Geister und Metall - Alva M. Helmer - E-Book

Geister und Metall E-Book

Alva M. Helmer

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Beschreibung

Eine junge Frau, die wegen des gewaltsamen Todes ihrer Familie und der Entführung ihrer Mutter schlagartig erwachsen werden muss, schlägt sich auf der Suche nach ihr in einer grausigen Welt voller Gefahren durch. Dabei deckt sie einen ganzen Untergrund schrecklicher Schicksale auf und muss erkennen, dass sie weit mehr mit diesen in Verbindung steht, als sie es sich hätte vorstellen können.

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Seitenzahl: 523

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 1

Die letzten Vorkehrungen für das prachtvolle Fest an diesem Abend wurden getroffen. Lady Bink Peppermint Sword hastete durch ihr großes Anwesen und kontrollierte streng die beträchtlichen Räumlichkeiten. Endlich war der Tag gekommen, an dem ihre bereits zwanzigjährige Tochter mit dem Mann zusammenkommen sollte, mit dem eine Verlobung wünschenswert wäre.

Lady Bink trug ein dunkles, biederes Kleid, das mit zarten Goldfäden abgesetzt war. Ihre schwarzen Haare waren wie immer fein säuberlich zu einem strengen Knoten gebunden. Darauf trug sie einen kitschigen, mit goldenen Blumen besetzten Hut. Sie war nervös und rief immer wieder nach einem ihrer vielen Bediensteten, der den aus ihrer Sicht ein oder anderen Makel beseitigen sollte.

Sahra, die kleine, schlanke Kammerzofe, versuchte, unbemerkt an ihr vorbeizuhuschen.

»Warte, Sahra!«, zischte Lady Bink. »Wo ist Valentina? Ist sie endlich manierlich anzusehen, oder können wir nur weiterhoffen, dass sie unserem Fest beiwohnen wird?«

Sarah knickste höflich und lief sofort die breite, alte Treppe hinauf, um nach Lady Binks Tochter zu sehen.

Vale war in ihrem Zimmer. Sie kauerte in einem hellen, weit ausgestellten Kleid vor ihrem Bett und zeichnete auf einem alten Stück Papier einige skurrile Skizzen von Feen und Kobolden. Sie wollte die letzten ruhigen Momente vor dem Fest genießen, hasste sie doch solche Veranstaltungen. Immer müsste sie lächeln, sich für ordinäre Jagdgeschichten interessieren und stets höflich und zuvorkommend sein. Solch ein Fest der gehobenen Klassen war wirklich nicht das, was sie schätzte. Des Weiteren wusste sie, dass Lord Graham Jasper ebenfalls anwesend wäre: Fast doppelt so alt wie sie, war er der Mann, mit dem ihre Mutter sie gerne verheiraten wollte. Sie wusste nicht genau, aus welchem Grund, doch sie konnte diesen Menschen nicht erdulden.

Eilig klopfte es an ihre Zimmertür. Vale seufzte, denn sie wusste, dass es nun so weit war, der Veranstaltung selbstgefälliger Trunkenbolde und aufgeblasener Gattinnen beizuwohnen.

Sarah steckte ihren schmalen Kopf durch die Tür. »Lady Valentina, Ihre Mutter fragt an, ob Sie bereit für die Festivitäten seien.«

Vale nickte etwas frustriert. »Du sollst mich doch Lady Vale nennen. Wenn du schon nicht auf den Titel verzichten kannst, dann nenn mich wenigsten bei meinem abgekürzten Namen.«

Sarah nickte beschämt. »Was kann ich Ihrer Mutter ausrichten?«

»Ich komme gleich herunter.«

»Nein, du kommst sofort herunter!«

Vale und Sarah zuckten zusammen, als Lady Binks düstere Stimme den Raum durchdrang. Sarah entfernte sich schnell und lief wieder nach unten, während Vale noch immer auf dem Boden saß und ihre Mutter zu gleichen Teilen ablehnend und energielos ansah. Lady Bink stapfte auf Vale zu und zog sie grob am Arm nach oben.

»Wie kannst du nur mit diesem wunderschönen Kleid auf dem Boden sitzen?« Lady Bink drehte Vale robust zum Spiegel. »Und was ist das? Wie sieht deine Frisur aus?« Resolut zupfte sie an Vales Haaren herum und schnaufte dabei wütend, jedoch kaum hörbar vor sich hin. »Man kann noch immer deine weißen Haarsträhnen sehen, Valentina. Ich habe dir gesagt, du sollst genügend Schuhcreme verwenden, um sie hinreichend abzudecken. Die Männer werden noch denken, du wärest ein altes Weib.« Hastig zog sich Lady Bink dünne Handschuhe über ihre dürren Hände, schmierte die dunkle Creme darauf und nahm unnötige Verbesserungen an Vales Haaren vor. Diese nahm es wie üblich hin, wenn ihre Mutter forsch ihre Haare mit der klebrigen Masse einrieb und ihr dann grob kleine spitze Nadeln in den Haarschopf steckte. Lady Bink nahm einen Fächer und wedelte ihrer Tochter Luft zu, sodass die Haare schneller trockneten. »Ich nehme an, dieses Mal weißt du, wie du dich in Gesellschaft zu benehmen hast?«

Vale nickte frustriert.

»Du weißt: keine Gespräche über das Reisen. Das ist ein Thema, das die Männer zu glauben zwingt, du gingest bald fort. Und Konversationen über Politik sind auch tabu. Denn in unserer Region wählen Frauen keine Volksvertreter, wie du weißt. Frauen haben damit rein gar nichts am Hut. Apropos Hut: Du könntest über deinen neuen Hut plaudern, der den weiten Weg von Lichtfeste aus hierhergefunden hat, um nun dein hübsches Köpfchen zu schmücken.«

Vale war von dem Monolog ihrer Mutter entnervt. Sie wollte sich gerade dazu äußern, als Bink weiterschwadronierte.

