelte die gestärkte Tracht einer ihrer Pflegerinnen. Aurore bemühte sich, sich verständlich zu machen. „Ist Spencer schon da?“

„Ja, Mrs Gerritsen.“

Aurore, in deren Ohren die eigene Stimme rau und profan klang, war glücklich, dass man sie verstanden hatte. „Wie lange ist er schon hier?“

„Seit fast einer Stunde. Ich habe ihm gesagt, dass Sie geweckt werden wollten, aber er hat es nicht zugelassen.“

„Er beschützt mich.“ Aurore befeuchtete den Mund mit der Zunge. „Wie immer.“

„Möchten Sie etwas Wasser?“

Aurore nickte. „Nur ein Schlückchen. Dann … Spencer.“

„Sind Sie sicher, dass Sie sich gut genug fühlen?“

„Wenn ich warten würde, bis ich mich besser fühlte … würde ich ihn nie wiedersehen.“

Die Schwester nickte, während sie Wasser aus einer Karaffe in ein Glas goss, das sie an Aurores Lippen führte. „Kann ich noch etwas für Sie tun, bevor ich Mr St. Amant hole?“

„Die Fenster. Ich will nicht, dass sie … wieder geschlossen werden. Nie mehr.“

„Ich öffne auch die Balkontüren.“

Draußen zirpten die ersten Zikaden des Jahres. Die Luft traf feucht auf Aurores Haut. Für einen Augenblick war sie wieder siebzehn und stand im nebligen Dunst am Ufer des Mississippis. Sie beobachtete, wie Barkassen und Dampfer gegen die Strömung ankämpften, während sie darauf wartete, dass ihr Leben begann.

„Aurore.“

Aurore blickte den Mann an, der seit fast fünfzig Jahren ihr Anwalt war.

„Wie fühlst du dich, meine Liebe?“, fragte Spencer.

„Alt. Es tut mir leid, dass ich alt bin.“

Spencer ließ sich in dem Sessel nieder, den die Schwester neben das Bett geschoben hatte. „Tatsächlich? Ich erinnere mich noch gut an dich, als du jung warst.“

„Du erinnerst dich an zu viele Dinge.“

„Manchmal kommt es mir auch so vor.“ Er nahm ihre Hand. Seine Haut war trocken. Er zitterte, als er ihre Hand umschloss.

Ihre Gedanken schweiften ab, was inzwischen häufig geschah. Sie erinnerte sich an einen Tag in Spencers Büro in der Canal Street vor vielen Jahren. Das Büro gab es immer noch, obwohl Spencer längst im Rentenalter war. Aurore war froh, dass er seine Kanzlei noch nicht einem seiner jüngeren Partner übergeben hatte.

„Du warst so elegant“, sagte sie, „und leidenschaftlich. Ich dachte, du würdest mich abweisen.“

„Als du zum ersten Mal zu mir kamst?“ Er lachte. „Du warst so blass. Und du hast diesen Hut getragen, der deine Stirn verdeckte. Ich fand dich bezaubernd!“

„Aber was du damals gehört hast, kann dir unmöglich gefallen haben.“

„Es stand mir nicht zu, das zu beurteilen. Ich versprach dir, nichts von dem, was du mir anvertraust, je weiterzusagen. Und während wir uns unterhielten, spieltest du mit einer Kette aus hellen und dunklen Perlen.“

„Hell und dunkel.“ Aurore lächelte. „Ich erinnere mich.“

„Die Perlen verschwanden zwischen deinen Fingern wie ein Rosenkranz. Du bist lange in meiner Kanzlei geblieben. In der Zeit hättest du hundert Fürbitten sprechen können.“

Sie sah ihn an. „Ich will, dass du ein neues Testament für mich aufsetzt, so wie wir es aufgeschrieben haben. Ich will … dass du das alte Testament vernichtest.“

Er drückte ihre Hände. „Hast du auch gründlich darüber nachgedacht, meine Liebe?“

„Ich denke an nichts anderes.“

„Die Dinge könnten anders verlaufen, als du es dir wünschst.

Sie könnten mehr Schaden anrichten als Gutes nach sich ziehen. Und zu guter Letzt könnten die Menschen, die du liebst, verletzt werden.“

„Mein ganzes Leben … hatte ich Angst, die Wahrheit zu sagen.“

„Und nun hast du keine Angst mehr?“

„Jetzt habe ich noch mehr Angst.“ Er streichelte ihre Hand, und sie fuhr fort, bevor er sie unterbrechen konnte. „Aber trotzdem … die Wahrheit würde niemals ans Licht kommen. Nun bekommen andere die Chance, so mutig zu sein … wie ich es nie gewesen bin.“

„Das ist ein mutiger Akt.“

Ihre Gedanken wanderten zu den beiden Männern, die sie geliebt hatte. Rafe. Und Hugh, ihren Sohn. Zwei Männer, die wussten, was es bedeutete, mutig zu sein. „Nein. Das ist nicht mutig“, widersprach sie. „Eher die letzte verzweifelte Handlung eines Feiglings.“

Während sie miteinander schwiegen, brach die Nacht herein. Schließlich fragte er: „Kann ich morgen noch einmal herkommen, um zu sehen, ob du deine Meinung geändert hast?“

„Nein. Bitte tu mir den Gefallen, Spencer, und tu, was wir besprochen haben. Wirst du nach … Grand Isle runterfahren?“

„Ich werde tun, was immer du willst.“ Er führte ihre Hand an die Lippen und küsste sie. „Ich habe Dawns Adresse. Sie lebt in England und fotografiert für ein New Yorker Magazin. Ich könnte sie bitten, nach Hause zu kommen.“

Einen Augenblick lang war Aurore versucht, Ja zu sagen. Um Dawn noch einmal wiederzusehen, sie ein letztes Mal zu berühren. Und um ihre Enkelin in alle Geheimnisse einzuweihen, so wie Dawn sie auch immer in alle ihre Kindergeheimnisse eingeweiht hatte.

