GegenStandpunkt 4-22 -  - E-Book

GegenStandpunkt 4-22 E-Book

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Beschreibung

Deutschland will den Krieg – Oder wie soll man das sonst verstehen, wenn täglich von Mitgliedern der regierenden Koalition der Krieg in der Ukraine zu unserer, also Deutschlands Sache erklärt wird? Wenn zu jeder Gelegenheit die Entsendung von mehr und schwereren Waffen aus Deutschland in die Ukraine gefordert wird und das auch in steigendem Umfang stattfindet? Wenn es regierungsamtliche Linie ist, die Ukraine in ihrer Kriegsführung dauerhaft zu unterstützen, solange sie das braucht? Bleibt gleichwohl die Frage: Warum? Wozu? Welchen nationalen Zweck, welche Staatsräson verfolgt Deutschland mit dem Krieg, den es will? 10 Monate Krieg in der Ukraine: Ein kurzer Rückblick auf gleichgebliebene und geänderte Kriegsziele Nochmal zurück auf Los: Russland führt eine „militärische Spezialoperation“ mit Ziel Kiew und im Osten der Ukraine durch mit dem erklärten Ziel, die dem Westen – der EU und der NATO – willfährige Regierung zu entmachten und durch eine russlandfreundliche zu ersetzen; die Okkupation von Gebieten, die an die Moskau treuen Volksrepubliken im Osten des Landes angrenzen, soll die gegen permanente Über- und Angriffe ukrainischer Kräfte schützen und die Annexion der Krim militärisch absichern. Als sein sehr viel weiter gestecktes strategisches Ziel deklariert Russland zugleich die Sicherung seines eigenen Bestandes gegen das Vorrücken des westlichen Kriegsbündnisses an seine Westgrenze; die Vereinnahmung des Nachbarn am Schwarzen Meer durch NATO und EU als antirussischer Vorposten, womöglich auch für die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen, wird als fundamentale Bedrohung der eigenen strategischen Abwehrfähigkeit eingeschätzt – eine Bedrohung, die zurückgewiesen werden muss. Die USA bewältigen Inflation und Rezessionsgefahr und setzen damit Vorgaben für den Rest der Welt In den USA steigen schon seit längerem auf breiter Front die Preise. Der Wertverfall des nationalen Zahlungsmittels beschädigt dessen verlässliche Dienste für Wirtschaft und Gesellschaft: Er greift die Kaufkraft von Löhnen und Gehältern an, mit denen sich Durchschnittsamerikaner ihren Lebensunterhalt finanzieren, und droht damit den Lebensstandard infrage zu stellen, auf den der hard-working American anerkanntermaßen ein Recht hat; und er unterminiert die Verlässlichkeit, mit der das Geld die Leistung erbringt, als Mittel der Kapitalvermehrung für Unternehmen und Finanzinstitute zu dienen. Beides will die amerikanische Staatsmacht nicht einfach gelten lassen. Die EU schlägt sich mit den Folgen ihres Wirtschaftskriegs gegen Russland herum Im September 2022 sieht sich die EZB als Hüterin des Euro genötigt, die amerikanische Zinswende nachzuvollziehen. Die Konkurrenz der Kapitalisten §23 Der Staat als Finanzmacht – §24 Die ideologische Bewältigung der Krise des Kapitals „Die Konkurrenz ist überhaupt die Weise, worin das Kapital seine Produktionsweise durchsetzt.“ (Karl Marx) Im Anschluss an die Ableitung des Kapitals, des bürgerlichen Staates, des modernen Imperialismus sowie der Errungenschaften des Finanzgewerbes und des Weltmarkts geht es darum, systematisch darzulegen, welche Notwendigkeiten die Akteure einer Welt ins Werk setzen, in der „Konkurrenz herrscht“, und gemäß welcher eigenen Logik sie das tun. Die Ableitung der die Welt beherrschenden Produktionsweise aus dem Beruf eigennütziger kapitalistischer Bereicherung ist unterteilt in 5 Kapitel à 6 Paragraphen.

