Geist & Leben 4/2023 - Christoph Benke - E-Book

Geist & Leben 4/2023 E-Book

Christoph Benke

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Beschreibung

GuL 96 (2023), Heft 4 Oktober-Dezember 2023 n. 509 Notiz Klaus Vechtel SJ Berufung und ignatianische Exerzitien [333-334] Nachfolge Albert Raffelt Blaise Pascal über die Bekehrung [336-345] Michael Höffner "Halten Sie Ihr Herz in der Weite". Franz von Sales - Gestalt an einer Zeitenwende [346-353] Rob Faesen SJ Im Vorfeld der Exerzitien. Petrus Canisius, Laurentius Surius und der "Taulerus" [354-360] Thomas Neulinger SJ Gottes Handeln, Wissen und Wesen. Eine Anmerkung zum ignatianischen "Gott finden in allen Dingen" [361-364] Nachfolge | Kirche Veronika Hoffmann Zeugnis des Glaubens. Authentisch und unmittelbar? [365-372] Dietmar Schon OP Neue Impulse orthodoxer Sozialethik [373-381] Gregor Taxacher Rettung als Fiktion. Zur narrativen Soteriologie von Heiligenlegenden [382-390] Nachfolge | Junge Theologie Simone Oelke Ökumene der Begegnung. Am Beispiel der Benediktinerabtei Niederaltaich [391-397] Reflexion Markus Knapp Wissenschaft und Glaube gehören zusammen. Vor 400 Jahren wurde Blaise Pascal geboren [398-404] Ingrid Fischer "Die Welt heiligen". Notizen zum Verständnis von Konsekration [405 -412] Martin Rötting Spiritualität als Navigation (I). Religionswissenschaft und geistliche Begleitung [413-419] Lektüre Christiane Wüste Der Gott der Gerechtigkeit. Jesajas Adventsbotschaft für heute [420-427] Pierre Bühler Etty Hillesum anders wahrnehmen. Was verändert die neue deutsche Gesamtausgabe? [428-435] Buchbesprechungen [436-440]

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Inhalt

Heft 4 | Oktober–Dezember 2023

Jahrgang 96 | Nr. 509

Notiz

Berufung und ignatianische Exerzitien

Klaus Vechtel SJ

Nachfolge

Blaise Pascal über die Bekehrung

Albert Raffelt

„Halten Sie Ihr Herz in der Weite“. Franz von Sales – Gestalt an einer Zeitenwende

Michael Höffner

Im Vorfeld der Exerzitien. Petrus Canisius, Laurentius Surius und der „Taulerus“

Rob Faesen SJ

Gottes Handeln, Wissen und Wesen. Eine Anmerkung zum ignatianischen „Gott finden in allen Dingen“

Thomas Neulinger SJ

Nachfolge | Kirche

Zeugnis des Glaubens. Authentisch und unmittelbar?

Veronika Hoffmann

Neue Impulse orthodoxer Sozialethik

Dietmar Schon OP

Rettung als Fiktion. Zur narrativen Soteriologie von Heiligenlegenden

Gregor Taxacher

Nachfolge | Junge Theologie

Ökumene der Begegnung. Am Beispiel der Benediktinerabtei Niederaltaich

Simone Oelke

Reflexion

Wissenschaft und Glaube gehören zusammen. Vor 400 Jahren wurde Blaise Pascal geboren

Markus Knapp

„Die Welt heiligen“. Notizen zum Verständnis von Konsekration

Ingrid Fischer

Spiritualität als Navigation (I). Religionswissenschaft und geistliche Begleitung

Martin Rötting

Lektüre

Der Gott der Gerechtigkeit. Jesajas Adventsbotschaft für heute

Christiane Wüste

Etty Hillesum anders wahrnehmen. Was verändert die neue deutsche Gesamtausgabe?

