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GegenStandpunkt 1-22 E-Book

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Beschreibung

Editorial Die Welt erlebt Krieg in der Ukraine. Sie erlebt, wie Staaten für ihre Selbsterhaltung – wer dieses „Selbst“ ist und was dazu gehört, definieren sie selbst – in großem Stil über Leichen gehen. Und die Menschen, welt- und vor allem europaweit, reagieren: mit bedingungsloser Selbstverpflichtung zu moralischer Parteinahme. Geht’s noch? Russland ringt um seine Behauptung als strategische Macht – Amerika um deren Erledigung Mitten in unserem schönen Europa mit seiner wunderbaren Friedensordnung auf einmal wieder Krieg? Wie konnte es bloß dazu kommen? Ja, wie nur? Auf einmal, mitten im schönsten Frieden, ist da jedenfalls nicht ein Krieg ausgebrochen. Er ist auch nicht aus unerfindlichen Gründen von irgendeinem durchgeknallten russischen Autokraten vom Zaun gebrochen worden. Auch in dem Fall gilt: Die Gründe für den Krieg werden im Frieden geschaffen. Von Staaten, die es in ihrem Verkehr untereinander wieder einmal so weit gebracht haben, dass sie meinen, sich wechselseitig eine vernichtende Niederlage beibringen zu müssen. Im vorliegenden Fall sind die Gründe lange herangereift. Und dass es nun in der Ukraine losgeht, ist auch kein Zufall. Es ist mittlerweile fast schon ein Vierteljahrhundert her, dass ein weitblickender strategischer Denker und Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten seine Einschätzung abgegeben hat, dass sich das Schicksal Russlands, sein Status und seine Rolle in der Welt, an der Ukraine entscheidet. Lieferengpässe durch Pandemie und andere Havarien Die globale Marktwirtschaft beweist ihre Vernunft In den letzten anderthalb bis zwei Jahren ist es zu ein paar einschneidenden Störungen des üblichen Gangs der globalisierten marktwirtschaftlichen Dinge gekommen: Vor allem die wegen der Pandemie staatlich verordneten Lockdowns unterschiedlicher Strenge, zusammen mit der durch einen großen Frachter erzeugten Verstopfung einer der Hauptschlagadern des globalen Schiffsverkehrs und schließlich noch havarierte Halbleiterwerke ergeben einen umfassenden „Stresstest für die weltweiten Lieferketten“. Den bestehen diese im Urteil derer, auf deren Urteil es in solchen Fragen ankommt, in aller Regel nicht gut. Die Einführung des Bitcoins in El Salvador Klarstellungen zu dem gewagten Geld-Projekt des internetaffinen Präsidenten eines Landes ohne eigenes Geld Im Jahr 2019 gewinnt Nayib Bukele die Präsidentschaftswahlen von El Salvador. Der 40-jährige politische Newcomer, der sich der Öffentlichkeit gerne – immer eifrig twitternd – mit verkehrt herum aufgesetzter Baseballmütze präsentiert, regiert das Land seither mit seiner neu gegründeten Partei „Nuevas Ideas“ auf Basis einer bequemen Zweidrittelmehrheit. Aufgrund der von ihm sogleich ergriffenen Maßnahmen zur Durchsetzung von mehr Staatsgewalt im Land fällt er nicht nur der hiesigen Presse, sondern auch den USA mit ihrem kritischen Blick auf die Regierungen in ihrem zentralamerikanischen Hinterhof auf, die ihn nachdrücklich abmahnen im Hinblick auf in ihren Augen autoritäre und demokratisch bedenkliche Eigenmächtigkeiten. Noch deutlich größere internationale Aufmerksamkeit erzielt schließlich seine Ankündigung, ab September 2021 als globale Premiere neben dem Dollar wie bisher den Bitcoin als offizielles Zahlungsmittel in El Salvador zu etablieren.

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Seitenzahl: 281

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis
Editorial
Russland ringt um seine Behauptung als strategische Macht – Amerika um deren ErledigungI. Russland vollzieht eine Wende
1. Der Kreml zieht Bilanz
2. Russland zieht dem Westen eine rote Linie: Keine Aufnahme der Ukraine in die NATO
3. Russland stellt dem Westen ein Ultimatum
4. Das diplomatische Ultimatum wird mit einer Kriegsdrohung unterstrichen
II. Die Antwort der USA
1. Der Antrag auf Anerkennung russischer Sicherheitsinteressen: abgelehnt!
2. Amerika übernimmt die Definitionshoheit über die Lage
3. Die Wiederbelebung der NATO als verlängerter Arm der amerikanischen Weltmacht
a) Die militärischen Beiträge,
Mit noch viel mehr Geld und Rüstung die Ukraine für Russland „unverdaulich“ machen
NATO-Verbündete sowie ‚neutrale‘ Staaten rund um Russland verstärken die Bedrohungskulisse
Aufmarsch des US-Militärs selbst
b) Die Sanktionen
4. Mit Russland „im Gespräch bleiben“: aber immer!
III. Der Machtkampf eskaliert
Eine Zeitenwende
1.
2.
3.
Merkels Land im Härtetest16 Jahre Merkel: Eine alternative Bilanz
Warum verdient wer wie viel?
„Möglichst viele Menschen mitnehmen“ Klimakrisenbewältigung – die neue soziale Frage
Und die Antwort des deutschen Proletariats? – Bettelei um Berücksichtigung!
Noch ein Erfolg der Krisenmanagerin: Flüchtlingskrise – „geschafft!“
Die nationale Protestkultur
‚Querdenker‘ – ‚Demokratischer Widerstand‘ – ‚Freie Sachsen‘Rebellion aus lauter Identität mit den kapitalistischen Lebensverhältnissen
Verbote können kein Schutz sein!
Die Querdenker und ihre Freunde machen die Bürgerfreiheit gegen ihren staatlichen Garanten geltend
Normalbürger radikalisieren sich und entdecken bei ihrem Staat totalitäre Herrschaft
Politische Antworten auf die Frage: Woher dieser Abgrund an Freiheitsverrat?
Merkels Land in einer Welt feindlicher Großmächte: Ganz gut drauf!Und jetzt?
BelarusDie fast vergessene „Migrationskrise“ in Osteuropa
Wie Weißrussland zum neuen Hotspot der Migration geworden ist
„Toughest sanctions yet“: Die Notlage, die der Diktator loswerden will …
… und die neue Notlage, in die er gerät: Wie Polen mit unfreiwilligen Statisten eine Großkrise produziert
Höhere imperialistische Mächte schalten sich ein
Die USA verkünden die gültige Sicht der Dinge
Koblenzer Prozess gegen einen Assad-Offizier
Hoffnung für die Völker: Deutschland setzt sich als Vorsitzender Richter übers weltweite Böse in Szene
1.
2.
Lieferengpässe durch Pandemie und andere HavarienDie globale Marktwirtschaft beweist ihre Vernunft
I. Die ökonomische Natur der globalen Lieferketten und ihrer derzeitigen Belastung
1. Vom entscheidenden Kriterium und herrschenden Zweck der gestressten internationalen Arbeitsteilung
2. Relevante und nicht so relevante Betroffenheiten
3. Die Rolle der Preise bei der kapitalistischen Kooperation und ihren Störungen
4. Die modernen Formen der Lagerhaltung und ihr Beitrag zu Art und Umfang der derzeitigen Klemmen
5. Systemgemäßer Umgang mit Engpässen und seine zwiespältigen Wirkungen
6. Systemgemäße Schlussfolgerungen aus den aktuellen Schwierigkeiten
II. Die Rolle des marktwirtschaftlichen Transportwesens für die Globalisierung und die aktuellen Stockungen
1. Auch in der Transportbranche: Vom multiplen Nutzen der freien Verfügung über die (manchmal auch nicht) bezahlte Arbeitskraft in ordentlichen und außerordentlichen Zeiten
2. Alte und neue Techniken des Transportgewerbes für die Sicherung seines Wachstums unter allen Umständen
Die Einführung des Bitcoins in El SalvadorKlarstellungen zu dem gewagten Geld-Projekt des internetaffinen Präsidenten eines Landes ohne eigenes Geld
1. Die Dollarisierung El Salvadors
Der Ersatz des Colón durch den Dollar
Die dollarisierte Ökonomie unter US-Aufsicht
2. Das neue nationale Zahlungsmittel Bitcoin und wie es herrschaftsfrei funktioniert
3. Die landesspezifischen Versprechungen im Hinblick auf die Kryptowährung
4. Der Aufstand eines kaputten Landes gegen die US-Herrschaft
Korrespondenz Leserbrief zu „Deutschlands Energieimperialismus wird klimaneutral“Zum strittigen Zusammenhang von Klima- und Energiepolitik