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Inhalt
Deutschland will den KriegDeutschland will den Krieg – warum eigentlich?
10 Monate Krieg in der UkraineEin kurzer Rückblick auf gleichgebliebene und geänderte Kriegsziele
Anschlag auf Nord StreamEin „verdeckter“ Kriegsakt und ein vorentschiedener Indizienprozess
Die öffentliche Bearbeitung
Das Opfer der Sabotageaktion muss der Täter gewesen sein, logisch!
Fortsetzung des Wirtschaftskriegs mit etwas anderen Mitteln
Die militärische Okkupation des Ostseeraums als NATO-Meer
Anschlag auf die Brücke von Kertsch
Die EU streitet über Visa für russische Deserteure und andere TouristenWer, also wie einreiseberechtigt ist der Russe?
Die deutsche Öffentlichkeit zur Gegenoffensive unserer Ukrainer:Erfolg gibt Recht – und fordert mehr davon
Mehr Zinsen, mehr SchuldenDie USA bewältigen Inflation und Rezessionsgefahr und setzen damit Vorgaben für den Rest der Welt
Die Inflationierung des nationalen Zahlungsmittels
Die Federal Reserve Bank kümmert sich um den Geldwert: Krise auf Ansage
Die Regierung bekämpft die Rezessionsgefahr, die die Fed heraufbeschwört – mit einem „Inflation Reduction Act“
Das Antiinflationsprogramm – eine Kampfansage an den Rest der Welt
Die EU schlägt sich mit den Folgen ihres Wirtschaftskriegs gegen Russland herumDie EZB steuert Europa von der Inflation in die RezessionDeutschland leistet sich die Finanzierung seiner Kriegslasten
Großbritannien – zu kleinDas Finanzkapital versagt dem Königreich die Kreditierung seines Krisenbewältigungsprogramms
Ein Jahr Arbeitsschutzkontrollgesetz in der Fleischindustrie: Eine alternative Bilanz
Heimatschutz mal andersAmerika streitet über seine Familienwerte(K)ein Recht auf Abtreibung
I. Konservative Klarstellungen zu ein paar Basics des amerikanischen Gemeinwesens, das Verhältnis zwischen Recht und Moral betreffend
Gelebt wird nicht nach den moralischen Vorstellungen der Bürger, sondern nach dem Recht, das alte Verfassungsväter und neue Regierende schaffen …
… zugleich ist das Verfassungsrecht eine Waffe der konservativen Moral echt freier Amerikaner: gegen die Unterdrückung durch Liberale, die alles dürfen wollen
II. Der kongeniale Einspruch der Liberalen und ein paar Klarstellungen zur Notwendigkeit liberaler Sittlichkeit im amerikanischen Kapitalismus
Die Konkurrenz der KapitalistenKapitel IV
§ 23 Der Staat als Finanzmacht
Im Innern
1. Als politische Gewalt, die ihre Politik mit Geld macht, das Kredit ist und als Kapital fungieren muss, gehört der Staat nicht nur zu den maßgeblichen Freunden und Förderern des Wachstums. Er produziert auch dessen Übermaß und Ausbleiben
2. Ein „Rückblick“, der noch um seinen Umgang mit der Vergesellschaftung von Kapital auf ständig wachsender Schuldenbasis ergänzt wird, auf seine Werke; die selbstkritische Prüfung, die er angesichts der Krise anstellt, bringt den Staat dazu, nichts anders, aber alles besser zu machen. Von einer Vermeidung von Ausbeutung und Armut, von Konkurrenz und Spekulation, der praktizierten Gleichsetzung von Arbeitsproduktivität mit der des Kapitals etc. ist weit und breit nichts zu sehen
Nach außen
1. Der über den auswärtigen Handel klug gewordene Staat ist auch schwer dafür zu haben, dass das ultimative Konkurrenzmittel ‚Größe des Kapitals‘ nicht auf den territorialen Betrieb beschränkt bleibt. Internationale Mobilität und Zentralisation des Kapitals müssen sein, wenn die restliche Staatenwelt ihren Dienst an der Geldmacht der Nation ordentlich verrichten soll. Der Geldpatriotismus ergänzt und relativiert den Lokalpatriotismus
2. Vom Kapitalexport elementaren Typs bis zur globalen Börsenfusion – eine Spekulation, die endgültig auf die Unterwerfung des letzten Erdenwinkels unter die Bedürfnisse des Kapitals gerichtet ist – wird da nichts ausgelassen, was den Staaten geeignet erscheint, den Verwertungsproblemen des Kapitals in ihrem Land entgegenzuwirken; auf Kosten ihrer Konkurrenten ...
3. ... sodass die Herren des Weltmarkts schließlich zwischen Konkurrenz und Krise kaum mehr einen Unterschied kennen und ‚Globalisierung‘ sagen
§ 24 Die ideologische Bewältigung der Krise des Kapitals
1. Lehren von den Bedingungen des Wachstums, von den Ursachen der Krise, von den entsprechenden Leistungen, die die Politik erbringen muss, von den Tücken der Spekulation, von Schuldigen und Opfern werden von den Akteuren wie der Wissenschaft fast umsonst in Serie gefertigt
Anmerkung zur Krisentheorie der radikalen Linken
2. Die Krise in der Sicht der VWL: Ein Mandat für die Staatsgewalt zur prophylaktischen wie therapeutischen Schadensbekämpfung
I.
II.
III.
3. „Globalisierung“ insofern ein schöner Höhepunkt, weil die Nationalkapitalisten den Gebrauch ihrer Macht für den Erfolg ihres Lokal- und Geldpatriotismus zum überlebensnotwendigen Dauerprogramm erklären
Eine Idee macht Karriere ...
... und beschafft sich ihr Material
Die Wirkungen der Globalisierungsdebatte
Ausblick auf Kapitel V Die letzte Wachstumsgarantie: Imperialistische Erfolge der Nation

Deutschland will den Krieg

Oder wie soll man das sonst verstehen, wenn täglich von Mitgliedern der regierenden Koalition der Krieg in der Ukraine zu unserer, also Deutschlands Sache erklärt wird? Wenn zu jeder Gelegenheit die Entsendung von mehr und schwereren Waffen aus Deutschland in die Ukraine gefordert wird und das auch in steigendem Umfang stattfindet? Wenn es regierungsamtliche Linie ist, die Ukraine in ihrer Kriegsführung dauerhaft zu unterstützen, solange sie das braucht?

Natürlich steht das alles unter dem Motto, es ginge darum, den Ukrainern zu helfen. Wobei denn?

Natürlich heißt der Zweck: den Krieg beenden. Aber welcher Staat führt denn Krieg, damit er nie aufhört? Für alle gilt die selbstverständliche Randbedingung, und die gilt erklärtermaßen für Deutschlands Beihilfe auch: Ein Ende gibt es nur zu unseren Bedingungen. Genau die Absicht, möglichst schnell ans Ende zu kommen, macht Kriege scharf und zieht sie in die Länge.

Natürlich will niemand explizit die anfallenden Opfer. Aber die auf der feindlichen Seite schon, sogar möglichst viele davon; wofür sonst wären die gelieferten Waffen gut? Und die Opfer auf der eigenen Seite, der ukrainischen in dem Fall, heißen Helden, sterben den Heldentod – ist das etwas anderes als ein Ja dazu?

Aber was gibt es da überhaupt zu beweisen? Deutschland nennt klar und deutlich sein Kriegsziel: Russland darf nicht gewinnen. Es soll dermaßen verlieren, dass es zu einer Kriegsführung der jetzigen Art nicht mehr in der Lage ist. Dazu will Deutschland beitragen, was dafür nötig ist und was es leisten kann. Und wenn das Monate oder sogar Jahre dauert.