Alle.

Aurore konnte diesen Gedanken nicht ertragen. Sie war tatsächlich so feige, wie sie behauptet hatte. „Nein. Es ist das Beste, sie nicht nach Hause zu holen, bevor …“

„Ich verstehe.“

„Es gibt noch so vieles, das ich tun müsste.“

Spencer erhob sich. „Dann schicke ich ihr und den anderen deinen Brief … wenn es sein muss.“

„Ja. Die Briefe.“ Aurore dachte an die Briefe, die sie diktiert hatte. Und daran, wie viele Leben sie verändern würden.

„Du bist müde. Und du hast noch einen anderen Besucher.“ Aurore fragte nicht, wer dieser Besucher war. Sie konnte an Spencers Tonfall erkennen, dass es jemand war, auf den sie sich freute.

Aurore schloss die Augen, als Spencer das Zimmer verließ. Das Zirpen der Zikaden verstärkte sich. Die Abendluft roch nach süßen Oliven und den ersten Magnolien. Ihr Duft überdeckte den Geruch von Alter und Tod.

Als sie Schritte hörte, fehlte ihr die Kraft, die Augen noch ein weiteres Mal zu öffnen. Eine feste, starke Hand griff nach ihrer Hand und sie spürte warme Lippen an ihrer Wange.

„Phillip …“, flüsterte sie.

„Du brauchst nichts zu sagen, Aurore. Ich bleibe ein Weilchen bei dir. Ruh dich einfach aus.“

Die Stimme gehörte Phillip, aber einen Moment lang erschien es Aurore so, als ob Rafe an ihrem Bett säße. In diesem Augenblick fühlte sie sich nicht mehr alt, sondern wieder jung. Ihr Leben lag noch vor ihr, und sie hatte noch keine schwerwiegenden Entscheidungen getroffen. Während sie sich den Träumen hingab, summte Phillip eines der Lieder, mit denen seine Mutter berühmt geworden war. Aurore schlief ein.

1. KAPITEL

September 1965

Der junge Mann, den Dawn am Stadtrand von New Orleans aufgegabelt hatte, sah aus wie ein Rumtreiber, genau wie viele Studenten, die in jenem Sommer durch die Welt reisten. Seine Haare waren ungewaschen, seine Kleidung war ein Mix aus Rockstar und Zirkusartist. Immerhin war er wenigstens nicht so käseweiß wie diese verrückten Liverpooler Beatles oder so braun gebrannt wie diese kalifornischen Beach Boys. Im letzten Jahr war sie mehr als genügend Männern dieser Sorte begegnet. Sie tourten häufig mit Rockbands durch Europa.

Ihr Anhalter hatte Sommersprossen und Augen dunkel wie Honig. Er nannte Ortsnamen wie Biloxi und Gulfport. Und als er sie das erste Mal „Ma’am“ nannte, hätte sie ihn am liebsten zum nächsten Deich geschleppt und ihn so lange stöhnen lassen, bis sie wirklich begriffen hätte, dass sie wieder zurück im tiefen Süden war.

Doch sie schleppte ihn nirgendwohin. Sie erinnerte sich nicht mal an seinen Namen. Dawn war mit zu vielen anderen Dingen beschäftigt, um ernsthaft an Sex zu denken. Und sie suchte auch nicht nach Liebe. Nach drei prägenden Studienjahren in Berkeley hatte sie es aufgegeben, an Liebe, an Religion oder an ein Happy End zu glauben.

Glücklicherweise schien der Anhalter auch nicht auf der Suche nach Liebe zu sein. Er interessierte sich mehr für alles Essbare im Handschuhfach und den Stand der Tachonadel. Nach ihrer spontanen Gefühlsaufwallung vergaß sie fast, dass er in ihrem Auto saß, bis sie den Fehler beging, das Radio lauter zu stellen. Es war fünf nach halb eins, und die Nachrichten waren fast vorbei.

„Senator Ferris Lee Gerritsen, Vorstand von Gulf Coast Shipping mit Sitz in New Orleans, kündigte heute an, dass das Unternehmen der Stadt einen Teil seiner Ländereien am Fluss zur Verfügung stellen wird. Dort soll zum Gedenken an Henry und Aurore Gerritsen, die Eltern des Senators, ein Park errichtet werden. Mrs Gerritsen, Enkelin des Gründers der Reederei, verstarb letzte Woche. Senator Gerritsen ist das einzige noch lebende Kind des Paares. Sein Bruder, Pater Hugh Gerritsen, kam letzten Sommer bei einer Bürgerrechtsdemonstration in Bonne Chance ums Leben. Der Senator wird allen Voraussagen nach 1968 für das Amt des Gouverneurs kandidieren.“

Obwohl die Sonne bereits am Horizont versank, griff Dawn nach ihrer Sonnenbrille, um die Tränen zu verbergen, die ihr in die Augen geschossen waren. Als sie sich zurücklehnte, spürte sie auf einmal eine warme Hand auf ihrem Oberschenkel. Ihr Anhalter betrachtete sie mit demselben Gesichtsausdruck, der vor Kurzem noch ihren Twinkies gegolten hatte. Dawn ahnte, was er sah: eine langbeinige junge Frau mit kunstvoll bemalten blauen Augen. Einen Glücksfall mit Vermögen.

