Geheimnisse des Nil, Band 2 - Where the Library Hides - Isabel Ibañez - E-Book

Geheimnisse des Nil, Band 2 - Where the Library Hides E-Book

Isabel Ibañez

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Beschreibung

Ein vertauschtes Erbe. Eine gefährliche Entdeckung. Eine verbotene Liebe. Nach dem Mord an ihrer Cousine Elvira und dem Verrat durch ihre Mutter ist Inez Olivera am Boden zerstört. Als ihr Onkel Ricardo ihr ein Ultimatum bezüglich ihres Erbes stellt, bleibt ihr nur noch ein Ausweg: Whitford Hayes zu heiraten. Doch der Assistent ihres Onkels hat seine eigenen mysteriösen Gründe, in Ägypten zu bleiben. Inez bleibt keine andere Wahl, als ihr Herz aufs Spiel zu setzen und ihr Schicksal in die Hände desjenigen zu geben, dessen geheime Pläne sie ruinieren könnten … Band 2 der knisternden historischen Romantasy-Dilogie Tauche ein in die "Geheimnisse des Nil": Band 1: What the River Knows Band 2: Where the Library Hides (Herbst 2025)

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Seitenzahl: 644

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2025 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag

© 2025 Ravensburger Verlag WHERE THE LIBRARY HIDES Copyright © 2024 by Isabel Ibañez. All rights reserved. First published in the United States by Wednesday Books, an imprint of St. Martin’s Publishing Group. Übersetzung: Dr. Maria Zettner Lektorat: Fam Schaper Covergestaltung: Micaela Alcaino Illustrationen im Innenteil: Isabel Ibañez Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg. Der Nutzung für Text- und Data-Mining wird ausdrücklich widersprochen.

ISBN 978-3-473-51274-4

ravensburger.com/service

Für die Leser, die die ganze Nacht wach gelegen und sich den Kopf über den Epilog von What the River Knows zerbrochen haben – dieses Buch ist euch gewidmet.

Die Mitwirkenden – eine Auffrischung

Inez Emilia Olivera, unsere Heldin

Elvira Gabriella Montenegro, Inez’ Lieblingscousine

Amaranta Lucia Montenegro, Inez’ ungeliebte Cousine

Tía Lorena, Inez’ Tante

Tío Ricardo Marqués, Inez’ Onkel und Vormund, Abdullahs Geschäftspartner und Schwager, ein Archäologe

Lourdes Patricia Olivera, Inez’ Mutter, Schmugglerin von Artefakten, untergetaucht

Cayo Roberto Olivera, Inez’ Vater

Whitford Simon Hayes, Ricardos rechte Hand

Porter Linton Hayes, Whitfords älterer Bruder

Arabella Georgina Hayes, Whitfords jüngere Schwester

Leo Lopez, Soldat und Whitfords bester Freund

Abdullah Salah, Ricardos Geschäftspartner und Schwager, ein Archäologe

Farida Salah, Abdullahs Enkelin, eine Fotografin

Kareem Ali, Hilfskoch und Ausgrabungshelfer auf Philae

Sallam Ahmed, Hotelmanager im Shepheard’s Hotel

Charles Fincastle, ein Waffenexperte und für die Sicherheit an der Ausgrabungsstätte verantwortlich

Isadora Fincastle, seine Tochter

Basil Digby Sterling, Agent der ägyptischen Altertumsbehörde

Monsieur Gaston Maspero, französischer Ägyptologe und Generaldirektor der ägyptischen Altertümerverwaltung

Sir Evelyn Baring, Generalkonsul von Ägypten

(Grobe) Chronik von Ägypten

2675 – 2130 v. Chr.Altes Reichpan>

1980 – 630 v. Chr.Mittleres Reich

1539 – 1075 v. Chr.Neues Reich

356 v. Chr.Geburt Alexanders des Großen

332 – 305 v. Chr.Alexander der Große erobert Ägypten; Hellenistische Periode

69 v. Chr. Geburt Kleopatras VII

31 v. Chr. Schlacht bei Actium (Tod von Kleopatra und Marcus Antonius)

31 v. Chr. Beginn der römischen Herrschaft

639 Beginn der arabischen Herrschaft

969 Kairo wird Hauptstadt

1517 Ägypten geht ins Osmanische Reich ein

1798 Ägyptenfeldzug Napoleons; Eroberung Alexandrias und Kairos (Entdeckung des Steins von Rosette)

1822 Champollion entziffert die Hieroglyphen

1869 Eröffnung des Suezkanals

1870 Thomas Cooks erste Nilkreuzfahrt

1882 Die englische Flotte bombardiert Alexandria und übernimmt die Kontrolle in Ägypten

1922 Ende der britischen Herrschaft; Entdeckung des Grabs von Tutanchamun

1953 Unabhängigkeit Ägyptens

Prólogo

»Heirate stattdessen mich.«

Die Worte hallten durch den Raum, bevor sie in meiner Brust einschlugen wie ein Blitz.

Ich leckte mir über die Lippen und zwang mich, durch den Dunstschleier hindurch etwas zu sagen. »Du willst also heiraten.«

Die rot geränderten, durchdringenden Augen fest auf mich gerichtet, erwiderte Whit ohne zu zögern: »Ja.«

»Und zwar mich.« Das sollte er mir doch mal genauer erklären. Etwas Licht in das Dunkel bringen. Ich löste mich von ihm, und er ließ mich gehen. Mit einem unsicheren Blick auf ihn, verzog ich mich auf die andere Seite des Bettes. Ich brauchte etwas Handfestes zwischen uns. Durch die Entfernung bekam ich einen klareren Kopf, weg von dem rauchigen Whiskeygeruch, der ihn umwehte.

Und wieder kam seine Antwort schnell und bestimmt: »Ja.«

»Heiraten«, wiederholte ich noch einmal, denn ein bisschen mehr Klarheit brauchte ich dann doch. Er hatte schließlich getrunken, und das, allem Anschein nach, nicht zu knapp. »In einer Kirche.«

»Wenn es sein muss.«

»Das muss es«, beharrte ich. Die Idee klang doch eigentlich ganz normal und vernünftig. Anders als unser Gespräch. Eine Hochzeit in der Kirche war für mich immer eine Selbstverständlichkeit gewesen – in meinem früheren Leben. Dem Leben, zu dem ich in Buenos Aires erzogen worden war. Ich sollte den attraktiven Ernesto heiraten, einen jungen Caballero, den meine Tante für gut befunden hatte, und danach möglichst in ihrer Nähe wohnen, damit sie ein Auge auf mich haben konnte. Keine Reisen nach Kairo mehr. Und mit dem Abmalen von Tempelwänden in mein Skizzenbuch hätte es auch ein Ende. Mein ganzes Leben würde sich dann um jemand anderen drehen und mit der Zeit dann auch um meine Kinder. Ich konnte diese Zukunft vor mir sehen, als würde ich sie bereits leben. Mein Herz fing schon heftig an zu protestieren, und ich musste mir ins Gedächtnis rufen, dass ich hier, in Ägypten, war.

Genau da, wo ich auch sein wollte.

Whit zog eine Augenbraue hoch. »Ist das ein Ja?«

Ich blinzelte. »Du brauchst jetzt gleich eine Antwort?«

Whit schwenkte mit dem Arm über mein luxuriöses Hotelbett, das im Augenblick übersät war mit weit ausgestellten Röcken und Jacken mit Messingknöpfen. Zu meinem Entsetzen waren über das Kopfkissen auch noch mehrere Strumpfpaare verstreut, gleich neben meinem Lieblingsunterkleid, das praktisch durchsichtig war. Er folgte meinem Blick, kommentierte aber, mit bewundernswerter Zurückhaltung, meine Unterwäsche mit keinem Wort.

»Ich brauche sie nicht unbedingt in diesem Augenblick, würde es aber bevorzugen, ja«, erklärte Whit in schleppendem Tonfall. »Für die Kleinigkeit meines Seelenfriedens.«

Sein Verhalten brachte mich langsam, aber sicher auf die Palme. Es ging hier um eine der wichtigsten Entscheidungen in meinem Leben, und wenn er wollte, dass ich sie ernst nahm, dann sollte er das auch tun. Ich schob meine Kleider beiseite, bevor ich mich bückte und meinen Koffer unter dem Bett hervorzog, den ich dann auf den leer geräumten Platz warf. Ohne groß nachzudenken und ohne Rücksicht auf Falten und andere Sorgfalt, warf ich meine Sachen hinein. In hohem Bogen flogen Pluderhosen, Baumwollhemden und Faltenröcke. Ich knüllte meine Unterwäsche zusammen und ließ auch sie hineinwandern.

Alarmiert blickte er auf den anwachsenden Haufen. »Was machst du da?«

»Wonach sieht es denn aus?« Ich warf meine Seidenpantoffeln, die Stiefel, die ich auf Philae getragen hatte, und meine Lederschuhe in den Koffer. Dann schaute ich mich, mit den Händen an den Hüften, im Zimmer um. Was sonst noch?

»Wir sind mitten im Gespräch, und du hast schon einen Fuß aus der Tür.« Whit streckte die Hand aus und zog mehrere Kleidungsstücke und schließlich noch die Stiefel heraus.

»Entschuldige bitte, aber ich packe«, sagte ich und tat eine Bluse wieder zurück.

»Nirgendwo auf diesem Planeten würde irgendjemand das, was du da machst, als Packen bezeichnen«, erklärte Whit, während er angewidert die zerknautschte Bluse betrachtete.