Editorial

Die Welt erlebt Krieg in der Ukraine. Sie erlebt, wie Staaten für ihre Selbsterhaltung – wer dieses „Selbst“ ist und was dazu gehört, definieren sie selbst – in großem Stil über Leichen gehen. Und die Menschen, welt- und vor allem europaweit, reagieren: mit bedingungsloser Selbstverpflichtung zu moralischer Parteinahme.

Geht’s noch?

Die Sache wird nicht besser, wenn die nachdenkliche Privatperson zu dem weisen Schluss kommt, dass irgendwie keine der Mächte, die als Kriegsparteien gegeneinander über Leichen gehen, ihre kostbare uneingeschränkte Parteinahme verdient. Man erlebt, wie Staaten über Menschenleben verfügen, wenn es für sie ernst wird in ihrem Gegeneinander; man erlebt – auch wenn man das Glück hat, nicht vor Ort zu sein – die totale eigene Ohnmacht gegenüber den brutalen staatlichen Verfügungen. Und dann imaginiert man sich als Richter, der über Recht und Unrecht staatlicher Machtentfaltung befindet; schaut von oben herab auf Leichen und Verwüstungen und fühlt sich allen Ernstes zur Antwort auf die Frage berufen: Dürfen die das?

Klar, die Frage stellt sich, hierzulande wenigstens, so gut wie kein Zeitgenosse; weil schon die Feststellung, dass hier Staaten als Kriegsparteien über Leichen gehen – also zeigen, was in ihnen als souveränen Mächten steckt –, längst zurückgewiesen ist: Hier hat doch eine Seite angegriffen, die andere sich nur verteidigt, ist folglich die gute und verdient fraglos Parteinahme. Deswegen noch mal: In der Ukraine wird verwüstet, wird getötet und gestorben, weil Staaten mit dem Einsatz, also der zweckmäßigen Verschleuderung von Leben, des Überlebens ihrer und der Leute ihres Gegners, betätigen, was sie als ihr gutes Recht, als mit dem Feind unvereinbares „Selbst“ definieren. Und ausgerechnet deswegen, weil einen das nicht kaltlässt, wäre es unabweisbar, tief im Innern für die eine und gegen die andere Seite zu sein? Man erfährt, was die Privatperson im Krieg zählt, nämlich gar nichts, und wünscht dem Krieg den richtigen Ausgang? Ist man dann eigentlich noch ganz bei Trost?

In der Ukraine prallen die zwei militärischen Weltmächte aufeinander, die sich in überreichlichem Maß Gewaltmittel verschafft und deren Einsatz auch schon durchgeplant und vorbereitet haben, um auf einer finalen Stufe ihrer kriegerischen Kollision einen Großteil der Menschheit umzubringen und die Lebensbedingungen auf der Erde zu zerstören. Am „Fall“ Ukraine erleben wir einen ersten Schritt vom kriegerischen Erpressen zum kriegerischen Zerstören, wie er in der Kriegsdoktrin der beiden Weltmächte vorgezeichnet ist; den Einstieg in die Eskalation, von deren Endpunkt beide Seiten versichern, dass er nie stattfinden darf. Und mit dem sie gleichwohl so ernsthaft drohen, dass die dafür Zuständigen einander davor warnen, ernst zu machen – was die diplomatische Art ist, einander eben damit zu drohen.

Soll man als betroffene Privatperson da immer noch Partei ergreifen? Wo final unübersehbar deutlich wird, wie Staaten das Verhältnis zwischen sich, dem eigenen souverän definierten Existenzrecht, und dem Menschenmaterial sehen und handhaben, das sie nach Nationen sortieren? Oder soll man wieder in weiser Abwägung beiden Seiten im Blick auf den letzten Übergang gleichermaßen Unrecht geben – zwei Mächten, die stolz darauf sind, kein Recht anzuerkennen als das, das sie sich selbst zuerkennen; als ‚God’s own Country‘ in der einen oder der anderen Version?

Es ist ganz einfach inadäquat, unhöflich gesprochen: extrem albern, mit dem privaten Moralismus des betroffenen Menschen auf die Brutalität des Rechts zu reagieren, mit dem Staaten, vom kleinsten bis zu den weltvernichtungsfähigen Großmächten, agieren.

