Geh' mit Gott und mit Liebe - Günter George - E-Book

Geh' mit Gott und mit Liebe E-Book

Günter George

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Beschreibung

Die Diskrepanz zwischen den Vorschriften der Kirche und der gelebten Realität bringen Prof. Christian M. Köller in eine fast unerträgliche Lehrfähigkeit. Seine Liebe zu einer jungen Frau und ein schwerer Unfall bringen sein Leben vollständig durcheinander.

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Seitenzahl: 263

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dieser Roman ist Fiktion,

evtl. Ähnlichkeiten mit Personen,

Orten und Institutionen wären zufällig.

Das Cover-Foto wurde mir

von meiner lieben Freundin

Brunhilde zur Verfügung

gestellt. Vielen Dank dafür.

Für Luna

„Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“

( Markus 9,23 )

Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf grünen Auen und führt mich zu stillen Wassern. Er erquicket meine Seele; er führt mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und wenn ich auch wanderte durchs Tal des Todes-Schattens, so fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir; dein Stecken und dein Stab, die trösten mich.

(Psalm 23)

Bevor er das unscheinbare Gebäude verließ, schaute er noch einmal nach rechts und links, um sich zu vergewissern, ob ihm nicht jemand aus dem Kollegium oder einer seiner Studenten über den Weg lief. Der wiederkehrende Besuch der Wohnung im 3. Stock sollte nicht als Gerücht in der Uni dazu dienen, ihm, dem Professor für Moraltheologie und Ethik Christian M. Köller, etwas Negatives anzuheften. Er, der das moralisch Gute zu leeren hatte, suchte eine junge Frau auf, viel jünger als er selbst, um seinen gefälligst zu unterdrückenden sexuellen Gelüsten freien Lauf zu lassen und das Menschliche in sich zu fühlen.

Doch was war und ist jetzt für ihn das moralisch Gute? Viel zu oft setzte er sich mit all den Widersprüchen und Gegensätzen der ihm auferlegten religiösen Theorien auseinander. Schon während des Studiums war er derjenige, der viele Sachverhalte der moralischen Ethik hinterfragt und die Vorgaben Roms innerlich infrage gestellt hatte.

Ja, die junge Celine hatte ihn wieder glücklich gemacht. Im Moment der vollen Erfüllung war sie für ihn das seelisch Gute, das menschlich nicht beschmutzte Vollkommene. Das Reine, das Saubere, das seine Seele sanft benetzte und vor der Austrocknung bewahrte, das, was ihm ständig neuen Atem in seine ausgelaugten Lungen blies.

In diesem Augenblick entschied er für sich selbst, welche Moral für ihn die wohltuende Salbung beinhaltete. Niemand, auch nicht der Absolutismus der Kirche sollte sich in seine Gefühlswelt einmischen und ihm vorschreiben, was, und wie er zu fühlen hatte.

Er mochte diese zärtliche, zurückhaltende und stille Art der Frau, mit der sie ihm all seine geheimen Wünsche erfüllte. Christian M. Köller sah in ihrer Person nicht die Prostituierte, die die Beine breit machte, um Geld damit zu verdienen. Nein, sie war seine Herzenswärme, das heilende Seelenpflaster, Rosenöl, Süßstoff, Paradies aus Haut und Atem, blauer Himmel, Weinseligkeit und Medikament für ihn und seine leicht verwundbare Psyche.

Und einmal im Monat gönnte er sich diese Erfüllung. Wenn er die Stufen hinauf in ihre Wohnung nahm, räumte er alle Hemmnisse, die sich ihm aus irgendwelchen Moralvorstellungen in den Weg legen wollten, kurzerhand beiseite und machte sich frei von allen belastenden religiösen Kettenhemden. Dann entschied er sich kurzfristig für ein neues, nur 2-3 Stunden währendes Leben in einem anderen Körper mit einem anderen Namen. Und er bereute nichts, nichts, was bereits hinter ihm lag und nichts, was ihm noch auf seinem Lebensweg mit dieser jungen Frau begegnen würde.

Christian M. Köller war ansonsten frei von Süchten und Trieben, wenn man seine Liebe für einen guten Rotwein, köstliches Essen und eine anspruchsvolle Klassische Musik, und sein geliebtes Schachspiel einmal ausklammerte.

Für eine Schachpartie kam sein Freund „Wolke“ meistens am Wochenende zu ihm, und dann saßen sie bis spät in die Nacht vor dem Brett, redeten meistens über Frauen, die ja im Endeffekt nur Geld kosteten und meistens kein Glück brachten, was hauptsächlich Wolke‘s Meinung war.

Gebhard Wolkenstein, Oberschrauber des Stadtviertels für PKW und Oldtimer, der fast jede alte Karre wieder zu neuem Leben erwecken konnte. Man sagte ihm nach, er habe magische Kräfte, wie ein Arzt, der einen Patienten operierte und ihm somit das Leben rettete. In seiner etwas unsortierten Autowerkstatt, dem Operationssaal, konnte er diese Obsession perfekt ausleben. Die katastrophale Unordnung, in der er lebte, machte ihn schon wieder sympathisch.