Er lächelte, während er die Hand nach oben wandern ließ. „Du heißt doch Gerritsen, oder? Bist du mit ihm verwandt?“

„Du verschwendest deine Zeit“, sagte sie.

„Ich hab gerade nichts anderes zu tun.“

Dawn fuhr rechts ran. Es nieselte und der Wetterbericht hatte noch mehr Regen vorhergesagt. Das änderte jedoch nichts an ihrem Entschluss. „Es wird Zeit, dir eine neue Mitfahrgelegenheit zu suchen.“

„Hey, komm schon! Du ahnst ja nicht, wie ich dir die restliche Fahrt versüßen könnte.“

„Entschuldigung, aber meine Vorstellungskraft ist besser, als du denkst.“

Fluchend zog er die Hand zurück und schnappte sich seinen Rucksack.

Als sie weiterfuhr, geriet sie ins Grübeln, was sie um jeden Preis hatte vermeiden wollen. Ihr Ausflug nach Grand Isle war keine Vergnügungsreise; sie kam wegen ihrer Großmutter, Aurore Le Danois Gerritsen. Sie hatte auf dem Totenbett verfügt, dass das Testament vor der versammelten Familie im Sommerhaus verlesen werden sollte. Das war ein Befehl.

Das letzte Mal, als Dawn die Strecke zwischen Grand Isle und New Orleans gefahren war, hatte sie ihren Führerschein gerade erst ein Jahr lang gehabt. Der Süden Louisianas war ein ständiger Dialog von Wasser und Land, und manchmal verwischten sich die Grenzen. Sie flog über das Land und pflügte durchs Wasser. Ihre Großmutter saß neben ihr und unterhielt sich mit ihr, ohne sich anmerken zu lassen, dass sie von einer der unzähligen Hängebrücken in den düsteren Bayou Lafourche hätten stürzen können. Erst als Aurore danach ins Cottage humpelte, wurde Dawn klar, dass sie die ganze Zeit auf unsichtbare Gas- und Bremspedale getreten hatte.

Diese Erinnerung schnürte ihr unerwartet die Kehle zu. Der Tod ihrer Großmutter hatte sie zwar nicht überrascht, aber sie war trotzdem nicht darauf vorbereitet. Wie hätte sie auch ahnen können, dass mit Aurore ein großes Stück ihrer eigenen Identität verschwinden würde? Aurore Gerritsen hatte Dawns Leben geprägt.

Ein anderer Teil von Dawn war schon mit dem Tod ihres Onkels verschwunden. Im Radio war Hugh Gerritsens Tod nur am Rande erwähnt worden; wie eine Nachricht von vorgestern. Doch für Dawn war er noch sehr präsent. Ihr Onkel galt als umstrittene Persönlichkeit in Louisiana; ein Mann, der all die Tugenden praktizierte, die die katholische Kirche predigte. Onkel Hugh war der Mann, der ihre guten Seiten erkannt und ihr beigebracht hatte, sie ebenso zu sehen.

Zwei Tode innerhalb von zwei Jahren. Die einzigen Gerritsens, die sie je verstanden hatten, waren nun fort. Wer blieb nun übrig? Wer würde sie nun bedingungslos lieben? Sie drehte das Radio auf und zwang sich, eine Nummer von Smokey Robinson and The Miracles mitzusingen.

Eine Stunde später überquerte sie die letzte Brücke. Die Insel war alles andere als elegant, aber die Luft auf Grand Isle war so frisch wie in den Bergen und der Sand so fein wie Puderzucker. Jeden Sommer hatte Dawn hier Aurore Gesellschaft geleistet. Und Aurore hatte ihr jeden Sommer die Familiengeschichte der Gerritsens erzählt.

Heute war es windig und die Brandung gewaltig. Trotzdem ließen sich die Angler nicht abschrecken. Orkan Betsy zog von Florida herüber, aber noch glaubte niemand, dass er diesen Teil Louisianas wirklich heimsuchen würde. Falls doch, würden die Inselbewohner ihre Häuser verriegeln, alle Habseligkeiten in Autos verladen und zurückkehren, noch bevor die Evakuierung wieder aufgehoben wäre.

Die Straße, die zum Cottage der Gerritsens führte, war mit einer frischen Ladung Austernschalen aufgeschüttet worden. Das Cottage selbst wirkte wie eine Insel. Aus wettergegerbten Zypressen im traditionellen kreolischen Stil erbaut und umgeben von wild wachsendem Oleander, Jasmin und Myrten, schmiegte es sich in die Landschaft wie die knorrigen alten Wassereichen, die es umgaben. Selbst der von ihrer Großmutter entworfene Anbau sah aus, als wäre er schon immer dort gewesen.

