GegenStandpunkt 1-24 -  - E-Book

GegenStandpunkt 1-24 E-Book

0,0

Beschreibung

Sollen Taurus in die Ukraine? Oder doch nicht wegen des dafür nötigen Einsatzes deutscher Soldaten? Oder doch, und gleich noch europäische Nato-Soldaten dazu? Das sind die Fragen, die europäische Politiker sich mittlerweile stellen. Das Recht dazu haben sie, weil die Hoheit über kriegerisches Töten und Zerstören zu ihren demokratischen Kompetenzen gehört. Den Bedarf an Abwägung haben sie, weil ihr Interesse an der Auslagerung von Opfern und Verwüstungen in ihrem Stellvertreter-Krieg weiter groß ist. Warum wälzen sie inzwischen trotzdem Optionen, direkt als Kriegspartei vor Ort einzusteigen? Das muss an der Bilanz liegen, die sie über das heldenhafte Wüten dort, seinen Nutzen, seine Perspektiven, also ihre Regie darüber ziehen. Soll die Schuldenbremse bleiben, weil sie für deutsche „Sparsamkeit“ und „Haushaltsdisziplin“ steht? Oder doch nicht, weil sie „nötige Investitionen in die Zukunft“ behindert? Solche Fragen stellen sich deutsche Politiker – zwar nicht wirklich solche, denn an diesen Sprechblasen ist alles falsch, dienen sie doch bloß der demokratischen Wirkung auf den Bürger, der sich mit seiner Alltagsvernunft in die Alternativen den Haushalt und die Schulden des Staates einfühlen soll. Tatsächlich dreht sich Haushaltskontroverse um den imperialistischen Aufbruch Deutschlands, zu dem es definitiv keine Alternative mehr geben soll: um den Aufbau einer neuen militärischen Macht und die Bewahrung ökonomischer Macht auf neuen Feldern der Konkurrenz mittels und zwecks überragender deutscher Finanzmacht. Ist Antisemitismus dasselbe wie Israelkritik? Oder doch nicht ganz, und Israelkritik ist bloß dasselbe wie Antisemitismus? Fragt die deutsche Öffentlichkeit anlässlich des Gazakrieges. In jedem Fall – so die verpflichtende Antwort – verbietet sich speziell für ‚uns Deutsche‘ jede Kritik an Israel und seinem Recht zu diesem Krieg. Die Gewaltorgie selber ist bequemerweise vollständig in den Händen der israelischen Kriegs- und ihrer amerikanischen Schutzmacht, die das Geschehen – wie sie auf die eine oder andere Weise demonstrieren – auch aufd Basis ihrer kombinierten atomaren Abschreckungsmacht souverän beherrschen. Soll man die AfD verbieten, weil sie undemokratisch ist? Oder doch nicht, weil ihr das bestätigen würde, dass alle anderen undemokratisch sind? Das fragen sich Politik, Öffentlichkeit und ein Großteil des Volkes angesichts von AfD-Erfolgen und Plänen zur „Remigration“, die sogar die regierende Ausländer-raus-Politik überbieten. Weniger interessiert demokratische Politiker und aufgewühlte Bürger, worin die Systemopposition der AfD besteht. Das würde die einen ja nur dabei stören, eine unliebsame Konkurrenz loszuwerden, und die anderen bei ihrer Empörung über diesen demokratischen Außenseiter, die weder von der herrschenden Politik, noch von deren populistischer Alternative etwas wissen will. Genügend unerfreuliche Anlässe also wieder einmal zur Kritik an den herrschenden Verhältnissen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 219