Sie beide wuchsen im selben Ort auf, gingen gemeinsam in die Grundschule, erst danach trennten sich ihre Wege. Christian ging auf ein katholisches Internat für Jungen, Wolke begann nach dem Abitur ein Ingenieursstudium, das er nach kurzer Zeit jedoch abbrach, eine KFZ-Lehre absolvierte und später die Prüfung zum KFZ-Meister ablegte. Hier hatte er sich nebenbei auf die Restaurierung wertvoller Oldtimer spezialisiert und sich einen ausgesprochen guten Ruf in der Branche zugelegt. Sein anderes Hobby jedoch war der Schrebergarten, den er am Stadtrand in einer Laubenkolonie besaß. In seinem grünen Paradies widmete er sich voller Hingabe der Rosenzucht. Die weiblichen Namen der Gewächse stellte er sich als schöne Frauen vor, sie zu pflegen war Leidenschaft und Sucht zugleich. Männliche Bezeichnungen der Blumen ähnelten Königen und Prinzen, die weiblichen waren Prinzessinnen und edlen Damen, denen man Ehrfurcht und Respekt entgegenzubringen hatte.

Christian studierte damals in Marburg und Fulda Theologie und Ethik. Seine weiteren Qualifikationen bis zur Professur erlangte er im schweizerischen Fribourg. Er und Wolke blieben stets in Verbindung, ihre Freundschaft hielt die langen Pausen zwischen den Treffen problemlos aus.

„Wenn du schon kein Auto fährst, solltest du dir wenigstens ein gescheites Fahrrad zulegen“, sagte Wolke, als er zum wiederholten Male Christians alten Drahtesel repariert hatte. „Mir reicht das alte Ding, ich liebe es. Für die Fahrt zur Uni und 3-mal die Woche zur Muckibude ist es allemal gut genug“, widersprach Christian.

„Ich kenne da jemanden, der verkauft E-Bikes, ich werde mal nach einem geeigneten für den Herrn Professor schauen“, schloss Wolke das Thema.

Der Besuch im Fitness-Studio war, außer ein paar Spaziergängen am Main, das einzige Ertüchtigungsprogramm, das sich Christian für seinen 42 Jahre alten Körper leistete. Er war kein Vereinsmensch, wo er in Gesellschaft seinen Body stählen konnte; ausufernder Sport war nichts für ihn. So, wie er seine Fitness zurzeit trainierte, war es ihm recht, mehr musste nicht sein.

An 2 Tagen in der Woche kam eine Zugehfrau zu ihm, um die Wohnung zu reinigen, seine Wäsche zu waschen und sein manchmal wohnliches Chaos zu beseitigen. Besonders nach den Wochenenden war diese Hilfe vonnöten. Herr Professor vergaß gerne mal die Spülmaschine in Betrieb zu setzen und getragene Kleidung in die Wäschebox zu legen.

Seine Wohnung lag unweit des Stadtparks und des Mainufers, an dessen Promenade er an lauen Sommerabenden gerne saß, die Natur genoss und die Menschen beobachtete. Nein, Einsamkeit kannte Christian nicht. Viel zu sehr bestimmte die Arbeit den Tag und die innere Auseinandersetzung mit seinem Chef da oben, den er so oft umzustimmen versuchte, ihm gerne und oftmals eine andere Fahrtrichtung innerhalb der kirchlichen Straßen empfahl.

Obwohl Christian fast anonym in dem Haus wohnte, fühlte er sich wohl in dieser weitläufigen Wohnanlage.

Zu den anderen Mietern gab es so gut wie keinen Kontakt. Doch jedes Mal, wenn er zum Hausflur hereinkam, seinen Briefkasten leerte und die Treppe zum 1. Stock nahm, fühlte er die Blicke von Frau Bauerfeind durch den Türspion gegen sein Gesicht fliegen, dann winkte Christian freundlich in Richtung ihrer Wohnungstür.

In den Pariser Wohnblöcken gab es die Concierge, die Hausmeisterin, die alles wusste, alles mitbekam und für Ordnung sorgte. Diese Rolle übernahm hier in diesem Haus Frau Bauerfeind, und zwar außerordentlich gewissenhaft. Deshalb nahm Christian entgegen seiner Natur hin und wieder den Lift.

Die jungen Leute, die seinen Studiengang Ethik und Moralwissenschaften belegt hatten, mochten „ihren“ Professor. Sie liebten seine kritischen Sichtweisen gegenüber der Kirche, die er sich moderner, aufgeschlossener und nicht so penetrant frauenfeindlich wünschte. Man spürte, dass ihm die dogmatischen Vorgaben zuwider waren, ihm aber die Hände für eine andere, neuere Lehrmethoden gebunden hatten. Sich von dieser Fessel zu befreien, hieß seine Stellung zu gefährden und an den Pranger gestellt zu werden, so fügte sich Christian widerwillig, aber ständig kritisch.

„Das Fahrrad ist genau das richtige für dich“, sagte Wolke, als er das E-Bike aus dem Transporter hob. „Komm, mach mal ne Probefahrt“, forderte er Christian auf, der noch relativ staunend und argwöhnisch das neue Gefährt betrachtete.

Doch entgegen den ersten Zweifeln fuhr sich das Ding hervorragend. Völlig problemlos und wie ferngesteuert meisterte Christian die erste kurze Tour um die Häuserblocks.