Dawn bemerkte die frischen Spurrillen und fragte sich, ob ihre Eltern schon eingetroffen waren. Sie hatte sie weder aus London noch vom Flughafen aus angerufen, weil sie sicher war, dass sie von ihr erwartet hätten, gemeinsam mit ihnen nach Grand Isle zu fahren. Doch Dawn benötigte Zeit, um sich an die Rückkehr nach Louisiana zu gewöhnen. Sie war jetzt dreiundzwanzig und zu alt, um sich von ihrer Familie vereinnahmen zu lassen. Deshalb brauchte sie diese Extrazeit, um sich zu wappnen.

Als sie vor dem Haus ankam, entdeckte sie einen Karmann Ghia mit kalifornischem Kennzeichen unter den Bäumen. Sie wunderte sich, wer von so weit her zur Testamentseröffnung ihrer Großmutter gekommen war. Gab es einen Gerritsen oder einen entfernten Le Danois, der schon immer irgendwo im Hintergrund gelauert hatte?

Entschlossen parkte sie ihren gemieteten Pontiac neben dem kleinen Cabrio. Dann zog sie ihren Regenmantel an und setzte ihren breitkrempigen John-Lennon-Hut auf. Das Dach des Cabrios war geschlossen. Dawn schaute durch die regennasse Scheibe ins Innere des Wagens. Das Auto gehörte einem Mann. Die Sonnenbrille auf dem Armaturenbrett sah aus wie eine Pilotenbrille, und auf dem Rücksitz lagen eine gemusterte Krawatte und eine Brieftasche.

Sie wickelte den Regenmantel noch enger um sich. Mary Quant hatte ihn wohl eher für den kühlen Londoner Regen und nicht für die Sommerhitze Louisianas entworfen. Es war Dawn aber egal, ob sie sich darin fast totschwitzte. Ihr Blick wanderte über das Autodach durch Oleander- und Jasminbüsche zur Veranda. Dort stand ein Mann, von dem sie angenommen hatte, dass sie ihn nie mehr wiedersehen würde. Er beobachtete sie.

Obwohl der Regen in Strömen über ihre Stiefel lief, bewegte Dawn sich keinen Millimeter vom Fleck. Sie fragte sich, ob sie ihre Großmutter jemals wirklich gekannt hatte.

Ben Townsend verließ die Veranda. Der Regen durchnässte sein Hemd, die dunkle Hose und sein sonnengesträhntes Haar. Er hatte sich nicht verändert. Dawns Blicke glitten über seine breiten Schultern, die schmalen Hüften und die langen Beine. Sie zuckte nicht mit der Wimper, als er näher kam. Die Kunst, Gefühle zu unterdrücken, hatte sie seit ihrem letzten Wiedersehen perfektioniert.

„Ich nehme an, du hast mich nicht erwartet.“ Er blieb dicht vor ihr stehen.

„Das ist eine maßlose Untertreibung.“

„Ich habe eine Einladung zur Testamentseröffnung deiner Großmutter bekommen.“ Er steckte die Hände in die Hosentaschen. Dawn hatte ihn schon oft so dastehen sehen. Seine Haltung verriet, dass er echt war und nicht bloß eine schemenhafte Erinnerung.

„Ich bin überrascht, dass du dir die Mühe machst.“ Sie wippte auf den Fersen, als ob sie es gemütlich fände, für immer unter einer tropfenden Eiche zu stehen. „Hoffst du auf eine Story?“

„Nö. Ich bin jetzt Redakteur. Ich kaufe ein, was andere Leute schreiben.“

Im letzten Jahr hatte Ben für Mother Lode gearbeitet, ein gefeiertes neues Magazin, das die liberale kalifornische Elite für sich entdeckt hatte. Dawn hatte nur eine Ausgabe gelesen. Offenbar schätzte man dort die Kreativität, den Intellekt und die Selbstgerechtigkeit der Westküste. Es überraschte sie nicht, dass Ben so schnell Karriere machte.

„Du warst immer schnell in deinem Urteil“, sagte sie.

Er zuckte mit den Schultern. „Und du scheinst besser darin geworden zu sein.“

„Ich bin in vielen Dingen besser geworden, nur offensichtlich nicht darin, Grandmère zu verstehen. Ich weiß nicht, ob deine Einladung der Versuch ist, ein Treffen von zwei verflossenen Liebenden zu erzwingen, oder ob sie einfach einen merkwürdigen Sinn für Humor hatte.“

„Glaubst du wirklich, dass deine Großmutter mich hierher gebeten hat, um dich zu verletzen?“

„Hast du eine andere Erklärung?“

„Vielleicht hat es etwas mit Pater Hugh zu tun.“

Sie warf ihr Haar zurück. „Ich wüsste nicht, warum. Onkel Hugh ist schon seit einem Jahr tot.“

„Ich weiß, wann er starb, Dawn. Ich war dabei.“

„Stimmt ja. Und ich war nicht dabei. Ich glaube, das war das Thema unseres letzten Gesprächs.“

Diese Unterhaltung lag inzwischen ein Jahr zurück, aber Dawn erinnerte sich jetzt wieder daran, als ob Bens Worte noch immer in der Luft schwebten wie an dem Todestag ihres Onkels, als sie neben Bens Krankenhausbett gestanden hatte. Aufgrund ihrer lauten Stimmen war eine Krankenschwester auf sie aufmerksam geworden. Dawn erinnerte sich an den Duft der Lilien, die auf dem Nachttisch eines anderen Patienten gestanden hatten. Ben hatte seine Frage herausgebrüllt und auf Antworten gewartet, die er nicht bekommen hatte.