»Du darfst über Kleider sprechen und darüber, welche Farben du magst. Vielleicht merkst du auch mal an, dass du Bilder malst, aber kein Wort über diese abartigen Naturwesen, Geister oder wie auch immer sie heißen! Du weißt, das ist Unfug! Und kein Wort über deine Manuskripte! Das mit dem Schreiben wird sowieso aufhören, wenn du verheiratet bist. Was ich damit sagen will? Männer mögen einfach keine intelligenten Frauen, Valentina. Merk dir das!« Lady Bink zupfte weiter streng an Vales Haaren herum und versuchte immer wieder, ihr Kleid so zurechtzuschieben, bis es ihren Anforderungen entsprechen würde. »Lord Graham Jasper ist ein wunderbarer Mann. Er sieht gut aus, hat eine beachtlich höfliche Ausdrucksweise und ist zudem noch sehr wohlhabend.«

Vale zog die Augenbrauen fragend nach oben. »Dann nimm du ihn doch, wenn du so begeistert von ihm bist!«

Lady Bink zog wütend die Korsagenschnüre am Kleid ihrer Tochter fester und tat so, als hätte sie Vales letzte Äußerung nicht gehört. »Du musst immer schön aussehen, immer gepflegt sein und dem Mann immer zuhören! Wenn ihr dann verheiratet seid, schenkst du ihm einen Sohn!«

Eine unangenehme Stille breitete sich in Vales großzügigem Zimmer aus.

»Leider ist dein jüngerer Bruder vor vielen Jahren verschwunden …«

»Was ihn wohl dazu bewogen hat, von hier fortzugehen?«, fragte Vale zynisch.

»Genug! Ich möchte einfach nicht, dass du den gleichen Fehler machst wie ich und dir einen Träumer als Ehemann nimmst, für den du dann im Endeffekt aufkommen musst.«

Vale drehte sich frustriert zu ihrer Mutter. »Aber wenn ich weder einen reichen Schnösel noch einen Taugenichts will?«

Lady Bink hielt sich übertrieben schockiert die Hand vor den Mund. »Diese Ausdrucksweise! Du bist genau wie dein Vater, redest einfach zügellos von der Seele. Reisen und Politik. Zu allem Übel schreibst du auch noch sinnfreie Geschichten. Das sind nun wirklich keine Dinge, die eine Dame interessieren sollten. Ihr ähnelt euch so sehr. Du hast die gleichen glänzenden Augen wie er und dieses unverschämte Lächeln …«

Bink schweifte ab, was Vale dazu bewegte. genau das Lächeln aufzulegen, von dem ihre Mutter gerade gesprochen hatte. Dieses in ihren Augen unverschämte Betragen machte Bink ärgerlich, und so steckte sie noch strenger mit den letzten spitzen Nadeln die Haare ihrer Tochter zurück.

»Das Schlimmste ist, dass du seine grotesken weißen Haarsträhnen vererbt bekommen hast.«

»Ich weiß, Mutter, aber du weißt auch, dass dies über Nacht geschah und keine angeborene Vererbung ist.«

»Schweig! Davon darf niemand erfahren.«

Die Feier begann, und viele Männer in massigen Anzügen und ihre aufgetakelten Frauen in kitschigen Kleidern wimmelten durch das Anwesen der Peppermint Swords.

Alles war festlich geschmückt, der Alkohol wurde im Überfluss ausgeschenkt, und die Tafeln waren mit reichlich gutem Essen bestückt. Lady Bink klatschte in die Hände, um die Aufmerksamkeit ihrer Gäste auf sich zu richten. Sie legte wieder ihr überfreundliches Gesicht auf, das Vale nur allzu gut kannte. Nur galt es niemals ihr.

»Vielen lieben Dank, dass Sie alle so zahlreich erschienen sind, meine werten Besucher. Nun bitte ich: Essen Sie, trinken Sie und vergnügen Sie sich!«

Die Gäste applaudierten, lachten oder erhoben die Gläser zum Dank.

Vale befand sich auf einem der breiten Treppenabsätze des großen Flures, lehnte sich gegen das Geländer und nuckelte teilnahmslos an einem Glas Champagner. Sie bemerkte gar nicht, dass Lord Graham Jasper hinter ihr stand. Er räusperte sich, um sich bemerkbar zu machen.

Vale war kurz verdutzt und drehte sich zu ihm um. Da sah sie ihn. Sein dunkles Haar war streng nach hinten gekämmt und der Bart perfekt geschnitten. Sein Anzug war ein handgenähtes Einzelstück, auf dessen Kragen das Jasper-Wappen aufgestickt war: eine graue Rose, die von einer schwarzen Dornenranke umschlungen wurde. Er roch nach Parfüm, Zigarettenqualm und Whisky.

»Guten Abend, Lady Valentina.«

Vale machte einen kurzen Knicks und versuchte, sich ein charmantes Lächeln abzuringen. Lord Graham verwickelte sie in ein Gespräch. Er sprach über banale Dinge wie das Wetter und darüber, was sich in der Innenstadt so zutrug. Ein neuer Blumenladen habe geöffnet, der alte Bäcker der Stadt sei gestorben, und nun übernehme sein Sohn das Geschäft.