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis
Editorial Jetzt doch irgendwann: Europäische Soldaten für Kiew?
2 Jahre Ukraine-Krieg: Zwischenbilanz der Macher
1.
2.
3.
a)
b)
EU-Staatschefs beschließen neue OsterweiterungDie Ukraine und Moldau sind ab sofort künftiger Besitzstand der EU
„Eiserne Schwerter“ und „die Gefahr eines regionalen Flächenbrands“Ernstfall für die Freundschaft zwischen der regionalen und der globalen Supermacht
1. Die üblichen und die außerordentlichen Leistungen der USA für Israel
2. Zweck, Grund und Leistung der unbedingten Solidarität Amerikas mit Israel
a)
b)
3. Der Hauptfeind der USA und Israels in der Region: Iran und seine nukleare Autonomie
a)
b)
c)
Zur Reform des Stabilitäts- und WachstumspaktsDie EU justiert ihr Kreditregime über die Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten neu – für die europäische Zeitenwende
1. Zeitenwende à la Europäische Union
a) Imperialismus zivil: ein „Green Deal“ zur Besetzung des Weltmarktes
b) Imperialismus militärisch: Aufwuchs zu autonomer Kriegsfähigkeit
2. Ein rundum erneuerter Pakt für Wachstum, kombiniert mit Stabilität
3. Kreative Regeln für die Freisetzung des Schuldenmachens durch kontrollierte Stabilität
Der verspätete deutsche HaushaltVom aktuellen Imperialismus deutscher Nation – diesmal als Haushaltsfrage
I. Die Eckpunkte des Haushalts: Projekt Zeitenwende
1. Wofür Deutschland jetzt unbedingt mehr Geld braucht
2. Der Anspruch auf mehr weltpolitische Konkurrenzfähigkeit schafft Reformbedarf (Habeck)
3. Die Schuldenbremse als positive Bedingung imperialistischer Handlungsfreiheit (Lindner)
II. Imperialismus deutsch: Zukunftsweisende Symbiose von Gewalt und Geld
1. Der Normalfall marktwirtschaftlicher Staatsverschuldung …
2. … erfordert entschiedene Sondermaßnahmen. Für nationale „Kriegstüchtigkeit“ und kapitalistische „Leistungsfähigkeit“ im Weltmaßstab
a)
b)
c)
Lauterbachs Revolution im Krankenhaus
Reformbedarf im Namen des Patienten
Die widersprüchliche Symbiose von Versorgung und Geschäft im Krankenhauswesen
Das neue System
Aufschlussreiche Zurückweisungen vonseiten der Krankenhäuser
Was Deutschland bewegt
Die AfD im Höhenflug: Wie deutsche Populisten das Volk agitieren
Zur weltweiten Konjunktur des radikalen Patriotismus:Populistischer Antiimperialismus
Die demokratischen Antworten auf den Höhenflug der AfD Highlights des AfD-geschwängerten Zeitgeistes
Die demokratische Lehre aus dem rechten Ruf nach einer starken Führung: eine starke Führung gegen den Rechtsruck
Beobachtung durch den Verfassungsschutz: ein scharfes Schwert demokratischer Kritik – trifft laut AfD die Falschen
Wem gehört das Bundesverfassungsgericht?
Die heiße Frage im Januar: Nützt ein AfD-Verbot – und wenn ja, wem?
Zwei Alternativen zur Alternative: Chance oder Risiko für die Demokratie?
Argumente gegen die AfD: Deutsche Populisten nehmen dem Volk seine Arbeitsplätze weg!
Hunderttausende demonstrieren gegen die AfD. Für Demokratie. Für welche denn eigentlich?
Der Weckruf
„Den Anfängen wehren!“
Die Einheit der Demokraten
„Wir sind die Mehrheit!“
Maßvolles Lob und neue Erwartungen der Staatselite an die Pro-Demonstranten
Zwei neue Gesetze für AusländerAbschiebung verbessert, Staatsangehörigkeit modernisiert
Korrespondenz Nachträge zu „Lage der arbeitenden Klasse in Deutschland“
I.
II.
III.
1.
2.
PS

Jetzt doch irgendwann: Europäische Soldaten für Kiew?

Am ersten Montag des 3. Ukrainekriegsjahres wird die – schon längst bekannte – Begründung des deutschen Bundeskanzlers für seine Absage an die Lieferung von Taurus-Raketen an die Ukraine öffentlich: Deren zweckmäßiger Einsatz wäre ohne Mitwirkung deutscher Soldaten vor Ort nicht zu machen; das käme einer Verwicklung direkter Art in den Ukraine-Krieg gleich; die will er vermeiden. Die menschlichen Opfer und fälligen Verwüstungen sollen weiterhin ausgelagert bleiben. Sofort hagelt es die ebenfalls längst bekannte Kritik: Wieder einmal zögert der Kanzler das Notwendige, das zur Verteidigung der Ukraine und Europas Überfällige in unverantwortlicher Weise hinaus – bis es dann doch, aber mal wieder zu spät, gemacht wird. Vorauseilend stricken die notorischen Friedensfreunde von der FDP, den Grünen und den C-Parteien an einer neuen Dolchstoßlegende; mit der Ukraine und der Weltordnung in der Rolle des Opfers.

Am Dienstag danach wird bekannt, welche Konsequenz der französische Präsident anlässlich einer einschlägigen Ukrainekriegsunterstützerkonferenz von mehr als 20 engagierten Staaten in Paris aus dem für den Westen unbefriedigenden Fortgang des großen antirussischen Freiheitskampfes gezogen wissen will: Der Einsatz eigener, von europäischen Ukraine-Freunden mobilisierter Bodentruppen darf nicht ausgeschlossen werden. Prompt sind führende Repräsentanten der regierenden Koalition und der C-Opposition strikt dagegen (nicht so strikt die notorische Mutter Courage von der FDP). So weit reicht der bundesdeutsche Konsens, wenigstens offiziell, also noch: Waffen, mit denen ukrainische Soldaten russische Kräfte auch weit hinter der Front effektiv ausschalten können – jede Menge, jederzeit, unbedingt. Aber das mörderische Kriegselend dürfen weiterhin die Freiheitshelden ukrainischer Nationalität übernehmen. Also doch nicht, so wie von Macron angemahnt, alles dafür, dass Russland den Krieg verliert? Oder gilt dieses ‚Nein‘ auch wieder nur ‚bis auf Weiteres‘, bis die NATO-Arsenale wieder aufgefüllt sind und die Panzerproduktion ins Rollen gekommen ist?