»Jetzt bist du gemein.«

»Ich habe dir eine Frage gestellt, Inez.«

Ich sah ihn finster an und streckte die Hand nach meinen Stiefeln aus. »Die brauche ich.«

»In diesem Moment brauchst du sie nicht.« Whit ließ sie auf den Boden fallen, und dann nahm er, ohne den Blick von mir abzuwenden, mit beiden Händen den Koffer, kippte ihn um und beförderte alles wieder nach draußen.

»Warum sagst du mir nicht, was dich wirklich stört?«, schlug er vor.

Cielos, er war unerträglich. »Du hast getrunken.«

»Na und?«

Meine Stimme schwoll um mehrere wenig damenhafte Dezibel an. »Na und? Woher soll ich wissen, ob du es ernst meinst?«

Whit ging um das Bett herum. Sicher auf den Beinen und mit absolut ruhigen Händen. Er lallte seine Worte auch nicht. Sie kamen klar und deutlich aus seinem Mund, als wären es die letzten, die er mit einem Erschießungskommando vor der Nase sagen würde. »Ich möchte dich heiraten.«

Ich zeigte auf das Inez-Chaos auf dem Bett. »Trotz der Schlamperei?«

Behutsam berührte er mit der Spitze seines Zeigefingers meinen Mundwinkel. »Niemand anders.«

»Oh.«

»Und?«

Aus dem Augenwinkel sah ich, dass ein pikantes Unterwäscheteil vom Bett auf seine Schuhe gerutscht war. Ich bückte mich, um es aufzuheben, aber er kam mir zuvor. Dann legte er es sorgfältig auf eins der Kissen.

Ich entdeckte einen ganz leichten rosafarbenen Hauch auf seinen Wangen.

Bis dahin hatte ich Whit noch nie rot werden sehen.

Ich hatte ihn konfus und grinsend, wutentbrannt und amüsiert erlebt. Aber noch nie in Verlegenheit. Es war dieser Anblick, der mir wieder ins Gedächtnis rief, mit wem ich es hier zu tun hatte. Whit war mein Freund, vielleicht sogar der beste, den ich je hatte. Er hatte mich geküsst, als wir dachten, wir würden, eingesperrt in dieses Grabmal, sterben, während die Luft immer dünner und zu einer tödlichen Gefahr für uns wurde. Da hatte er in der Dunkelheit meine Hand gehalten und mir sein bitterstes Erlebnis offenbart.

Alle, die es wagten, mich anzugreifen, bekamen seinen Zorn zu spüren.

Das war der Mann, der jetzt um meine Hand anhielt.

»Ich würde dir ja mehr Zeit geben«, erklärte Whit, »aber du bist im Begriff, das Land zu verlassen.«

Das stimmte. Mein Onkel wollte es so. Zu meinem Schutz. Als könnte er mich vor allem Übel abschirmen, nach dem Horror, den ich durchmachen musste, als meine Cousine keine fünf Meter von mir entfernt erschossen wurde.

Elvira.

Ich spürte einen schmerzhaften Stich, und aufs Neue überkam mich eine Woge ohnmächtiger Fassungslosigkeit. Es schien mir einfach unbegreiflich, dass ich nie wieder ihr schelmisches Grinsen sehen würde, bevor sie eine der vielen Regeln ihrer Mutter brach. Nie wieder ihre Stimme hören oder eine ihrer Kurzgeschichten lesen würde. Sie wurde mitten aus dem Leben gerissen, und das letzte Kapitel dieses Lebens war ein einziger entsetzlicher Albtraum.

Schon allein ihretwegen musste ich in Ägypten bleiben.

Meine niederträchtige Mutter war daran schuld, dass Elvira jetzt tot war. Wie eine eiserne Faust hielt mich die Trauer umfangen, und ein Schluchzen drohte mir aus der Kehle zu schlüpfen. Ich unterdrückte es mit aller Kraft und suchte verzweifelt nach einem anderen Gefühl, das mich nicht so sehr herunterzog.

Zorn kochte in mir hoch, bis dicht unter die Oberfläche.

Mehr als alles andere wollte ich meine Mutter aufspüren. Sie ins Gefängnis bringen, wo sie meinetwegen bis in alle Ewigkeit verrotten konnte. Ich wollte von ihr hören, was sie meinem Vater angetan hatte, ob er noch lebte, womöglich irgendwo gefangen war, und nur sie wusste, wo. Papás Worte aus seinem letzten Brief an mich gingen mir nicht mehr aus dem Sinn:

Höre niemals auf, nach mir zu suchen.

Von einem anderen Kontinent aus konnte ich aber nichts unternehmen.

Jetzt begriff ich auch, was Whit mir zu verstehen geben wollte. Wenn ich ihn heiratete, konnte ich über mein Leben ganz allein entscheiden. Mir wurde fast schwindelig bei dem Gedanken. Ein Leben ohne Kontrolle. Zugang zu meinem Vermögen, nicht länger abhängig von meinem Onkel. Und als verheiratete Frau musste ich auch nicht auf Schritt und Tritt eine Anstandsdame dabeihaben. Whits Antrag war verlockend. Und dann war da ja noch diese andere Sache. Die Sache, die ich nicht vorhersehen konnte, als ich nach Ägypten aufgebrochen war.

Ich hatte mich in Whitford Hayes verliebt.

Ich liebte ihn von ganzem Herzen, auch wenn mein Kopf mir sagte, ich sollte es eigentlich besser wissen. Und es war eine Liebe auf ewig. Bis zu diesem Moment war mir das nicht bewusst gewesen, erst als ich jetzt in sein Gesicht schaute, das irgendwie verletzlich und unnahbar zugleich war. Panik packte mich. Noch nie hatte ich mich so schwach gefühlt, so ungeschützt.

Und wieder sagte mein Kopf: Was du empfindest, ist absoluter Irrsinn.

Die Stimme klang streng und überzeugend.

»Dann denk mal darüber nach. Und gib mir hinterher Bescheid.« Er lächelte schwach, und seine nächsten Worte hörten sich schon wieder mehr nach ihm an. »Nach Möglichkeit bevor du in den Zug nach Alexandria steigst.«

Dann ging er und schloss hinter sich die Tür mit einem betonten Klicken.

Und in den leeren Raum hinein sagte ich: »Miércoles.«

Teil eins

Die Mutter aller Städte

Capítulo uno

Ich ließ Whitford Hayes warten.

Zwölf Stunden später war ich immer noch zu keiner Entscheidung gelangt. Es erschreckte mich, wie sehr es mich drängte, Ja zu sagen. Wenn ich eins gelernt hatte während meines Aufenthalts in Ägypten, dann, dass ich mich auf mein eigenes Urteil nicht verlassen konnte. Eine ernüchternde und beängstigende Erkenntnis. Von jetzt an musste ich auf der Hut sein, egal, was mein Herz mir sagte. Außerdem, was wäre denn, wenn ich ihn tatsächlich heiratete? Whit hatte sich schon anderweitig verpflichtet, und wenn es auch nicht aus freien Stücken geschehen war, so hatte er doch einer anderen sein Wort gegeben. Er hatte mich immer auf Abstand gehalten, und wir wollten nur Freunde sein und nichts weiter. Doch dann hatte er mich geküsst, als wir dachten, wir würden sterben, und das Blatt hatte sich gewendet. Wir waren aus dem Gleichgewicht geraten.

Alles hatte sich verändert, als wir in diesem Grabmal eingesperrt gewesen waren.

Bedeutete sein Antrag, dass ihm etwas an mir lag? Hatte es ihn genauso erwischt wie mich?

Ich hätte ihn ja fragen können, aber andererseits: Hätte er dann nicht bei seinem Antrag irgendetwas Derartiges gesagt? Ein schlichtes Ich liebe dich wahnsinnig hätte schon gereicht. Jetzt, wo ich darüber nachdachte – Whit hatte mich eigentlich gar nicht gefragt. Er hatte nur gesagt Heirate stattdessen mich, ganz sachlich. Ich war so verdattert gewesen, dass ich gar nicht so schnell meine Gedanken ordnen konnte, bevor er auch schon wieder weg war. Ich war vor lauter Freude und auch Panik ganz benommen. Alles, an dem mein Herz gehangen hatte, war mir gestohlen worden. Die Familie, an die ich geglaubt hatte. Elvira. Die Entdeckung von Kleopatras Grab. Alles zerstört von einer einzigen Person.

Was, wenn Mamá mir auch das irgendwie noch kaputt machte?

Ich zog an dem Tuch um meinen Hals. Meine Mutter hatte es mir gegeben, um damit Dutzende Artefakte aus Kleopatras Grab zu schrumpfen. Aus irgendeinem Grund hatte ich es behalten, obwohl ich es wohl besser verbrannt hätte. Dieses Stück Stoff war das sichtbare Zeichen für ihren Verrat. Es fühlte sich an wie eine Kette, die mich an sie fesselte. Wenn ich fest genug daran zog, würde es mich ja vielleicht an den Ort führen, wo sie sich versteckt hielt.