Pierre Bühler

Buchbesprechungen; Jahresinhaltsverzeichnis

Impressum

GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik

Erscheinungsweise: vierteljährlich

ISSN 0016–5921

Herausgeber:

Zentraleuropäische Provinz der Jesuiten

Redaktion:

Christoph Benke (Chefredakteur)

Dieter Fugger (Redaktionsassistenz)

Redaktionsbeirat:

Margareta Gruber OSF / Vallendar

Stefan Kiechle SJ / Frankfurt

Bernhard Körner / Graz

Edith Kürpick FMJ / Köln

Ralph Kunz / Zürich

Jörg Nies SJ / Stockholm

Andrea Riedl / Dresden

Klaus Vechtel SJ / Frankfurt

Redaktionsanschrift:

Pramergasse 9, A–1090 Wien

Tel. +43–(0)664–88680583

[email protected]

Artikelangebote an die Redaktion sind willkommen. Informationen zur Abfassung von Beiträgen unter https://geistundleben.net/. Alles Übrige, inkl. Bestellungen, geht an den Verlag. Nachdruck nur mit besonderer Erlaubnis. Werden Texte zugesandt, die bereits andernorts, insbesondere im Internet, veröffentlicht wurden, ist dies unaufgefordert mitzuteilen. Redaktionelle Kürzungen und Änderungen vorbehalten. Der Inhalt der Beiträge stimmt nicht in jedem Fall mit der Meinung der Schriftleitung überein.

Für Abonnent(inn)en steht GEIST & LEBEN im Online-Archiv als elektronische Ressource kostenfrei zur Verfügung. Nicht-Abonnent(inn)en können im chronologischen Online-Archiv auf alle Jahrgänge mit Ausnahme der letzten drei kostenfrei zugreifen. Registrierung auf www.geist-und-leben.de/.

Verlag: Echter Verlag GmbH,

Dominikanerplatz 8, D–97070 Würzburg

Tel. +49–(0)931–660 68–0, Fax +49–(0)931–660 68–23

[email protected], www.echter.de

Visuelle Konzeption: Atelier Renate Stockreiter

Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

Bezugspreis: Einzelheft € 13,50

Jahresabonnement € 45,00

Studierendenabonnement € 30,00

jeweils zzgl. Versandkosten

Vertrieb: Zu beziehen durch alle Buchhandlungen oder direkt beim Verlag. Abonnementskündigungen sind nur zum Ende des jeweiligen Jahrgangs möglich.

Auslieferung: Brockhaus Kommissionsgeschäft GmbH, Kreidlerstraße 9, D–70806 Kornwestheim

Auslieferung für die Schweiz: AVA Verlagsauslieferung AG, Centralweg 16, CH–8910 Affoltern am Alibs

Diesem Heft liegt folgender Prospekt bei: Gottes Wort im Kirchenjahr, Echter Verlag Wir bitten um Beachtung.

eISBN 978-3-42906-612-3

Notiz

Klaus Vechtel SJ | Frankfurt a. M.

geb. 1963, Dr. theol., Prof. für Dogmatik und Dogmenhermeneutik an der Phil.-Theol. Hochschule Sankt Georgen, Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN

[email protected]

Berufung und ignatianische Exerzitien

Der Begriff der Berufung gehört traditionell zum festen Bestandteil christlicher Lebenspraxis. Er deutet die Einsicht an, dass Lebensformen und Aufgaben aus der Perspektive des christlichen Glaubens über funktionale Eignung und professionelle Ausbildung hinaus einen tieferen und die ganze Existenz fordernden Sinn haben können. Aktuell ist dieser Begriff jedoch weitreichenden Anfragen ausgesetzt. So wird Berufung bis in die Gegenwart hinein elitär konnotiert und auf einen „Stand der Vollkommenheit“ sowie auf männliche Amtsträger in der Kirche eingeschränkt. Ist Berufung im christlichen Sinne eine exklusive Kategorie, die feudale Standesstrukturen und kirchlich-männerbündische Machtansprüche perpetuiert? Zudem stellt das neuzeitliche Verständnis von Freiheit und Autonomie den Berufungsbegriff in Frage: Trägt der Berufungsgedanke heteronome Maßstäbe von gelungenem Leben an Menschen heran und erklärt sie als normativ – was dem Freiheitsvollzug von Menschen widersprechen würde? Muss Berufung nicht konsequent bestimmt werden als eine frei wählbare individuelle Sinngebung religiösen Charakters? Missbräuchlich oder missbrauchsanfällig wäre, dieser möglichen, aber nicht notwendigen religiösen Sinngebung eine göttliche Legitimation zu verleihen, insofern sich solche göttliche Legitimierungsversuche der kritischen Überprüfung entziehen.