*

Deutschland? Gibt es nicht auch andere politische Willensbekundungen? Ja, gewiss. Es gibt eine große Oppositionspartei, der ist der Kriegswille der Regierung immerzu nicht entschieden genug; die klagt Verzögerung und Zurückhaltung bei der Lieferung immer schwererer Waffen an. Es gibt eine rechte Opposition im Parlament, die lehnt den Krieg zum Auftakt gar nicht ab und dann doch mit dem Argument: Das ist nicht unser Krieg. Tut man der AfD Unrecht, wenn man das so versteht: Nicht der Krieg, sondern sein unzureichender Ertrag für die deutsche Sache, welche auch immer, ist das Problem? Vielleicht muss Frau Baerbock der AfD den nationalen Nutzen der Sache einfach mal ohne moralische Emphase besser erklären.

Und die Linke, parlamentarisch vertreten durch die Linkspartei: was kritisiert die eigentlich, wenn sie darauf aufmerksam macht, dass die NATO zur kriegerischen Zuspitzung der Konfliktlage in der Ukraine doch auch einiges beigetragen hat – ein Hinweis, nebenbei, der den Rechten als Beleg für den supra-, also antinationalen Charakter des Kriegs gut gefällt – ? Der Krieg darf nicht einseitig Putin zur Last gelegt werden; schuld ist auch der Westen. Na und? Krieg findet immer nur statt, weil alle Beteiligten ihn wollen. Alle Seiten wollen ihn, weil sie ihn im Interesse ihrer Nation notwendig finden. Ist das etwa ein Grund, für die eine, die andere oder sogar beide Seiten auf mildernde Umstände zu plädieren? Im Sinne der Frage etwa, die die Machthaber gerne an ein skeptisches Publikum stellen: Was hätten wir denn, angesichts der Bosheit unseres Feindes, sonst tun sollen? Das Einzige, was aus der allseits beschworenen Unvermeidbarkeit des Krieges wirklich folgt, ist die staatsfeindliche Einsicht: Sie werden schon recht haben. Mit ihrem Krieg folgen sie einem Gebot ihrer Staatsräson. Will sagen: Politische Herrschaft ist ohne einen in ihrer Räson, ihrem Daseinszweck enthaltenen Grund, für ihre Selbstbehauptung auf der eigenen wie vor allem auf der feindlichen Seite über Leichen zu gehen, nicht zu haben. Für souveräne Gewalten ist Krieg – ganz höflich gesprochen – eine Option, auf die sie schlechterdings nicht verzichten. Die Linke mit ihrem Votum für Gerechtigkeit in der Kriegsschuldfrage meint das Gegenteil: Der Krieg wäre doch nicht nötig gewesen. Und will nicht wahrhaben, dass der Kriegswille beider Seiten ihre Diagnose blamiert.

*

Was bleibt? Deutschland will den Krieg. Und das, ohne dass die Deutschen ihn beantragt hätten. Das brauchen sie auch gar nicht; dafür gibt es in der herrschenden Demokratie gar keinen Platz; da beschließen und verordnen und exekutieren per Befehl und Gehorsam die Gewählten, was die Nation will.

Natürlich gehört dazu auch, das ist nicht vergessen, dass Deutschland den Krieg nicht angefangen hat. Aber was heißt das schon? Nachdem es die russische Invasion der Ukraine und die westliche Antwort darauf nun mal gibt, will Deutschland ihn auch durchziehen; mit dem immer wieder erklärten Ziel einer russischen Niederlage.

Sicher, eine richtige Kriegserklärung von deutscher Seite, nach dem Lehrbuch der Diplomatie, gibt es nicht. Und sosehr die Regierenden und Mit-Regierenden in Berlin den Krieg zu ihrer Sache erklären und machen und mit Waffenlieferungen zu seiner Eskalation beitragen: Kriegspartei im eigentlichen Sinn wollen sie nicht sein. Aber was sind sie dann?

Uneigentliche Kriegspartei sind sie und wollen sie bleiben – im Klartext: Deutschland will den Krieg, aber nicht seine wirklichen Kosten. Geld und Material sind geschenkt; Tote und Verwüstung fallen in der Ukraine an und nicht beim wild entschlossenen Sponsor. Deutschland will den Krieg gegen Russland – in der Ukraine.

Moralisch gesehen ist das ein Zynismus der gehobenen Sorte. Sachlich ist es ein Widerspruch eigener Art. An Putins Russland ergeht die Ansage, dass es – die Räson, nach der es handelt, seine Existenz als Machtbereich des Moskauer Souveräns – mit der Staatsräson Deutschlands schlechterdings unvereinbar ist. Die braucht man deswegen gar nicht zu erklären. Für den Unvereinbarkeitsbeschluss, der daraus folgt, reicht der Hinweis auf „unsere Werte“ und die „Verbrechen“, die Russlands Präsident mit seinem „Angriffskrieg“ begeht; der Idealismus der Werte steht für die Kompromisslosigkeit dieses Beschlusses. Dem russischen Staat wird die gewohnte Koexistenz aufgekündigt. Umgekehrt geht Deutschland davon aus, dass eine entsprechende Kündigung von russischer Seite nicht erfolgt, und schon gar kein praktischer Übergriff, der mit dem deutschen Bekenntnis zu dem laufenden Krieg als unserer Sache wirklich kriegerisch Ernst machen würde. Das funktioniert, einstweilen. Den Widerspruch einer einseitigen Aufkündigung des friedlichen Zusammenlebens, die man Putin vorwirft und selber praktiziert, kann Deutschland sich nur deswegen leisten, weil – und solange, wie – Russland gegen Deutschland nicht das wahr macht, was man seinem Präsidenten vorwirft: Beendigung des Friedenszustands. Also weil und solange Putin an dem Standpunkt einer auf die Ukraine beschränkten „militärischen Spezialoperation“ festhält, der ihm gerade aus Berlin als pure Heuchelei angekreidet wird. In Wahrheit ist der die Geschäftsgrundlage des deutschen Kriegswillens.