»Fummele doch nicht immer an diesem Tuch herum. Warum trödelst du denn so?«, fragte Tío Ricardo leicht ungeduldig. »Whit wartet sicher schon.«

Ich zuckte zusammen. Ach ja, Whits derzeitiger Dauerzustand. »Él es paciente, Tío.«

»Ha! Whit? Geduldig? Du kennst ihn nicht so gut wie ich«, spottete mein Onkel. »Ich habe in den letzten Tagen nichts anderes zu mir genommen als Brühe, y me muero de hambre. Ich brauche jetzt etwas Herzhaftes zwischen den Zähnen, Inez, und wenn du auch nur ein Wort dagegen sagst, dann schreie ich!«

Ich warf ihm einen missmutigen Blick zu, obwohl er das gar nicht mitbekam. Er stand ganz sicher nicht kurz vor dem Hungertod – dafür hatte ich persönlich gesorgt. Ich war eigentlich kein gewalttätiger Mensch, aber jetzt spielte ich ernsthaft mit dem Gedanken, ihm irgendetwas an den Kopf zu werfen. Wieder einmal hatte Tío Ricardo sich geweigert, im Bett zu bleiben. Man mochte meinen, ich hätte von ihm verlangt, in eine rohe Zwiebel zu beißen wie in einen Apfel. Also schleppte er mich mit in den noblen Speisesaal des Shepheard’s und hielt dabei fest mein Handgelenk gepackt. Sein anderer Arm steckte in einer Schlinge, auf die er in regelmäßigen Abständen finster hinunterschaute. Alles, was ihn von Philae fernhielt, war für ihn ein Graus. Und dann beäugte er auch noch alle, die uns auf dem Korridor entgegenkamen, mit tiefem Misstrauen. Als zwei Herren in den Gang traten, der zur Haupttreppe führte, schob mich mein Onkel mit Nachdruck um eine Ecke und wartete, bis sie vorbeigegangen waren.

Dieses Mal hielt ich meinen Ärger nicht mehr zurück. »Was genau sollte mir denn deiner Meinung nach im dritten Stock des Hotels passieren?«

Doch Tío Ricardo sah mich gar nicht an, sondern war ganz von den sich entfernenden Rücken der beiden Männer in Anspruch genommen, die vermutlich nur auf ihre Zimmer wollten. »Hast du die hier schon mal gesehen?«

Ich riss meinen Arm los. »Du solltest dich lieber ausruhen, statt dir über harmlose Touristen den Kopf zu zerbrechen.«

Endlich wandte sich mein Onkel dann doch noch mir zu. Er überragte mich um Längen, roch nach Zitrusseife, und ausnahmsweise waren seine Kleider auch mal gebügelt und die Schuhe blankgeputzt. Die direkte Folge von mehreren Tagen hintereinander im Hotel. »Hast du denn gar nichts dazugelernt? Lourdes’ Kontaktleute können überall sein.«

»Wenn sie mich umbringen wollte, hätte sie dazu jede Menge Gelegenheiten gehabt. Aber das hat sie nicht«, flüsterte ich. »Ich bin schließlich immer noch ihre Tochter. Ihr einziges Kind.«

»Du hast doch erlebt, wie weit sie geht, um ihre Interessen zu wahren. Verlass dich nicht auf irgendwelche mütterlichen Gefühle.« Die tiefen Falten an den Mundwinkeln meines Onkels glätteten sich wieder. Er sah mich mit liebevollen Augen in der gleichen Farbe wie meine eigenen an – haselnussbraune Augen, die, je nach unserer Stimmung, eine andere Schattierung annahmen. Tief in ihrem Innern flackerte Mitleid auf, und das konnte ich nicht ertragen. »Das Unheil folgt ihr doch auf dem Fuß. Das müsstest du eigentlich am besten wissen.«

Meine Lippen öffneten sich, als mir unversehens eine Erinnerung kam. Ein kurzes Aufflackern, wie das Kratzen eines Messers auf meiner Haut.

Elvira, die laut meinen Namen schrie – die bei mir Hilfe suchte, während der Abzug betätigt wurde und die Kugel auf sie zu schoss. Und einen Augenblick später ihr zerstörtes Gesicht. Völlig unkenntlich. Blut, das sich unter ihrem Kopf sammelte und den goldenen Sand befleckte.

Was würde ich darum geben, diese Erinnerung aus meinem Gedächtnis zu löschen!

»Ich glaube, wir können jetzt gefahrlos nach unten gehen«, sagte Tío Ricardo und zog mich mit seinem gesunden Arm schon fast wieder den Korridor entlang. »Wir haben viel zu besprechen.«

Normalerweise hätte ich jetzt eine schlagfertige Erwiderung gemacht, doch seine Worte hatten mir einen Dämpfer versetzt. Ich durfte nie vergessen, was für ein Mensch meine Mutter war. Eine Meisterin im Manipulieren und eine raffinierte Strategin. Eine Lügnerin und eine Diebin. Eine Frau, die ihre Tochter betrog, die machthungrig war und alles tun würde, um reich zu werden. Gnadenlos und ohne Skrupel bereit, Elvira zu opfern.

Eine Frau vom Winde verweht.

Sei auf der Hut, mahnte ich mich selbst. Wir setzten unseren Weg in den Speisesaal fort, aber diesmal war mein Onkel nicht der Einzige, der unsere Umgebung genau unter die Lupe nahm.

Der Saal war schon voller Hotelgäste. Sie saßen an runden, mit schneeweißen Decken belegten Tischen, zwischen denen sich, beladen mit silbernen Teekannen und Porzellantassen, geschickt die Kellner bewegten. Whit saß mir gegenüber, ein blaues Oberhemd in die übliche Khakihose gesteckt. Seine muskulöse Gestalt füllte den zierlichen Stuhl völlig aus, und die breiten Schultern ragten noch über die Enden der Rückenlehne hinaus. Ich musste nicht erst unter dem Tisch nachsehen, um zu wissen, dass er seine geliebten halbhohen, geschnürten Lederstiefel trug. Er schüttete sich gerade seine zweite Tasse Kaffee ein, und ich wusste, dass er auf Zucker und Sahne verzichtete und ihn schwarz bevorzugte.

Ich riss den Blick von ihm los – schließlich saß mein Onkel nur einen halben Meter von mir entfernt – und hob meine Tasse, um meine glühenden Wangen zu verbergen. Der Tee brannte heiß auf meiner Zunge, aber ich schluckte ihn hinunter, um Zeit zu gewinnen. Ich spürte den aufmerksamen, abschätzenden Blick meines Onkels. Das absolut Letzte, was ich wollte, war, mich zu verraten.

Tío Ricardo wäre mit Sicherheit alles andere als begeistert über meine Gefühle für Whit.

»In ein paar Tagen brechen wir auf«, verkündete er.

»Ich fürchte, das sieht der Arzt aber ein bisschen anders«, entgegnete Whit gelassen. »Er hat dir noch ein bis zwei Tage Bettruhe verordnet und vor zu viel Aktivität auf einmal gewarnt. Auf keinen Fall irgendwelche Reisen über weite Strecken. Zu viel Gedränge und solche Sachen.«

Mein Onkel stieß ein gedämpftes Knurren aus. »Nach Philae ist es ja wohl kaum eine weite Strecke.«

»Nur ein paar Hundert Meilen«, bemerkte Whit, immer noch unbeeindruckt von Tío Ricardos schlechter Laune. »Die Fäden könnten aufgehen, du könntest eine Infektion riskieren …«

»Whitford!«

Fast gegen meinen Willen schoss mein Blick in seine Richtung. Ich konnte es nicht verhindern, genauso wenig, wie ich mir das leise Lachen verkneifen konnte, das mir aus dem Mund schlüpfte. Mein Onkel ließ seine Unzufriedenheit also nicht nur an mir aus, auch Whit bekam sie ab.

Er ging nur besser damit um als ich.

»Mach, was du willst, aber ich habe dem Arzt versprochen, seine Ermahnungen weiterzugeben«, erklärte Whit mit einem schwachen Lächeln. »Und jetzt habe ich, zumindest in diesem Fall, ein reines Gewissen.«

Niemand würde vermuten, dass er erst wenige Stunden zuvor von Heirat gesprochen hatte. Er benahm sich genau wie immer mit seiner amüsierten Miene, hinter der sich ein tiefsitzender Zynismus verbarg. Dem Blick meines Onkels begegnete er ohne Scheu. Auch nicht der leiseste Hauch von Lallen in seiner Sprache. Mit einer absolut ruhigen Hand hatte er den Griff seiner Kaffeetasse gepackt.

Nur eine Sache verriet ihn.

Seit ich am Tisch saß, hatte er nicht in meine Richtung geblickt.

Kein einziges Mal.

Tío Ricardo kniff die Augen zusammen. »In was hast du dich denn sonst noch reingeritten? Oder sollte ich von den anderen Fällen besser nichts wissen?«

»Ich würde lieber die Finger davon lassen«, sagte Whit und nahm einen kräftigen Schluck von seinem Kaffee. Er sah mich immer noch nicht an. Als hätte er Angst, dass ein Blickkontakt mit mir alle seine Geheimnisse zutage fördern würde.

Mein Onkel schob seinen Teller von sich. Er hatte Fladenbrot, eingetaucht in Hummus und Tahina, gegessen und dazu noch vier Spiegeleier. Obwohl er mich fast zur Weißglut trieb, freute ich mich, dass er wieder Appetit hatte. »Hm«, machte Tío Ricardo, ließ die Sache aber auf sich beruhen. Stattdessen wandte er sich an mich. »Also, Inez«, sagte er und wühlte in seinen Jackentaschen herum. »Ich habe deine Fahrkarte nach Alexandria. Du wirst noch diese Woche abreisen, und ich hoffe, ich habe bis dahin eine Anstandsdame für dich gefunden. Ein Jammer, dass Mrs Acton schon fort ist.« Er sah mich strafend an. »Es war übrigens ein hartes Stück Arbeit, sie wieder zu beruhigen, nachdem du sie versetzt hattest. Sie war tief gekränkt.«

Ich hatte die gute alte Mrs Acton schon fast vergessen, eine Frau, die mein Onkel angeheuert hatte, um mich nach meiner Ankunft in Ägypten gleich wieder zurück nach Argentinien zu begleiten. Ich hatte sie ausgetrickst und war aus dem Hotel entwischt, wo ich, wenn es nach meinem Onkel gegangen wäre, bis zu meiner Abreise hätte Trübsal blasen können. Aber für ein schlechtes Gewissen sah ich nun wirklich keinen Anlass. Und mir fiel auch nichts ein, was ich hätte erwidern können.