Hast du geahnt, Dawn, dass man deinen Onkel wie einen Kriminellen abknallen würde? Dass der Mob auf dem Weg zur Kirche war, um einen guten Menschen in einen Märtyrer zu verwandeln?

„Ich bleibe!“, sagte Ben. „Ich habe zwar keine Ahnung, weshalb man mich eingeladen hat, aber ich werde so lange bleiben, bis ich eine Antwort darauf finde. Können wir so lange zivilisiert miteinander umgehen?“

„Du bist von hier, ein echter Louisiana-Boy. Du weißt, dass Gastfreundschaft in diesem Teil der Welt Tradition ist. Ich werde meinen Teil dazu beitragen.“

Dawn betrachtete ihn einen Augenblick. Sein Haar war länger als vor einem Jahr. Er trug jetzt eine Brille und wirkte nicht mehr zu jung, um Fragen nach den Problemen der Welt zu beantworten. Er sah aus wie ein siebenundzwanzigjähriger Mann, der seinen Platz in der Welt gefunden hatte und nicht beabsichtigte, ihn je wieder herzugeben.

Sein Vater war auch ein Mann gewesen, der Vertrauen ausgestrahlt hatte. Dawn fragte sich, was geschehen würde, wenn Ferris Lee Gerritsen herausfand, dass Ben Townsend eine Einladung nach Grand Isle erhalten hatte.

Ben wartete, bis sich ihre Blicke trafen. „Ich werde mich dir nicht aufdrängen.“

„Oh, mach dir um mich keine Sorgen! Mir drängt sich niemand mehr auf, und es drängt mich auch niemand mehr zu irgendwas. Bleib ruhig, wenn du willst. Aber nicht, um alte Geschichten aufzuwärmen.“

Sie zuckte die Achseln und kehrte zum Auto zurück, um ihr Gepäck zu holen und ihm zu demonstrieren, wie gleichgültig er ihr war. Sie hatte fast alles, was sie besaß, in Europa zurückgelassen. Dawn griff nach Kamera und Reisetasche, ließ aber den Koffer im Kofferraum.

In der Ferne donnerte es. Der Boden unter Dawns Füßen schien zu vibrieren. Die schwüle Luft war erfüllt von dem vertrauten Geruch nach Fäulnis und Ozon. Als sie sich umdrehte, stand Ben nicht mehr neben ihr. Sie beobachtete, wie er sich auf dem Austernschalenweg entfernte und war froh, dass sie nicht weiter so tun musste, als sei sie ganz locker.

Die Anziehungskraft, die Grand Isle auf ihre Großmutter ausgeübt hatte, konnte Dawn zwar nicht so ganz nachvollziehen, aber sie verstand sie jedes Jahr ein bisschen besser. Der Sommer war immer die Zeit gewesen, um in Großmutters Liebe zu baden. Niemand hatte etwas von Dawn erwartet. Heiße Sonne, leichte Brise. Dawn hatte auf dieser Insel nie etwas anderes zu tun, als heranzuwachsen. Aurores Stolz war Grund genug für Dawn, das Beste aus sich herauszuholen.

Was hatte Aurore kurz vor ihrem Tod gewusst? Dass Dawn sie immer noch liebte? Dass Dawn sich trotz ihrer Flucht nach dem Tod ihres Onkels immer nach ihrer Familie gesehnt hatte? Dass es einer Kriegserklärung, in einem Krieg, den Dawn sowieso nie begriffen hatte, gleichgekommen war, als sie sich in Ben verliebt hatte?

Und das Wichtigste von allem: Hatte ihre Großmutter verstanden, dass Dawn trotz der Ozeane, die zwischen ihnen lagen, niemals in der Lage gewesen war, sich von den Menschen loszusagen, die sie liebte?

Louisiana war wie ein einziges großes türkisches Bad. So erklärte sich vielleicht auch die Trägheit der Einwohner. Ihre kollektive Sicht war von der feuchten Luft gewöhnlicher Sommernachmittage getrübt. An einem Tag wie diesem, wenn Regentropfen die Sommerluft erfüllten, war verständlich, weshalb sich hier nie etwas änderte.

Ben stand am Strand und beobachtete, wie die schäumende Brandung den Seetang verteilte. Grand Isle war nur ein Sandhaufen, der wie ein ausgestreckter Mittelfinger aus dem pisswarmen Wasser herausragte. Seit der Begegnung mit Dawn vor einer Stunde hatte er schon fast die gesamte Insel umrundet.

Louisiana gehörte nicht gerade zu Bens liebsten Orten. Er war nicht weit von Grand Isle geboren worden, aber vor einem Jahr wäre er dort auch beinahe ums Leben gekommen. Vor einem Jahr hatte er mit ansehen müssen, wie ein Märtyrer von Fanatikern niedergeschossen und liegen gelassen wurde, um sein Leben auszubluten.

Wo war Pater Hugh Gerritsen jetzt? Ben glaubte weder an einen Himmel noch, dass es in der Hölle schlimmer war als in Louisiana. Trotzdem gelang es ihm nicht, zu glauben, dass Pater Hughs Leben einfach zu Ende war.