*

Auf dieser Grundlage erlaubt sich Deutschland eine Steigerung seines Engagements, das den Kriegspolitikern der Nation immerzu noch lange nicht reicht. Bestätigt und ermutigt findet man sich durch Erfolge der eigenen Seite auf dem ukrainischen Schauplatz; schon beim gescheiterten russischen Vorstoß auf Kiew, erst recht bei der ukrainischen Gegenoffensive im Osten des Landes. Da hat man den Beweis, dass doch tatsächlich, Stück für Stück, geht, was man mit der immer besseren Ausstattung der heldenhaften Kämpfer für die gemeinsame Sache bezweckt: Man hat dem Feind geschadet, ohne dass der zurückschlägt. Deutschland nimmt das als guten Grund dafür, mehr zu tun. Dass die russische Regierung sich genötigt sieht, eine Teilmobilmachung anzuordnen, einstweilen ohne die Fiktion einer bloßen „militärischen Spezialoperation“ aufzugeben und ohne sich zu dem Landkrieg zu bekennen, den es tatsächlich führt, wird mit offensiver Risikobereitschaft zur Kenntnis genommen und in der politischen Öffentlichkeit triumphierend als Fortschritt im gewünschten Kriegsverlauf gewertet, der zum Nachsetzen verpflichtet. So als könnte man die substanzielle Ausweitung des Krieges gar nicht mehr abwarten – und als bräuchte man trotzdem mit einer eigenen Gefährdung weiter gar nicht zu rechnen.

Die immer mal wieder in Erinnerung gebrachte Gefahr, dass Russland mit dem mehrfach angedrohten Übergang zum Einsatz von Atomwaffen unbestimmten Kalibers Ernst machen könnte, wird auf gleiche Weise angstfrei eingeordnet. Dass Deutschland im Schulterschluss mit den USA und als wichtige europäische NATO-Macht seinerseits jeden Übergang in Richtung einer direkten Konfrontation des Westens mit Russland und eines dann kaum zu vermeidenden dritten Weltkriegs ablehnt, gilt schon als Vorkehrung dafür, dass der auch von der anderen Seite her nicht stattfindet. Was an Restrisikobewusstsein verbleibt, darf vor allem kein Einwand gegen die nationale Kriegsbereitschaft sein; vor dem Anzeichen von Schwäche, als welches jede Rücksichtnahme auf das feindliche Nuklearwaffenarsenal missverstanden werden könnte, warnen Politik und Öffentlichkeit ihr Deutschland jedenfalls deutlich mehr als vor den Szenarios, deren Pläne für den Fall einer Ausweitung des Krieges über die Ukraine hinaus in den Schubladen der russischen wie der westlichen Kriegsplaner liegen.

*

Als NATO-Macht denkt und plant Deutschland in einem ganz anderen Sinn über den gewollten Erfolg im Ukraine-Krieg hinaus. Nach sechs Monaten Krieg steht den zuständigen Kriegspolitikern die Option vor Augen, Russlands Militärmacht auf der Ebene der konventionellen Kriegsführung auf Dauer auszuschalten. Für sie ist es kein Größenwahn, sondern eine erreichbare Zielvorgabe, aus Deutschland in absehbarer Zeit eine Führungsmacht des europäischen Pfeilers der NATO zu machen, die die Friedensordnung in Europa sichert, gegen die Putin sich mit seinem Angriff auf die Positionen des Westens in der Ukraine und auf die Führung des so schön brauchbaren Landes vergangen hat. In der Perspektive machen jedenfalls die 100 Milliarden für die Bundeswehr und das Ernstmachen mit den jährlichen 2 % des BIP für Deutschlands Rüstung viel mehr Sinn, als wenn es bloß um die durchgreifende Behebung von Ausrüstungsmängeln ginge. Was mit dem Sieg deutscher und anderer westlicher Waffen, sogar in den Händen ausbildungsbedürftiger slawischer Kriegshelden, so verheißungsvoll angefangen hat, muss sich doch, wenn Deutschland es in die Hand nimmt, an der gesamten Westgrenze Russlands auf Dauer garantieren lassen: russische Unterlegenheit auf allen denkbaren Schauplätzen eines „konventionellen“ Krieges.

Die Beschaffung geeigneter Flugzeuge, um von deutschem Boden aus amerikanische Atombomben ins russische Ziel zu bringen – die erste größere Ausgabe aus dem 100-Milliarden-Fonds –, ist die logische Ergänzung dieses Programms; geboten nach der Logik militärischer Abschreckung, auf die Deutschland sich mit seinem Kriegswillen tatsächlich verlässt. Die lautet schlicht: Wenn Krieg zu führen ist, dann um ihn zu gewinnen, und in der Sicherheit, ihn erfolgreich gestalten zu können. Das erfordert Bereitschaft und Fähigkeit, das „Kriegsglück“ zu beherrschen, also in der Inszenierung und Eskalation des Kriegsgeschehens dem Gegner immer einen Schritt voraus zu sein. Wer wirksam abschrecken will, darf gar nicht erst in die Not geraten, aus einer Defensive heraus zum nächstgrößeren Kaliber greifen zu müssen; der muss im Ernstfall seinen Feind in diese Notlage bringen; und zwar mindestens, bis der nicht länger mit-, also dagegenhalten will; letztlich und in Wahrheit, bis der sich nicht mehr wirksam zur Wehr setzen kann. Mit seiner – für sich genommen noch so bescheidenen – „nuklearen Teilhabe“ gewinnt Deutschland als konventionell potente Kriegsmacht Anschluss an die Sorte Kriegsführung, die mit atomaren Gefechtsfeldwaffen anfängt – solchen also, die ganze Landstriche sogar als Gefechtsfeld vernichten und unbrauchbar machen – und die erst gar nicht in den finalen strategischen Schlagabtausch einmünden soll, den die Supermacht und ihr Hauptfeind immer noch als undurchführbar, weil für keinen imperialistischen Zweck mehr tauglich verwerfen und folglich nur umso sorgfältiger durchkalkulieren und vorbereiten.