Meine Gedanken kreisten auch mehr um den nahenden Abreisetermin.

Noch diese Woche.

Mit einem triumphierenden Ausruf zog mein Onkel etwas aus seiner Tasche. Dann hielt er zwei Papierstreifen hoch, bevor er sie zu mir herüberschob. Ich schaute darauf, weigerte mich aber, sie in die Hand zu nehmen – die Bahnfahrkarte einfache Fahrt nach Alexandria sowie eine Passage auf dem Schiff nach Buenos Aires.

Der Geräuschpegel im Raum klang merklich ab, die Leute verstummten nach und nach. Ich dachte daran, die Tickets in meinem Wasserglas zu ertränken. Oder wäre es besser, sie in Fetzen zu reißen und meinem Onkel ins Gesicht zu werfen? Whits Heiratsantrag winkte verlockend vor meinem geistigen Auge. Ein Ausweg aus der Verbannung. Er bot mir einen Rettungsanker, eine Chance zur Wiedergutmachung. Einen Weg in die Unabhängigkeit, eine Möglichkeit, meine Mutter und ihr gewissenloses Verhalten zu stoppen. Langsam, aber sicher nahm meine Antwort auf Whits Frage in meinem Kopf Gestalt an. Ich hob die Augen und schaute in seine Richtung.

Und zum ersten Mal, seit ich mich hingesetzt hatte, wich er meinem Blick nicht mehr aus.

Whits blaue Augen sprühten Funken.

Er zog eine Augenbraue hoch, eine stumme Frage, auf die nur ich die Antwort kannte. Dann musste er mir etwas vom Gesicht abgelesen haben, denn er stellte seinen Kaffee ab und schob seinen Stuhl vom Tisch weg. »Ich bin dann mal auf der Terrasse. In der Zwischenzeit könnt ihr euch ja über die Details einigen.«

Tío Ricardo murmelte geistesabwesend etwas vor sich hin. Seine Aufmerksamkeit galt einem dunkelhäutigen Mann, der auf der anderen Seite des Saals mit seiner Familie speiste. Er trug einen Tarbusch und einen perfekt gebügelten Anzug. Whit warf mir, bevor er mit großen Schritten verschwand, noch schnell einen vielsagenden Blick zu. Mein Puls schoss in die Höhe. Offensichtlich wollte er, dass ich mich draußen mit ihm traf, weg von meinem Onkel.

»Entschuldige mich einen Augenblick. Ich habe da einen Freund entdeckt«, sagte Tío Ricardo. »Warte hier.«

»Aber ich bin fertig mit Frühstücken«, wandte ich ein. »Ich glaube, ich gehe zurück auf mein Zimmer …«

»Nicht ohne mich.« Mein Onkel war bereits aufgestanden. »Es dauert keine zehn Minuten.« Er sah mich streng an und wartete darauf, dass ich ihm meine Zustimmung gab.

Es war schon fast zu einfach. Ich verzog die Lippen zu einer störrischen Linie und gab widerwillig nach. Er nickte, bevor er sich umdrehte, und als ich mich vergewissert hatte, dass er meinen leeren Stuhl nicht bemerken würde, verließ ich den Speisesaal in Richtung Terrasse, wo Whit auf mich wartete. In der Eingangshalle wimmelte es von Gästen aus aller Welt. Während ich mir zwischen ihnen hindurch einen Weg bahnte, drang eine ganze Reihe unterschiedlicher Sprachen an mein Ohr. Man hielt mir die Eingangstür auf, und ich trat nach draußen, wo ich in dem grellen Sonnenlicht erst einmal blinzeln musste. Ein blauer Himmel mit keiner einzigen Wolke erstreckte sich über Kairo. Die Mutter aller Städte, wie berühmte Historiker sie genannt hatten, und ich musste ihnen recht geben. Seit Menschengedenken ist dieser Ort ein wahres Wunderwerk.

Die Vorstellung, von hier fort zu müssen, war mir unerträglich.

Whit saß mit dem Rücken zur Mauer in seinem grün gestrichenen Lieblingskorbsessel mit Blick auf die Straße. Von diesem Aussichtspunkt aus konnte er alles Kommen und Gehen genau beobachten. Ich marschierte geradewegs auf ihn zu und setzte mich gar nicht erst hin. Er hatte mich natürlich sofort bemerkt, sobald ich einen Fuß auf die Terrasse gesetzt hatte, und legte den Kopf in den Nacken, um mir in die Augen sehen zu können.

»Warum hast du mich in dem Grabmal geküsst?«, fragte ich ihn ohne Umschweife.

»Weil ich nicht sterben wollte, ohne es einmal getan zu haben«, antwortete er, ohne zu zögern. »Wenigstens.«

Ich ließ mich in den Sessel ihm gegenüber fallen. »Oh.«

»Zum ersten Mal in meinem Leben treffe ich allein eine Wahl«, erklärte er mit leiser Stimme. »Ich würde lieber eine Freundin heiraten als eine Fremde.«

Eine Freundin. Mehr war ich nicht für ihn? Ich rutschte auf meinem Sitz herum und bemühte mich, die gleiche beherrschte Lässigkeit auszustrahlen wie er. In diesem Augenblick hasste ich seine Selbstbeherrschung. »Wird das deine Verlobte nicht schrecklich verletzen?«

»Liebes, sie ist mir völlig gleichgültig.« Er beugte sich vor und sah mir in die Augen. Seine Stimme sank zu einem heiseren Flüstern herab. »Ich warte immer noch auf deine Antwort, Inez.«

Ich war wie elektrisiert und hatte Mühe, nicht zu zittern. Es war eine schwerwiegende Entscheidung – die schwerste meines Lebens. »Bist du sicher?«

»Ich war mir in meinem ganzen Leben noch nie so sicher.«

»Dann lass uns heiraten«, sagte ich atemlos.

Es war, als hätte die Sorge seinen ganzen Körper gefangen gehalten. Als die Anspannung nachließ, sackten seine Schultern sichtbar herunter. Erleichterung breitete sich auf seinem Gesicht aus, sein Mund wurde weicher, und sein Kiefer lockerte sich. Mir war gar nicht aufgefallen, wie sehr ihn das Warten auf meine Antwort aufgewühlt hatte. Ein prickelndes Gefühl überkam mich, und mein Herz schlug schneller. Da hatte ich doch tatsächlich aus Whitford Hayes ein Nervenbündel gemacht.

Aber er erholte sich schnell wieder und grinste mich an. »Passt es dir in drei Tagen?«

»Drei Tage? Ist das denn überhaupt möglich?«

»Auf jeden Fall nicht unmöglich.« Er wühlte durch seine zerzausten Haare. »Allerdings verdammt kompliziert.«

»Ich höre.«

»Wir brauchen einen Priester, eine Lizenz, eine Kirche und einen Trauzeugen«, erklärte er, während er die einzelnen Punkte an seinen Fingern abzählte. »Dann muss ich beim britischen Konsulat hier in Kairo Meldung machen, damit man von dort aus das Standesamt in England benachrichtigt.«

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Da hast du dir ja schon ganz schön viele Gedanken gemacht.« Mir wurde ein bisschen unbehaglich. »Warst du dir so sicher, dass ich Ja sagen würde?«

Whit zögerte. »Ich habe es gehofft. Es war leichter, sich mit den Details zu beschäftigen als mit der Möglichkeit einer Zurückweisung.«

»Details, die unter den wachsamen Augen meines Onkels abgewickelt werden müssen«, wandte ich ein. »Wir dürfen uns nicht erwischen lassen.«

»Wie ich schon sagte, verdammt kompliziert.« Trotz allem wich das Lächeln nicht aus Whits Gesicht. »Aber wir haben ja noch drei Tage.«

Ich musste mich an der Tischkante festhalten. Es war unfassbar, in welche Richtung sich mein Leben gerade entwickelte. Ich war in Hochstimmung, konnte aber das Gefühl nicht abschütteln, dass ich irgendetwas übersah. Papá mahnte mich immer, mich ein bisschen zu bremsen und auf die Details zu achten, die ich ständig übersah. Ich hörte schon im Geiste seine sanft tadelnde Stimme.

Wenn du so schnell bist, Hijita, entgeht dir leicht etwas, was du direkt vor der Nase hast.

Aber er war nicht hier. Ich wusste nicht, wo er sich aufhielt, oder ob er überhaupt noch lebte. Meine Mutter behauptete, mein Onkel hätte meinen Vater getötet, aber sie war ja bekanntlich eine Lügnerin. Er konnte irgendwo eingesperrt sein und darauf warten, dass ich die Puzzleteile zusammensetzte. Ich schob meine Sorge zur Seite. Meine Aufmerksamkeit wurde für andere Dinge gebraucht. Irgendwie mussten Whit und ich uns davonschleichen, um zu heiraten, ohne dass es jemand mitbekam.

Vor allem nicht mein Onkel.

»Was muss ich tun?«

Er lehnte sich in seinen Korbsessel zurück, faltete die Hände vor seinem flachen Bauch und grinste. »Na ja, das, was du am besten kannst, Inez.« Seine Miene war liebevoll, halb amüsiert und halb spöttisch. Das Lächeln sagte mir, dass er mich nur allzu gut kannte. »Du musst genau da sein, wo du nicht sein solltest.«

Whit

Es war mit weitem Abstand eine der dümmsten Ideen, die ich je hatte.