„Gekauft“, sagte er kurz und knapp. „Wusste ich doch“, gab sich Wolke zufrieden, verschloss den Transporter und übergab seinem Freund die Papiere. Es war wie so oft, man musste den Herrn Professor zu seinem Glück zwingen, dachte Wolke und lächelte in sich hinein, als er den Weg zurück zu seiner Autowerkstatt nahm.

*******

Sie waren perfekt instruiert, hatten wochenlang die oft wechselnden Wege und Fahrtrouten des Werttransportes ausgekundschaftet. Alle Vorbereitungen waren getroffen. Nun sollte das Vorhaben in die Tat umgesetzt werden. Für die Flucht hatten sie sich 2 Fahrzeuge besorgt und in dem alten Lagerhaus am Hafen zwischengelagert und teilweise farblich umgearbeitet. Das eine wurde in der Nähe auf dem Parkplatz eines kleinen Waldstückes abgestellt. Hier wollte man nach gelungenem Coup umsteigen. Die Fracht sollte in 3 handelsüblichen Sporttaschen transportiert und am nächsten Tag dem Auftraggeber übergeben werden.

Die Fluchtrouten waren exakt berechnet und alle etwaigen Hindernisse in den Abläufen berücksichtigt worden. Alles Weitere wollte man vor Ort kurzfristig und lageangepasst entscheiden.

Der Plan ging auf. Es war geschafft. Über die Autobahn gelangten sie an den Stadtrand, wo auf dem Parkplatz an dem kleinen Wäldchen ihr Fluchtfahrzeug wartete. Der Chef wippte vor Freude auf dem Beifahrersitz umher und drehte die Musik lauter.

Der Wagen fuhr im hohen Tempo über den schmalen Wirtschaftsweg, um hinter der letzten Buschreihe abzubiegen.

“Pass auf, der Radfahrer“, schrie jemand von der Rückbank. Zu spät, der SUV erwischte den Mann seitwärts und schleuderte ihn im hohen Bogen auf einen Steinhaufen, der am Feldrand aufgeschichtet war.

Das Fahrzeug kam von der Straße ab, prallte gegen einen Wasserdurchlass und blieb auf dem Dach liegen. Die Männer konnten sich so gut wie unverletzt aus den Gurten befreien, krochen aus dem Wrack, schnappten sich ihre auf dem Feld verteilten Taschen und rannten in Richtung des kleinen Waldes, um mit dem Fluchtauto in Höchstgeschwindigkeit die Gegend zu verlassen. Niemand von ihnen kümmerte sich um den verletzten Radfahrer.

Der Bauer hörte nur ein scharfes Quietschen der Reifen und den Knall des Aufpralls auf den Wasserdurchlass. Er brach die Reparatur ab, kroch unter seinem Mähdrescher hervor und rannte in Richtung Unfallstelle, wo er ein leeres Autowrack und den bewusstlosen Christian M. Köller auf dem Steinhaufen liegend vorfand.

Auch die Hundehalterin, die gerade ihren Cocker-Spaniel anleinte, drehte sich in Richtung Unfallstelle und beobachtete die hektischen Tätigkeiten der Fahrzeugbesatzung.

Die vom Landwirt herbei gerufenen Sanitäter begannen mit der Erstversorgung und betteten den Verletzten anschließend behutsam und mit äußerster Vorsicht in die Spezialtrage, um ihn damit in das Innere des Rettungswagens zu bugsieren. Bevor sie abfuhren, legte der Bauer noch die Sporttasche des Mannes in das Fahrzeug und beantwortete danach die Fragen der den Unfall aufnehmenden Polizeibeamten.

Frau Tamme beruhigte ihren Hund und gab ebenfalls ihre Beobachtungen zu Protokoll. Sie schilderte insbesondere die Tatsache, dass die in schwarz gekleideten Personen, ja alles Männer mutmaßte sie, sich absolut nicht um den verletzten Radfahrer gekümmert hatten.

Die Spurenlagen in und am Fluchtfahrzeug wurden vor Ort gesichert und das Wrack anschließend zur weiteren Untersuchung ins Polizeipräsidium transportiert.

Die Polizei hatte über die Personalien den Wohnort des Verletzten ermitteln können. Eine Frau Bauerfeind im Erdgeschoss des Hauses gab den Beamten den Hinweis, dass der Herr Professor alleinstehend war niemand hatte, außer diesen komischen Automechaniker Gebhard Wolkenstein, der seinen Transporter ständig in der Feuerwehreinfahrt abzustellen pflegte. „Wenn da mal was passiert“, legte die alte Dame nach und riet den Beamten den notorischen Falschparker endlich einmal zu überprüfen. Anschließend zeigte sie ihnen die Handyfotos vom Transporter, auf denen man deutlich Namen und Adresse der Autowerkstatt lesen konnte. Sie verabschiedete stolz die Polizisten. Hatte sie doch mit den „Beweisfotos“ vom falsch parkenden Schrauber Wolkenstein sicher einen gehörigen Beitrag zur Lösung eines Falles beigetragen.

Der diensthabende Arzt klärte Wolke über den Zustand seines Freundes auf. Er wollte nicht glauben, was er zu hören bekam. Momentan ginge man davon aus, dass Christian außer eines Wirbelbruchs auch eine schwere Rückenmarksprellung erlitten hatte. Ferner lag eine erhebliche Kopfverletzung vor. Auf die einzelnen kleinen, noch zu diagnostizierenden Brüche und Verstauchungen wollte der Mediziner nicht eingehen. Die ausführlichen MRT-Untersuchen würden noch am Abend vorgenommen und frühestens am nächsten Mittag wolle man eine Prognose abgeben.