*

Bleibt aktuell bis auf Weiteres die Frage, wie viel von dem Krieg gegen Russland, den es in der Ukraine durchziehen hilft, Deutschland will. Wahrscheinlich ist die Frage schon die Antwort: Fürs Erste so viel, wie sich in der Ukraine durchziehen lässt.

Deutschland will den Krieg – warum eigentlich?

Deutschlands offizielle Antwort besteht in der Zurückweisung der Frage. Mit der Benennung der Sache – „Putins grausamer Angriffskrieg“ – ist die Sache fertig: Wo DAS BÖSE zuschlägt, können DIE GUTEN nicht abseitsstehen. Für eine aufgeklärte Öffentlichkeit, die „einfache Antworten“ überhaupt nicht leiden kann, langt das. Nicht nur als Antwort, sondern für ein demonstratives, gerne aggressives Unverständnis, wie jemand da noch Fragen haben kann.

Der Standpunkt, der damit an die Stelle einer Antwort tritt, enthält einen moralischen Überschuss, der über den Krieg, den und wie Deutschland ihn will und führen lässt, deutlich hinausgeht: Man hat Moral genug für noch viel mehr davon. Man ist sich Angstfreiheit schuldig in der Atomkriegsfrage. Praktisch – und praktischerweise – natürlich auf Kosten der Ukraine bzw. ihrer Bewohner. Auf deren Kosten sind die Strack-Zimmermanns der Nation für so viel Krieg, dass die nationale Berechnung der Regierung bei ihrer antirussischen Kompromisslosigkeit glatt den Charakter der Zurückhaltung annimmt. Man ist nicht nur für den Krieg; man ist für mehr Krieg und weiß dafür sogar so etwas wie einen Grund: Man muss die Eskalation, die Putin unterstellt wird – nach der Ukraine käme das Baltikum an die Reihe –, mit einer umso drastischeren eigenen Eskalation – Sieg in der Ukraine bis zu einer kompletten russischen Niederlage – überholen, damit sie erst gar nicht stattfinden kann. Wirklicher Krieg gegen ein geglaubtes Feindbild: Dazu sind Moralisten allzeit bereit; und wenn sie die Macht haben und sich verpflichtet sehen, über Leichen zu gehen, dann tun sie das auch.

Bleibt gleichwohl die Frage: Warum? Wozu? Welchen nationalen Zweck, welche Staatsräson verfolgt Deutschland mit dem Krieg, den es will?

*

Es gibt Kritiker oder Skeptiker, aufseiten der Linken und unter erschrockenen ostdeutschen Friedensfreunden, die halten sich gar nicht erst mit dieser Frage auf. Die glauben mit der Kraft ihres guten Herzens und ihres zutiefst konstruktiven Gewissens an eine Mission der deutschen Nation, die etwas viel Schöneres als die tatsächlich praktizierte antirussische Generallinie gebieten würde: Kampf nur gegen Putin, nicht gegen die Russen, und das ohne zusätzliche deutsche Waffen, mit Verhandlungen, mit friedlichen Protesten gegen jede Eskalation jeder Seite, mit UNO, Papst und so weiter. Moralisch gesehen ist dieser Standpunkt auch nicht schlechter als der amtliche; und verrückter als die Idee, die russische Atommacht mit Leopard-Panzern in die Knie zu zwingen und dabei unbeschädigt davonzukommen, sind die Gegenvorstellungen von einer Besänftigung des Krieges durch deutsche Vermittlungsangebote auch nicht. Im Unterschied zu den Idealen der Kriegstreiberei fallen solche Pazifismen aber unter das Verdikt „weltfremd“, das jeden Gesinnungsethiker ins Abseits stellt. Was wieder auf die Frage zurückführt: Welche weltkundige, realistische Räson steckt denn in Deutschlands Willen zum Krieg?

Die Kritik von rechts ist mit ihrer Antwort genauso schnell fertig: Keine. Jedenfalls keine deutsche. Vielmehr eine US-amerikanische. Also, was Deutschland angeht, eine Anti-Räson der Unterwerfung. Mit linker Skepsis gegen kriegerische Militanz überhaupt ist das nicht zu verwechseln. Die rechte Absage – oder besser: der Vorbehalt ist, auch wenn er im Bezug auf Amerika positiv ausgedrückt wird, nichts weiter als eine Fehlanzeige: nicht unser Krieg. Man möchte gar nicht wissen, wie ein Krieg fürs deutsche „Wir“ auszusehen hätte. Offen bleibt auf jeden Fall auch da die Frage – und auch wieder: weil sie gar nicht erst gestellt wird –: Welches nationale Interesse steckt denn in dem einhelligen Ja! – und dem nicht ganz so einhelligen „bitte mehr davon!“ – zu dem Krieg, den die Nation, verbindlich regiert und repräsentiert durch Koalition und Hauptoppositionspartei, tatsächlich will?