Der Khedivial Sporting Club türmte sich vor mir auf, ein Gebäude im europäischen Stil, in fantasielosen Farben gestrichen und von üppigen Palmen und anderen Bäumen umgeben. Ich bekam einen üblen Geschmack im Mund, wie von Wein, der seine beste Zeit längst hinter sich hat. Nur britisches Militär und hochrangige Regierungsbeamte waren hier zugelassen. Und obwohl mein Name und mein Titel einen Teil der Anforderungen erfüllte, war ich – unehrenhaft – aus dem Militärdienst ausgeschieden. Englands verlorener Sohn, der das auch bleiben wollte.

Niemand würde mich hier mit offenen Armen willkommen heißen.

Aber ich brauchte einen Priester, eine Kirche, einen Trauzeugen und eine Lizenz. Damit unsere Ehe überhaupt irgendeine Glaubwürdigkeit besaß, musste mir jemand da drinnen bei den letzten beiden Punkten auf meiner Liste behilflich sein. Jemand, mit dem ich schon seit Monaten kein Wort mehr gewechselt hatte. Oh Gott, sogar ein Jahr? Nach meiner Entlassung war mein Zeitempfinden etwas aus den Fugen geraten. Er war mein Freund gewesen, und obwohl ich ihn vergrault hatte, hatte ich mich, ohne dass er es mitbekam, über seinen weiteren Weg so gut es ging auf dem Laufenden gehalten. Seine Eltern waren Viehzüchter aus Bolivien und hatten ihn mit nur acht Jahren zum Schulbesuch nach England geschickt. Er sprach nur selten über seine Familie, für eine solche Art der Unterhaltung konnte er nie lange genug stillsitzen. Reiten und Trinken waren seine Leidenschaften. Vor dem Glücksspiel scheute er zwar zurück, riskierte sein Leben aber auch so beinahe jeden Tag aufs Neue.

Schnelle Pferde, Fronteinsatz und Hochprozentiges.

Aber Leo Lopez ließ mich meine Kämpfe nie allein ausfechten – zumindest solange ich noch einen guten Ruf hatte.

Ich stieß die Holztüren auf und marschierte mit energischen Schritten hinein, während ich die Anspannung in meinem Kiefer spürte. Ich zog die Zähne auseinander und zwang mich zu einem Gesichtsausdruck, der meine Abscheu nicht so offensichtlich machte.

Die Eingangshalle konnte es mit jedem vornehmen englischen Salon aufnehmen. Plüschsessel, teure Vorhänge und aufwendig gemusterte Tapeten, alles da. Zigarrenrauch tauchte den Raum in einen diesigen, warmen Glanz, und von allen Seiten drang lautstarkes Geschnatter auf mich ein. Männer in maßgeschneiderten Anzügen und blank geputzten Schuhen räkelten sich in allerlei Nischen mit bequemen Sitzgelegenheiten, niedrigen Couchtischen und Topfpflanzen. Mein Vater hätte hier seine helle Freude. Ein Ort, an dem sich die Spitzen der Gesellschaft trafen, wo er mit Geld- und Landadel verkehren und dabei über seine unersättliche Frau mit ihrer Vorliebe für Perlen und Edelsteine jammern könnte. Ich sah meinen Vater im Geiste schon hier vor mir, wie er, stocknüchtern, versuchte, Schwächen herauszufinden, und auf den richtigen Moment wartete, um zuzuschlagen. Alles, was er auf diese Weise erfahren hatte, würde er sich später am Spieltisch zunutze machen.

Die Tür schloss sich hinter mir mit einem lauten Knall.

Ich spürte genau den Moment, in dem man mich erkannte.

Eine tiefe Stille senkte sich über den Raum und brachte schlagartig alle Gespräche zum Erliegen. Mehrere Sekunden lang sagte niemand ein Wort. Anscheinend hatte ich meinen Charme maßlos überschätzt.

»Was zum Teufel machen Sie denn hier?«, fragte ein Mann, der beim Aufstehen leicht schwankte. Seine knallrote Uniform brachte mich zum Blinzeln. Unfassbar, dass ich fast sieben Jahre lang auch so eine getragen hatte. Mit einem Mal fiel mir sogar sein Name wieder ein. Thomas soundso. Er hatte eine Freundin in Liverpool und schon etwas betagte Eltern, die sich nach dem Dinner gern einen Portwein genehmigten.

»Ich bin auf der Suche nach Leo«, sagte ich lässig. »Haben Sie ihn gesehen?«

Noch ein paar andere erhoben sich mit roten Köpfen aus ihren Sesseln.

»Der Sportklub ist nur für Mitglieder.«

»Und nicht für verdammte Deserteure«, rief ein anderer.

»Eine Schande!«

»Ich bleibe nicht lange«, erklärte ich über ihre empörten Aufschreie hinweg. »Ich suche nach …«

»Whit.«

Ich drehte mich zu einem Durchgang um, der in einen engen Korridor führte. Geschockt war dort Leo gegen den Rahmen gesackt, als hätte er einen Geist gesehen. Er sah noch genauso aus wie bei unserer letzten Begegnung, der attraktive Bastard. Wie aus dem Ei gepellt, glänzende Stiefel, glatt gebügelte Uniform. Das schwarze Haar sorgfältig zurückgekämmt. Ich hatte keinen Schimmer, wie er mich empfangen würde.

»Leo, hallo.«

Mit ausdrucksloser Miene ließ er den Blick durch den Raum schweifen, doch mir entging nicht, dass er die Lage durchschaute. Ich spürte mehr, als dass ich es sah, wie mehrere der Männer sich mir bedrohlich näherten. Sie schauten zwischen uns hin und her, versuchten einzuschätzen, wie gut wir uns kannten. Leo machte den Mund auf, schloss ihn dann aber abrupt wieder. Ein berechnender Ausdruck trat in seine Augen. Ich wusste sofort, was das zu bedeuten hatte. War ich es wert, ihm einen Gefallen zu schulden? Ich war ein Mann ohne Vaterland, mein Name galt weniger als eine schmutzige Pfütze. Aber er wusste, dass ich so manches Geheimnis kannte. Ich warf ihm ein bedauerndes Lächeln zu und zog leicht eine Augenbraue hoch. Meine Brust spannte sich an, und mir stockte der Atem. Er brauchte nur die Hand auszustrecken, und ich konnte bleiben, wenn auch nur für ein paar Minuten. Ich war gespannt, was mein Freund tun würde.

Leo wandte den Blick ab.

Das Urteil war gesprochen.

Grobe Hände kamen vorgeschnellt, zerrten an meinen Kleidern und rissen mich zurück zum Eingang. Ich leistete keinen Widerstand, selbst als jemand an meine Schulter rempelte und ein anderer mir gegen die Schienbeine trat. Mein Blut kochte vor Zorn. Ich hielt die Hände hoch, um die Bestie in Schach zu halten, die sich in mir aufbäumte. Der Drang, mich zu verteidigen, war beinahe übermächtig. Doch ich durfte dem Impuls nicht nachgeben. Sie suchten doch nur nach einem Vorwand, mich ins Gefängnis von Kairo zu schleppen. Da war ich schon einmal gewesen und erinnerte mich noch lebhaft an den üblen Gestank, die beklemmende Verzweiflung, die entkräfteten Insassen. Wenn ich erst einmal dort war, würde ich nie wieder rauskommen. Und das war genau das, was sie wollten.

Der unbesonnene Whit hat die Beherrschung verloren. Der ehrlose Whit hat einen Offizier angegriffen.

Wenn ich irgendwie reagierte, ganz gleich wie, wäre meine Chance, Inez zu heiraten, dahin.

Und ich musste heiraten.

Die Offiziere zerrten mich zur Eingangstür und warfen mich hinaus. Ich landete mit voller Wucht auf meinen Händen und Knien, und der Steinbelag schrammte schmerzhaft über meine Handflächen. Während die Männer johlten und sich fröhlich singend wieder verbarrikadierten, hievte ich mich auf die Beine.

Verdammt noch mal! Und was jetzt?

Vom Sporting Club waren es nur ein paar Minuten bis zum Hotel. Ich steckte die Hände in meine Hosentaschen und trat den Rückweg an. Alberne, unbrauchbare Ideen gingen mir durch den Kopf. Leo wollte nichts mit mir zu tun haben. Das war’s dann mit meinem Trauzeugen. An den Militärgeistlichen und die Lizenz war auch nicht mehr zu denken. Und ohne konnte ich die Ehe nicht offiziell in England registrieren lassen.

Mist, Mist, Mist!

Mir schwirrte der Kopf. Zu keinem meiner anderen Landsleute in Kairo hatte ich einen guten Draht. Das waren alles Würdenträger oder Diplomaten, eingefleischte Imperialisten. Männer, die sich Befehlen nicht unterwarfen, waren bei ihnen von vornherein an der falschen Adresse.

Hinter mir waren plötzlich Schritte zu hören. Jemand kam den Pfad heruntergelaufen.

»Whit!«

Ich blieb stehen und drehte mich um. Nur mit äußerster Mühe konnte ich mir ein Grinsen verkneifen. Mein alter Freund ließ mich doch nicht im Stich. Leo holte mich ein, die geschniegelte Frisur nicht mehr ganz so geschniegelt.

»Das war idiotisch«, stellte er fest. »Was ist nur in dich gefahren?«

»Ich will heiraten«, erklärte ich. »Und das muss absolut lupenrein und von den richtigen Leuten beglaubigt sein.«

Seine Augenbrauen gingen in die Höhe. »Du liebe Güte. Sollte ich dir nun gratulieren? Oder eher mein Beileid aussprechen?«

Ich klopfte ihm auf die Schulter. »Das kannst du bei der Trauung entscheiden. Du wirst unser Trauzeuge sein.«

Die nächste Bar.