Anders sieht es aus, wenn man nicht wirklich als humanitär herausgeforderte Privatperson, sondern als moralisch in Anspruch genommener Staatsbürger denkt und urteilt. Dann ist man Partei, noch bevor man Partei nimmt. Das ist der wirkliche Grund, weshalb eine aufgeweckte Bürgerschaft niemandem Unparteilichkeit durchgehen lässt. Wer die richtige Stellungnahme nicht abliefert, schließt sich aus der Partei aus, die die Nation ergreift, weil – und soweit – sie im aktuell stattfindenden, am Ende nolens volens auch im sachgerecht eskalierenden, final ausufernden Staaten-Gemetzel Partei ist. Diese Parteilichkeit wird mit Bildmaterial und Sprachregelungen versorgt, die wiederum den Menschen als empfindende Privatperson rühren – sollen – und doch zugleich regelmäßig etwas ganz anderes bewirken – und bewirken sollen: Im von Staats wegen angerichteten Leid und Elend nimmt das informierte Individuum nicht mehr seine Ohnmacht gegenüber den Staatsgewalten wahr, die ganze Völkerschaften für ihren Selbsterhaltungswillen funktionalisieren; es versteht sich als Repräsentant der Macht, die über es verfügt. Folglich werden dann auch nicht einfach Opfer bedauert und Täter verabscheut, sondern Waffen für Täter auf der politisch richtigen Seite gefordert und Freiwillige wie Dienstverpflichtete zu Kriegstaten ermutigt.

Zumindest diese geistigen Missgriffe: den humanitären wie den staatsbürgerlichen und deren gesinnungsmäßig so produktive Kombination, kann man sich sparen – auch wenn es einem weder den Krieg noch die Kriegsbegeisterung empörter Mitbürger erspart. Denn das geht ja immerhin: sich und allen, die bereit sind zuzuhören, den Krieg und seine Gründe, die allgemeinen eines jeden staatlichen Souveräns wie die besonderen weltkriegstauglichen von NATO und Russland, erklären. Hoffnung – ohnehin nichts als eine der Haupttugenden eines kriegsfesten Moralismus – kann man daraus zwar bestimmt nicht schöpfen. Aber wenigstens ist man dann nicht auch noch mit der eigenen Urteilskraft das Spielmaterial der großen bewaffneten Rechthaber.

Angebote stehen in dieser Zeitschrift.

© 2022 GegenStandpunkt Verlag

Russland ringt um seine Behauptung als strategische Macht – Amerika um deren Erledigung

Mitten in unserem schönen Europa mit seiner wunderbaren Friedensordnung auf einmal wieder Krieg? Wie konnte es bloß dazu kommen? Ja, wie nur? Auf einmal, mitten im schönsten Frieden, ist da jedenfalls nicht ein Krieg ausgebrochen. Er ist auch nicht aus unerfindlichen Gründen von irgendeinem durchgeknallten russischen Autokraten vom Zaun gebrochen worden. Auch in dem Fall gilt: Die Gründe für den Krieg werden im Frieden geschaffen. Von Staaten, die es in ihrem Verkehr untereinander wieder einmal so weit gebracht haben, dass sie meinen, sich wechselseitig eine vernichtende Niederlage beibringen zu müssen. Im vorliegenden Fall sind die Gründe lange herangereift. Und dass es nun in der Ukraine losgeht, ist auch kein Zufall.

Es ist mittlerweile fast schon ein Vierteljahrhundert her, dass ein weitblickender strategischer Denker und Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten seine Einschätzung abgegeben hat, dass sich das Schicksal Russlands, sein Status und seine Rolle in der Welt, an der Ukraine entscheidet:

„Man kann gar nicht genug betonen, dass Russland ohne die Ukraine aufhört, ein Imperium zu sein, mit einer ihm untergeordneten und schließlich unterworfenen Ukraine aber automatisch ein Imperium wird.“ (Brzeziński, NZZ, 29.10.99)

Der amerikanische Stratege weiß, dass es für Russland von entscheidender strategischer Bedeutung ist, diesen großen Nachbarstaat politisch an seiner Seite zu behalten. Und selbstverständlich ist seine Einschätzung nicht so gemeint, dass hier vitale Interessen Russlands im Spiel sind, die im Umgang mit diesem Staat zu berücksichtigen sind. Genau umgekehrt ist es gemeint: Mit dem Zugriff auf die Ukraine kommt die amerikanische Weltmacht ihrem strategischen Ziel, den Rivalen Russland als militärische Größe irrelevant zu machen, einen entscheidenden Schritt näher.

Amerika und seine Verbündeten in der NATO und in der EU haben mit dieser Zielsetzung die aus dem Zerfall der Sowjetunion hervorgegangenen souveränen Staaten in der westlichen Nachbarschaft Russlands systematisch in eine von den NATO-Staaten beherrschte und politisch und ökonomisch an die EU assoziierte Zone verwandelt. Die Kennzeichnung als ‚Einflusssphäre‘ reicht dafür längst nicht hin, nachdem diese Staatenwelt fest in den westlichen Bündnissen verankert ist und – dasselbe anders gefasst – russischer Einfluss und russische Interessen ebenso grundsätzlich ausgeschlossen worden sind. Zu diesem Zweck hat man sich der ökonomischen Notlage der ehemaligen sowjetischen Bündnispartner bzw. Sowjetrepubliken bedient und ihnen die Perspektive eines Anschlusses an den potenten gemeinsamen Markt eröffnet. Dem freien Willen der Völker hat man die Entscheidung darüber auch nicht ganz überlassen. Die EU hat ihre Erweiterung gemeinsam mit den USA politisch flankiert und den dort freigesetzten Nationalismus, soweit er sich gegen die frühere Bündnisvormacht bzw. den Gesamtstaat Sowjetunion richtete, mit allen Mitteln in Gestalt von unzähligen sogenannten NGOs und ‚Beratern‘ gefördert, um ihn als Staatsräson zu etablieren. Und dieser Zugriff ist Zug um Zug auch militärisch abgesichert, diese Staatenwelt weitestgehend in der NATO verstaut und zum Standort von NATO-Kräften hergerichtet worden.