Vale kämpfte mit starken Müdigkeitsgefühlen und zwang sich, zumindest einen Teil des überflüssigen Vortrags zu verfolgen. Jedes Mal, wenn einer der Dienstboten mit einem Tablett, auf dem Champagner stand, an ihr vorbeilief, griff sie zu und nahm sich ein Glas. Innerlich musste sie über sich selbst schmunzeln, dass sie diese unangenehme Situation nur mit einer bestimmten Promillezahl überstehen konnte.

Plötzlich begann Lord Graham, ihr immer wieder unbeholfene Komplimente zu machen: wie schön doch ihr Haar sei und dass sie wundervolle Augen habe. Vale fühlte sich immer unwohler in seiner Nähe. Sie konnte nicht gut mit anerkennenden Äußerungen umgehen. So schwebte ihr Blick durch den umfangreichen, mit fremden Menschen vollgestopften Raum.

Sie erstarrte einen kurzen Moment, als sie in die kalten Augen ihrer Mutter sah, die sie aus kurzer Ferne beobachteten. Sie wollte sich offenbar vergewissern, dass die beiden noch immer miteinander sprachen.

»Nun, wenigstens sprach einer von beiden«, dachte sich Vale spöttisch, und nach etlichen weiteren Minuten des Zuhörens wollte sie sich höflich zurückziehen. »Entschuldigen Sie bitte, Lord Graham. Ich würde mich herzlich gerne …«

Doch Lady Bink war schneller. Urplötzlich stand sie neben ihrer Tochter und hielt sie unauffällig am Arm fest. Überschwänglich lächelte sie Graham an. »Lord Jasper, es ist mir eine Freude, Sie zu sehen. Ich hoffe, Sie sind bester Gesundheit? Ist Ihnen schon der neue, wundervolle Hut meiner Tochter aufgefallen? Er ist ein besonderes Einzelstück, der den weiten Weg aus Lichtfeste bis zu uns gefunden hat.«

Graham nickte höflich, schien aber dennoch wenig an Mode interessiert zu sein.

Lady Binks Stimme wurde höher.

»Natürlich würde Valentina niemals so weit fortreisen. Dafür wäre meine liebste Tochter viel zu schüchtern. Nicht wahr, mein Schatz?« Bink lächelte gezwungen und drückte Vale ihre langen Fingernägel nachdrücklich in den Arm, sodass sie ebenfalls freundlich sein solle.

Doch in Vale kochte langsam die Wut hoch.

Überraschend gesellte sich eine blonde Frau im dunkelgrünen Kleid zu ihnen und stellte sich provokant neben Graham. »Entschuldigen Sie bitte, Lady Peppermint Sword. Ich erlaube mir, Lord Jasper für einen kleinen Moment zu entführen.«

»Darf ich fragen, wer Sie sind?«, zischte Bink.

»Verzeihen Sie mir. Mein Name ist Lady Hill.«

»Ich kann mich nicht erinnern, Sie eingeladen zu haben.«

»Ich bin Lord Graham Jaspers Begleitung.«

Bink erstarrte. Wie konnte diese unverschämte Frau nur so mit ihr reden – in ihrem eigenen Haus? So eine mittelmäßige Person wagte es, sich zwischen Valentina und Graham zu stellen?

Lord Jasper entschuldigte sich für einen Moment, derweil Lady Hill ein geziertes Schmunzeln auflegte, während sie sich in seinen Arm einhakte und mit Lord Jasper davonschritt.

Lady Bink sah Vale an und flüsterte ihr aggressiv zu: »Das ist deine Schuld! Du bist so interessenlos. Du siehst ihm nicht einmal in die Augen. Deine ganze Körperhaltung zeigt ihm gegenüber Abscheu. Reiß dich jetzt gefälligst zusammen!«

Vale riss wütend ihren Arm aus Binks festem Klammergriff. »Reiß du dich lieber zusammen, Mutter! Warum bist du nur so bösartig?« Mit Tränen in den Augen, die sie kaum unterdrücken konnte, lief Vale hastig nach oben.

Bink war pikiert, doch zwang sie sich, die gaffenden Gäste anzulächeln, um ihnen zu verdeutlichen, dass alles in Ordnung sei. Diese tuschelten jedoch und schüttelten übertrieben empört ihre Köpfe, was Bink kaum ertragen konnte. So ging sie erhobenen Hauptes auf die Terrasse, um frische Luft zu holen.

Vale lief auf ihr Zimmer. Sie war aufgebracht, und ihr war furchtbar übel. Es ging ihr so schlecht, dass sie sich mehrmals übergeben musste. Dabei spürte sie, wie sie immer schwächer wurde, und legte sich erschöpft auf ihr großes weiches Bett. Ihre Augenlider wurden schwer, und sie konnte die düstere Umgebung des Raumes nur noch verschwommen wahrnehmen. In diesem Dämmerzustand bemerkte sie plötzlich, dass sich jemand oder etwas in ihrem Zimmer bewegte. Die Dielen knarrten, und sie hörte schwere Schritte, die geradewegs auf sie zukamen.

Panik stieg in ihr auf. So stark, dass sie das Gefühl hatte, ihr würde jemand den Hals mit einer Schlinge zuschnüren. Plötzlich stand eine große, dunkle Gestalt bedrohlich vor ihrem Bett, die sie nur schemenhaft erkennen konnte. Abrupt griff die Gestalt nach ihr, doch sie konnte nichts dagegen unternehmen, denn sie spürte sogleich, wie sie das Bewusstsein verlor.

Dann wurde um sie herum alles schwarz.

Vale kam langsam wieder zu sich. Ihr Kopf dröhnte, und sie verspürte noch immer diese unangenehme Übelkeit.