Die „Geistlichen Übungen“ des Ignatius von Loyola rechnen mit der Möglichkeit, dass Gott dem einzelnen Menschen einen ihm persönlich geltenden Willen kundtut, im Sinne einer ihn erfüllenden, einmalig-persönlichen Berufung. Und: Die ignatianischen Exerzitien möchten den Rahmen für eine möglicherweise zu vollziehende Entscheidung des Menschen bereitstellen, für eine „Wahl“, die sich Ignatius im Kontext seiner Zeit als Wahl zu einem christlichen Stand vorstellte („Rätestand“ oder „Stand der Gebote“). Zugleich betont Ignatius, dass Christus den Menschen beide Stände vorgelebt hat. Die Exerzitant(inn)en mögen sich darauf einstellen, „in jeglichem Stand oder Leben, das Gott unser Herr zu erwählen gibt, zur Vollkommenheit zu gelangen“1. Vollkommenheit ist nicht die Zugehörigkeit zu einem objektiven Stand, sondern die subjektiv gelebte Qualität einer je persönlichen Berufung – gleich in welchem „Stand“. Dabei wird Gott nicht als heteronomer Maßstab menschlichen Lebens im Geschehen der Wahl und Berufungsfindung wirksam. Für Ignatius ist Gott tätig, „indem er Sein gibt, erhält, belebt, und wahrnehmen macht“ (GÜ 236). Indem der Mensch all seine Kräfte einsetzt, um nach seinem persönlichen Lebensweg zu suchen, ist Gott wirksam als Ermöglicher menschlicher Freiheit. Doch die Emphase des Wahlgeschehens bleibt anfällig für verschiedenste Spielarten einer Verwechslung des Gotteswillens. Lassen sich der Wille Gottes und eine persönliche Berufung für das eigene Leben so leicht identifizieren?

Ignatius kennt eine Reihe von „Vorsichtsmaßnahmen“, Regeln zur Unterscheidung der Geister. Ihre Einhaltung ist notwendig, um eine Wahl in rechter Weise zu vollziehen. Bemerkenswert scheint mir folgende Aussage: „Nachdem diese Wahl oder Entscheidung getroffen ist, soll derjenige, der sie so getroffen hat, mit großem Eifer zum Gebet vor Gott, unseren Herrn, gehen und ihm diese Wahl anbieten, damit seine Majestät sie annehmen und bestätigen wolle, wenn es ihr größerer Dienst und Lobpreis ist.“ (GÜ 183) Warum bedarf die Wahl einer Bestätigung, wenn sie in rechter Weise vollzogen worden ist? Worin besteht die Bestätigung und wann ist sie abgeschlossen?