Wolke deponierte die Sporttasche seines Freundes im Lager seiner Werkstatt. Anschließend fuhr er in dessen Wohnung, zu der er einen Schlüssel besaß, sah nach dem Rechten und packte ein paar Sachen für die Klinik, obwohl schon jetzt feststand, dass Christian in den nächsten Wochen keines dieser Dinge benötigen würde.

Zwei Tage später wurde ein ärztliches Bulletin erstellt, das Wolke ein klein wenig leichter durchatmen ließ. Man hatte Christian nunmehr erfolgreich operiert. Der Wirbelbruch erwies sich weniger besorgniserregender als vorher angenommen. Lediglich die massive Rückenmarksprellung und die Kopfverletzung gaben noch Grund zur Sorge. Mit einer zeitlich begrenzten Lähmung wichtiger Nervenstränge der unteren Körperhälfte würde man wohl rechnen müssen.

Die Unfall-Fahndungsgruppe hatte ihre Untersuchungen am E-Bike des Verletzten abgeschlossen und gaben Wolke Bescheid, dass es zur Abholung bereitstand. Über den Stand der Ermittlungen konnte man ihm keine Auskunft geben.

Das völlig verbogene Fahrrad fand in Wolke‘s Werkstatt, hinten im Ersatzteillager Platz. Am Zustand des Gefährts konnte man erkennen, mit welcher Wucht der Freund zu Fall gebracht wurde.

******

Die junge Ärztin beugte sich über den Patienten, der versuchte, die zuckenden Augen zu öffnen. Er hörte aus weiter Ferne Namen rufen. War seiner dabei? Die Töne wollten jedoch nicht in sein Ohr gelangen, sie waberten vorbei, wie wenn ein seichter Windhauch sein Gesicht streichelte. Das Offenhalten der Augen gelang ihm nicht. Eine unsichtbare Hand strich ständig die Lider nach unten, als wollten sie ihm böse Anblicke ersparen.

Christian genoss die Tour mit seinem neuen E-Bike. Er war froh, auf seinen Freund Wolke gehört zu haben. Er verließ den Main-Radweg und nahm den asphaltierten Wirtschaftsweg, der zu dem kleinen Wäldchen führte, bog später rechts ab und fuhr Richtung Stadt.

Er sah von links den dunklen SUV kommen und vor der Kreuzung anhalten. Die Beifahrertür öffnete sich und ein sportlich gekleideter Mann stieg aus und ging ihm entgegen. Dieser Mann hatte dieselbe Kappe auf, die auch Christian trug. Beim Näherkommen erkannte Christian sich selbst.

Christian fuhr auf seinem Rad weiter und verspürte einen heftigen Schlag in die Seite, der ihn vom E-Bike hob, durch die Luft schleuderte und ihn auf einem Steinhaufen landen ließ.

Er sah mit geschlossenen Augen wieder und wieder diesen SUV von links kommen und anhalten. Als sich die Beifahrertür öffnete und dieser Mann ausstieg, verschwand das Bild wieder aus seinem Blickfeld und eine tiefschwarze Dunkelheit legte sich wie ein Tuch auf sein Antlitz.

War es Tag, oder hatte sich erneut diese schwarze Nacht um ihn herum breit gemacht? War es die Nacht aus seiner Kindheit, wenn der Vater noch mal in sein Zimmer kam, um dem Sohn -gute Nacht- zu sagen, dem Kind, dem in der anschließenden Dunkelheit wieder diese höllische Angst befiel? War sein Ende gekommen? Willig fügte er sich in sein Schicksal. Ihm kamen diese alten Zeilen eines unbekannten Dichters in den Sinn, die Johann Sebastian Bach seinerzeit vertonte:

Bist du bei mir,

geh‘ ich mit Freuden

zum Sterben und zu meiner Ruh‘.

Ach, wie vergnügt wär‘ so mein Ende,

es drückten deine lieben Hände

mir die getreuen Augen zu.

Christian spürte den dezenten Lichtschein einer Taschenlampe, der seine Augen zittern ließ. War es das Zimmer in dem Internat, das er sich mit Sebastian teilte? War es dieser Lichtschein, der ihn stets nur kurz traf, wenn der Lateinlehrer Ferdinand Herschbach seinen Freund Sebastian zum „Gespräch“ abholte, und dieser danach völlig verstört und weinend unter der Bettdecke verschwand?

Nein, ein lächelndes Frauengesicht war über ihm, es schien groß und rund zu sein, der leuchtend rot umrandete Mund, aus dem schneeweiße Zähne strahlten, bewegte sich und mit einiger Verzögerung erreichten ihn die Töne der gesprochenen Worte.

Ja, ich lebe, signalisierte ihm sein Gehirn. Ja, die Frau über ihm war Realität.

Jetzt blieben die Augen offen. „Wo bin ich?“ fragte sein Orientierungssinn und versuchte Zusammenhänge zu irgendwelchen erlebten Geschehnissen herzustellen, doch vergebens; er konnte seinen momentanen Standort nicht bestimmen.