»Was war das für eine Erscheinung? Habe ich von dieser Begegnung nur geträumt?«

Sie schaute auf die kleine goldene Uhr, die auf ihrem Nachttisch stand. Vale erschrak ein wenig, als sie sah, dass es bereits weit nach Mitternacht war. Sie hatte volle drei Stunden geschlafen. Ausgesprochen durstig setzte sie sich aufrecht hin und kroch dann, noch etwas wackelig auf den Beinen, aus ihrem Bett. Ein Glas Wasser oder Tee wäre jetzt genau das Richtige, um ihren trüben Verstand aufzuwecken. So entschloss sie sich, in die Küche zu schleichen. Sie hoffte inständig, dass die Gäste bereits nach Hause gegangen waren. Doch im Zweifel rückte sie ihr kleines Hütchen zurecht, strich ihr zerknittertes Kleid glatt und begab sich vorsichtig nach unten.

Doch hörte sie bereits von Weitem das Gelächter und Gerede der Gäste, die noch immer im Haus waren.

Auf dem Treppenabsatz sah sie sich um. Weder ihre Mutter noch Graham konnte sie erblicken. Leichtfüßig hüpfte sie die Treppe hinunter und versuchte, schnell in Richtung Küche zu gelangen. In der Eingangshalle waren noch immer sehr viele Menschen, die Vale musterten und sich dann teilnahmslos von ihr abwendeten. Auf dem großen Sofa in der Ecke der Halle sah sie einen betrunkenen Mann liegen, der mit seinen Mageninhalt den schönen roten Stoff des Sitzmöbels völlig ruiniert hatte. Erst ekelte sie sich, doch dann erinnerte sie sich, dass ihr vor ein paar Stunden genau das Gleiche passiert war. Sie überlegte, ob der Streit mit ihrer Mutter oder das Übermaß an Champagner schuld daran gewesen sein mochte, dass sich dermaßen ihr Magen umgedreht hatte.

Sie bog in den langen, hell erleuchteten Flur ein, wo ihr ebenfalls zwei Damen entgegenkamen, die offensichtlich zu tief ins Glas geschaut hatten. Denn sie mussten sich gegenseitig stützen, was ein lächerliches, jedoch sehenswertes Bild ergab.

Bevor Vale endlich die Küche erreichte, sah sie noch etliche angeheiterte, betrunkene oder komatöse Gäste, die sich in ihrem Zuhause amüsierten. Solche Dinge waren ihr im Grunde aber einerlei. Sie lebte nach dem Leitsatz: Jeder Mensch müsse selbst wissen, was für ihn am besten sei. Doch wusste sie auch, dass die meisten anderen Menschen es liebten, ihre Nasen in fremde Angelegenheiten zu stecken, noch bevor sie an ihre eigenen Probleme herantraten. Dann behaupteten ausgerechnet diese Personen, sie würden sich um das Wohl anderer nur sorgen. Kompletter Schwachsinn. Genau diese oberflächliche Gesellschaft war es, die Vale so sehr verabscheute. Sie wusste, dass dies keine sonderlich ehrenhaften Gedanken waren. Aber ihr war auch klar, dass es genau diese Gesellschaft von Heuchlern und Lügnern war, die diese Denkweise in ihr auslöste. Unter ihnen aufwachsen zu müssen, hatte eben seine Spuren hinterlassen.

Als sie die Küche betrat, erblickte sie das Dienstmädchen. Sahra saß am schmalen Holztisch inmitten der alten Küche und war offenbar völlig erschöpft. Mit den Händen umklammerte sie eine Tasse heißen, dampfenden Kaffee, während sie mit dem Kopf vor lauter Schwäche fast die Tischplatte berührte. Vale flüsterte Sarahs Namen.

Diese erschrak und stand sofort stramm. »Was kann ich für Sie tun, Lady Valentina?«

Vale zog die Augenbrauen nach oben. Sahra wollte also noch immer ihren vollen Namen aussprechen. Doch dachte sie, dass sie jetzt keine Energie für aussichtslose Zurechtweisungen hätte. »Mir ist nicht ganz wohl, Sahra. Würdest du mir bitte einen Kamillentee machen?«

Sofort begann das fleißige Dienstmädchen mit der Zubereitung.

Plötzlich stand Lady Bink mit einem erleichterten Blick im Türrahmen. »Valentina, da bist ja! Ich bin froh, dass du zur Vernunft gekommen bist und deine Fehler endlich einsiehst.«

Mit ernster Miene stand Vale vom Tisch auf, nahm sich ihre Tasse Tee und ging wortlos aus dem Zimmer, an ihrer Mutter vorbei. Wütend und enttäuscht von ihrem Verhalten, stapfte sie geradewegs auf die Treppe zu, vorbei an den neugierigen Blicken der restlichen Gäste. Schnellen Schrittes wollte sie wieder zurück in ihr Zimmer und einfach die Stille genießen.

Ruckartig klirrte es laut neben ihren weißen Schuhen, direkt auf dem schwarzen Marmorboden. Vale brauchte einige Sekunden, um in ihrer Wut zu begreifen, dass direkt neben ihr ein Glas zu Bruch gegangen war. Ein hellhaariger Mann bückte sich nach den Scherben. Vale wollte einfach verschwiegen darübersteigen und ihren Weg fortsetzen, als der Mann sie ansprach.

»Seien Sie bitte vorsichtig, hier ist alles voller Glas!«

Vales Blick wanderte nach unten in die wachen Augen des Unbekannten. »Danke für die Warnung.«

Sofort kam einer der Bediensteten angelaufen und machte sich daran, die vielen glänzenden Splitter aufzufegen, während der fremde Mann sich mit einem freundlichen Blick erhob.

»Sie trinken Tee? Fühlen Sie sich nicht wohl?«

»Nicht besonders …« Vale hatte nicht die Nerven für ein weiteres unnützes Gespräch und wollte gerade weitergehen, als der Mann sie zuvorkommend ansprach.