Wir erkämpften uns magere dreißig Zentimeter an der Mahagonitheke, die Dutzende von Stammgästen des legendären Nachtklubs im Shepheard’s bereits belegt hatten. Leo hatte genau gewusst, wo der Militärgeistliche, ein gewisser Henry Poole, der sein Bier anscheinend in heller Farbe und in rauen Mengen bevorzugte, zu finden sein würde. Als er mich zurück ins Shepheard’s schleppte, trat mir sofort das Bild meiner zukünftigen Frau vor Augen, so klar und deutlich, als stünde sie direkt vor mir. Dunkle Locken, die sich nicht bändigen ließen, golden schimmernde, von einer unstillbaren Neugier erleuchtete Augen. Sie heckte vermutlich schon einen Plan aus, wie sie sich aus dem Hotel schleichen konnte, ohne dass ihr Onkel es mitbekam. In diesem Augenblick mochte sie Ricardos Terminkalender auswendig lernen oder sich die Mithilfe eines Angestellten sichern.

Bei Inez konnte man nie wissen.

»Spendiere ihm noch einen, bevor du fragst«, flüsterte Leo mir unauffällig auf Spanisch zu.

Ich sah ihn überrascht an. Woher wusste er, dass ich Spanisch sprach? Beim Militär hatte ich mir zwar schon ein paar Brocken angeeignet, aber da beherrschte ich die Sprache noch längst nicht so gut wie heute. Anscheinend hatte nicht nur ich ihn im Auge behalten.

Er nahm einen Schluck aus seinem Glas und zuckte unverbindlich die Achseln. Dann wies er mit dem Kinn in die Richtung des Geistlichen. Er stand dicht hinter mir, und sein Mund verzog sich zu einem Grinsen, als er das turbulente Treiben in dem weitläufigen Raum auf sich wirken ließ. Ich war schon viele Male hier gewesen, meist im Auftrag von Ricardo. Viele Menschen kamen an die berühmte Tränke, hauptsächlich um sich zu amüsieren.

Henry beugte sich vor und rief seine Bestellung für uns alle drei dem Barmann zu, der einmal kurz nickte, während er sich auch noch um die Bestellungen von einem halben Dutzend weiterer Gäste kümmerte. Ich bewunderte ihn dafür, dass er so vieles gleichzeitig zustande brachte. Der Geistliche schaute mich grinsend an. Ich hatte den Eindruck, er hatte nicht besonders viele Freunde und sehnte sich nach Kameradschaft. Ich hatte ihn mir eher trübselig, verkrampft und schlecht gelaunt vorgestellt.

Stattdessen war er umgänglich und redselig – wirklich sonderbar für einen Briten – und schon ziemlich voll. Er lächelte ein bisschen viel und war allzu vertrauensselig, das arme Schwein. Der Barmann schob uns noch einmal drei bis oben hin volle Gläser zu, und ich zögerte.

Zwei hatte ich schon intus.

»Ist die Waffe wirklich nötig?«, fragte der Geistliche und hickste. »Hier droht doch bestimmt keine Gefahr.«

»Ich gehe nirgendwo ohne hin«, erwiderte ich.

Leo beugte sich nach unten und ging mit der Nase ganz nah an meine Hüfte heran. »Du hast immer noch seinen Revolver? Nach all den Jahren?«

»Wessen?«, fragte Henry und schaute mit großem Interesse ebenfalls hin.

»General Gordons«, antwortete Leo mit gedämpfter Stimme, bevor er in einer feierlichen Ehrenbezeugung sein Glas hob.

»Der General Gordon?«, erkundigte sich Henry in einem ehrfürchtigen Flüstern. »Das ist seine Waffe?«

Ich nickte knapp und griff nach dem Glas. Ohne weiter nachzudenken, nahm ich einen tiefen Schluck.

»Aber wie sind Sie daran gekommen?«, stammelte der Geistliche. »Wie ich hörte, wurde er geköpft …«

»Noch eine Runde?«, rief Leo dazwischen.

»Wir hatten doch gerade erst eine«, protestierte Henry.

»Ich habe so ein Gefühl, dass wir noch eine gebrauchen könnten«, erwiderte Leo mit einem besorgten Blick in meine Richtung. Er kannte natürlich die ganze Geschichte meiner unrühmlichen Zeit beim Militär. Ich war rausgeworfen worden, ohne mich vorher rechtfertigen oder verabschieden zu können. Nicht, dass mir das etwas ausgemacht hätte. Na ja, ab und zu vielleicht schon, wenn ich daran dachte, wie ich Leo einfach seinem Schicksal überlassen hatte.

Aber selbst dann hatte ich das Gefühl, er hätte es verstanden, auch wenn er nie Gelegenheit hatte, öffentlich für mich Partei zu ergreifen. Aber das spielte keine Rolle mehr, denn jetzt war er ja hier.

»Na denn Prost, wie man so schön sagt«, brachte Henry trotz Schluckauf noch heraus.

Wir hoben unsere Gläser. Mitgefangen, mitgehangen.

Wie man so schön sagt.

Verdammt noch mal, wie spät war es inzwischen eigentlich? Leos Gesicht verschwamm vor meinen Augen. Der Gesang war lauter geworden. Oh Gott, furchtbar laut. Aber ich hatte uns noch ein paar Zentimeter an der Theke erobert. Hurra!

»Wolltest du nicht Henry etwas fragen?«, brüllte Leo mir ins Ohr.

»Oh, verdammt«, sagte ich und zuckte zusammen.

Er lachte mit rotem Kopf und ganz und gar nicht mehr geschniegelt.

Henry verschwand ans andere Ende der Theke und kam mit noch mehr Bier zurück. Er hatte immer wieder neues. Es musste statt Blut durch seine Adern fließen.

»Ich muss heiraten!«, brüllte ich.

»Was?«, brüllte Henry zurück.

»ICHMUSSHEIRATEN! WÜRDENSIEDIETRAUUNGVOLLZIEHEN?«

Er blinzelte und verschüttete etwas von seinem Bier, als er mir die Hand auf die Schulter legte. »Na klar! Ich hasse Beerdigungen.«

»Das verlangt nach Whiskey«, sagte Leo und ließ ein leises, wehmütiges Lachen vernehmen. »Mehr Whiskey«, verbesserte er sich.

Erleichterung kämpfte sich durch den Nebel in meinem Gehirn. Ich hatte einen Geistlichen.

Und ich würde Inez bekommen.

Gott sei Dank.

Ich hob mein Glas und ließ mich in die Besinnungslosigkeit versinken.

In der Eingangshalle herrschte Stille, als wir endlich aus der Bar torkelten. Leo schaffte es ein paar Schritte weit, bevor er sich an eine der massiven Granitsäulen lehnen musste. Meine Knochen fühlten sich so locker an, als wäre ich eine Gliederpuppe, aber mein Kopf war von einem so dicken Dunstschleier erfüllt, dass ich zu keinem einzelnen Gedanken wirklich durchdringen konnte.

»Hat er gesagt, er würde es machen?«, fragte ich, während ich versuchte, mich an die genauen Worte des Geistlichen zu erinnern. Er war schon vor einer Stunde gegangen. Vielleicht war es auch länger her. Am Ende hatte ich gar nicht mehr auf die hölzerne Uhr geschaut.

Leo nickte, dann zuckte er zusammen. »Weißt du nicht mehr, dass du geschrien hast, du wolltest heiraten?«

»Was? Nein.« Das wäre extrem dumm von mir gewesen. Es sollte doch niemand etwas von unseren Plänen erfahren. Irgendjemand konnte leicht mit der Neuigkeit zum allseits bekannten Ricardo Marqués gehen.

»Fast alle da drinnen haben dir gratuliert«, erzählte Leo. Ich stand fast einen Meter von ihm entfernt und konnte immer noch den Alkohol auf seinem Atem riechen.

Obwohl sich der Raum anfing zu drehen, drang ein ernüchterndes Unbehagen zu mir durch. Ich schluckte den sauren Geschmack auf meiner Zunge herunter. Schweigend sahen wir zu, wie eine illustre Gästeschar aus der Bar kam, einige noch aufrecht, andere leicht schwankend und ein paar, die von Freunden herausgetragen werden mussten. Ich war einigermaßen stolz, dass ich keine Probleme damit hatte gerade zu stehen.

»Zurück«, sagte Leo plötzlich und schaute wie gebannt auf eine große Gruppe, die sich etwa drei Meter von uns entfernt herumdrückte.

Instinktiv versteckte ich mich hinter der Säule, weg vom Eingang zur Bar. Von dort aus riskierte ich einen Blick auf die Gruppe.

»Stopp!«, zischte Leo.

Zu spät. Ich hatte meinen ehemaligen Hauptmann schon entdeckt. Nach dem Blick zu urteilen, den er meinem Freund zuwarf, konnte kein Zweifel bestehen, dass er uns beide zusammen trinken gesehen hatte – und womöglich auch noch den Geistlichen in unserer Gesellschaft.

Leo stieß einen scharfen Pfiff aus, und ich hörte mehrere Männer lachend und laut redend näher kommen. Ich kam hinter der Säule hervor und staunte, meinen Freund von Soldaten umringt zu sehen. Einige von ihnen hatten mir ein paar Runden spendiert. Ich begriff, dass Leo hoffte, sie könnten mich mit ihren breiten Rücken vor dem aufmerksamen Blick des Hauptmanns schützen, doch das funktionierte nicht.