Das Exerzitienbuch sagt dazu nichts. Die Entscheidung besagt nicht, dass ich mich des Gotteswillens durch ein Finden der eigenen Berufung bemächtigen kann. Die Entscheidung ist abzugeben an den immer größeren Gott. Die Entschiedenheit auf dem Weg der Nachfolge in der Form, eine persönliche Berufung zu leben, hebt die Offenheit und die Unfeststellbarkeit der menschlichen Existenz nicht auf, sondern bestätigt diese. Die weitere Lebensgeschichte, in der Gott ermöglichend dabei ist, vertieft, konkretisiert die Berufung, und modifiziert sie auch. Berufung wäre in diesem Sinne nicht prospektiv zu bestimmen. Das Gotteswort bei Jeremia „noch ehe ich Dich im Mutterleib formte, habe ich Dich ausersehen“ (Jer 1,15), ist eher retrospektiv – im Rückblick auf ein Leben, das durch vielfache Brucherfahrungen gekennzeichnet ist – „gewonnen“. Von Berufung zu sprechen setzt diachrone Zusammenhänge voraus: Im Erkennen von Kontinuitäten in allen Veränderungsprozessen und auch schmerzhaften Brüchen lässt sich vielleicht eine Kontur, eine Lebensgestalt ablesen, die mit dem christlichen Verständnis der Berufung in Verbindung gebracht wird. Diese Gestalt ist von einer unauflösbaren Spannung von Aktivität und Passivität geprägt, von freiem Entscheiden und Handeln auf der einen und einem „Sichleiten-Lassen“ und „Erleiden“ auf der anderen Seite.

1 Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen und erläuternde Texte, Graz – Wien – Köln 1983, Nr. 135.

Nachfolge

Albert Raffelt | Freiburg i. Br.

geb. 1944, Dr. theol., Honorarprofessor für dogmatische Theologie und stellvertretender Direktor i. R. der Universitätsbibliothek Freiburg

[email protected]

Blaise Pascal über die Bekehrung

Bekehrung ist ein zentraler Begriff bei Blaise Pascal. Die biographische Literatur spricht von einer „ersten“ Bekehrung, als die Familie nach einem Unfall des Vaters in Kontakt mit Ärzten kam, die dem Reformkloster Port-Royal nahestanden. Blaise hatte damals schon Aufsehen als Mathematiker erregt und arbeitete an seiner Rechenmaschine. Bekehrung bedeutet hier nicht die Zuwendung zum Christentum, wohl aber eine Intensivierung des religiösen Lebens und eine intellektuelle Bemühung.

Die intellektuelle Schärfe Pascals und das theologische Engagement zeigten sich bald in dem Streit um die humanistische Theologie des Kapuziners Jacques Forton, der ihm den Vorwurf der theologischen Polizei der Normandie einbrachte.1 Der in der Folge aufgenommene Kontakt zum Kloster Port-Royal zeigt den gleichen Willen zu theologischer Argumentation – was jedoch auf wenig Gegenliebe stieß, weil es wohl als ehrgeizige Selbstdarstellung empfunden wurde.

Pascal hatte Freunde in der „besseren Gesellschaft“. Er kannte Libertins, Freigeister, hochgestellte Persönlichkeiten usw. Man spricht von einer „mondänen“ Phase im Leben Pascals. Gesichert ist sein wissenschaftliches und praktisches Engagement. Noch in seinem letzten Lebensjahr erhält er ein Patent auf das erste öffentliche Verkehrsunternehmen in Paris, den Carosses à cinque sous. Aber wo liegt der Sinn dieser Tätigkeiten? „Die Wissenschaft der äußeren Dinge wird mich nicht über die Unwissenheit der Moral in Zeiten der Betrübnis trösten, aber die Wissenschaft der Sitten wird mich immer über die Unwissenheit in den äußeren Wissenschaften hinwegtrösten.“ (§ 23/57)2