»Bitte, Miss, ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Sie wären beinahe in meine Scherben getreten. Lassen Sie mich ihnen ein Getränk holen!«

Vale war noch immer relativ reizbar, versuchte aber, sich zusammenzureißen und sich wie eine Dame zu verhalten. »Also gut. Mit wem hab ich das Vergnügen?«

Der Mann verbeugte sich leicht und lächelte sie dabei unüblich an. »Lord Jasper. Lord William Jasper.«

Vale erschrak innerlich, doch wollte sie sich ihre Unsicherheit nicht anmerken lassen und versuchte, weiterhin gelassen zu wirken. »Lady Peppermint Sword. Sie sind also der jüngere Bruder Lord Grahams?«

Williams Augen lächelten wieder. »So ist es. Ganze zehn Jahre jünger als er. Und Ihnen verdanken wir dieses wundervolle Beisammensein?«

Vale war den Jaspers gegenüber schon immer vorsichtig gewesen, doch hatte sie bei diesem jungen Mann keine Bedenken. Er hatte diesen ehrlichen Blick, der ihr sehr gefiel, und somit ließ sie sich auf ein Gespräch ein. »Mir verdanken Sie dieses … Gelage nicht, aber meiner Mutter.«

William lachte. »Ich werde uns beiden ein erfrischendes Getränk besorgen.«

Nach wenigen Augenblicken war er zurück und drückte Vale ein weiteres Glas Champagner in die Hand, während er sich einen wertvollen Whisky gönnte. Sie hätte nach diesem Abend auch etwas Stärkeres brauchen können.

William sah sie prüfend an. »Sie trinken auch lieber einen guten Tropfen?«

Vale war es peinlich, dass er sie durchschaut hatte. Sie befürchtete, dass sie sein Glas zu sehr angestarrt hatte und nun wie ein versoffenes Mannweib wirken würde.

»Nun ja, aber in Gesellschaft schickt sich dies nun mal nicht für eine Dame.«

William lachte lauthals, nahm ihr das Glas Champagner aus der Hand, ging zur Bar und holte ihr ebenfalls ein Glas von dem dunkelbraunen Getränk.

Die Trinkgefäße klirrten aneinander. »Zum Wohl! Auf gute Gesundheit!«

Die Gläser waren schon halb geleert, und die beiden plauderten miteinander, als würden sie sich schon viele Jahre lang kennen.

»Nun, Lady Vale, was machen Sie so?«

Sie überlegte einen Moment, ob sie diesem Mann wirklich alles einfach so über sich erzählen könne. Doch dann meldete sich die drastische Erziehung ihrer Mutter in ihrem Gedächtnis. »Ich habe mir einen neuen Hut von weither kommen lassen, schauen Sie!«

Vale ärgerte sich, noch während sie diese Worte aussprach, über sich selbst. So war sie doch gar nicht! Sie sah Lord William an, der wenig interessiert schien und ihr ein zaghaftes, fast mitleidiges Lächeln schenkte. Sie versuchte, die unangenehme Situation zu retten. »Und Sie? Welcher Tätigkeit gehen Sie am liebsten nach?«

William erfreute sich sichtlich über diese Frage. »Ich schreibe sehr gerne. Meine Passion ist es, mir fantastische Geschichten auszudenken und sie dann mittels gut ausgesuchter Worte auf Papier zu bringen.«

Vales Herz hüpfte vor Freude, sie bemühte sich aber weiterhin, gefasst zu wirken. »Und was schreiben Sie so?«

»Hauptsächlich Kriminalromane.« Er flüsterte. »Doch in letzter Zeit kommt es immer wieder vor, dass ich mich auch an Geistergeschichten probiere. Aber das bleibt besser unser kleines Geheimnis!«

Beide kicherten vergnügt, und Vales Herz raste vor Glück.

Plötzlich bemerkte Vale wieder ein Unwohlsein, ähnlich wie sie es schon wenige Stunden zuvor gespürt hatte. Doch war es irgendwie anders: eher eine eigenartige Besorgnis, die in ihr aufstieg. Ihr Blick wurde unscharf, ihre Augen schmerzten, und die Stimmen um sie herum verstummten. Alles in ihrem Sichtfeld wurde düster, und es war, als wäre die Zeit stehen geblieben.

Ihr Blick wanderte wirr im Raum umher, bis sie ein helles, kratziges Quietschen aus dem langen, dunklen Flur hinter ihr vernahm. Niemand außer ihr schien dieses Geräusch wahrzunehmen. Sie spürte, wie schreckliche Furcht in ihr aufstieg. Sie drehte sich langsam um und starrte bis zum Ende des Korridors. Alles um sie herum verdunkelte sich immer mehr, bis nur noch sie und dieser bedrohliche Gang zu existieren schienen. Plötzlich sah sie etwas.

Ein Schatten, der sich immer mehr zu einer Gestalt verformte. Ein knochiger Mensch kauerte in einem verrosteten, alten Rollstuhl. Er saß regungslos da, doch konnte Vale erkennen, dass er zitterte. Er hatte spitze Fingernägel, war blass und hatte langes dunkles Haar, das wirr über sein schmales Gesicht hing. Auch wenn sie dieses deswegen nicht erkennen konnte, hatte sie das Gefühl, er starre sie an. Ihr wurde schrecklich kalt, und sie bekam eine Gänsehaut beim Anblick dieser Kreatur. Ihr Herz pochte unregelmäßig, sodass ihr fast der Atem stockte.