Er kam herüber. Die Soldaten nahmen Haltung an, ein paar verzogen sich in Richtung Hoteleingang. Die prunkvolle Uniform des Hauptmanns konnte mit allerhand Abzeichen aufwarten, die in dem Kerzenschein um uns herum eindrucksvoll funkelten. Er nahm mich abschätzend unter die Lupe und zog missbilligend die Lippen zusammen. Weder meine staubigen Stiefel und mein zerknautschtes Hemd noch meine zu langen Haare und der Alkohol auf meinem Atem entgingen seiner Aufmerksamkeit.

»Whitford«, sagte er, »wie ich höre, haben Sie im Club vorbeigeschaut.«

Es schien mir das Beste, den Mund zu halten.

»Sie arbeiten immer noch für Ricardo. Weiß er, dass Sie vorhaben, seine Nichte zu heiraten?«

Mir wich alle Farbe aus dem Gesicht.

»Ich denke, nicht«, beantwortete er sich seine Frage mit einem kalten Lächeln selbst. »Sie haben sich kein bisschen verändert, Whitford.« Er schüttelte den Kopf, und auf seinen harten Gesichtszügen zeichnete sich Verachtung ab. »Das hat Ihr Vater nicht verdient.« Dann wandte er sich Leo zu, der sich immer noch an der Säule festhielt. »Wir sehen uns morgen früh.«

Mit gestrafften Schultern und kerzengeradem Rücken marschierte er davon.

Mir dröhnte es in den Ohren. »Woher wusste er, dass es Ricardos Nichte ist?«

Leo brach in schallendes Gelächter aus. »Das hast du doch selbst in der Bar zum Besten gegeben, du Idiot.«

Teufel noch mal! Es half alles nichts, jetzt mussten Inez und ich eben früher heiraten. Wenn jemand mein Leben komplett ruinieren wollte, dann doch wohl der Mann, der mich beim Militärgericht angezeigt hatte.

Erst nachdem ich mich von Leo verabschiedet hatte, spürte ich, dass mich jemand vom oberen Treppenabsatz aus beobachtete. Ich legte den Kopf in den Nacken. Mein Mund war staubtrocken und mein Blick verschwommen. Auf der ersten Stufe stolperte ich und konnte mich kaum aufrecht halten. Die Gestalt kam mir irgendwie bekannt vor.

Es dauerte eine Minute, bis sich die Umrisse herauskristallisiert hatten und schärfer geworden waren. Es war eine junge Frau, ihr Gesichtsausdruck nur schwer zu deuten. Es hätte ungläubiges Entsetzen sein können. Dann drehte sie sich um und ging zügig davon, während sie sich den Gürtel ihres Morgenmantels fester um ihre schlanke Taille band. Dunkle Locken fielen ihr auf die Schulter. Jetzt endlich erkannte ich sie.

Inez.

Capítulo dos

Der Anblick von Whit in betrunkenem Zustand hatte mich tief erschüttert. Ich lief aufgeregt in meinem Hotelzimmer auf und ab und versuchte, mir auf das, was ich da gesehen hatte, einen Reim zu machen. Ich war auf die Suche nach anderen Ausgängen aus dem Shepheard’s gegangen als den großen Doppeltüren, die alle benutzten, und da hatte ich ihn dort stehen sehen – ausgerechnet in einem Kreis von Soldaten. Etwas, das ich nie für möglich gehalten hätte, wenn man bedachte, wie er zu seiner Zeit beim Militär stand. Ganz zu schweigen von meiner persönlichen Einstellung dazu. Doch da war er, entspannt lächelnd, ein bisschen schwankend, aber ganz offensichtlich fühlte er sich sehr wohl. Dann sprach er mit jemandem von höherem Rang in einer mit Abzeichen behangenen Uniform, und bei dem Anblick drehte sich mir der Magen um.

Das ergab doch alles keinen Sinn.

Whit wollte nichts mehr mit der Armee zu tun haben. Das hatte er mir jedenfalls zu verstehen gegeben. Er wollte auf keinen Fall noch einmal an das, was geschehen war, erinnert werden. Deshalb konnte ich ihn mir auch nicht beim netten Plausch mit ehemaligen Kameraden vorstellen. Und warum sollte irgendein britischer Soldat, geschweige denn ein Hauptmann, den Kontakt mit einem suchen, der unehrenhaft entlassen worden war?

Ich hatte die Balkontüren offenstehen lassen, weil ich frische Luft brauchte. Der Mond zeigte sich, und die Nacht war still und friedlich. Ich hätte eigentlich ins Bett gehen sollen, aber das Herz klopfte mir bis zum Hals. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte ich Whitford Hayes nicht über den Weg getraut. Ich hatte nur das Schlimmste von ihm gedacht. Aber dann hatte er mir eine verborgene Seite von sich gezeigt, und ich hatte meine anfängliche Meinung über ihn geändert.

Er gab mir ein Gefühl von Sicherheit.

Als ich ihn allerdings so sah wie heute Nacht, betrunken und im fröhlichen Beisammensein mit Armeeangehörigen, schlich sich ein quälender Zweifel in mein Herz.

Was, wenn ich ihn von Anfang an richtig eingeschätzt hatte?

»Aufwachen, Inez.«

Ich regte mich unter meiner Bettdecke und blinzelte ins Kopfkissen hinein. Das hatte sich nach Whit angehört. Ich drehte mich um und spähte durch das dichte Gewebe des Moskitonetzes. Er war es tatsächlich.

»Na, wer verletzt denn jetzt die Umgangsformen?«, bemerkte ich, nachdem ich meine Sprache wiedergefunden hatte.

Normalerweise hätte mir das ein amüsiertes Lächeln oder sogar ein leises Lachen eingebracht. Doch jetzt blieb Whits verschwommene Gestalt stumm und reglos.

»Wie spät ist es?«, fragte ich.

»Noch früh«, kam die knappe Antwort. »Kannst du vielleicht mal da rauskommen?«

»Irgendetwas sagt mir, dass mir nicht gefallen wird, was du zu sagen hast.«

»Vermutlich nicht.«

Ich seufzte, und mein Magen krampfte sich nervös zusammen. Whit zog das Moskitonetz zur Seite, und ich murmelte ein leises Dankeschön, während ich unter der Decke herausschlüpfte. Mein Nachthemd war locker und lang, und ich zog es, verlegen und schüchtern, enger um mich. Whit hielt sich zurück, sein Gesichtsausdruck war distanziert und auf der Hut. Er hatte noch dasselbe an wie in der vergangenen Nacht, roch nach Whiskey, Knoblauch und Torf und war umgeben von einer Rauchwolke. Ich fragte mich, ob er überhaupt sein Bett gesehen hatte oder ob er auch noch den Rest der Nacht mit seinen alten Kameraden verbracht hatte.

»Ich habe dich in der Eingangshalle gesehen.«

Ein Muskel an seinem Kiefer zuckte. »Ich weiß.«

»Wer waren die Männer?«

Whit zuckte die Achseln. »Niemand von Bedeutung.«

Ich legte nachdenklich den Kopf schief. Dass sie vom Militär waren, war ja nicht zu übersehen gewesen, und dass er sie kannte, auch nicht. Ich hätte besser fragen sollen, warum er mit ihnen einen trinken gegangen war, obwohl er doch eigentlich alles für unsere Hochzeit regeln wollte. Seit er mir ausführlich erklärt hatte, was ich beitragen sollte, hatte ich ihn kaum zu Gesicht bekommen. Seine eigene Aufgabenliste war ziemlich umfangreich gewesen. Ich hatte ihn so verstanden, dass es an ein Wunder grenzen würde, wenn sich in so kurzer Zeit eine Hochzeit organisieren ließe, und das auch noch hinter dem Rücken meines Onkels.

»Hast du überhaupt geschlafen?«

Whit tat meine Frage mit einer ungeduldigen Handbewegung ab. Ich machte einen Schritt auf ihn zu, bemerkte die blutunterlaufenen Augen und den angespannten Kiefer. Sein für gewöhnlich glatt rasiertes Gesicht war in den letzten vierundzwanzig Stunden mit keinem Rasiermesser in Berührung gekommen. Wieder läuteten meine Alarmglocken. Seine Nerven schienen zum Zerreißen gespannt.

Jetzt würde er gleich die Hochzeit abblasen. Da war ich mir sicher.

Es wäre ein Fehler gewesen, mir überhaupt einen Antrag zu machen – unverantwortlich, eine Idee, die niemals hätte laut ausgesprochen werden dürfen. Er würde mir erklären, dass er es genauso sah wie mein Onkel, es wäre das Beste, wenn ich Ägypten verließ, und dann müsse ich mir jemand anderen suchen. Eine Zweckehe kam schließlich alle Tage vor. Da musste doch …

»Wir müssen schon heute heiraten.«

Ich blinzelte. »¿Qué?«

Er verschränkte die Arme. »Es muss heute sein. Zu viele Leute könnten sich einmischen, auf deinen Onkel treffen und ihm von unseren Plänen erzählen.«

In meinem Kopf drehte sich alles. »Aber …«

»Ich habe einen Trauzeugen und jemanden, der uns traut. An der Lizenz muss ich noch arbeiten.« Er redete weiter, als wäre ich nicht mit einem Mal hoffnungslos ins Schwimmen geraten und kurz vor dem Ertrinken. »Konntest du einen Weg aus dem Shepheard’s ausfindig machen?«

»Ja«, antwortete ich. »Ich habe noch kein Kleid. Muss es wirklich heute sein?«

»Wenn ich die Lizenz bekomme, dann ja. Wir treffen uns bei Sonnenuntergang an der Hängenden Kirche.«

Whit wandte sich zum Gehen, und ich streckte die Hand nach ihm aus, doch er war bereits an der Tür.