Mal anders gefragt, an die Adresse der aufgeschreckten christlichen und regierenden Nein-Sager: Was haben die sich denn dabei gedacht, wenn sie über zwei Jahre Krieg lang nicht müde geworden sind, einen Sieg über Russland zu ihrer Sache – zum Herzensanliegen Deutschlands und folglich ungefragt zu unser aller Pflicht – zu erklären? Wenn sie über das enorme Maß der praktizierten indirekten Kriegführung des vereinigten Westens hinaus immer noch mehr Waffen, eine quantitativ und qualitativ schrankenlose Eskalation des Gemetzels herbei-gefordert haben? Wenn sie jede Erinnerung an die abschreckende Wucht der Atomwaffen Russlands als völlig übertriebene, weil grundlose Feigheit vor dem Feind abgewiesen haben?

Na gut, die Antwort will man lieber gar nicht wissen. Denn was auch immer sie sich gedacht haben und jetzt denken: Partei ergriffen haben sie erstens für Krieg. Zweitens für Krieg als Mittel, Russland fertigzumachen, um eine europäische Staatenordnung gemäß ihrer weltpolitischen Räson durchzusetzen. Drittens für einen Krieg mit und auf Kosten der Ukraine als Werkzeug. Und zwar logisch in dieser Reihenfolge:

– Unvereinbarkeitsbeschlüsse gegen andere Gewaltmonopolisten zu fassen und für deren Durchsetzung Krieg zu machen, gehört zum Berufsbild von Leuten, die erfolgreich beschlossen haben, Politiker zu werden.

– Krieg gegen Russland, bis es von seinem ausgreifenden Sicherheitsbedarf an seiner Südwestgrenze Abstand nimmt und sich als Weltmacht geschlagen gibt, gehört zur Staatsräson der als NATO organisierten Mächte, noch einmal speziell der auf europäische Führungsmacht erpichten Nationen Deutschland und Frankreich, weil Russland mit seiner Kriegsmacht die Vollendung der westlichen Vorherrschaft in der Welt und in Europa speziell blockiert und nachdem dieser Staat seinen Einspruch gegen die Vormacht des Westens kriegerisch geltend macht.

– Kriegführung beschränkt auf die Ukraine und das russische Hinterland als Schauplatz folgt dem weltpolitischen Zweck Deutschlands und seiner NATO-Partner, der russischen Militärmacht ihre Existenz zu bestreiten, ohne die eigene Existenz als Zentralen des Weltgeschehens aufs Spiel zu setzen.

Mit seinem Vorstoß zum Einsatz europäischer Bodentruppen in der Ukraine macht Macron die Entscheidungssituation kenntlich, die in dem Kriegszweck des Westens enthalten ist und auf die der Krieg zusteuert: Ist der Sieg über Russland jetzt die viel und laut beschworene weltpolitische Existenzfrage der NATO-Mächte – inklusive oder auch ohne USA – ? Oder macht der Westen eine russische Niederlage bis zuletzt zur Existenzfrage allein für Selenskyjs Ukraine?

Die Freiheit, diese Frage gemäß den strategischen Bedürfnissen des Westens zu beantworten, bedarf einer Voraussetzung, die in Deutschland erst noch her- oder jedenfalls fertiggestellt werden muss: Das liebe friedensverwöhnte Volk muss erstens militärisch aufgerüstet und zweitens darauf vorbereitet und eingestimmt werden, dass es sich das Projekt Kriegstüchtigkeit praktisch gefallen lässt und leitkulturell Gefallen daran findet. Bis dahin gibt es noch einiges zu tun. Aber so wie die Rüstungsindustrie in Sachen Hardware, so arbeiten Politik und Öffentlichkeit in Sachen Wille und Bewusstsein an einem Erfolg. Dabei gibt es im Bereich der moralischen Aufrüstung gegen Putins Reich des Bösen nichts wirklich Neues – allenfalls die frohe Aussicht, am Boom der Rüstungsaktien zu verdienen, wenn man genug Geld und den richtigen Vermögensberater hat. Ansonsten gibt es die seit zwei Jahren gewohnte Hetze in immer neuen Auflagen.

Ein produktiver Beitrag zu nationaler Einsichtigkeit in der Kriegsfrage ist aus anderer Richtung zu verzeichnen: Wie die Gewalt des Guten mit einer blutigen Herausforderung durch das Böse fertigzuwerden hat, fertigwerden darf und muss, dafür bietet der Krieg Israels gegen die Hamas in Gaza ein aufbauendes Beispiel. Jedenfalls gemäß der hierzulande allein zulässigen Lesart: Ein terroristischer Überfall berechtigt, nein: verpflichtet die überfallene Staatsgewalt zur Anwendung von allem, was sie an Mitteln hat, und das ganz nach eigenem Ermessen. Opfer, auch wenn sie in die Zehntausende gehen, sind kein Einwand gegen den guten Zweck. Diese Einsicht ist im Sonderfall Israel für Deutschland zwar ein moralischer Sonderfall. Aber so besonders ist er dann doch nicht, dass er sich nicht auf den näher liegenden Fall Ukraine übertragen ließe: Auch dafür gibt er eine brauchbare Lehre her für den schlüssigen Zusammenhang zwischen Staatsräson, Militärgewalt und gutem staatsbürgerlichem Gewissen. Man darf sich nur nicht durcheinanderbringen lassen, für welche Opfer das Stichwort Genozid noch zu schwach und für welche es absolut verboten ist.