Doch verwunderlich war, dass diese Angst, die sie anfänglich noch gespürt hatte, rasch verflog und das Gefühl in ihr aufstieg, eine unbekannte Bedrohung würde auf sie zukommen. Diese ging jedoch nicht von der düsteren Gestalt im Rollstuhl aus. Es war eher eine Warnung.

Plötzlich verspürte sie eine unbeschreibliche Traurigkeit. So stark, dass sie mit den Tränen kämpfen musste. In diesem Moment wurde sie durch einen durchdringenden Frauenschrei aus ihrer Vision gerissen. Schlagartig war sie wieder ganz bei Sinnen, und ihr Blick fuhr aufgeregt im Raum herum. Doch die düstere Kreatur war verschwunden.

Dann fiel ihr Blick in den großen, hellen Flur vor ihr, wo eine aufgebrachte Menschentraube sich vor einem der Herrenzimmer bildete. So lief Vale, beinahe geistesabwesend, sofort zu der aufgebrachten Menschenmenge. Ein sehr bedrückendes Gefühl, eine Art Vorahnung machte sich wieder in ihrem Brustkorb breit. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, und ihr Hals fühlte sich abermals an, als schnürte er sich zu.

Vale schubste die gaffenden Leute rücksichtslos beiseite, dann fiel ihr Blick auf den glänzenden, dunklen Fußboden.

Da lag regungslos ihre Mutter. Niedergestochen in einer rubinroten Blutlache. Der Dolch steckte noch immer tief in ihrer Brust, und ihre leblosen Augen starrten sie an.

Vales Beine wurden weich und gaben nach, sodass sie auf die Knie sank und sich mit den Handflächen geradeso auf dem kalten Marmorboden abfangen konnte. Ihre Stimme versagte.

Jemand hätte doch etwas tun müssen! Die Polizei hätte gerufen werden müssen. Die Leute sollten aus dem Haus geschickt werden. Vale konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. In diesem Moment ergriff Lord William Jasper das Wort und erledigte alles für sie. Doch Vale saß nur auf dem eisigen Boden und starrte fassungslos die Leiche ihrer Mutter an.

Nach Lady Binks ungeklärtem Tod wurde Vales komplettes Vermögen aberkannt und der Regierung zugesprochen. Vale war eine unverheiratete kinderlose Frau; ihr stand es nicht zu, über eine derart beträchtliche Menge Geld zu verfügen. Das Herrenhaus hätte sie jedoch behalten dürfen. Doch was brachte ihr das Anwesen ohne genügend Geld, um es verwalten zu können? Ein Haus, in dem so viel Grausamkeit geschehen war und in dem sogar ihre eigene Mutter ermordet worden war.

In dieser Zeit bekam Vale immer wieder Anfragen Lord Grahams, der sie schriftlich um eine Einwilligung in ihrer beider Vermählung bat. Doch auch in ihrer Not konnte sie sich nicht auf diesen unangenehmen Menschen einlassen.

Eines Nachts, ein paar Wochen nach dem Tod ihrer Mutter, lag Vale in ihrem Bett und bekam kein Auge zu. Zu viele Gedanken spukten ihr durch den Kopf. Sie war nun fast völlig allein in diesem großen alten Haus.

Die Einzige, die noch nicht gegangen war, war Sahra, das Dienstmädchen. Vale hatte ihr ein Zimmer direkt neben ihrem zugesprochen, sodass sie sich beide nicht mehr einsam fühlen mussten.

Abermals erschien Vale die Erinnerung des Geistes im Rollstuhl vor Augen, und noch immer fürchtete sie sich vor seinem schauderhaften Anblick. Sie konnte und wollte nicht mehr länger in diesem Haus leben. So beschloss sie, das alte Gemäuer am nächsten Tag verkaufen zu lassen.

Diese Nacht war außerordentlich kalt. Der eisige Regen prasselte dröhnend und typisch für diese Jahreszeit gegen die kleinen, schmalen Fenster.

Vale wälzte sich ruhelos im Bett hin und her und sah auf die kleine goldene Uhr, die auf ihrem Nachttisch stand. Diese war ein Geschenk ihrer Mutter gewesen, als sie noch sehr jung gewesen war. Für einen Augenblick überkam Vale ein packendes Gefühl der Traurigkeit. Doch diese melancholischen Grübeleien konnte sie schnell wieder abschütteln.

Es war bereits zwei Uhr morgens, und abermals wälzte sie sich herum.

Plötzlich nahm sie ein lautes, dumpfes Geräusch aus dem Erdgeschoss wahr.

Sie erschrak, schob dann vorsichtig die Bettdecke zur Seite und tippelte leise zu ihrer Zimmertür.

Mit einem Mal waren lautstarke Männerstimmen in der Eingangshalle zu hören. Eine grenzenlose Angst stieg in ihr auf. Der Puls raste, ihr wurde schlagartig heiß und kalt. Einen Moment stand sie einfach nur an der Tür und versuchte, ihre schrecklichen Vorstellungen zu unterbinden, indem sie sich mit Atemübungen selbst beruhigte.

Plötzlich klopfte es hastig, aber leise an ihre Zimmertür. Als Vale vorsichtig öffnete, stand Sahra vor ihr, noch blasser, als sie ohnehin schon war.

»Lady Valentina, Männer sind ins Haus eingedrungen. Ich war gerade in der Küche, als ich den Knall hörte.«

Intuitiv nahm Vale sich ihren wärmenden Mantel von der Kleiderstange neben der Tür und einen weiteren für Sahra. Dann zog sie sich hastig festes Schuhwerk an, das sie unter ihrem Bett liegen hatte.