Was hätte Pater Hugh von seiner Nichte gehalten? In ihrem pinkfarbenen Regenmantel sah sie so aus, als benötige sie dringend einen Priester – oder ein Kloster. Ihre Beine waren endlos lang, und ihre kastanienroten Haare endeten nicht nur zufällig – da war er sich sicher – in Höhe ihrer Brüste. Ein Jahr in Europa hatte aus einem Teenager in geblümten T-Shirts eine Femme fatale im Minirock gemacht.

Und diese Augen, diese herausfordernden Augen! Dawn hatte durch ihn hindurchgesehen, als ob sie sich niemals geliebt hätten. Als ob er sie nie beschuldigt hätte, am Mord ihres Onkels beteiligt gewesen zu sein.

Er hätte ahnen können, dass sie auf seine Anwesenheit schockiert, vielleicht sogar wütend reagieren würde. Doch mit der eiskalten Arroganz, mit der sie ihn hatte abblitzen lassen, hatte er nicht gerechnet. Was auch immer Aurore mit ihrem Zusammentreffen bezweckt hatte: Diese Feindseligkeit, die es beinahe unmöglich erscheinen ließ, dass ihre Beziehung einmal voller Liebe und Respekt gewesen war, sicher nicht.

In der Ferne zeichnete sich die Silhouette einer Ölbohrplattform ab. Ben beobachtete die Fischer beim Einholen eines Netzes voller zappeliger Meeräschen. Er litt mit den Fischen, die nach Luft rangen und nicht verstanden, welche fremde Macht sie in diese missliche Lage gebracht hatte.

Ben ging es wie diesen Meeräschen. Er wusste auch nicht, wie er gegen etwas ankämpfen sollte, das er nicht sehen konnte. Er verstand weder Dawn noch deren Großmutter oder die Gründe, die sie dazu veranlasst hatten, ihn hierher einzuladen. Er verstand nicht, unter welchen Problemen die Gerritsens litten oder warum es ihnen nicht einmal selbst gelang, es herauszufinden.

Als die Sonne fast hinter einer Gewitterwolke am Horizont verschwand, wusste Ben, dass es Zeit war, zum Gerritsen-Cottage zurückzukehren. Dawn hatte inzwischen genügend Zeit gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass er wieder in ihrem Leben aufgetaucht war. Vermutlich waren mittlerweile auch ihre Eltern angekommen sowie alle anderen, die ebenfalls eingeladen waren. Er lief den von wilden Kräutern und Seetang gesäumten Weg zurück, als es zu nieseln begann. Hinter ihm stürzten sich die Möwen auf die Meeräschen, die den Fischern entkommen waren.

Nicht weit vom Cottage entfernt, öffnete der Himmel seine Schleusen. Es stürmte. Völlig durchnässt hastete Ben durch die Dämmerung und suchte Schutz in einem Fischereiladen, um wenigstens den schlimmsten Sturm abzuwarten.

Zehn Stufen führten zu dem Holzhäuschen hinauf, das etwa dreimal so groß war wie eine Garage. Drinnen führten zwei schmale Gänge an Vitrinen und Regalen vorbei. Sein Interesse galt aber mehr den anderen Personen im Laden.

Der Ladenbesitzer, ein kahler, dickbäuchiger Mann um die fünfzig, lehnte am Tresen. Vor ihm stand ein jüngerer Mann, den er selbstgefällig angrinste, wobei er eine Reihe vom Tabak vergilbter, zu langer Zähne entblößte. Er war so mit seinem anzüglichen Grinsen beschäftigt, dass er Ben nicht einmal wahrnahm. „Tja, mein Junge“, sagte er zu seinem Gegenüber. „Kann sein, dass ich weiß, wo das Haus der Gerritsens ist, kann aber auch nicht sein. Kommt drauf an, weshalb du das wissen willst. Ich kann mir nämlich keinen vernünftigen Grund vorstellen, weshalb ein Nigger so spät noch nach dem Haus des Senators suchen sollte, es sei denn, er führte Dinge im Schilde, die er besser sein lassen sollte.“

Ben stand im Gang und beobachtete, wie der andere Mann – um die siebenunddreißig und schon seit zwei Jahrzehnten kein Junge mehr – auf die Worte des Ladenbesitzers reagierte. Ben erkannte ihn.

Phillip Benedict beugte sich über den Tresen. „Glaubst du kleines dreckiges Südstaaten-Arschloch das wirklich? Dass ich ausgerechnet hierhergekommen wäre, wenn ich vorhätte, Senator Gerritsen umzubringen, damit du dich später an mich erinnern kannst?“

Der Ladenbesitzer richtete sich zu seiner vollen Größe auf, aber es fehlten ihm mindestens weitere fünfundzwanzig Zentimeter, um auf gleicher Höhe mit Phillip zu sein. Bens Meinung nach fehlte ihm weit mehr als nur diese paar Zentimeter.

„Raus aus meinem Laden! Sofort! Los! Und sieh dich vor, solange du auf dieser Insel bist! Man könnte dich sonst in der Brandung finden, mit dem Gesicht nach unten.“

Phillip hatte schöne, breite Hände mit schlanken Fingern. Damit packte er jetzt den Ladenbesitzer am Kragen, bis der sich nicht mehr rühren konnte. „Wer sich an mich heranschleichen will, muss schon sehr leise sein, du dreckiges Südstaaten-Arschloch! Und du bist nicht leise. Du hast ein großes Maul. Ich würde dein Gequatsche schon meilenweit entfernt hören. Also, sei vorsichtig, denn während du das Maul aufreißt, könnte ich den Spieß umdrehen. Du würdest mich unter Garantie nicht hören.“ Er ließ das Hemd los und stieß den Mann zurück. Dann fiel sein Blick auf Ben.