In verschwommener Silhouette erkannte er den Mann in Schwarz aus dem SUV. Er stand am Bett neben der weiß gekleideten Frau mit den auffallend roten Lippen. Die Arme hatte er selbstbewusst vor der Brust verschränkt,….auf irgendetwas wartend. Als wolle er das Tun der Frau kontrollieren, so ausführlich beobachtete er ihre Handgriffe.

Was für ein wohltuendes Gefühl breitete sich in dem Patienten aus, als eine zarte Frauenhand das feuchte Tuch über das unruhig fragende Gesicht strich. Bitte mehr davon, wollte er sagen, doch seine Lippen versagten, konnten die erdachten Worte nicht sprechen. Aber scheinbar erfüllten die Augen diese Aufgabe, denn erneut spürten seine glühenden Wangen diese erfrischend feuchte Kühle.

„Nachher kommt der Arzt und erklärt Ihnen alles“, hörte er an sein Ohr hämmern. Arzt, warum Arzt? Wo zum Teufel bin ich? dachte er und versuchte den Kopf anzuheben, was ihm jedoch nicht gelang. Ich bin festgeschnallt, schoss es ihm durchs Hirn, das nun eigene Nachforschungen anzustellen begann.

Der Mann aus dem SUV stand nunmehr am Kopfende des Bettes und legte seine kalte Hand auf die heiße Stirn und sagte: „Ich komme bald wieder, es gibt viel zu reden“. Christian versuchte die Wahrheit zwischen Realität und Einbildung zu erkennen, versank jedoch wieder in eine halbwache Ohnmacht.

Er sah sich am Fenster sitzen, die Beine übereinandergeschlagen. „Nun da staunst du“, sprach der ihn an,“ Ich bin, ja, wie soll ich mich dir vorstellen? Ich bin, sagen wir mal, ich bin das M aus deinem 2. Vornamen, also nenne mich bitte EM“, schlug der Mann vor. Christian versuchte einen Ton herauszubringen, was ihm jedoch nicht gelang. Zwischen seinen geöffneten Lippen entwichen lediglich heftig zischende Atemgeräusche.

„Wir sehen uns bald wieder, alles wird gut, irgendwann“, sagte EM und seine Gestalt verlor sich im Krankenzimmer.

******

„Wir gehen jeder Spur nach“, sagte Hauptkommissar Löw vom Dezernat Gewaltverbrechen auf die Frage des Automechaniker Wolkenstein, was er denn mit dem Überfall auf den Werttransport zu tun haben sollte. „Einzig und allein ist es mein Freund, der geschädigt und schwer verletzt wurde, als die Bande ihn auf der Flucht angefahren hatten“, gab Gebhard Wolkenstein dem Beamten zu verstehen.

„Ja, ich weiß, wir waren auch schon bei ihm in der Klinik, doch er ist noch nicht vernehmungsfähig. In den nächsten Tagen werden wir uns wieder melden, es sind noch einige Fakten ungeklärt, bei deren Aufklärung ihr Freund sicher helfen kann. Wiedersehen“, war die kurze und knappe Verabschiedung des Polizisten, bevor er den kalten Zigarillo angewidert aus dem Mundwinkel entfernte und in den Mülleimer warf.

Wolke saß in seiner über der Werkstatt liegenden Wohnung und überdachte die ganze Angelegenheit. Er versuchte die Brisanz zu erkennen, die die Beamten bewogen, im Umfeld Professors Köller gezielt zu ermitteln.

„Na klar, seine Tasche“, schrie Wolke in sich hinein und ging hinunter in die Werkstatt, um den Inhalt der Sporttasche seines Freundes zu untersuchen.

Sieben dickbäuchige Briefumschläge entnahm Wolke und staunte nicht schlecht, als er den Inhalt auf seinem Küchentisch ausbreitete. Investmentfonds, Aktienpapiere, Anleihen und Zertifikate waren ein großer Teil der Beute und anscheinend versehentlich in das Krankenfahrzeug gelangt. Andere Couverts enthielten Tabellen, Listen und sonstige undefinierbaren Unterlagen. 2 weitere waren mit Datenträger verschiedener Größen gefüllt.

Wolke dachte über die Zusammenhänge nach, und ihm wurde klar, dass hier Dinge vor ihm lagen, die für die Adressaten von unschätzbarer Wichtigkeit waren. Christians Sporttasche mit den durchschwitzen Sportsachen dürfte nunmehr bei den Räubern auf dem Beutetisch liegen. Könnte sie der Inhalt zu Christian führen? Wolke musste unbedingt mit seinem Freund sprechen, um hier eine klare Front erkennen zu können.

Nachdem man ihn informiert hatte, dass Professor Köller nunmehr aufgewacht und durchgehend stabil sei, meldete sich Wolke auf der Intensivstation an.

In einen grünen Schutzkittel gezwängt und mit einer Plastikhaube auf dem Kopf kam er sich ziemlich lächerlich vor. Eine junge Pflegeschwester führte ihn zum Bett seines Freundes. Dessen Körper war mit einer Reihe von Kontrollgeräten verbunden, die unaufhörlich irgendwelche akustische Signale von sich gaben. Schläuche und Kabel führten Flüssigkeiten und Daten zu und ab, Monitore zeigten Kurven und Werte und tönten akustische Messergebnisse in den Raum.