Zerstreuung und Sammlung

Die nachgelassenen Fragmente bieten eine Perspektive zur Beschäftigung mit diesen „äußeren Dingen“. Im Französischen lässt sich der Gegensatz zwischen der Bekehrung und dem mondänen gesellschaftlichen Leben mit zwei Stichwörtern aus den Pensées kennzeichnen: se divertir / se convertir. Das divertissement ist eines der großen Themen zur Beschreibung der menschlichen Situation. Es steht unter dem Vorzeichen der Suche nach dem Glück – ganz augustinisch.3 „Aber wie erreicht er es? Er muss, damit es gelingt, sich unsterblich machen. Aber da er dies nicht kann, ist er darauf verfallen, nicht daran zu denken.“ (§ 134/166) Um nicht daran zu denken, muss er sich zerstreuen. Die untätige Ruhe drängt ihm die Gedanken an seine Situation auf. „Wenn ich manchmal die verschiedenen Beschäftigungen der Menschen betrachte und die Gefahren und Mühen, denen sie sich aussetzen […], habe ich oft gesagt, dass das ganze Unglück des Menschen von einer einzigen Sache herrührt, nämlich nicht ruhig in einem Zimmer bleiben zu können.“ (§ 136/177) Das dient der Bewältigung einzelner Unglückssituationen wie der generellen condition humaine: „Woher kommt es, dass dieser Mann, der so traurig ist über den Tod seiner Frau und seines einzigen Sohnes, […], in diesem Augenblick kein bisschen traurig ist […]? Man braucht darüber nicht zu staunen. Man hat ihm gerade einen Ball zugespielt, den er seinem Gefährten zurückwerfen muss.“ (§ 522/478) Nicht einmal die „schönste Stellung“ – das Königtum – bringt das Glück. (§ 136/177) Und schließlich: „Der letzte Akt ist blutig, wie schön die Komödie in allem übrigen sei.“ (§ 165/23) Die Zitate zeigen die literarische Pointierung Pascals. Sie lassen sich theoretisch nur sehr unanschaulich zusammenfassen. Viele Nebenlinien müssten einbezogen werden. § 166/24 schreibt bündig: „Wir laufen ohne Sorge in den Abgrund, nachdem wir irgendeine Sache vor uns gestellt haben, um uns daran zu hindern, ihn zu sehen.“

Wir haben die Fragmente hier eingeschoben, um mit Pascals Worten eine Situation und Suche zu beschreiben, wie wir sie für seine „mondäne“ Periode aus Briefen seiner Schwester Jacqueline an ihre ältere Schwester kennen: „Er kam, mich zu sehen und bei diesem Besuche eröffnete er sich mir auf eine Art, die mein Mitleid erregte, indem er mir gestand, dass er inmitten seiner Beschäftigungen, die bedeutsam waren, und unter allen Dingen, die dazu beitragen konnten, ihn die Welt lieben zu lassen, und von denen man mit Recht glauben konnte, dass er sehr an ihnen hing, er solcherart gedrängt war, all dies zu verlassen, und dass er sich infolge einer äußersten Abneigung gegenüber den Torheiten und Vergnügungen der Welt, und des ständigen Vorwurfs seines Gewissens, sich von allen Dingen solcherart losgelöst fühlte, wie er es noch niemals, auch nicht auf ähnliche Weise empfunden habe; dass er aber anderseits in einer solchen Gottverlassenheit war, dass er von dort her keine Anziehung verspürte.“4 Jacqueline hatte gehofft, dass er sich den frommen, hochgebildeten Intellektuellen („Solitaires“) im Umkreis des Klosters anschließen würde. Er blieb aber „in der Welt“.

Das Mémorial

In diese Zeit fällt der 23.11.1654. Wir sind nur durch einen Zufall über das Ereignis unterrichtet, in dem Pascal seine religiöse Erschütterung für sich selbst festgehalten hat. In den Briefen Jacquelines taucht das Datum nicht auf. Immerhin spricht sie aber von unserem „Neubekehrten“. Wir wissen davon, weil nach seinem Tod ein Gedenkblatt, eingenäht in seine Kleidung, gefunden wurde. Es ist ein einzigartiges Dokument. Die Nachwelt hat es eigentlich erst breiter kennengelernt, als der Aufklärer Condorcet es als Beispiel der abergläubischen Seite des als Wissenschaftler geschätzten Autors abdruckte. Eingebürgert hat sich die Bezeichnung Mémorial. Wir haben somit ein Datum für dasjenige, was man als „zweite Bekehrung“ Blaise Pascals bezeichnet hat. (§ 913/739)

„Das Jahr der Gnade 1654

Montag, 23. November, Tag des heiligen Clemens, Papst und Martyrer, und anderer im Martyrologium.

Vorabend des heiligen Chrysogonus, Martyrer, und anderer.