*

Damit man sich in der weltweiten und der deutschen Zeitenwende wenigstens gedanklich zurechtfindet, bietet dieses Heft Artikel über

• die Bilanzen, die die Veranstalter und Intendanten des ukrainischen Kriegsszenarios aufstellen, nachdem sie zwei Jahre lang heldenhaft gewütet haben, und die Perspektiven, die sich für sie daraus ergeben. Besonders einleuchtend hier der Einfall der EU, den schon lange versprochenen Beitrag zur Verwüstung einer künftigen freien und sicheren Ukraine durch einige hunderttausend garantiert defensive Granaten mit dem festen Versprechen der Aufnahme des Landes und seines moldawischen Nachbarn in die Union zu verknüpfen.

• den anderen großen aktuellen Kriegsschauplatz, zu dem das antinationalsozialistische Deutschland vor allem eine vollständig und hermetisch selbstbezügliche Debatte über die Eindeutigkeit der Identität von Israel-Kritik und Antisemitismus beisteuert. Das Geschehen selbst ist bequemerweise fest und vollständig in den Händen der israelischen Kriegsmacht und ihrer amerikanischen Schutzmacht, die einander als imperialistisch interessierter Schöpfer und autonomes Geschöpf verbunden sind. Erklärt wird diese Singularität im Kosmos amerikanischer Weltherrschaft.

• das imperialistisch sachgerechte Verhältnis zwischen hoheitlicher Kreditschöpfung, ökonomischer Konkurrenz und militärischer Aufrüstung, das auf europäischer Ebene mit der Reform des Euro-Stabilitäts- und Wachstumspakts ins Werk gesetzt wird. Auf nationaler Ebene bestimmt dieser Zusammenhang den deutschen Staatshaushalt; die Logik dieser fortgeschrittenen Einheit von Geld und Gewalt ist sehr gut an der Spannweite zwischen Sondervermögen, Wirtschaftsförderungsgesetz und Schuldenbremse zu studieren.

• – schließlich auch noch – die Machart der patriotischen Systemopposition, mit der die AfD sich beliebt macht, den Grund ihres Erfolgs, den sie mit ausländischen Ausländerfeinden teilt, sowie die Fragwürdigkeit der massenhaft demonstrierten Absage, die sie sich hierzulande eingefangen hat.

© 2024 GegenStandpunkt Verlag

2 Jahre Ukraine-Krieg: Zwischenbilanz der Macher

1.

Russen töten und sterben für den Status ihres Heimatlandes als weltpolitisch ernst zu nehmende militärische Weltmacht; einen Status, den das große Militärbündnis der USA mit Europa nicht duldet, gegen den die NATO gerichtet ist und ausgebaut wird. Sie sind die menschliche Manövriermasse in einer blutigen Konkurrenz der nationalen Ressourcen, die ihre Staatsmacht auf dem Schauplatz Ukraine austrägt: gegen die ukrainische Armee als unmittelbaren Feind; dabei für den allerhöchsten strategischen Zweck, dem Monopol des Westens als weltweit zu wirksamer Abschreckung fähige Gewalt eine letztlich ebenbürtige Gegen-Abschreckung als wirksamen Einspruch entgegenzusetzen. Russlands weltmachtpolitischer Unvereinbarkeitsbeschluss gegen die amerikanisch-europäische Kriegsallianz geht in seiner Umsetzung in Form einer auf die Ukraine beschränkten „militärischen Spezialoperation“ – so heißt der Krieg in Moskau noch immer – nicht auf, fällt damit aber praktisch zusammen: Dort ringt der Staat um ein Kriegsergebnis, das der Regierung als hinreichende westliche Niederlage und russischer Erfolg erscheint.

Der ursprüngliche Plan, mit einem Überfall für eine Entmachtung der als NATO-Vasall agierenden Regierung in Kiew zu sorgen, ist vom Westen vereitelt und auch die nächste Phase des Krieges, die Eroberung der ostukrainischen Gebiete, ist weitestgehend gestoppt worden; mit NATO-Mitteln hat die ukrainische Armee den russischen Feind in einen ruinösen Abnutzungskrieg verwickelt; zudem muss Russland mit einer massiven ökonomischen Schädigung durch den immer weitergehenden Ausschluss vom westlich beherrschten Weltmarkt fertigwerden. Gleichwohl: Anfang 2024 zieht Russland über den Stand dieses doppelten KampfsderRessourcen, für den es sein Volk an der Front und in der Heimat in Haftung nimmt, eine dreifache positive Bilanz.