»Was sind das für Leute, Sahra?«

Das dürre Dienstmädchen stand da und zitterte am ganzen Leib. »Sie sagten etwas von Lord Jasper. Sie sind gekommen, um Sie zu holen.«

Vale war entrüstet. Was wollte er nur von ihr? Alles nur, um sie zu heiraten? Sie war doch nun mittellos.

Sie konnte nicht glauben, dass all dies aus Liebe geschah. Aber wenn doch, war dies eine ausgesprochen merkwürdige Art, diese zu zeigen.

Vale hörte, wie die Männer bereits auf dem ersten Treppenabsatz waren. Sie grölten herum, und einige von ihnen traten offenbar Türen ein, um sie zu finden.

»Sahra, du arbeitest nun schon seit meiner Geburt hier. Wie kommen wir aus dem Haus, ohne in Richtung Treppe gehen zu müssen?«

Sahra stand da und dachte einen Augenblick nach. »Nun, da gibt es einen Gang, der …«

»Zeig ihn mir!«

Sahra löste sich aus ihrer Benommenheit. Sie lief zu Vales großem Kleiderschrank, nahm ihre Kleidung heraus und warf sie auf das Bett. Eine kleine, dunkle Schwenktür kam an der Rückseite des Schrankes zum Vorschein, und dahinter verbarg sich ein schmaler Durchgang, der augenscheinlich durch die Wände des alten Gemäuers führte.

Sahra kroch sogleich in den dunklen Tunnel.

Vale folgte ihr. Hastig schloss sie ihren massiven Schrank und die kleine Tür hinter ihnen, sodass sie einen Vorsprung hatten und die Männer den Geheimgang nicht gleich entdecken würden. Kriechend erklärte ihr Sahra, dass diese Gänge in vielen alten Gebäuden zu finden seien; zudem, dass sie früher in einem ähnlichen Haus gearbeitet habe, wo sie sich des Öfteren vor ihrem aggressiven Herrn habe verstecken müssen. Sahra wusste, dass auch dieses Gemäuer voller kleiner Geheimgänge war. Denn diese pflegte sie zumeist zu benutzen, um Lady Bink aus dem Weg zu gehen. Dies verschwieg sie Vale jedoch diskret.

Die Frauen krochen weiter. Der Gang war feucht und roch modrig. Dicke Spinnweben hingen von der tiefen Decke und blieben den beiden in Gesicht und Haaren hängen. Der Boden war weich, sodass sich Knie und Ellenbogen stets in das breiige Erdreich drückten. Dies machte das Vorankommen besonders mühsam. In den alten Gängen konnte man die lärmenden Männerstimmen hallen hören. Dies veranlasste die beiden, äußerst leise zu sein, denn sie waren sich sicher, dass die Eindringlinge sie ebenfalls in den hohlen Wänden hören konnten.

Nach einer kurzen Weile gelangten sie in einen kleinen Raum mit einer steilen Treppe, die weit nach unten führte. Nun war es ihnen wenigstens wieder möglich zu gehen, wenn auch nur gebückt. Die steinerne Treppe war übersät mit Staub, und die dicke Luft in dem alten Gang ließ das Atmen schwerfallen. Je weiter sie diese hinabstiegen, umso düsterer wurde es. Sie konnten in der zunehmenden Finsternis das Ende des Tunnels nicht erblicken. Nun war nur noch das Klappern ihrer Schuhe auf den steinernen Stufen zu hören, an dem sie sich ein wenig orientieren konnten.

Endlich kamen sie zu einer weiteren Tür. Sahra erkannte sofort, dass es die zur Vorratskammer war.

Die Kammer befand sich an der Rückseite des Hauses, was ihnen ermöglichen sollte, unbemerkt in den nahe gelegenen dichten Wald zu fliehen. Vale trat sofort ein mickriges Fenster ein, das sich an der hinteren Seite des winzigen Raumes befand. Dutzende von Glassplittern klirrten zu Boden, was reichlich Lärm verursachte.

Die Männer hatten dies offenbar gehört, denn ihre brüllenden Stimmen kamen schnell näher. Hastig zwängten sich die Frauen nacheinander durch den schmalen Fensterrahmen hinaus in die Freiheit, wo es noch immer stark regnete und der Wind sie beinahe davonblies.

Ohne sich noch einmal umzusehen, rannten sie wie von Sinnen in die schützende Dunkelheit des Waldes.

Kapitel 2

Mehr als zwanzig Jahre waren seit dieser Nacht vergangen.

Vale und Sahra hatten damals unbeschreibliches Glück gehabt. Nachdem sie sich fast ein Jahr im Untergrund der Stadt Perder hatten verstecken müssen, hatten sie einen freundlichen Arzt, Dr. Dainan Dean, kennengelernt. Dieser hatte Sahra behandelt, als sie an einer schweren Grippe erkrankt war. Er war so entgegenkommend gewesen, dass er die beiden Frauen bei sich aufgenommen hatte.

Seit dieser Zeit lebte Vale auf seinem ländlichen, weit abgelegenen Anwesen im Wald. Das beachtliche Grundstück war von großen Kiefern umgeben und hohen Mauern umrandet. Die saftgrünen Wiesen und die farbenfrohen Blumen wuchsen wild, denn Dr. Dean legte viel Wert auf Naturbelassenheit – bis auf seine weißen Rosen, diese waren stets überaus gepflegt. Überall auf dem Gelände gab es vereinzelte, kleine Ruinen von winzigen, aber auch beträchtlichen Gebäuden, die dort vor vielen Jahren gestanden haben mussten. Die meisten von ihnen waren von dichten Sträuchern und Büschen bewachsen. Ein schmaler, klarer Bach schlängelte sich entlang der alten Mühle, die vor etwa zwei Jahrzehnten noch in Betrieb gewesen war.