Seit ungefähr zehneinhalb Uhr abends bis etwa eine halbe Stunde nach Mitternacht.

Feuer

›Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs‹ [Ex 3,6]5,

nicht der Philosophen und Gelehrten.

Gewissheit, Gewissheit, Empfinden: Freude, Friede,

Gott Jesu Christi

›Deum meum et Deum vestrum.‹ [Joh 20,17]

›Dein Gott wird mein Gott sein.‹ [vgl. Ruth 1,16]

Vergessen von der Welt und von allem, außer Gott.

Nur auf den Wegen, die das Evangelium lehrt, ist er zu finden.

Größe der menschlichen Seele […].“

Auf zwei Punkte sei hingewiesen: Es geht um den lebendigen Gott, nicht um eine philosophische Gottesidee. Der Umgang mit den Philosophen in den Pensées muss differenzieren zwischen dem sterilen Deismus, einem Gott, „der bloß der Urheber mathematischer Wahrheiten und der Ordnung der Elemente ist“ (§ 449/217), und „Platon, um auf das Christentum hinzuführen“ (§ 612/530), der – wie bei Augustinus – die Sehnsucht auslösen konnte. Die genaue Datierung zeigt, dass hier jemand etwas notiert, der in kirchliche und liturgische Zusammenhänge eingebunden ist und diese präsent hat. Dazu kommt die zugrunde liegende Meditation biblischer Texte, von denen die Zitate Ex 3,6, Joh 20,17 und Ruth 1,16 in den Anfang des Gedenkblatts eingehen.

Aber trotz aller Vorbereitung ist es eine plötzliche Erschütterung. Es ist der Punkt, an dem sich Pascal ganz entschieden eine christliche Existenz gewählt hat. Die Feuer-Metaphorik erinnert an ähnliche Erfahrungen in religiösen Texten, zunächst natürlich an die Stimme aus dem brennenden Dornbusch an Mose. Andere biblische Aussagen könnte man heranziehen (etwa Lk 24,32) sowie aus dem Umkreis Pascals Feuer und das brennende Herz im Augustinus-Bild von Philippe de Champaigne. Jüngst hat Michael Triegel reduktionistisch ein Memorial für Blaise Pascal mit der Feuersymbolik gemalt.

Wir lassen die biographischen Phasen Pascals nach dem Mémorial aus. Aber für unser Thema ist von Bedeutung, dass er in seinen letzten Lebensjahren an einer Apologie der Religion arbeitete. Das ist ein theoretisches Unternehmen. Es bleibt die Spannung bestehen zwischen theoretischer Reflexion und dem Vollzug mit ganzem Herzen. Es gibt kein „Hinüberphilosophieren“ in den Glauben.

Nun hat Pascal keine philosophische Apologie im technischen Sinne beabsichtigt. Aber er wollte seinem Umfeld klarmachen, dass „die Religion nicht der Vernunft entgegengesetzt ist. Verehrungswürdig, ihr Respekt verschaffen. Sie schließlich liebenswert machen, in den Guten den Wunsch wecken, dass sie wahr sei, und schließlich zeigen, dass sie wahr ist. Verehrungswürdig, weil sie den Menschen gut gekannt hat. Liebenswert, weil sie das wahre Gut verspricht.“ (§ 12/456)

Die Wette

Das beginnt damit, die Selbstsicherheit der „Verächter“ der Religion zu erschüttern. Dem dient das berühmte Fragen der Wette (§ 418/8). Es kann keine Bekehrung initiieren, aber die anthropologischen Voraussetzungen ansprechen. Zunächst soll es dem Agnostiker klarmachen, dass das „Setzen“ auf die Hoffnungsperspektive der Religion keineswegs unvernünftig, sondern im Gegenteil angesichts der Unendlichkeit des Angebots eine vernünftigere Handlungsalternative ist, wenn man gezwungen ist, zu wählen, und das Angebot genauso realistisch ist wie die Verweigerung. Auf diese kalkulatorische Seite gehen wir hier nicht näher ein. Sie hat Ablehner wie Zustimmer gefunden. Zu Ersteren gehört etwa Voltaire, letztere reichen von enthusiastischen „Erweiterern“ des Arguments6 bis zum klug differenzierenden Wissenschaftstheoretiker Nicholas Rescher, der es in seiner Autobiographie übrigens auch im Zusammenhang seiner eigenen Konversion erwähnt.7