*

Die Frage lässt sich ein wenig eingrenzen und zuspitzen: Eine Existenzfrage wie für die wirklich verblutenden Kriegsparteien vor Ort – eine Schlächterei für Russlands Status als respektierte europäische und Welt-Macht bzw. für eine autonome ukrainische Staatsmacht – liegt für Deutschland nicht vor. Die Zeitenwende, die die Regierung mit ihrer Beteiligung am Krieg gegen Russland – mit Waffen für die Ukraine, per Wirtschaft direkt auf eigene Rechnung – seit Jahresanfang betreibt, ist nicht aus Existenznot geboren. Sie ist ein Projekt, allerdings eines von höchstem Rang, das durchaus die Staatsräson der Nation betrifft, ihren Auftritt und ihren Rang in der Staatenwelt: Immerhin lässt sie sich die Sache mehrere zwölfstellige Euro-Beträge kosten. Sie besteht mit allem Nachdruck darauf, dass in der neu angebrochenen, gewendeten Zeit nichts mehr so ist wie zuvor. Und nichts deutet darauf hin, dass sie bzw. die nationale Vereinsleitung das schade fände. Im Gegenteil. Voller Verachtung verabschiedet werden die Zeiten, in denen Deutschland mit der Großmacht Russland angeblich entgegenkommend und viel zu nachgiebig umgegangen ist und der cisatlantischen Seite der NATO sträflich wenig Führung geboten hat, militärisch so gut wie gar keine. Das muss anders werden.

Der Grund für diesen Fortschritt liegt nicht im Krieg in der Ukraine. Der folgt aus dem großen Imperativ, den noch alle bundesdeutschen Nachkriegsregierungen aus ihrem selbstkritischen Urteil abgeleitet haben: Ihr Deutschland ist zu klein. Es genügt dem Anspruch nicht, den diese Nation an die Welt zu stellen hat. Die Angliederung der einstigen DDR, auf die – Stichwort „Wiedervereinigung“ – sich dieser Standpunkt die ersten Jahrzehnte hindurch ausdrücklich bezogen hat, hat die Diagnose nicht hinfällig gemacht. Gemäß der Logik, dass die Ansprüche staatlicher Macht mit ihren Erfolgen wachsen, sind sie fordernder geworden. Qualitativ und quantitativ muss aus Deutschland mehr werden, als es jeweils schon ist. Europa – erst der Westen des Kontinents, dann nach und nach wenigstens alles westlich der russischen Grenze – ist der Raum, mit dem Deutschland als Markt, was nichts Geringeres bedeutet als: als Quelle seiner ökonomischen und politischen Macht, als Reservoir dafür verfügbarer menschlicher und gegenständlicher Ressourcen kalkulieren dürfen muss und rechnen können will. Sein kapitalistisch potenter Reichtum ist das Instrument geworden, diesen Raum zum eigenen Nutzen in Gebrauch zu nehmen. Selbstbeschränkung hat Deutschland sich damit überhaupt nicht auferlegt; an Rücksichtnahme auf seine immer weiter ausgedehnte Nachbarschaft nur so viel, wie zu deren immer weitergehender Inanspruchnahme nötig und nützlich erschien und erscheint. Es hat damit eine ökonomische Übermacht in Europa erreicht, die ihm in den sich häufenden Krisenlagen eine Politik der unbegrenzten Zahlungsfähigkeit – „Wumms“ und „Doppel-Wumms“ in der regierungsamtlichen sozialdemokratischen Kindersprache – erlaubt; eine Politik, mit der die Nation, durchaus auf Kosten ihrer weniger potenten Partner, nicht bloß den Finanzmärkten der Welt Eindruck macht. Sie hat damit das Programm der Merkel-Politik wahr gemacht, insgesamt aus jeder Krise stärker hervorzugehen, als sie hineingegangen ist.

Mit diesen Erfolgen hat Deutschland sich in Europa und mit Europa einen Status verschafft, bei dem es – schon seit längerem – mit „bloß“ ökonomischer Übermacht nicht mehr getan ist. Aus seiner Europäischen Union vernimmt es den Ruf – unabhängig davon, wer wie sehr tatsächlich danach ruft –, überhaupt und vor allem auch in Fragen militärischer Gewalt viel viel mehr zu tun; zum Schutz nämlich seines ökonomisch in Dienst genommenen, politisch nach Kräften bevormundeten Umfelds; Schutz vor wem oder was auch immer, vor der russischen Bedrohung auf alle Fälle. Vorbuchstabiert wird das gerne so: Deutschland soll mehr Lasten tragen, i.e. mehr Verantwortung übernehmen, i.e. mehr Führung im europäischen Staatenverbund praktizieren; also strategisch handeln, i.e. darauf hinwirken, dass aus der Union eine weltpolitisch wirklich zurechnungsfähige, strategisch bestimmende, in der Perspektive eine richtige Welt-Macht wird; ein Riese auch auf dem Gebiet der strategischen Abschreckung auf dem Niveau, das Deutschland und sein Europa in Sachen Geld und Kapitalmacht längst erreicht haben. Dass eindeutige deutsche Führung und Einigung der souveränen Partner unter einem solchen Regime einander widersprechen – auch die deutsche Seite bringt beides schlecht unter einen Hut, fürchtet im Gesamtverbund um ihren nationalen Vorrang –, gehört zur deutschen Räson quantitativer und qualitativer Selbstvergrößerung dazu. Aber wieso sollte der deutsche Imperialismus auch der weltweit einzige ohne Widerspruch sein?!

*

Für einen echten Fortschritt in diesem Sinn ist der Ukraine-Krieg eine Gelegenheit und mehr als das. Bestellt hat Berlin sich diesen Krieg nicht. Aber nachdem es ihn gibt, macht Berlin daraus die Zeitenwende. Es nimmt ihn als Auftrag, wieder wie in jeder Krise, jetzt aber in denkbar drastischer Weise mit der Mission voranzukommen, die der Bundesrepublik mit ihrem selbstkritischen Befund, zu klein zu sein, von Beginn an als ihre Staatsräson einbeschrieben ist. Wenn es schon so ist – wie die Regierung nicht müde wird zu beteuern –, dass „Putins Angriffskrieg“ die europäische und weltweite Friedensordnung zerstört und gegen die Einigung Europas gerichtet ist, dann sind die Deutschen ganz anders als bisher herausgefordert, als Macher Europas und Hüter dessen, was in Europa und weltweit Friedensordnung heißt, durchzugreifen. Dann kommt Europas stärkstes Mitglied ganz einfach nicht darum herum, mit seinem Regime über den Kontinent viel mehr als bisher Ernst zu machen. Dafür, in dem Sinn ist der Ukraine-Krieg für Deutschlands strategische Statur eine Chance, die es nicht auslassen kann – so wenig wie Kohl selig seinerzeit den Gorbatschow’schen „Mantel der Geschichte“.