„Dreckiges Südstaaten-Arschloch?“, fragte der grinsend. „Ich wünschte, das wäre mir eingefallen.“ Er blickte über Phillips Schulter zum Ladenbesitzer, der sich an die Wand drückte. „Das ist ein übler Scheißkerl!“, erklärte er ihm. „Der frisst Weiße zum Frühstück, zum Mittagessen und zum Abendbrot. Und dann ist er auch noch ein Freund der Familie Gerritsen. Ich an Ihrer Stelle wäre vorsichtig! Von so einem würde ich mich lieber fernhalten.“

„Raus aus meinem Laden!“, schrie der Mann. Er kochte vor Wut. „Alle beide!“

„Unhöflichkeit ist schlecht fürs Geschäft.“ Ben schnappte sich einen Schokoriegel, fischte Kleingeld aus der Tasche und legte es auf den Tresen. „Willst du auch was, Phillip?“

„Ja. Einen Kopf auf einem Silbertablett.“

Ben legte seinen Arm um Phillips Schulter. „Im nächsten Geschäft schauen wir mal, was wir für dich tun können.“

Sie verließen den Fischereiladen, aber Ben behielt den Ladenbesitzer im Auge, bis sie heil aus der Tür draußen waren. „Es wird Zeit. Wir müssen uns auf die Socken machen“, sagte er, als sie die Treppe hinabgestiegen waren. „Hast du ein Auto?“

„Ich bin sicher nicht getrampt.“

„Dann lass uns fahren.“

Sie stiegen in den Wagen und schwiegen, bis Phillip vor einer kleinen Kirche anhielt. „Die Sonne geht unter, weißer Junge. Hier am Arsch der Welt auf ’ner Straße in Looziana isses nich’ mehr sicher für Nigger und Unruhestifter.“

„Was, zum Teufel, machst du hier?“

Phillip zog die Augenbrauen hoch. „Dasselbe könnte ich dich fragen.“

Während Ben Phillip musterte, überlegte er, wie er ihm erklären sollte, was er sich selbst nicht erklären konnte.

Phillip Bendict war ein kritischer Journalist. Er war bekannt für seine scharfen Analysen und Kommentare. Mit seiner Hautfarbe und seiner freiheitlichen Überzeugung unterschied er sich von anderen hochrangigen Nachrichtenjournalisten. Er berichtete vom Kampf um die Bürgerrechte wie ein Kriegsreporter, interviewte Martin Luther King im Gefängnis und kommentierte die Aktionen von Malcolm X. Und meistens behielt Phillip recht.

Die beiden Männer hatten sich seit ihrem ersten Zusammentreffen vor einigen Jahren gemocht. Damals hatten sie beide in New York an derselben Story gearbeitet. Ben als junger Reporter, der frisch vom College kam, und Phillip als gestandener Journalist. Gemeinsam mit anderen Journalisten hatte sie lange Nächte in einer Bar an der Lower East Side verbracht und darauf gewartet, dass eine bestimmte Person aus dem gegenüberliegenden Haus kam. Phillip hatte Ben unter seine Fittiche genommen und in den vielen Stunden, die sie gemeinsam totschlagen mussten, hatten sie sich viele persönliche Dinge erzählt. Aber im Laufe der Jahre hatten sie immer weniger Zeit miteinander verbracht und im letzten Jahr überhaupt keine mehr. Ihre Karrieren hatten sie in verschiedene Richtungen geführt.

„Ich weiß selbst nicht so genau, weshalb ich hier bin“, sagte Ben. „Aber ich bin zur Testamentseröffnung eingeladen. Und du?“

„Sieht so aus, als ob ich auch eingeladen worden wäre. Aurore Gerritsen war eine interessante alte Dame.“

Ben lehnte sich gegen die Beifahrertür. Er hatte schon geahnt, dass Phillips Anwesenheit auf der Insel etwas mit der Familie Gerritsen zu tun hatte, aber er hatte vermutet, dass Phillip hier war, um darüber zu schreiben.

Es sei denn, er hatte vor, Selbstmord zu begehen.

Regentropfen schimmerten in Phillips Haar und auf den dunklen Wangen. Er wirkte nicht im Geringsten besorgt wegen der Sache mit dem Ladenbesitzer, sondern eher wie einer, der auf neue Herausforderungen wartete. „Das wird ja immer merkwürdiger“, meinte Ben. „Warum du?“

Phillip lächelte. „Du hast es dem Typen doch eben erklärt: Ich bin ein Freund der Familie.“

„Ich hab nur versucht, deinen Arsch zu retten. Was steckt wirklich dahinter?“

Phillip versuchte, seine langen Beine auszustrecken. „Hast du eine Theorie?“

„Ja. Aber du musst noch mehr Theorien haben, wenn du an einen Ort wie Grand Isle reist und Einheimische anpöbelst.“

Phillip betrachtete Ben von oben bis unten, bevor er antwortete. „Weißt du, warum man dich eingeladen hat?“

„Was weißt du über die Gerritsens?“ Ben fischte den Schokoriegel, den er im Laden gekauft hatte, aus der Brusttasche, riss das Papier auf und brach ihn in zwei Hälften. Eine davon bot er Phillip an.