Ein dicker Kopfverband zierte das Haupt Christian Köllers, während das Gesicht relativ „normal“ aussah. Seine Hände ruhten entspannt und friedlich auf der Bettdecke. Der Patient versuchte sein Gesicht in Richtung des Besuchers zu drehen, was die im Kopfteil des Krankenbettes eingearbeitete Fixierung jedoch verhinderte.

„Hallo Christian“, sprach Wolke seinen Freund leise an.

„Du musst etwas lauter sprechen, ich höre noch etwas schlecht“, nuschelte dieser und ließ den Besucher ziemlich erstaunen. „Ja, mir geht es schon viel besser. Anscheinend haben sie mich wieder gut zusammengeflickt, nur bewegen kann ich mich nicht“, schickte er hinterher.

„Das wird sicher wieder werden“, sagte der Arzt, der gerade das Krankenzimmer betrat. Er gab seinem Patienten im Beisein des Freundes einen Überblick der durchgeführten Eingriffe, konnte jedoch noch keinen ungefähren Heilungsverlauf diagnostizieren. Auch für das Abklingen der momentanen Lähmung der unteren Körperhälfte wollte er sich zeitlich nicht festlegen, stellte aber aus Erfahrungswerten eine positive Besserung in Aussicht.

Wolke war sich nicht sicher, die richtigen Worte zu finden, um seinem Freund Mut zu machen. Nur ein -Das hört sich doch gut an- konnte er als aufmunterndes Statement abgeben.

Christian versuchte es mit einem Lächeln zu quittieren, was ein Nicken, des in der Ecke sitzenden EM hervorrief. Dieser hatte es sich wortlos im Besucherstuhl am Fenster gemütlich gemacht.

„Die Polizei fahndet nach den Insassen des SUVs und sammelt alle relevanten Erkenntnisse zum Unfallhergang. Was befand sich eigentlich in deiner Sporttasche?“, wollte Wolke wissen, ohne auf die Tasche aus der Werkstatt mit den Briefumschlägen und Datenträger einzugehen.

„Trinkflasche, durchgeschwitzte Trainingssachen, Handtuch und Sportschuhe, sonst nichts, warum?“, konnte Christian genau beschreiben.

„Werde ich dir später erklären, ist jetzt nicht so wichtig. Komm erst mal wieder auf die Beine“, sagte Wolke. „Ja, vor allem auf die Beine, ich lach mich kaputt“, stöhnte Christian in einem Anflug von Ironie.

Die Freunde tauschten noch gegenseitige Floskeln aus und bevor sich Wolke verabschiedete, bat Christian ihn sein demoliertes Handy an sich zu nehmen.

„Ich werde es zu Cloudy bringen, sie wird’s vielleicht richten können. Ansonsten wieder dasselbe in neu?“, fragte Wolke, worauf Christian nur den Daumen hochreckte.

Um zu vermeiden, dass seine 2 Hilfsschrauber rein zufällig auf die Sporttasche im Werkstattlager stoßen würden, deponierte Wolke die Wertpapiere in dem Holztreppenkorpus der Stiege, die zum Dachboden seines Hauses führte. Den ebenfalls in dem Paket befindlichen Schriftverkehr bestehend aus Tabellen und sonstigen Unterlagen positionierte er zwischen den Aufzeichnungen und Rechnungen, die er als Unternehmer ein paar Jahre aus steuerlichen Gründen aufzubewahren hatte. CDs und die anderen Datenträger fanden in der Musikabteilung seines Wohnzimmers Platz.

Die leere Tasche nahm er mit in Christians Wohnung, als er nach dem Rechten sah und Blumen und Gewächse versorgte.

Es war ihm bewusst, dass irgendwann die Suche nach der Beute aufgenommen würde, sei es von den Tätern oder der Polizei. Ferner war davon auszugehen, dass sämtliche Unterlagen im Einzelnen versicherungsmäßig abdeckt waren, deshalb würden sicher auch Detektive hier ihre Ermittlungen bald aufnehmen.

******

„ER hat dich noch einmal davonkommen lassen“, hörte Christian aus Richtung Fenster, wo EM sich wieder niedergelassen hatte. „Grund genug dich sterben zu lassen hätte ER, wenn man deinen Lebenswandel betrachtet. So, wie du IHN verhöhnst und belügst kannst du froh sein, dass ER es dich nicht noch schlimmer hat spüren lassen“, belehrte er Christian.

„Ich wusste bisher nicht, dass ER die Menschen je nach Verhaltensweisen aburteilt und hier die Maßstäbe fürs Sterben anlegt. Er könnte sich mit dem Antichristen absprechen, wer für oben oder für unten vorgesehen ist“, antwortete Christian.

„Doch du bist in einer anderen, in höher verantwortlich gestellten Position. Du hast seine Lehren zu lehren und nicht ad absurdum zu führen, mit deinen ständigen Kritiken und Neuauslegungen“, belehrte EM den Professor, der erfolglos versuchte, seinen Kopf in Richtung Fenster zu drehen.

Die Konversation verstummte, als der Chefarzt mit Gefolge das Krankenzimmer betrat. EM verfolgte mit Interesse die Aussagen der Ärzte, nachdem sie ihren Patienten begrüßt hatten.