Nebenbei: Es passt zur nationalen Notwendigkeit dieses Fortschritts, dass nicht die Kerntruppe aus einstigen Revanchisten und deren christlich-militaristischen Erben ihn vollführen darf, sondern die Ampel-Koalition mit ihrem Traditionsbestand aus sozialdemokratischer Ostpolitik und grüner Friedensliebe sich zu ihm berufen sieht. Indem sie sich so explizit von ihrer Vergangenheit distanzieren und patriotischen Größenwahn als Pflichtaufgabe vorführen, legen die Wahlsieger praktisch Zeugnis davon ab, dass ihr Kampf um den Status Deutschlands als Europas antirussische Führungsmacht zu der deutschen Staatsräson gehört: Sie machen die, moralisch beseelt, zu ihrer Regierungssache.

*

Das jedenfalls leistet der Ukraine-Krieg für Deutschland: Er provoziert den nächsten großen Schritt zu der Größe, die der Nation zusteht. Wann, wenn nicht jetzt? Darum will Deutschland diesen Krieg.

© 2022 GegenStandpunkt Verlag

10 Monate Krieg in der Ukraine

Ein kurzer Rückblick auf gleichgebliebene und geänderte Kriegsziele

1. Nochmal zurück auf Los: Russland führt eine „militärische Spezialoperation“ mit Ziel Kiew und im Osten der Ukraine durch mit dem erklärten Ziel, die dem Westen – der EU und der NATO – willfährige Regierung zu entmachten und durch eine russlandfreundliche zu ersetzen; die Okkupation von Gebieten, die an die Moskau treuen Volksrepubliken im Osten des Landes angrenzen, soll die gegen permanente Über- und Angriffe ukrainischer Kräfte schützen und die Annexion der Krim militärisch absichern. Als sein sehr viel weiter gestecktes strategisches Ziel deklariert Russland zugleich die Sicherung seines eigenen Bestandes gegen das Vorrücken des westlichen Kriegsbündnisses an seine Westgrenze; die Vereinnahmung des Nachbarn am Schwarzen Meer durch NATO und EU als antirussischer Vorposten, womöglich auch für die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen, wird als fundamentale Bedrohung der eigenen strategischen Abwehrfähigkeit eingeschätzt – eine Bedrohung, die zurückgewiesen werden muss.

Die beiden Zielsetzungen liegen auf ganz unterschiedlichen Ebenen: Die zweite geht weit über einen innerukrainischen Machtwechsel hinaus; auch ein solcher Erfolg wäre keine ernsthafte Versicherung gegen das Bestreben der westlichen Allianz, so wie Russland es wahrnimmt und das in der Ukraine zurückgeschlagen werden soll, nämlich Russland als strategischen Gegner zu neutralisieren, seine Macht zu zerstören, das große Land weltpolitisch aus dem Spiel zu nehmen. Praktisch mit ihrer Invasion, diplomatisch mit ihrer doppelten Kriegs-Erklärung setzt die russische Regierung aber ihren lokalen und ihren strategischen Kriegszweck in eins. Dass der beabsichtigte Befreiungsschlag gegen den vorrückenden Westen tatsächlich und vom Standpunkt Moskaus aus die Dimension der absichtlich so zurückhaltend definierten und angelegten „Spezialoperation“ gegen die regierenden „Faschisten“ in Kiew qualitativ überschreitet, nämlich eben einen Konflikt von ganz anderer als lokaler oder regionaler Größenordnung auf die Tagesordnung setzt, macht die Regierung auch explizit mit der Warnung an die Adresse der NATO-Staaten klar, die hätten mit noch nie erlebter Zerstörung zu rechnen, sollten sie ihr bei ihrem Vorgehen in der Ukraine in den Arm fallen. Mit derselben Warnung, die ihre Ukraine-Operation so zu einem Fall ihrer weltpolitischen Konfrontation mit den USA und ihren Verbündeten hochdefiniert, definiert sie ebendiesen strategischen Konflikt auf die Dimension einer Rettungsaktion für eine prorussische Ukraine herunter, bei der der feindliche Westen sie gefälligst gewähren lassen soll. Sie bezieht sich explizit auf die vereinigte westliche Weltmacht als den Gegner, mit dem sie sich in der Ukraine eigentlich anlegt, und besteht zugleich genauso explizit darauf, dass sie sich dort mit ihrem strategischen Hauptfeind nicht wirklich anlegt, jedenfalls nicht direkt, vielmehr nur im Sinne und zum Zweck einer westlichen Konzession in Sachen Regime-Change in Kiew. Beide Kriegsziele verhalten sich wie Dementis zueinander. Von der russischen Regierung sind sie auch so gemeint und zugleich für sie deckungsgleich.