Die betrifft erstens die ökonomische und menschliche Basis der Staatsmacht. Die nationale Wirtschaft ist unter den Kosten des Krieges nicht nur nicht zusammengebrochen, sondern erfolgreich auf Kriegswirtschaft umgestellt. Der hochgefahrene militärisch-industrielle Komplex, 1) finanziert durch ca. ein Drittel des gesamten Staatshaushalts (mehr als 6 % des BIP), produziert und ersetzt die benötigten, massenhaft verschlissenen Kriegsgeräte. Die restliche Wirtschaft ist dabei, sich aus der Abhängigkeit vom Westen, die der zur Schädigung Russlands einsetzt, zu befreien. Der Energie- und Rohstoffsektor kann eine Steigerung bei den Exporteinnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft verbuchen. Damit sorgt der Staat trotz aller Sanktionen im Zuge des westlichen Wirtschaftskriegs für ein Wirtschaftswachstum insgesamt, für das sich Ex-Präsident Medwedjew sarkastisch-hämisch bei der EU bedankt. Auch in Bezug auf die Ressource Mensch, die so großzügig auf dem Schlachtfeld verbraucht wird, sieht sich Russland in der Lage, den Krieg besser auszuhalten als sein Gegner: Eine weitere Mobilmachung hält der russische Präsident trotz hoher Todeszahlen an der Front in der aktuellen Phase nicht für geboten, weil das Militär genug Soldaten rekrutieren kann – auch im Ausland; für eigene Bevölkerungsteile wie für etliche fremde Völker ist ein russischer Sold durchaus attraktiv.

Seine derzeitige Übermacht an Ressourcen nutzt Russland, umauf dem Schlachtfeld den Stellungskrieg zu überwinden und in die Offensive zu gehen. Aus Sicht Putins hat Russland nämlich zweitensden Kriegsverlauf nach der Abwehr der ukrainischen, mit modernsten Panzern ausgestatteten Offensive endlich unter Kontrolle gebracht; und das eröffnet ihm die Freiheit, öffentlich Überlegungen anzustellen, wie der Erfolg einer nächsten Kriegsetappe auszusehen hätte. Da kann er sich z.B. große Teile der Ukraine als militärische Pufferzone vorstellen:

„Und diese Linie muss derart sein und in einer solchen Entfernung zu unseren Territorien verlaufen, dass sie die Sicherheit gewährleistet, ich denke da an weitreichende Waffen, vor allem aus ausländischer Produktion.“

Auf Basis dieser Erfolge ist für Putin drittens klar: Russland kann der NATO aus einer PositionderStärke gegenübertreten. Die Lage auf dem Schlachtfeld macht er zum Hebel für eine Kriegsdiplomatie mit dem Westen: Den will er zu der Einsicht bringen, dass Russlands Militärmacht nicht zu zerstören, der russische Anspruch auf Weltmachtgeltung also unbedingt zu berücksichtigen ist:

„Bislang war das Geschrei groß, Russland auf dem Schlachtfeld eine strategische Niederlage beizubringen. Jetzt scheinen sie zu erkennen, dass dies schwer zu erreichen ist, wenn überhaupt möglich. Meiner Meinung nach ist es per Definition unmöglich, es wird niemals geschehen. Ich habe den Eindruck, dass nun auch die Machthaber im Westen zu dieser Erkenntnis gelangt sind. Wenn das so ist, wenn die Erkenntnis eingesetzt hat, dann müssen sie überlegen, was sie als Nächstes tun. Wir sind bereit für diesen Dialog.“ (Putin, 9.2.24)

Dass Putin damit bisher nur auf Absagen seitens der USA und der europäischen Führungsnationen stößt, ist für ihn umso mehr der Stachel, auf dem Schlachtfeld weitere Fakten zu schaffen. Die verheerenden Opfer auf Seiten des eigenen Volkes, deren Ende nicht absehbar ist, fangen endlich an, sich zu lohnen – so die zynische Sicht eines kriegführenden Staatenlenkers.

2.

Ukrainer sterben und töten für eine mehrfache Mission. Zuerst und vor allem für ihre Heimat. Die fällt nicht nur räumlich damit zusammen, sondern ist dadurch definiert, dass der zuständige Machthaber das gesamte Gelände der ehemaligen Sowjetrepublik wieder unter Kiews Herrschaft bringen will, um damit in respektabler Weise Staat zu machen.