Und schon gleich nicht hat man im Fall der Ukraine lockergelassen. In einem ersten Anlauf wird 2004 vermittels einer ‚Farbrevolution‘ der ‚prowestliche‘ Juschtschenko an die Macht gebracht, und 2008 stellen die USA der Ukraine und Georgien den Eintritt in ihr Kriegsbündnis in Aussicht. Nach Juschtschenkos Ablösung durch Janukowitsch erfolgt der zweite Anlauf: 2014 wird letzterer, nachdem er das Assoziationsabkommen mit der EU abgelehnt hatte, durch einen mit amerikanischer Hilfe organisierten Aufstand auf dem Maidan gestürzt; das nationalistische russlandfeindliche Lager übernimmt die Macht und erklärt die Ukraine umgehend zum Schutzobjekt von EU und USA. Dass genau das der höhere Sinn und Zweck der EU-Osterweiterung war, hat die EU auch ausdrücklich zu Protokoll gegeben: Die geplante Assoziation der Ukraine mit der EU gehe Russland nichts an, hieß es damals, keineswegs werde man mit Russland darüber verhandeln. 1)

Damit hatte Europa seine Methode der friedlichen Eroberung allerdings auch ausgeschöpft. Russland hat in dem Fall nicht mehr einfach unter Protest hingenommen, dass seine strategischen und sonstigen Interessen übergangen werden. Es schaffte seinerseits Fakten, annektierte die Krim, unterstützte tatkräftig den Aufstand im Osten der Ukraine, wo große Teile der Bevölkerung die von Kiew verfolgte russlandfeindliche Linie ablehnten, und stellte damit praktisch klar, dass hier eine rote Linie überschritten worden war. 2) Die andere Seite hat daraufhin den Übergang zur Ächtung und Sanktionierung Russlands vollzogen, den Rest der Staatenwelt in diesem Sinn in Stellung gebracht und damit klargestellt, dass Russland nachzugeben und seine Einkreisung und deren Fortschritte zu akzeptieren hat.

Es hat die ganze Zeit niemand übersehen können, worum es hier geht: um einen Machtkampf auf höchster Ebene, in dem es der einen Seite um ihre Selbstbehauptung als eine Macht geht, die in der Welt ihren Interessen Geltung verschafft, um ihren Einfluss auf fremde Souveräne kämpft, einen entsprechenden Status beansprucht und in ihrer Bewaffnung auch über die nötigen Mittel verfügt, um diesen Anspruch anzumelden – und der anderen darum, ihre Weltordnung durchzusetzen, in der ein solches Russland genau deswegen keinen Platz hat, weil ihr Anspruch auf Weltherrschaft unteilbar ist.

I. Russland vollzieht eine Wende

1. Der Kreml zieht Bilanz

Die russische Regierung präsentiert die Resultate der gesamten postsowjetischen Etappe der schönen neuen Weltordnung und erhebt schwere Vorwürfe: In 30 Jahren sind mit dem Vorrücken der NATO alle diesbezüglichen Zusicherungen im Rahmen der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen gebrochen worden.

„Es ist allgemein bekannt, dass uns versprochen wurde, dass sich die Infrastruktur des NATO-Blocks nicht einen Zentimeter nach Osten ausdehnen würde. Jeder weiß das. Heute sehen wir, wo die NATO steht: in Polen, in Rumänien und in den baltischen Staaten. Sie haben das eine gesagt, aber das andere getan. Sie haben uns einfach betrogen.“ (Wladimir Putin, 1.2.22) 3)

Ob das Versprechen überhaupt vorgelegen hat, ob schriftlich, mündlich oder gar nicht, der Streit, für den man in die Archive abtaucht und Protokollnotizen sowie das Erinnerungsvermögen der damals Beteiligten mobilisiert, mag für die völkerrechtlichen Rechtfertigungsarien der NATO-Staaten erheblich sein – was die unübersehbare strategische Sachlage betrifft, erfüllen die westlichen Widerlegungen den Tatbestand eines Ablenkungsmanövers. Tatsache ist jedenfalls, dass sich das westliche Kriegsbündnis nicht nur mit den Staaten des Warschauer Pakts das komplette ehemalige Glacis der Sowjetunion inkorporiert hat, sondern diese sowie ehemalige Sowjetrepubliken wie Georgien und die Ukraine inzwischen auch als integrale Bestandteile seiner Front gegen den Kreml behandelt und mit seiner militärischen Infrastruktur unmittelbar an die russischen Grenzen heranrückt.

„Früher hat die NATO mit Begriffen wie ‚vorübergehende Stationierung‘ gespielt. Jetzt spricht sie von einer vollständig nachhaltigen und turnusmäßigen Präsenz. Das bedeutet in Wirklichkeit eine ständige Präsenz... Liest man die Berichte der führenden westlichen politikwissenschaftlichen Zentren, so geben sie freimütig zu, dass sich die NATO durch die Verlegung ihrer Grenzen in die Vororte von St. Petersburg eigene Schwachstellen geschaffen hat. Gleichzeitig kann die Strecke von Tallinn nach St. Petersburg mit dem Fahrrad zurückgelegt werden; NATO-Kampfflugzeuge können St. Petersburg in weniger als zehn Minuten erreichen.“ (Vize-Außenminister Alexander Gruschko, Rossijskaja Gaseta, 20.12.21)

Die russische Bilanz im Einzelnen:

a) Insbesondere die Verwandlung der Ukraine in einen dezidiert antirussischen Frontstaatverleiht der militärischen Bedrohung für Russland eine neue, kriegsentscheidende Qualität.

„Was sie in der Ukraine tun, versuchen oder planen, findet nicht Tausende von Kilometern von unserer Landesgrenze entfernt statt. Es geschieht direkt vor unserer Haustür. Sie müssen verstehen, dass wir uns einfach nirgendwo mehr hin zurückziehen können.“ (Wladimir Putin, 21.12.21)

– Das ukrainische Heer, seit 2016 im Rahmen des „Comprehensive Assistance Package for Ukraine“ in allen seinen Abteilungen von verschiedensten NATO-Staaten mit Hundertschaften von Ausbildern arbeitsteilig gedrillt, in mehr oder minder ununterbrochenem Manöverbetrieb an NATO-Standards in Sachen Bewaffnung, Organisation, Kampftechnik herangeführt, hat enorm an Schlagkraft gewonnen. Aus einer depravierten Truppe mit ein paar Tausend noch einsatzfähigen Soldaten, im Donbass-Krieg vernichtend geschlagen, ist ein ernstzunehmender Kriegsgegner mit eigenen militärischen Fähigkeiten geworden. 4) Etwa die Hälfte der ukrainischen Armee steht an der Kontaktlinie im Osten; dazu kommen die bewaffneten Formationen der ukrainischen Rechten. Die Truppe ist ausgestattet mit gebrauchten Waffen in größeren Mengen und zunehmend auch modernem US-Gerät, das inzwischen nicht mehr frontfern gelagert – wie noch von der Trump-Administration gefordert –, sondern eingesetzt wird, ebenso wie neuerdings türkische Kampfdrohnen – so viel zur Einhaltung des sogenannten Waffenstillstands vonseiten der Ukraine. Die amerikanische Luftwaffe liefert die für eine Invasion in die Separatistenrepubliken nötigen Daten. 5)