Phillip schüttelte den Kopf. „Ich weiß nur, was man mir gesagt hat.“

„Was weißt du über Pater Hugh Gerritsen?“, fragte Ben.

„Er wurde letztes Jahr ermordet. Da hinten in Bonne Chance.“ Phillip deutete mit dem Daumen in die Richtung.

„Ja. Mit dem Segelboot nur einen kurzen Törn entfernt, aber ein Höllenritt mit dem Auto. Ich bin in Bonne Chance geboren, und manchmal wache ich mitten in der Nacht auf und bin wieder dort. Ich spüre die Hitze und die Feuchtigkeit auf meiner Haut und bin wieder zurück.“

„Du warst dort, als er starb, stimmt’s?“

Es überraschte Ben nicht, dass Phillip Bescheid wusste. Sie hatten zwar nie darüber gesprochen, aber die Geschichte war in allen Zeitungen gewesen. „Ich war dort. Aber da ist noch was: Seine Nichte und ich …“ Er zuckte die Achseln. „Dawn und ich, wir standen uns sehr nah.“

„So nah?“

„Ich weiß nur, dass ich jetzt hier bin und bleiben werde.“

„Ich auch.“

„Du hast mir noch nicht erzählt, weshalb man dich eingeladen hat.“

„Aber du könntest es dir denken, wenn du müsstest?“

„Ich habe Mrs Gerritsen erst am Ende ihres Lebens kennengelernt. Dass ich hier bin, hat irgendwas damit zu tun.“

„Weißt du, wer noch kommt?“

Vielsagend lächelte Phillip. „Meine Mutter und mein Stiefvater.“

Ben stieß einen leisen Pfiff aus. Er hatte Phillips Familie nie kennengelernt, doch er hatte Phillips Mutter schon tausend Mal singen hören. Nicky Valentine war eine weltberühmte Jazz- und Bluessängerin. Ihr gehörte ein Nachtklub in New Orleans.

„Ihre Einladungen kamen am selben Tag wie meine“, sagte Phillip.

Ben hatte einhundert Fragen, aber Phillip besaß die für einen Journalisten typische Zurückhaltung. Ben würde seine Antworten im Cottage bekommen. „Das wird ja noch interessanter, als ich dachte.“

Phillips Lächeln gefror. „Vor allem wenn der Senator und seine Frau herausfinden, wen man in ihr Haus eingeladen hat.“

„Ich an deiner Stelle würde ihm nicht den Rücken zudrehen.“

Phillip startete den Motor. „Wir beide haben eine Menge Fragen, die beantwortet werden müssen. Vielleicht ist es höchste Zeit herauszufinden, was dahintersteckt. Aber was auch immer es ist, es wird sicher nicht langweilig. Hier gibt es eine Story. Dunkle und helle Gestalten. Und alle tanzen nach der Pfeife einer alten Dame.“

Ben schwieg. Der Regen hatte nachgelassen, aber der Himmel blieb dunkel. Inzwischen waren vermutlich alle Eingeladenen im Cottage angekommen. Vielleicht hatte Phillip recht. Vielleicht würde sich die Sache innerhalb der nächsten Stunden aufklären. Doch eines war gewiss: Sogar nach ihrem Tod bestimmte Aurore Gerritsen noch, wo es langging.

2. KAPITEL

Mit vierundsiebzig musste sich Spencer St. Amant höchstens noch Sorgen darüber machen, ob ihn ein nachmittägliches Gewitter davon abhalten würde, die Esplanade Avenue entlangzuschlendern. Während seine Altersgenossen sich im Pickwick Club trafen, um unaufhörlich über ihre beste Zeit zu reden, saß Spencer in seiner Anwaltskanzlei in der Canal Street und leitete eine Horde frischgebackener, milchgesichtiger Universitätsabsolventen, die das Tagesgeschäft erledigten.

Er hatte seinen Ruhestand vor zehn Jahren zwar schon einmal in Erwägung gezogen, in seinem Esszimmer, zwischen einem Krabbencocktail und einer Forelle Müllerin Art. Nach dem letzten Bissen aber war er dann in sein Büro zurückgekehrt und hatte seine Mitarbeiter angewiesen, sämtliche Spekulationen über die künftige Führung der Kanzlei sofort einzustellen. Eines Tages würden sie ihn kopfüber in seinen Akten liegend am Schreibtisch finden. Bis dahin blieb er der alleinige Chef.

Spencer bezweifelte, dass man jemals auf die Gründe seiner Entscheidung kommen würde. Er war weder mit dem Gesetz verheiratet noch gefiel ihm die Arbeit besonders gut. Als junger Mann hatte er sogar einmal davon geträumt zu fliegen und, so wie die Gebrüder Wright, die Welt zu entdecken. Stattdessen war er am Boden geblieben, um seine familiären Pflichten zu erfüllen. Die Pflichten der lange verstorbenen St. Amants, die so stolz auf die Familienkanzlei gewesen waren, hatte er inzwischen längst erfüllt. Aber seine Pflicht gegenüber der Frau, die er geliebt hatte, noch nicht. Er hatte die Arbeit in der Kanzlei nur deshalb fortgeführt, um Aurore Gerritsen nah zu sein; sie hatte nie etwas davon geahnt. Sie war als Freundin gestorben. Das war mehr, als er sich je erhofft hätte, falls er ihr die Wahrheit gesagt hätte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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