Mit diesem Vorhaben steht es nach 2 Kriegsjahren allerdings nicht gut. Aus der schon vom Sommer auf den Herbst ’23 verschobenen Offensive, die einen Durchbruch durch die russische Frontlinie bringen sollte, ist nichts geworden. Die eigene Armee ist inzwischen mehr in der Defensive; und selbst für die fehlt es an Munition und an frischen Kräften. Und nicht nur das: Die militärischen Probleme sorgen für einen zunehmend zersetzenden Streit zwischen politischer und militärischer Führung um Schuld und Verantwortung; einen Streit, in dem die Seiten sich wechselseitig vorwerfen, mit den knappen Mitteln verkehrt umzugehen und so der gemeinsamen Sache zu schaden. Dieser Streit endet schließlich fürs Erste mit dem Austausch der Militärführung. Der neuen stehen allerdings auch keine weiteren Optionen zur Verfügung: 2) Der Antrag, 500 000 weitere Soldaten zu rekrutieren, stößt nicht nur auf die Schwierigkeit, dass der Staat weder die nötige Ausrüstung hat noch die Mittel, diese zu beschaffen. 3) Die Einberufung selber ist ein Problem: Es fehlt an Personal; von ausgebildeten Soldaten ganz zu schweigen. Ein Gesetzesvorhaben, das auf eine beträchtliche Ausweitung der Wehrpflicht zielt, kommt erst gar nicht zustande. Ein großer Teil der Dienstpflichtigen tut alles, um der Einberufung zu entgehen. Das immerhin mit so viel Erfolg, dass der Staatschef schon vor Monaten die Leiter der zuständigen Behörden pauschal entlassen hat. Schuld daran ist nach amtlicher und allgemeiner Diagnose das „Erzübel“ der Korruption. Und das ist auch deswegen aufschlussreich, weil an demselben „Missstand“ – und nicht nur an den russischen Angriffen u.a. auf die Energie-Infrastruktur des Landes – der Aufbau einer halbwegs funktionsfähigen Ökonomie scheitert, mit der der Staat seine Gesellschaft bewirtschaften, Schuldenbedienung, Lohnauszahlung, Renten sicherstellen, geschweige denn die fortlaufende Unterhaltung der Armee leisten könnte. Es kommt nicht nur zu wenig Geld in den Haushalt: Die Staatsgewalt bringt den zuverlässigen Zugriff auf Land und Leute, die ordentliche Verfügung über menschliche und sachliche Ressourcen, die wirksame Bürokratie nicht zustande, die ihrem Anspruch auf Souveränität die nötige Grundlage verschaffen würde.

Nach 2 Jahren Krieg ist der Status der Ukraine – nach wie vor – nahe an dem eines „failing state“: Der Staat kämpft, mitten im Krieg, um die Reichweite seiner Macht, im Innern um sein funktionstüchtiges flächendeckendes Gewaltmonopol.

Für die Regierung in Kiew folgt aus der unübersehbaren, auch gar nicht übersehenen Zerrüttung ihrer Herrschaft als Erstes, siehe oben, die Schuldfrage. Gestellt und beantwortet wird sie, wie es sich in der Politik gehört, mit einem Machtkampf. Den entscheidet der Präsident fürs Erste und bis auf Weiteres für sich und damit für den unbedingten Willen zum Sieg, als dessen Inkarnation er nicht nur zu Hause, sondern bei jeder Gelegenheit in jedem befreundeten Ausland auftritt. Das tut er dort, um Unterstützung durch Geld und Waffen für sein Land einzuwerben. Damit leistet er ein doppeltes Eingeständnis. Nämlich erstens, dass sein Land zu dem Krieg, dem er es vollständig unterwirft, für den und von dem allein es überhaupt noch lebt, von sich aus gar nicht fähig ist. Dass es ihn führt, ist eine nationale Auftragsarbeit. Für welchen externen Zweck die Ukrainer aufgerieben werden, wenn sie für ihr heiliges Vaterland töten, sterben und leiden, bringt ihr Präsident bei seinen Auslandsbesuchen – und den Besuchen des wohlgesonnenen Auslands in Kiew – mit dem stereotypen Appell an den strategischen Eigennutz der freien Welt im Allgemeinen, den Sicherheitsbedarf der Europäer im Besonderen in Erinnerung. Das tut er mit zunehmender Dringlichkeit; und darin liegt das zweite Eingeständnis: Sein Land hält diesen Krieg immer weniger aus.

Diesem Befund setzt der Präsident seinen unerschütterlichen Siegeswillen entgegen. Zum einen, damit sein Volk ihn teilt und – wieder – vermehrt zu den Waffen strömt, statt sich vom Verheizt-Werden freizukaufen. Zum anderen, damit seine Sponsoren an dem Standpunkt festhalten – und zwar ehrlich und praktisch und nicht nur ideell –, dass ein ukrainischer Kriegserfolg für ihre weltpolitische Sache unentbehrlich ist, und damit sie ihr williges Werkzeug für den gewünschten Erfolg tauglich machen, weil der Präsident ihnen Erfolgstüchtigkeit verspricht, auch wenn Erfolge momentan ausbleiben. Für beides hat Selenskyj einen guten Grund, der wieder zu dem ersten hohen Zweck schrankenloser ukrainischer Opferbereitschaft zurückführt: Ein Gewaltapparat unter seinem Kommando, der sich – wenn auch in fremdem Auftrag und Interesse – gegen das russische Militär durchsetzt, wäre zumindest der Auftakt zu einem wirklichen Gewaltmonopol über alles, was von der Ukraine dann noch übrig ist, und insofern womöglich der Gründungsakt für einen Staat, der sich als Souverän sehen lassen kann. Dann wäre eine Generation abkommandierter Bürger wirklich für ein ukrainisches Vaterland draufgegangen.

3.