»Wie bist du überhaupt in mein Zimmer gekommen?«, fragte ich. »Ich habe doch den Schlüssel.«

»Ich habe mir unten den Ersatzschlüssel stibitzt«, erwiderte er über seine Schulter hinweg. »Die Sicherheitsvorkehrungen in diesem Hotel sind wirklich erbärmlich.«

»Whit …«

»Ich muss los«, sagte er hastig, und dann war er auch schon weg. Bevor ich noch einmal zu Wort gekommen war, bevor ich ihn fragen konnte, warum er so anders war als sonst, bevor ich darauf bestehen konnte, dass er mich ansah. Nur ein einziges Mal.

Ich stand unbeweglich da, überwältigt und geschockt. Es war, als könnte ich bereits das Schwanken des Schiffes unter meinen Füßen spüren, das mich zurück nach Hause zerrte.

Ich trug zu meiner Hochzeit Schwarz, und wenn ich in gefühlvoller Stimmung gewesen wäre, hätte ich mir einen Rückblick auf den Moment erlaubt, an dem ich in genau diesem Kleid zum ersten Mal Whit begegnet war. Doch diese entsetzliche Panik klebte an mir wie ein Grabtuch, und ich konnte an nichts anderes denken als an Whits distanziertes Verhalten am Morgen. Ich spielte an der einzigen Verzierung herum, die ich angelegt hatte, Mamás hell gemusterten Schrumpf-Schal. Ich hatte überlegt, ihn zurückzulassen, aber er erinnerte mich daran, warum ich überhaupt diese Ehe einging.

Meine Mutter durfte nicht triumphieren.

Ein lauter Aufschrei riss mich aus meinen Gedanken. Ein Kutscher war so gerade noch einem Straßenhund ausgewichen, der fröhlich ein paar spielende Kinder vor einem kleinen Marktstand anbellte. Gewürzfässer verströmten ihre Düfte: Paprika, Kreuzkümmel und Kurkuma. Nebenan lag Harraz, ein Spezialgeschäft für Kräuter und Duftstoffe, in dem viele Ägypter und Touristen das reichhaltige Angebot durchstöberten. Wenn sie herauskamen, rochen alle nach ätherischen Ölen, und ich hätte so gerne auch ein paar ausprobiert, aber dafür fehlte mir die Zeit. Ich wartete an der Straßenecke vor der Kirche auf Whit und schaute so lange dem bunten Treiben des Kairoer Straßenverkehrs zu. Niemand nahm Notiz von der Witwe, die da allein an der Ecke stand. Ich war in meiner Verkleidung mit einer Selbstsicherheit durch den Vordereingang des Shepheard’s spaziert, die mir gerade mehr und mehr abhandenkam, während die Minuten verstrichen.

Whit war zu spät. Viel zu spät.

Die Sonne ging langsam unter, und mit der zunehmenden Dunkelheit senkte sich eine kühle Luft über die Stadt. Die Klänge des Abendgebets hallten durch die anbrechende Nacht. Normalerweise fand ich das tröstlich, aber heute machte es mir nur einmal mehr bewusst, dass der Mann, den ich heiraten sollte, noch nicht da war.

Ein bisschen zweifelte ich schon daran, dass er überhaupt auftauchen würde.

Vielleicht war es ihm nicht gelungen, eine Lizenz aufzutreiben. Vielleicht hatte mein Onkel von unseren Plänen erfahren und stellte ihn in diesem Augenblick zur Rede. Tausend Gründe und Erklärungen kamen mir in den Sinn, allesamt durchaus im Bereich des Möglichen. Aber da gab es noch einen Grund, der mir schwer und unverdaulich im Magen lag, ganz nah bei meiner größten Angst.

Whit war nur ein weiterer Mensch in meinem Leben, der mich im Stich ließ.

Ich trat von einem Fuß auf den anderen und gab mir Mühe, nicht gleich das Schlimmste anzunehmen. Allerdings stieg es wie Dampf immer wieder neu in mir hoch und trieb mir den Schweiß in den Nacken. Whit konnte es sich anders überlegt haben. Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mir eine Taschenuhr. Ich wollte ihm noch ein paar Minuten geben, bevor ich ins Hotel zurückkehrte, und begann in meinem Kopf die Sekunden abzuzählen. Als ich schließlich bei fünfhundert angekommen war, machte ich mir keine Illusionen mehr.

Er würde nicht kommen.

Meine Füße schienen sich von ganz allein in Bewegung zu setzen, als ich mich langsam auf den Weg zurück zum Hotel machte. Was sollte ich jetzt tun? Ich dachte kurz darüber nach, mich mit dem Schal meiner Mutter zu einem Nichts zusammenzuschrumpfen, doch die Magie würde vermutlich bei Menschen gar nicht wirken. Ich wollte gerade die Straße überqueren, als ich einen lauten Schrei hörte und erschrocken merkte, dass da jemand meinen Namen rief.

»Olivera!«

Am Ende des Wegs tauchte eine vertraute Gestalt auf, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Erleichterung ergoss sich über mich wie Balsam über eine schmerzende Wunde. Ich atmete zitternd aus, während ich mir sein Gesicht anschaute. Whit wirkte irgendwie gelöst, unbeschwerter. Neue Hoffnung stahl sich in mein Herz wie ein hartnäckiges Unkraut.

Er blieb vor mir stehen.

»Hallo«, sagte ich verhalten.

Whit grinste und zog ein einzelnes Blatt Papier aus der Tasche. »Ich hab’s.«

»Die Lizenz? Jemand hat uns tatsächlich die Genehmigung zur Heirat erteilt?«

Er nickte, dann zog er mich an sich und drückte mich ganz fest. »Ich hätte nicht gedacht, dass wir das hinkriegen, Inez.« Mit dem rechten Arm umfasste er meine Hüfte, und ein warmes Gefühl ging mir bis hinunter in die Zehen. Der weiche Leinenstoff seines Hemdes strich über meine Schläfe, und ich spürte seinen regelmäßigen Herzschlag an meiner Wange.

»Warum zitterst du denn?«, flüsterte er in mein Haar hinein.

»Ich dachte schon, du kommst nicht.«

Whit hielt mich weit genug von sich weg, um in mein Gesicht sehen zu können. »Warum in aller Welt hast du denn das gedacht?«

»Du warst heute Morgen so distanziert«, erklärte ich. »Ich hatte nicht mehr das Gefühl, dass es unsere gemeinsame Entscheidung war. Und als ich dich letzte Nacht in der Halle sah, wusste ich nicht, was ich davon halten sollte.«

»Ich musste einen Freund um einen Gefallen bitten«, sagte er und zuckte leicht zusammen. »Und ich habe es mit dem Schauspielern ein bisschen übertrieben.« Er hob mit dem Zeigefinger mein Kinn an. »Ich würde es mir mit dem Heiraten nicht anders überlegen, Inez.«

»Es ist wahrscheinlich eine ganz blöde Idee«, erklärte ich. »Meinst du nicht?«

»Ja«, erwiderte er leise. »Aber eine andere Wahl haben wir ja wohl nicht.«

Da hatte er natürlich recht, aber mir gefiel überhaupt nicht, wie sich das anhörte – als wäre es nur eine Notlösung. Und wie sahen wir überhaupt aus. Keiner von uns beiden war dem Anlass entsprechend gekleidet. Ich trug kein neues Kleid mit Schleifen und Rüschen und auch nicht genug Schmuck, um zu funkeln wie ein weit entferntes Sternbild. Ich erstickte fast unter dem schweren Stoff. Es war Trauerkleidung. Und vielleicht war das ja auch ganz passend. Ich hatte mir immer einen Hochzeitstag unter blauem Himmel vorgestellt, in der Kirche, die ich von klein auf kannte, gefolgt von einem üppigen Frühstück. Umgeben von meinen Eltern und Verwandten und mit meiner Lieblingscousine Elvira an meiner Seite.

Doch meine Cousine war tot, mein Vater noch immer verschollen, und meine Mutter war eine Diebin.

Wir gingen auf die uralte Kirche zu, die erbaut war über dem Torhaus einer römischen Festung. Whit ging voran. Er trug eins von seinen zerknautschten hellblauen Hemden, das er in seine Khakihose gestopft hatte. Auch die Schuhe hatte er nicht gewechselt. Seine Schnürstiefel waren staubig und abgetragen. Sein Gesicht zeigte noch immer die Spuren unseres Aufenthalts in dem Grabmal: Auf seiner Wange hatte sich ein Bluterguss gebildet, an seinem unrasierten Kinn entlang verlief eine leichte Schnittwunde. Und seine Augen waren immer noch blutunterlaufen.

Ich hatte schon einige waghalsige Dinge in meinem Leben unternommen, aber heimlich zu heiraten setzte allem die Krone auf. Ich mochte gar nicht daran denken, was Tío Ricardo und Tía Lorena sagen würden, wenn sie mich jetzt sehen könnten. Aber ihre Kommentare hörte ich im Geiste trotzdem.

Unüberlegt. Töricht. Überstürzt.

Wenigstens nahm ich jetzt mein Leben selbst in die Hand. Traf eine Entscheidung, die es mir ermöglichte zu tun, was ich wollte, selbst wenn es ein Fehler sein sollte. Falls es einer war, würde ich schon einen Ausweg finden. Das tat ich doch immer. Ich konnte mich zumindest darauf verlassen, dass ich wusste, was ich wollte.

Und zwar in Ägypten bleiben – mit welchen Mitteln auch immer.