Die Kriegsfähigkeit der Ukraine hat entsprechend zugenommen, und an ihrem Kriegswillen lässt die aktuelle Regierung auch keine Zweifel aufkommen, abzulesen an ihrem Aufmarsch im Frühjahr 2021 und den einschlägigen strategischen Planungen, auf die Russland verweist:

„Im März 2021 wurde in der Ukraine eine neue Militärstrategie verabschiedet. Dieses Dokument ist fast ausschließlich der Konfrontation mit Russland gewidmet und hat zum Ziel, ausländische Staaten in einen Konflikt mit unserem Land zu verwickeln. Die Strategie sieht die Organisation einer sogenannten terroristischen Untergrundbewegung auf der russischen Krim und im Donbass vor. Außerdem werden die Konturen eines möglichen Krieges skizziert, der nach Ansicht der Kiewer Strategen ‚mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft zu günstigen Bedingungen für die Ukraine‘ sowie – hören Sie bitte gut zu – ‚mit ausländischer militärischer Unterstützung in der geopolitischen Konfrontation mit der Russischen Föderation‘ enden soll.“ (Wladimir Putin, 21.2.22) 6)

Im Frühjahr ist die Ukraine zwar noch von ihren Schutzmächten ausgebremst worden, 7) davon verblieben ist aber eine dauerhafte Kriegsdrohung für die zwei ‚Volksrepubliken‘ und deren Schutzmacht Russland.

– Mit der Inbesitznahme der Ukraine durch das Bündnis verliert Russland sein wichtigstes strategisches Vorfeld in Europa; oder, dasselbe umgekehrt ausgedrückt, die NATO steht unmittelbar an der mehr als 2000 km langen Grenze zu Russland; sie beherrscht das einstige russische Vorfeld fast lückenlos, bestückt es zügig mit immer mehr Kriegsmitteln (Ausbau von Flughäfen, Radarstationen, Marinebasen), darunter schweres Gerät wie Raketen-Artillerie mit einer Reichweite von um die 1000 Kilometer. Die für Russland bedrohlichste Aufrüstung in der Ukraine ist freilich die nach dem Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag wieder erlaubte Dislozierung von nuklearen Kurz- und Mittelstreckenraketen. 8)

– Die derzeit noch bescheidenen Fähigkeiten der ukrainischen Kriegsmarine, die genutzt werden, um im Verbund mit NATO-Kräften die Manövrierfähigkeit der russischen Schwarzmeerflotte, deren Zugang zum Mittelmeer zu beschränken, werden vor allem mit britischer Hilfe zügig ausgebaut. Es entsteht eine moderne, an NATO-Standards orientierte militärische Infrastruktur am Schwarzen Meer, die Ukraine erhält neue Fregatten und Landungsschiffe – eine wertvolle Ergänzung der regelmäßig im Schwarzen Meer kreuzenden und übenden NATO-Zerstörer und -Fregatten (mit je ein paar Dutzend Marschflugkörpern und/oder mit Atomsprengköpfen bestückbaren Raketen an Bord), die Russland jetzt schon eine ständig bedrohlichere, eigenständige strategische Front an der südrussischen Peripherie eröffnen. 9)

– Die NATO übt am Standort Ukraine den Krieg in Dauermanövern 10) in so  gut wie jedem Format und jeder Aufgabenstellung, von der nächtlichen Landungsoperation bis zum Raketenabschuss auf die russischen Machtzentren und Übungen zur Abschreckung auch mit Atomwaffen, alles ganz ohne formellen Beitritt der Ukraine zum Bündnis. Der Umfang dieser Manöver mit den Teilnehmern Georgien und Ukraine und zuweilen auch mit Provokationen, die einem Übergang zum offenen Krieg nahekommen – im letzten Frühjahr nimmt ein britischer Zerstörer in voller Gefechtsbereitschaft Kurs auf den Heimathafen der russischen Schwarzmeerflotte und lässt sich erst durch Bombenabwürfe der russischen Luftwaffe stoppen –, verlangt dem Gegner permanente Kriegsbereitschaft ab. Und das nicht nur in der Ukraine; an allen russischen Grenzen finden rund ums Jahr NATO-Manöver mit schweren Waffen statt,die eine dauerhafte Invasionsgefahr darstellen und das auch sollen. Angekündigt ist die nächste Übung in der Arktis, wobei mit der größten Selbstverständlichkeit auch ‚neutrale‘ Staaten wie Finnland und Schweden mit einbezogen und nachdrücklichst darauf aufmerksam gemacht werden, dass ihre Sicherheit letztlich nur in der NATO zu garantieren ist. 11)

Dies allessummiert sich zu einem militärischen Aufbau, der zur Eröffnung von für den Kreml mit konventionellen Mitteln nicht mehr beherrschbaren Kriegsszenarien an mehreren Frontabschnitten aus dem Stand heraus taugt:

„Wenn die Ukraine in den Besitz von Massenvernichtungswaffen kommt, wird sich die Lage in der Welt und in Europa drastisch verändern, insbesondere für uns, für Russland. Wir können nicht anders, als auf diese reale Gefahr zu reagieren, zumal, ich wiederhole es, die westlichen Schirmherren der Ukraine ihr helfen könnten, diese Waffen zu erwerben, um eine weitere Bedrohung für unser Land zu schaffen. Wir sehen, wie hartnäckig das Kiewer Regime mit Waffen gefüttert wird... In den letzten Monaten sind ständig westliche Waffen in die Ukraine geliefert worden, ostentativ und vor den Augen der ganzen Welt. Ausländische Berater überwachen die Aktivitäten der ukrainischen Streitkräfte und Spezialdienste... In den letzten Jahren waren Militärkontingente der NATO-Länder unter dem Vorwand von Übungen fast ständig auf ukrainischem Gebiet präsent. Das ukrainische Truppenkontrollsystem ist bereits in die NATO integriert worden. Das bedeutet, dass das NATO-Hauptquartier den ukrainischen Streitkräften direkte Befehle erteilen kann, sogar an ihre einzelnen Einheiten und Truppenteile.“ (Wladimir Putin, 21.2.22)