„Wir werden heute die Fixierung der Halswirbelsäule lösen und die Wundversorgungseinrichtungen entfernen, damit die Therapeuten mit einer leichten und vorsichtigen Mobilisierung beginnen können. Die ersten Übungen werden noch im Krankenbett vorgenommen“, sagte der Chefarzt und klopfte Cristian aufmunternd auf die Beine.

Die Handgriffe des medizinischen Personals wurden akribisch von EM beobachtet. Als würde er eine praktische Prüfung abnehmen, nickte er zu den einzelnen Arbeitsschritten. Christian nahm es wortlos hin und beantwortet lediglich die Fragen der Schwestern nach Schmerzaufkommen und Beschwerden.

Nachdem der Patient von allen Schläuchen und Fixierungen befreit war, nahm abschließend eine Lehrschwester noch eine Körperwaschung vor, was Christian außerordentlich guttat. Danach fühlte er sich wie neu geboren.

Nach weiteren 3 Tagen besuchte Wolke seinen Freund und brachte ihm das neue Smartphone und diverse Trainingsbekleidung und frische Wäsche. Er fand Christian wie aus dem Ei gepellt vor. „Du siehst gut aus. Man könnte meinen, du hättest gerade ein Hotelzimmer für einen Urlaub bezogen“, lobte er seinen Freund.

Christian dämpfte die Euphorie und wies daraufhin, dass er seinen Unterkörper kaum spürte. „Das wird schon werden“, munterte Wolke ihn auf.

Sein Freund berichtete nun von der Sporttasche mit dem fremden Inhalt. „Man hat dir versehentlich einen Teil der Beute in den Rettungswagen geschoben. Es ist damit zu rechnen, dass versucht wird, das Ganze ausfindig zu machen. Es handelt sich hier schließlich um einen immensen Wert in Papierform und für einige Besitzer um die Sicherung geschäftlicher Geheimnisse“, erklärte Wolke.

„Wir müssen es der Polizei übergeben“, legte sich Christian fest.

„Warten wir es erst einmal ab. Die Papiere sind wahrscheinlich hoch versichert. Ich habe sie gut deponiert. Wir könnten sie der Versicherung verkaufen, so hättest du wenigstens eine kleine Entschädigung für dein ertragenes Leid“, schlug Wolke vor.

Bevor Christian sich dazu äußern konnte, mischte sich der immer noch am Fenster sitzende EM ein. “Na bitte, jetzt wirst du auch noch kriminell. Muss ich mich denn um alles kümmern? Sag deinem Freund, er soll die Unterlagen gefälligst der Polizei übergeben. Ihr hättet sie erst jetzt entdeckt, so währet ihr raus aus der Sache!“

Christian überhörte die Anweisungen von EM und stimmte Wolke zu, erst einmal abzuwarten, wie sich die Sache entwickelte.

EM verstand nicht, was Christian damit bezwecken wollte, kannte er ihn doch immer als einen rechtschaffenden, gesetzestreuen Mitmenschen, der keiner Fliege etwas zu Leide tun konnte und jeden Strafzettel umgehend bezahlte. Und gerade jetzt in dieser hilflosen Situation sollte sich der bettlägerige Patient seiner Lage bewusst sein und nicht auch noch neue Baustellen anfangen.

Hauptkommissar Löw stellte sich kurz und knapp vor, um sogleich zum Zweck seines Besuches zu kommen. Christian antworte ebenso so spärlich und gab zu allen Sachverhalten an, sich kaum erinnern zu können. Personen? Nein zu beteiligten Personen könne er absolut keine Angaben machen. Vom gesamten Vorfall sein ihm nur das schwarze Fahrzeug im Gedächtnis haften geblieben.

******

Clemens Helmroth hatte sich in den Vorgang äußerst penibel eingelesen. Die Global Insurance, als Versicherer für Wertpapiere, Schmuck und sonstige Wertsachen, hatte ihn wegen seiner unübertroffenen Aufklärungsquote mit dem Auftrag, die gestohlenen Dinge wieder zu beschaffen, betraut.

Wird ein Kinderspiel dachte er sich und sah schon die nicht unerhebliche Provision auf seinem Konto leuchten. Die außergewöhnlich hohen Tagegelder und Aufwandsentschädigungen machten es ihm möglich, nicht unbedingt in mittelmäßigen Hotels zu übernachten. So konnte er in einem der ersten Häuser am Platz einchecken. Seine ansprechende Bekleidung ließ ihn als einen der Reichen und Schönen erscheinen. Das trug zu seinem gedeckten Inkognito bei, denn niemand vermutete in ihm einen Versicherungsdetektiv.

Zuallererst wollte er sich beim Dezernat für Gewaltverbrechen über den Stand der Ermittlungen informieren. Ihm war klar, dass er dort auf Granit beißen würde, denn Versicherungsdetektive waren nicht besonders gern gesehen, hatten sie doch bei erfolgreicher Aufklärung mit einer hohen Provision zu rechnen, welche den „normalen“ Polizeiermittlern stets verwehrt blieb. Besonders ihm schlug eine große Abneigung entgegen, war er doch früher einmal einer von ihnen. Ein Disziplinarverfahren, das ihm wegen Körperverletzung im Amt anhing, sorgte dafür, dass er freiwillig aus dem Polizeidienst ausschied. Den finanziellen Abstieg konnte glücklicherweise ein kleines, aber solides Erbe seiner verstorbenen Mutter abfedern. Ein erster Versicherungsfall, den er damals schnell und unkompliziert lösen konnte und der Gesellschaft eine immense Leistung einsparte, fungierte als Türöffner für eine gesicherte Position in dem Versicherungsverbund.