Aber die kalkulatorische Seite ist nur ein Aspekt. „Hinter das Spiel“ schauen kann man mit Hilfe der Heiligen Schrift, was dem Agnostiker aber so natürlich nicht möglich ist. Der Weg dahin ist, von der theoretischen auf die lebenspraktische Ebene zu wechseln, sich von seinen Leidenschaften, seiner Selbstbezogenheit zu befreien. Bei Pascal ist dies provokant formuliert: „Lernen Sie von denen, die wie Sie gebunden waren […]. Folgen Sie der Art, wie sie begonnen haben, die darin bestand, alles zu tun, als ob sie glaubten, indem sie Weihwasser nahmen, Messen lesen ließen usw. Gerade das wird Sie auf natürliche Weise zum Glauben bringen und instinkthaft werden lassen“ – womit wir das Verb abêtir (zum Tier werden) von der gemeinten Sache her (aus der cartesischen Anthropologie) interpretierend übersetzt haben. Die Vordergründigkeit eines Tuns-als-ob ist aber nicht der Sinn des Hinweises. Gemeint ist, dass der Vollzug die Sinnhaftigkeit zeigt, was nochmals „kalkulatorisch“ veranschaulicht wird: „Was kann Ihnen denn Schlimmes zustoßen, wenn Sie sich auf diese Seite schlagen? Sie werden treu, ehrbar, demütig, dankbar, wohltätig, Freund, aufrichtig, wahrheitsliebend… sein.“ Und weiter: „Sie werden in diesem Leben dabei gewinnen; und Sie werden bei jedem Schritt, den Sie auf diesem Wege tun, Ihren Gewinn so sicher und Ihr Wagnis so nichtig sehen, bis Sie schließlich erkennen: Sie haben um etwas Sicheres, Unendliches gewettet, für das Sie nichts gegeben haben.“ Das ist die aversio vom Vorläufigen und die conversio und reversio zu einem letzten Sinn. Augustinus beschreibt seinen Weg mit diesen Begriffen: „Unser Gut hat sein Leben allzeit bei Dir, und weil wir hievon uns abgekehrt haben [aversi], sind wir verkehrt geworden [perversi]. Nun, Herr, wollen wir zurückkommen [revertamur], auf dass wir nicht umkommen [evertamur].“8

Über die Bekehrung

Als Reflexion auf den Bekehrungsweg und das im Mémorial dokumentierte Bekehrungserlebnis kann die kleine Schrift Über die Bekehrung9 herangezogen werden. Sie beginnt mit einem Handeln Gottes: „Das Erste, was Gott der Seele eingibt, die er wirklich berühren möchte, ist eine ganz außergewöhnliche Kenntnis und Sicht, durch welche die Seele die Dinge und sich selbst auf eine völlig neue Weise betrachtet.“ Das initium fidei liegt bei Gott. Das bedeutet aber nicht reine Passivität des Menschen. Die neue Sicht setzt die Offenheit des Suchenden voraus und nimmt ihn mit auf einen Weg: „Dieses neue Licht flößt ihr Furcht ein und bringt eine Unruhe bei, welche die Ruhe durchquert, die sie bei den Dingen fand, die ihre Vergnügungen ausmachten. Sie vermag nicht mehr ungestört die Dinge auszukosten, die sie bezauberten. Ein ständiges Bedenken ficht sie bei diesem Genuss an, und diese innere Sicht lässt sie nicht mehr diese gewohnte Süße bei den Dingen finden, denen sie sich mit voller Hingabe ihres Herzens überließ.“