Diese Bestandsaufnahme der ‚realen Gefahr‘ aus russischer Sicht ist keine bloße Sichtweise, wird in Russland beileibe nicht nur so ‚gefühlt‘, sondern fällt zusammen mit dem real existierenden, gewaltigen militärischen Aufwuchs der NATO-Kräfte im Osten. Was auch Militärfachleute der NATO in ihrer nüchternen Art als Tatsache unterstellen, wenn sie in ihren Planungen davon ausgehen, dass sich das ‚konventionelle Kräfteverhältnis‘ in Mittel- und Osteuropa massiv zuungunsten Russlands ‚verschoben‘ hat. Und das fällt zusammen mit der immer weiter verschärften NATO-offiziellen Einstufung als Feind, die Russland sich mit seinem Beharren auf seinen Rechtsansprüchen als strategische Vormacht in Osteuropa zugezogen hat. 12) Und nicht nur das.

b) Als nächsten Posten in seiner Bilanz führt Russland die Raketenstellungen in Polen und Rumänien auf, die, wie bereits erwähnt, demnächst durch weitere in der Ukraine ergänzt werden könnten:

„Es ist äußerst besorgniserregend, dass Elemente des globalen US-Verteidigungssystems in der Nähe Russlands stationiert werden. Die ‚MK-41‘-Abschussrampen, die sich in Rumänien befinden und in Polen stationiert werden sollen, sind für den Abschuss der ‚Tomahawk‘-Raketen ausgelegt. Wenn diese Infrastruktur weiter ausgebaut wird und die Raketensysteme der USA und der NATO in der Ukraine stationiert werden, beträgt ihre Flugzeit nach Moskau nur 7-10 Minuten, bei Hyperschallsystemen sogar nur fünf Minuten. Dies ist eine große Herausforderung für uns und unsere Sicherheit.“ (Wladimir Putin, 21.1.22)

Damit können sich die USA die Option verschaffen, Großstädte, Kommandozentren, Raketensilos, kriegsentscheidende Infrastruktur aller Art im europäischen Teil Russlands binnen Minuten zu zerstören, dem Feind also militärisch nicht abzuwendende katastrophale Schäden zuzufügen und ihm zugleich die Fähigkeit zu einem wirksamen Gegenschlag zu nehmen; also die Option für den „Enthauptungsschlag“, von dem US-Strategen schon lange träumen. 13)

c) Die russischen ‚Besorgnisse‘ (eine herablassende Sprachregelung, mit der man im Westen die russische Lagebestimmung diplomatisch zurückweist) werden dadurch bekräftigt, dass Amerika seit dem Ende der Sowjetunion Zug um Zug sämtliche Rüstungskontrollverträge, gerade einmal mit Ausnahme von New START, gekündigt hat und Russland damit eine Neuauflage des Reagan’schen Totrüstens serviert. 14)

„Gruschko [Vize-Außenminister] wies auf den völligen Verfall des Rüstungskontrollsystems hin: ‚Es begann damit, dass die Vereinigten Staaten aus dem Vertrag zur Bekämpfung ballistischer Raketen ausstiegen. Dann haben sie die NATO-Länder daran gehindert, das Abkommen über die Anpassung des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) zu ratifizieren, das als Eckpfeiler der europäischen Sicherheit dienen könnte. Dann ließ die US-Regierung den INF-Vertrag (über die Abschaffung von Raketen mittlerer und kürzerer Reichweite) fallen. Und letztes Jahr wurde der Vertrag über den Offenen Himmel ernsthaft ausgehöhlt... In ihrer Militärpolitik haben die USA und ihre Verbündeten versucht, die Überlegenheit in allen Räumen zu erlangen: zu Lande, in der Luft und auf See. Jetzt kommen noch der Weltraum und der Cyberspace hinzu. Sowie alle möglichen Schauplätze von Kampfeinsätzen. Konzeptionell, operativ und technisch wird die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen gesenkt. Wir stellen fest, dass die Szenarien verschiedener Übungen eine nukleare Komponente enthalten, was uns größte Sorgen bereitet.‘“ (TASS, 12.1.22)

d) Des Weiteren musste Russland registrieren, dass alle seine diplomatischen Bemühungen um die Anerkennung russischer Sicherheitsinteressen ins Leere gelaufen sind. Die Angebote im Sinne des ‚gemeinsamen Hauses Europa‘, der Vorschlag zum Aufbau einer ‚europäischen Friedensarchitektur‘ sind ebenso unbeantwortet geblieben wie die Alternative, die Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 vorgelegt hat. 15)

„Im Jahr 2009 legten wir unseren westlichen Kollegen den Entwurf eines Europäischen Sicherheitsvertrags zur Prüfung vor. Wir wurden missverstanden und ziemlich unhöflich behandelt. Man sagte uns, dass dieser Entwurf niemals auf den Tisch kommen würde. Wir verwiesen auf die Dokumente, darunter die Europäische Sicherheitscharta und andere Dokumente, in denen die Notwendigkeit der Einhaltung des Grundsatzes der Unteilbarkeit der Sicherheit hervorgehoben wird. Wir haben deutlich gemacht, dass wir die politischen Verpflichtungen, die wir alle eingegangen sind, in eine rechtsverbindliche Form bringen wollen. Ihre Antwort hat alles gesagt: Rechtsverbindliche Sicherheitsgarantien können nur den Bündnismitgliedern gewährt werden.“ (Außenminister Sergej Lawrow, 14.1.22)