Der zuständige Hauptkommissar Löw war wie erwartet bis oben hin zugeknöpft. „Wir selbst haben kaum Hinweise zur möglichen Täterschaft bzw. zum Verbleib der Beute. Ich kann ihnen da nicht weiterhelfen“, war der einzige und einsilbige Kommentar des Beamten, bevor er sich wieder dem Aktenstapel auf seinem Schreibtisch widmete, und einen frischen Zigarillo anfeuerte.

Helmroth verließ gruß- und wortlos das Büro und erneuerte seine Abneigung gegen diese Art von Beamten, ohne den Begriff -Arschlochzu erwähnen.

Am frühen Nachmittag stellte er sein Fahrzeug am Parkplatz des kleinen Wäldchens ab und ging in die Richtung des vermeintlichen Unfallortes. Der Sommer hatte seine Spuren auf die abgeernteten Felder gelegt und schickte erste Grüße dem Herbst entgegen.

Hier an dem Wasserdurchlass könnte sich der Vorfall zugetragen haben. Schleifspuren im Acker zeugten von einem Fahrzeugaufprall. Er bückte sich und schien die Spuren zu streicheln. „Es hat einen lauten Knall gegeben, wohl als das Auto auf die Betoneinfassung gerast ist, sie sind sicher von der Kripo“, hörte er hinter sich sagen. Ein hellbrauner Cocker-Spaniel wischte ihm freundlich um die Beine.

„Ich habe ihren Kollegen damals schon alles gesagt, was ich gesehen habe, der Bauer von dem Hof dahinten hatte ihn als erster gefunden“, fügte Carina Tamme hinzu und zeigte in die Richtung eines großen Gehöfts.

„Ja, ich weiß“, sagte Helmroth ,“ doch oftmals übersieht man etwas, was einem später wieder einfällt. Deshalb bin ich hier, um nochmal den Unfallort in Augenschein zu nehmen“, stellte der Detektiv richtig. Es war ihm nicht unangenehm, dass man ihn für einen Kripo-Beamten hielt.

„Wir suchen immer noch nach Verwandten des Verletzten, er ist nämlich noch nicht vernehmungsfähig“, log er und versuchte von der Frau etwas zu erfahren.

„Ich habe nur mitbekommen, dass der Krankentransport ins Uni-Klinikum ging“, sagte die Hundehalterin. „Ja, vielen Dank, auch das ist uns ja bekannt“, antwortete der Detektiv.

„Ich gehe schon seit Jahren immer diese Strecke um das kleine Wäldchen, aber diesen Radfahrer habe ich hier noch nie gesehen. In der Zeitung stand, dass es sich um einen 42 Jahre alten Mitarbeiter der Uni handeln soll “, wusste die Frau noch mitzuteilen. „Ja, vielen Dank, auch das wissen wir bereits. Auf Wiedersehen und noch einen schönen Tag“, verabschiedete sich Helmroth und ging wieder in Richtung des kleinen Wäldchens. Er war zufrieden, hatte er doch ein paar Puzzle-Steinchen einsammeln können.

Er stieg in sein Auto und fuhr zu dem Hof, wo er nur die Ehefrau des Landwirts antraf. „Mein Mann kommt erst am späten Abend zurück, und er hat doch ihren Kollegen schon alles geschildert“, sagte sie auffällig kurz angebunden und ging grußlos zurück ins Wohnhaus.

Der Detektiv, der auch hier die angebliche Identität eines Polizeibeamten hinterließ, programmierte das Navi mit Ziel Uniklinikum; hier wollte er den Verletzten ausfindig machen.

Im Taunus‘ bester Lage war die Kanzlei für Wirtschafts- und Finanzrecht Brauner, Allersleben und Kuhnert die allererste Adresse für das gesamte Rhein-Main-Gebiet. Auf dem Parkplatz sah man Fahrzeuge oberster Kategorie stehen. Mandanten aus besten Wirtschaftssektionen und Politiker in höchsten Ämtern fühlten sich hier adäquat vertreten. Die allerhöchsten Klienten besuchte man zuhause in ihren Anwesen.

Seniorchef Hilmar Brauner führte das Unternehmen mit gewohnt fester Hand, Veränderungen in Führung und Einsatz ließ er kaum zu. Einzig und allein er selbst passte den Stil seines Unternehmens allen neuen wirtschaftsorientierten und politischen Konstellationen an. Der Endsechziger war der Kopf des Unternehmens und so gab er sich auch.

Von seinem Personal verlangte er absolute Loyalität und herausragende Leistung, und diese wurde übertarifmäßig entlohnt. Er forderte volle Hingabe zum Beruf, Überstunden waren selbstverständlich. Der Chef hatte ein ausgesprochen gutes Gefühl für Mitarbeiter, von der Schreibkraft bis zum Assessor, die sich ihm beruflich voll ergaben und dieses ließ er sie auch positiv spüren.