Die westliche Kriegsallianz, Russlands eigentlicher Gegner, lässt Ukrainer sterben und mit viel freiheitlich-demokratischem Kriegsgerät Russen töten. Mit ihrem Engagement – ohne das es, wie jeder weiß, den Krieg gar nicht gäbe – nimmt sie den russischen Einspruch gegen ihre Politik der fortschreitenden Dezimierung russischer Weltmacht ernst, nämlich als Angriff auf ihr Weltordnungs- und strategisches Gewaltmonopol. Sie beantwortet Russlands gewaltsame Selbstbehauptung dort und auf dem Niveau, auf dem Russland sie sucht: im Kampf um die Ukraine, den Moskau als Entscheidungsfall für den eigentlichen großen Konflikt definiert und durchficht. USA und NATO nehmen das als historische Gelegenheit, gewaltsam gegen Russlands Ausnahmestellung in der Staatenwelt, seinen Status als Gegenmacht gegen das Abschreckungsregime der westlichen Weltmacht vorzugehen, ohne die strategische Substanz dieser Ausnahmestellung, die auf Atomwaffen gegründete Gegen-Abschreckung, direkt anzugreifen, also in all ihrer Bedrohlichkeit ins Spiel zu bringen. Dass auf die Art Russlands Fähigkeit zur Selbstbehauptung als Weltmacht nicht definitiv zu eliminieren ist, nimmt der Westen berechnend in Kauf. Dank schrankenloser ukrainischer Opferbereitschaft führt er, risikobewusst und ohne eigene Menschenopfer, einen verheißungsvollen Angriff auf Russlands konventionelle Militärmacht inklusive ihrer ökonomischen und menschlichen Ressourcen; in der erklärten Absicht und tatsächlich mit der Option, die feindliche Macht zu zerstören. Das hat man sich bisher viel Geld kosten lassen. Dabei kommen die beiden NATO-Pfeiler zu Beginn des dritten Kriegsjahres allerdings zu keiner gemeinsamen Bilanz mehr.

a)

In den USA herrscht mittlerweile ein politischer Streit um die Freigabe von 61 Milliarden Dollar an Unterstützungsleistungen für die Ukraine. Dem Beharren der Biden-Administration auf der absoluten Notwendigkeit dieses Hilfspakets nicht nur für die Ukraine, sondern für die Unanfechtbarkeit der amerikanischen Kontrolle über die gesamte Weltordnung, stellen nicht nur einige Republikaner, sondern auch und gerade ihr Chef Trump den Befund gegenüber, dass weiteres amerikanisches Geld für diesen Krieg weder nötig noch nützlich ist. Amerika hat sich für eine größere, dringlichere Feindschaft jenseits des Pazifik in Stellung zu bringen – gegen den einzigen Feind, der gefährden kann, was laut Trump und Co das einzige globale Anliegen der Nation, abgesehen von einem effektiven Schutzwall gegen globales Elend, zu sein hat: ihre Suprematie. Wenn Amerika die Ukraine und die Ukrainer für das Verschleißen der russischen Macht verschleißt, dann denkt es eben nicht genug an sich; es wird benutzt, statt andere zu benutzen. Damit wäre der noch grundsätzlichere Zweifel ausgedrückt, den diese Fraktion gegen den Nutzen des ganzen NATO-Bündnisses hegt, was im Bild von säumigen Schuldnern zweckgemäß formuliert wird.

Die Unentschiedenheit dieses Streits konkurrierender imperialistischer Selbstbilder bedeutet vorerst den Stopp weiterer Waffenlieferungen an die Ukraine und macht sich auf dem Schlachtfeld schon geltend – dort, wo die Biden-Regierung ohnehin schon die strategische Bilanz gezogen hat, dass es in der Ukraine so wie bisher nicht weitergehen kann: Der Krieg braucht ein neues militärisches Ziel; die Amerikaner erzwingen die Beendigung der ukrainischen Offensivbemühungen und eine Umstellung auf Defensive auf der ganzen Frontlinie. 4) Die finanzielle Unterstützung wird nicht mehr auf die Aufrüstung einer neuen Offensive ausgerichtet, sondern soll als Erstes insgesamt reduziert werden. Zweitens soll in der Ukraine mit amerikanischen Geldern eine ukrainische Industrie inklusive einer militärisch-industriellen Basis aufgebaut werden, die diese in die Lage versetzt, die für den Abnutzungskrieg mit Russland benötigten Waffen und Munition selbst herzustellen und insgesamt eine Ökonomie am Laufen zu halten, die ihr als Quelle für die Finanzierung des Krieges dienen kann. Das ukrainische Kriegsziel, die Rückeroberung der besetzten Gebiete, ist damit bis auf Weiteres vom Tisch: 5)