„Vor über zwei Jahren, nachdem die Amerikaner den INF-Vertrag (Intermediate-Range Nuclear Forces) zerstört hatten, schickten wir eine Initiative des russischen Präsidenten Wladimir Putin praktisch an alle OSZE-Länder. Er lud sie ein, sich einem einseitigen Moratorium anzuschließen, das wir für die Stationierung von landgestützten Mittelstreckenraketen und Kurzstreckenraketen verhängten. Voraussetzung dafür war, dass die gleichen Raketen US-amerikanischer Bauart nicht stationiert werden. Wir schlugen ein gemeinsames Moratorium vor. Sobald wir dies ankündigten, nannten uns die Amerikaner und Europäer, die NATO-Mitglieder, hinterhältig. Sie sagten, wir hätten bereits Iskander-Raketen im Kaliningrader Gebiet stationiert und wollten ihnen nun eine solche Gelegenheit vorenthalten. Als der russische Präsident Wladimir Putin vor zwei Jahren diese Initiative vorschlug, schlug er vor, Überprüfungsmaßnahmen zu vereinbaren, die später vom Verteidigungsministerium erläutert wurden. Wir wollten sie einladen, Kaliningrad zu besuchen, die dort stationierten Iskander-Systeme in Augenschein zu nehmen und sich selbst davon zu überzeugen (wie wir es ihnen mehrfach vorgeschlagen hatten), dass sie nicht unter die Beschränkungen des INF-Vertrags fallen. Im Gegenzug wollten wir US-Raketenabwehrbasen in Rumänien und Polen besuchen, um ‚MK-41‘-Abschussgeräte zu besichtigen. Lockheed Martin stellt diese Raketen her und bewirbt sie auf seiner Website mit einer doppelten Zweckbestimmung: für die Raketenabwehr und den Abschuss von offensiven Marschflugkörpern... Die NATO-Vertreter sagten, dass ihnen das nicht passe... Der stets misstrauische NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte erneut, dies sei ein hinterhältiger Vorschlag.“ (Sergej Lawrow, 13.1.22)

e) Im Fall der Ukraine-Diplomatie im Normandie-Format macht sich Russland keine Illusionen mehr über die deutsch-französischen ‚Vermittlungsbemühungen‘:Frankreich und Deutschland agieren nicht als ehrliche Mittler, sondern decken die ukrainische Weigerung, ihre im Minsker Abkommen fixierten Pflichten zu erfüllen, 16) den Versuch, das, was die Ukraine damals aufgrund der militärischen Übermacht Russlands unterschreiben musste, am Verhandlungstisch wieder auszuhebeln – was ukrainische Politiker inzwischen auch offiziell zu Protokoll geben. 17)

„Was unsere westlichen Kollegen tun müssen, anstatt Spielchen zu spielen, ist, Wladimir Selenskyj zur Umsetzung der Resolution 2202 des UN-Sicherheitsrates zu zwingen, mit der die Minsker Vereinbarungen angenommen wurden...

Sie [die Vertreter der Ukraine] haben vorgeschlagen, die Reihenfolge jetzt umzukehren und zu sagen: ‚Gebt uns unsere Grenze zurück, und danach werden wir entscheiden, ob es einen Sonderstatus geben wird oder nicht.‘ Nehmen Sie den ukrainischen Gesetzentwurf über die Grundsätze der Staatspolitik in der Übergangszeit... Dieser Gesetzentwurf verbietet ukrainischen Beamten die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen. Er sieht Lustration [Entfernung von politisch belasteten Mitarbeitern aus dem Staatsdienst] statt Amnestie, eine militärisch-zivile Verwaltung statt eines Sonderstatus und keine mit diesem Teil der Ukraine abgestimmten Wahlen vor. Er sieht lediglich die ‚Wiedererlangung der Kontrolle über die besetzten Gebiete‘ vor.

Obwohl Frankreich und Deutschland versprochen haben, Selenskyj davon abzubringen, diesen Gesetzentwurf voranzutreiben, werden energische Anstrengungen unternommen, ihn in das Gesetzgebungsverfahren einzubringen. Sie haben ihn dem Europarat vorgelegt. Die Venedig-Kommission des Europarats hat gesagt, dass der Entwurf ihrer Meinung nach in Ordnung ist. Sie äußerte sich zu den Rechtstechniken, erwähnte aber nicht, dass dieser Gesetzentwurf in direktem Widerspruch zur einschlägigen Resolution des UN-Sicherheitsrates steht.“ (Sergej Lawrow, 22.12.21)

Auf die russischen Beschwerden reagieren die europäischen Verhandlungspartner mit halb-öffentlichen Erklärungen, nach denen man Selenskyj die Erfüllung der Vertragspflichten im Interesse an der Haltbarkeit seiner Regierung einfach nicht zumuten kann:

„Lawrow beklagte die Äußerungen von Jean-Yves Le Drian und Heiko Maas, dass der russische Entwurf Punkte enthalte, die im Normandie-Format ‚mit Sicherheit nicht akzeptiert werden‘, insbesondere ‚die Organisation eines direkten Dialogs zwischen Kiew, Donezk und Lugansk‘.“ (Russisches Außenministerium veröffentlicht Briefwechsel mit Deutschland und Frankreich zur Ukraine, de.rt.com, 17.11.21) 18)

An anderer Stelle ‚loben‘ höchste europäische Repräsentanten die Politik der Ukraine und bestärken damit den revanchistischen Standpunkt der Selenskyj-Regierung:

„Nur zwei Tage nach dem Telefongespräch, in dem die Staats- und Regierungschefs Frankreichs und Deutschlands ihr uneingeschränktes Engagement für die Minsker Vereinbarungen bekräftigten, fand in Kiew ein Gipfeltreffen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine statt, auf dem eine ausführliche Erklärung verabschiedet wurde, die von der Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen, dem Präsidenten des Europäischen Rates Charles Michel und dem ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskyj unterzeichnet wurde und in der ‚der konstruktive Ansatz der Ukraine im Normandie-Format und in der Trilateralen Kontaktgruppe‘ sowie die Art und Weise, wie sie die Minsker Vereinbarungen umgesetzt hat, gelobt wurden. Über Donezk und Lugansk und die Notwendigkeit eines direkten Dialogs mit ihnen wurde nichts gesagt. Russland wurde als ‚Aggressorland‘ dargestellt und als ‚Konfliktpartei‘ im Donbass bezeichnet. All dies steht im Widerspruch zu dem, was Angela Merkel und Emmanuel Macron versprochen haben.“ (Sergej Lawrow, 22.10.21)

Angesichts dieser Konfrontation veröffentlicht das russische Außenministerium in einem demonstrativen Bruch der diplomatischen Gepflogenheiten den Briefwechsel mit Le Drian und Maas, um der Weltöffentlichkeit den Beweis zu unterbreiten, dass und wie die europäischen Verhandlungsführer ihre diplomatischen Zusicherungen Lügen strafen:

„Ich bin sicher, dass Sie die Notwendigkeit eines solchen unkonventionellen Schrittes verstehen werden, denn es geht darum, der Weltgemeinschaft die Wahrheit darüber zu vermitteln, wer die auf höchster Ebene eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen erfüllt und wie diese erfüllt werden.“ (Russisches Außenministerium veröffentlicht Briefwechsel mit Deutschland und Frankreich zur Ukraine, de.rt.com, 17.11.21)