In der überschießenden, den Schauplatz Ukraine weit überschreitenden strategischen Zielsetzung der absichtlich einschränkend definierten und durchgeführten Militäraktion wird der Kriegsgrund kenntlich, der nicht in einem widersprüchlichen Kalkül der Moskauer Regierung aufgeht, sondern in der Räson der von ihr exekutierten Staatsmacht enthalten ist und darin seine Notwendigkeit hat: Mit seiner auf das weltweit zweitstärkste Atomwaffenarsenal gegründeten Abschreckungsmacht ist Russland der Ausnahmefall in der von den USA und ihren Verbündeten etablierten und gehüteten imperialistischen Weltfriedensordnung; Ausnahme in dem qualitativen Sinn, dass es seine Sicherheit, die Grundlage und Garantie seiner weltpolitischen Handlungsfreiheit, wirklich autonom definiert und durchzusetzen vermag; gegen das amerikanisch-westliche Abschreckungsregime. Diese Freiheit, Inbegriff der strategischen Weltmacht, des ersten und entscheidenden Inhalts russischer Staatsräson, verlangt unbedingte Kriegsfähigkeit und -bereitschaft gegen jede Infragestellung, insofern Krieg als – in dem Fall vor allem anti- – imperialistische Notwendigkeit. Dieser Räson dient die Regierung nach ihrem pflichtschuldigen Ermessen, wenn und indem sie die Anlässe und Schauplätze definiert, an denen sie die Achtung ihrer Sicherheitsinteressen angegriffen sieht, und Gelegenheiten wahrnimmt, Respekt vor ihren freien Ermessensentscheidungen in weltpolitischen Affären zu erzwingen oder sicherzustellen. So jetzt in der Ukraine. 1)

2. Die Antwort der beiden gemeinten Gegner, der angegriffenen Kiewer Regierung und der mit russischer Abschreckung konfrontierten NATO, erfolgt prompt und gemäß dem doppelten Kriegszweck, genauer: im Sinne der Deckungsgleichheit der zwei disparaten Kriegsziele, die Russland mit seiner Invasion vorgibt. Die ukrainische Regierung versetzt ihr Land in den Kriegszustand und eröffnet den Kampf um ihre Souveränität; von Beginn an mit Mitteln weit jenseits ihrer eigenen nationalen Kapazitäten. Denn, das die viel wichtigere andere Seite: Russlands strategischer Hauptfeind, die westliche Kriegsallianz, bezieht Russlands „militärische Spezialoperation“ vom ersten Moment an auf sich. Mit ihren Waffen und logistischen Leistungen, die sie in die Schlacht wirft, und mit der deklarierten Selbstverpflichtung auf den Schutz der europäischen Friedensordnung, auf die Rettung ihres souveränen Schutzobjekts in Osteuropa und auf unerbittlichen Widerstand gegen unerlaubte Grenzkorrekturen in aller Welt erklärt und betätigt sie sich als die eigentlich herausgeforderte, auf dem ukrainischen Schauplatz höchstpersönlich und in Wahrheit angegriffene Weltordnungsmacht. Zugleich und in auffälligem Widerspruch dazu, aber eben ganz im Sinne des russischen Quidproquo erklären die NATO und ihre Führungsmacht sich nachdrücklich für nicht selbst angegriffen, für nicht direkt als Kriegspartei involviert; zwar als legitime Schutzmacht der Ukraine, aber eben auch nur vor Ort und nur innerhalb der Grenzen des völkerrechtlich Erlaubten unterwegs.

Das langt immerhin, um den gegen die ukrainische Führung gerichteten Zweck der russischen Invasion zunichtezumachen: Von den NATO-Mächten bewaffnet, von westlichen Kommandeuren „from behind“ geführt, hält die Armee des Landes im Großen und Ganzen stand; der Umsturz in Kiew und der Frontwechsel der Nation finden nicht statt. Das heißt aber auch: Unter Einsatz und mit den Opfern seines Schutzobjekts schlägt der Westen den Angriff auf seine Oberhoheit über Krieg und Frieden in Europa und der Welt und auf seine antirussische Vorwärtsstrategie zurück; und er tut das genau so, wie Russland seinen Angriff führt. Abschrecken, am tatkräftigen Einsatz seiner Militärmaschinerie am Ort des Geschehens hindern lässt er sich nicht; insoweit ist Russland mit dem virtuellen Einsatz seiner strategischen Waffen, seiner warnenden Drohung damit, fürs Erste gescheitert. Mit seinem Kriegsziel, der Einkreisungs- und Zerlegungsstrategie des Westens eine Abfuhr zu erteilen, scheitert Russland ebenso; und zwar gleich doppelt. Soweit der Westen sich unter dem Titel der zuständigen Schutzmacht mit dem Kriegsschicksal der Ukraine identifiziert, kann er auf dem Schauplatz am Schwarzen Meer für sich als überhaupt für alles zuständige russlandfeindliche Weltmacht einen ersten direkten Erfolg verbuchen: Er schlägt den russischen Versuch zurück, seiner Oberhoheit über den Kontinent mit einer schlanken Militäraktion am Schwarzen Meer Einhalt zu gebieten. Zugleich entzieht sich der Westen genau diesem russischen Kriegsziel, indem er sich als erklärte Nicht-Kriegspartei vom Kriegsgeschehen vor Ort distanziert. So erteilt er seinem Gegner, was die höhere strategische Ebene des Krieges betrifft, den Bescheid, dass er mit seiner Weltpolitik der Unterwerfung auch des russischen Ausnahmefalls unter seine weltordnende Übermacht in der Ukraine überhaupt nicht zu treffen und schon gar nicht zu bremsen ist. Für die NATO und die USA stehen im Fall der Ukraine und der russischen Spezialoperation ihr imperialistischer Zugriffswille und ihre Fähigkeit, ihn wahr zu machen, nicht auf dem Spiel. So wahrt die Weltmacht auch bei ihrer heftigen Einmischung ins Kriegsgeschehen ihre Handlungsfreiheit in dessen Betreuung.

Ganz im Gegensatz zu Russland, das hier im Sinne seiner deckungsgleich gesetzten disparaten Kriegsziele ein Exempel statuieren wollte und will. Mit dem Unterfangen, durch einen Sieg über Kiew zugleich den Westen strategisch in die Schranken zu weisen, setzt es seine Fähigkeit dazu aufs Spiel und gerät mit dessen Scheitern entsprechend heftig in die Defensive.

3.