„Aber was die umfassendere Frage betrifft: Nein, es hat keine Änderung der Strategie stattgefunden... Wir haben immer deutlich gemacht, dass wir wollen, dass die Ukraine ein unabhängiges Land ist, und das bedeutet, dass sie auf eigenen Beinen stehen kann. Wir werden die Ukraine weiterhin unterstützen. Das ist die Politik der Vereinigten Staaten... So lange es dauert. Das bedeutet nicht, dass wir sie weiterhin mit der gleichen militärischen Finanzierung unterstützen werden wie in den Jahren 2022 und 2023. Wir glauben nicht, dass das notwendig sein sollte, denn das Ziel besteht letztendlich darin, die Ukraine umzustellen, dass sie auf eigenen Füßen steht, und der Ukraine dabei zu helfen, eine eigene Industriebasis und eine eigene militärisch-industrielle Basis aufzubauen, damit sie selbst Waffen finanzieren, bauen und erwerben kann. Aber wir sind noch nicht so weit, und deshalb ist es so wichtig, dass der Kongress das Gesetz zur zusätzlichen Finanzierung verabschiedet, denn wir sind noch nicht an dem Punkt angelangt, an dem die Ukraine sich allein aus eigener Kraft verteidigen kann. Und deshalb ist es für den Kongress weiterhin wichtig, die Ukraine zu unterstützen, und für unsere europäischen Verbündeten und andere auf der ganzen Welt ist es weiterhin wichtig, die Ukraine zu unterstützen.“ (Miller, Sprecher des US-Außenministeriums, 4.1.24)

Dafür sind die 61 Milliarden Dollar, die die Biden-Administration einplant, dann gut angelegt. So versuchen die USA, das Verhältnis von nötigem eigenem Aufwand für die Unterstützung der Ukraine und dem militärisch-strategischen Ertrag zu ökonomisieren, und nehmen sich damit die Freiheit, die eigenen Ressourcen ganz frei den jeweils für prioritär erachteten Weltordnungsfragen zu widmen. Die um ein Fünftel geschrumpfte Ukraine bekommt den widersprüchlichen Auftrag, sich in ein eigenständiges, selbstverantwortlichesKriegsfeld der NATO zuverwandeln, die diesen Krieg nicht selbst führt und sich zu nichts verpflichtet. Der ganze Existenzzweck der Ukraine hat in seiner Funktion zu bestehen, Russland in einen dauerhaft schädigenden Abnutzungskrieg zuverwickeln. An dieser Rolle der Ukraine gibt es in Washington durchaus Interesse.

b)

Europa registriert zu Beginn des dritten Kriegsjahres eine gestiegene und zunehmende Gefährdung seines fortbestehenden Kriegsziels, dem viel zu mächtigen feindlichen Nachbarn Russland in der Ukraine eine nachhaltige Niederlage beizubringen und seine militärische Macht – jedenfalls unterhalb seiner strategischen Atomwaffen – auf ein beherrschbares Maß zu reduzieren.

Die Gefahr geht auf der einen Seite von sorgenvoll diagnostizierten Schwächen der ukrainischen Armee aus. Gefasst wird sie in Form der – nicht neuen, aber starkgemachten – Befürchtung, ein russischer Erfolg würde Putin zu weiteren, weitergehenden Über- und Angriffen auf ehemalige Besitzstände des einstigen „Sowjetimperiums“, womöglich sogar auf die baltischen EU- und NATO-Mitglieder ermutigen; was dem westlichen Bündnis noch viel größere Anstrengungen abverlangen würde als ein Sieg über Russland an der Ukraine-Front. Diese antirussische Neuauflage der alten antikommunistischen Dominotheorie, mit der der Westen sich seinerzeit zur Unterdrückung jedes linken Umsturzes selbstverpflichtet hat, weil sonst ein Verbrechen gegen die Freiheit nach dem anderen folgen würde, ist offenkundig weniger eine Bilanz als ein Aktionsprogramm. Aber in der Logik einer „regelbasierten“ westlichen Weltherrschaft fällt beides sowieso zusammen: Je anspruchsvoller, je kriegerischer das Vorhaben, desto mehr folgt es unabweisbar aus einer unverschuldeten Notlage.

Eine echte, gar nicht erst zukünftige Gefahr stellt für Europa auf der anderen Seite die offene Frage der amerikanischen Führerschaft im laufenden antirussischen Krieg für die Freiheit dar. Die ist zwar noch längst nicht obsolet, der gemeinsame Kreuzzug gegen Putins Reich des Bösen keineswegs abgesagt; nicht einmal unbedingt im Fall einer Präsidentschaft Trumps, wenn das nächste Kriegsjahr beginnt. Ein Schaden ist aber jetzt schon da: Nach zwei Jahren eines gemeinsamen Ukrainekriegs-Sponsoring entfällt erst einmal die übergroße, bislang entscheidende Finanz- und Waffenhilfe der USA. Und schon die Aussicht auf die Möglichkeit einer europakritischen, NATO-widrigen Trump-Politik nötigt die europäischen Verbündeten in Rechnung zu stellen, dass die strategische Geschäftsgrundlage ihres tapferen antirussischen Engagements zweifelhaft werden könnte: Amerikas Politik der atomaren Abschreckung, die ihnen überhaupt die gesicherte Freiheit für ihre aggressive indirekte Kriegführung gegen Russland verschafft. 6)