„Die Franzosen und die Deutschen haben diese Dokumente mitgetragen und sind Vertragsparteien des Normandie-Formats, aber sie beginnen, sich ganz auf die Seite des ukrainischen Regimes zu stellen... Präsident Wladimir Selenskyj traf kürzlich ... mit den Staats- und Regierungschefs Deutschlands und Frankreichs zusammen. Einmal mehr wurden die Maßnahmen Kiews zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen voll unterstützt. Das bedeutet, dass unsere Kollegen entweder ihre Unfähigkeit anerkannt haben, die Umsetzung der von uns gemeinsam festgelegten Bestimmungen zu gewährleisten, oder sie versuchen wissentlich, die Minsker Vereinbarungen zugunsten des Kiewer Regimes zu untergraben.“ (Sergej Lawrow, 22.12.21)

Das ist das Fazit, das der russische Chefdiplomat aus den x Verhandlungsrunden zieht: Die europäischen ‚Partner‘ sind entweder nicht dazu in der Lage, die Ukraine zur Erfüllung ihrer Vertragspflichten zu zwingen, oder nicht willens. Entweder fehlt ihnen die nötige politische Macht oder sie sind Falschspieler; jedenfalls taugen sie nicht als Verhandlungspartner, und Russland verabschiedet sich vom Normandie-Format als einer sinnlosen Veranstaltung.

2. Russland zieht dem Westen eine rote Linie: Keine Aufnahme der Ukraine in die NATO

Die Perspektive, dass die Ukraine nicht nur de facto, sondern auch de jure der NATO einverleibt wird, stellt für Russland eine essentielle strategische Bedrohung dar. Lawrow weist darauf hin, dass die NATO-Staaten die Ukraine zu militärischen Unternehmungen befähigen, sodass diese nach einem Eintritt ins westliche Bündnis dazu in der Lage wäre, Russland unmittelbar in einen Krieg mit der NATO hineinzuziehen:

„Unter den Bedingungen, dass das Kiewer Regime hysterisch nach Wegen sucht, die Aufmerksamkeit von seiner Unfähigkeit abzulenken, die wirtschaftlichen, sozialen Probleme der Bevölkerung zu lösen, den Konflikt im Donezbecken gemäß Minsker Vereinbarungen zu regeln, ermutigt der Westen die Kiewer Behörden auf jede erdenkliche Weise, im Donbass militärische Gewalt anzuwenden. Das ist es, was Washington und andere westliche Hauptstädte sowie die NATO-Führung tun...

Wir dürfen die Wahrscheinlichkeit nicht ausschließen, dass das Kiewer Regime zu einem militärischen Abenteuer greifen wird. Das alles schafft eine direkte Sicherheitsbedrohung für die Russische Föderation.“ (Sergej Lawrow, 30.11.21)

Der russische Präsident redet Klartext darüber, welche weiteren politischen Absichten die große Schutzmacht der Ukraine damit verfolgt, wenn sie die an die Macht gebrachte antirussische Staatsräson bekräftigt und anfeuert, und sie dafür mit den nötigen Mitteln ausrüstet:

„Nehmen wir an, die Ukraine ist Mitglied der NATO. Sie wird mit Waffen vollgestopft, moderne Angriffswaffen werden auf ihrem Territorium stationiert, genau wie in Polen und Rumänien – wer wird das verhindern? Nehmen wir an, sie beginnt mit Operationen auf der Krim, vom Donbass ganz zu schweigen... Stellen Sie sich vor, die Ukraine ist ein NATO-Land und beginnt mit diesen militärischen Operationen. Was sollen wir dann tun? Gegen den NATO-Block kämpfen? ... Ich glaube immer noch, dass die Vereinigten Staaten nicht so sehr um die Sicherheit der Ukraine besorgt sind... Ihr Hauptziel ist es, die Entwicklung Russlands einzudämmen. Das ist der springende Punkt. In diesem Sinne ist die Ukraine lediglich ein Mittel, um dieses Ziel zu erreichen.“ (Wladimir Putin, 1.2.22) 19)

3. Russland stellt dem Westen ein Ultimatum

Die russische Führung identifiziert die Erfolge der NATO im Osten als das, was sie sind: Schritte zur Herstellung einer überlegenen Kriegsfähigkeit. Sie legt diesen Befund in aller diplomatischen Förmlichkeit den USA und der NATO vor, um sie hinsichtlich ihres Kriegswillens zu befragen.

„Es ist unerlässlich, auf ernsthafte und langfristige Garantien zu drängen, die Russlands Sicherheit in diesem Gebiet [Russlands westliche Grenzen] gewährleisten, denn Russland kann nicht ständig darüber nachdenken, was dort morgen passieren könnte.“ (Wladimir Putin, 18.11.21)

Russland besteht hier auf seinem Recht, es beruft sich auf Zusagen, die ihm gemacht worden sind, nämlich auf die Formel der „Unteilbarkeit der Sicherheit“ in den OSZE-Verträgen, darauf, dass die „eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer“ gestärkt werden darf, 20) um seinerseits den Rechtsverstoß aufseiten der NATO-Staaten anzuklagen.

„2010 in Astana und davor 1999 in Istanbul haben alle Präsidenten und Premierminister der OSZE-Länder ein Paket unterzeichnet, das miteinander verknüpfte Prinzipien zur Gewährleistung der Unteilbarkeit der Sicherheit enthält. Der Westen hat nur einen Slogan aus diesem Paket ‚herausgerissen‘: Jedes Land hat das Recht, seine Verbündeten und Militärbündnisse selbst zu wählen. Aber in diesem Paket ist dieses Recht mit einer Bedingung und einer Verpflichtung für jedes Land verbunden, die der Westen unterschrieben hat: die eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer zu stärken... Ich möchte betonen, dass die Präsidenten, einschließlich des US-Präsidenten, diese Verpflichtungen unterschrieben haben, in denen sie versprachen, dass niemand versuchen würde, die eigene Sicherheit auf Kosten eines anderen zu erhöhen. Die Vereinigten Staaten behaupten, dass das Recht, Allianzen zu wählen, unantastbar ist. Aber wir sagen, vorausgesetzt, es verschlechtert nicht die Sicherheitslage für ein anderes Land. Das ist es, was Sie unterschrieben haben, meine lieben Herren.