Das eindrucksvolle Haus, das inmitten dieses zauberhaften Grundstücks stand, war schon sehr alt, denn der Verfall war ihm von außen deutlich anzusehen.

Doch betrat man das Innere, überkam einen ein angenehm wohliges Gefühl. Die Räume waren lichtdurchflutet, und es roch immer nach frisch gekochtem Kaffee. Die Zimmer des Hauses waren relativ groß, doch nicht in der Art, dass man sich verloren darin vorgekommen wäre, sondern großzügig und luftig. Auf den dunklen Holzböden lagen weiche, bunte Teppiche, und die großen Fenster waren mit blumigen Gardinen behängt. Helle, selbst gebaute Ahornmöbel machten dies zu einem gemütlichen Zuhause.

Jeder der sieben Bediensteten Dr. Deans hatte sein eigenes Zimmer im Erdgeschoss. Auch Sahra.

Vale jedoch bewohnte ein prächtiges Zimmer im ersten Stock, nur ein paar Türen von dem des Hausherrn entfernt. Sie verbrachte morgens viel Zeit dort, während sie nach dem Mittagessen immer einen langen Spaziergang über das immense Grundstück unternahm und die frische Luft genoss. Die riesigen Fenster ihres Zimmers ließen sehr viel Sonnenschein hinein, und der Raum erstrahlte in wundervollem goldenen Licht. Vor ihrem Zimmer ragte ein großer Balkon empor, zu dem die Tür fast immer offen stand.

Vale saß in ihrem Schaukelstuhl aus Weidenholz und schrieb an einer ihrer Geschichten. Sie war erstaunlicherweise nur wenig gealtert. Trotz einiger Falten und ein paar weiterer grauer und weißer Haarsträhnen sah sie von Weitem noch immer aus wie vor zwanzig Jahren. Ihre Beine waren angewinkelt, als wollte sie gleich vom Stuhl springen, was ihr aber leider nicht mehr möglich war. Denn sie wurde schwächer und spürte, dass etwas nicht mit ihr stimmte. So konnte sie sich kaum auf ihre Arbeit konzentrieren, da sie sich ständig selbst die Frage stellte, ob sie eventuell von einer schlimmeren Krankheit befallen sei.

Doch ihr lockeres Kleid war hochgerafft, für genügend Beinfreiheit und den Füller klemmte sie ihn wie immer zwischen Nase und Oberlippe und testete, wie lange sie ihn dort wohl halten könne.

Plötzlich klopfte es an ihre Tür.

Schnell schob Vale ihr Kleid zurecht und setzte sich ordentlich hin. »Herein!«

Eine junge Frau mit strahlenden Augen und wuscheligem weißen Haar trat ein. »Guten Morgen, Mutter. So früh schon auf?«

Vale schmunzelte. »Das sollte ich lieber dich fragen, Claude.«

Vales Tochter hockte sich vor sie hin und seufzte. »Bist du schon wieder am Schreiben? Bei meiner Geschichte komme ich zurzeit nicht weiter. Ich weiß nicht genau, was es ist, aber irgendetwas daran gefällt mir nicht.«

Vale lächelte. »In deinem Alter war es für mich auch noch sehr schwierig, die richtigen Worte zu finden. Aber du wirst sehen, das kommt alles mit der Zeit. Eines Nachts liegst du im Bett, und plötzlich fällt dir genau das ein, was du schreiben solltest. Und dann kannst du nicht mehr damit aufhören, bis dein Werk vollendet ist.«

Claude nickte nachdenklich.

»Schade, dass deine Geschichten über Dr. Deans Namen veröffentlicht werden müssen und niemand weiß, wer wirklich hinter diesen überragenden Erzählungen steckt.«

»Du weißt doch, warum, Claude. Wenn dieser Mistkerl Lord Graham Jasper erfährt, dass wir hier sind, wird er uns holen kommen. Und ich weiß bis heute nicht einmal, was er wirklich will.«

Claude grinste herausfordernd. »Und wenn es Lord William Jasper gewesen wäre, der dich holen wollte? Wärst du mit ihm gegangen?«

Vale wurde rot. »Ach, so ein Unsinn …! Oder? Ich weiß es nicht.«

Beide mussten lachen.

»Schau mal, Mutter: Ich habe mir von Sahra ein Kleid nähen lassen für meinen zwanzigsten Geburtstag nächste Woche.« Stolz drehte sich Claude in ihrem neuen, hellblauen Kleid im Raum umher.

»Es ist sehr schön, Claude. Aber renn damit bitte nicht herum, sonst machst du es nur noch kaputt. Zieh dir lieber etwas Bequemes an. Wer weiß, wie lange du noch diese Freiheiten genießen kannst, bevor so ein Aufschneider kommt und um deine Hand anhält.«

Claude sah ihre Mutter verdutzt an. »Aber es weiß doch niemand, dass ich hier bin, um mir einen Antrag zu machen. Du hast gesagt, wenn ich den Wunsch verspüre, in die weite Welt zu gehen, solle ich das auch tun. Im Moment reichen mir aber die kleinen Ausflüge mit Sahra in die Stadt. Unter meiner Kapuze erkennt eh niemand meine verräterischen weißen Peppermint-Sword-Haare.«

Vale versuchte, sich das Grinsen zu verkneifen, doch es gelang ihr nicht ganz. Claude erinnerte sie so sehr an sich selbst, als sie in diesem Alter gewesen war. Nur wusste sie, dass ihre Tochter eine freiere, fröhlichere Kindheit hatte als sie. Dies stimmte Vale sehr glücklich.

»Ich lass dich dann mal weiterschreiben. Ich muss erst einmal meinen täglichen Rundgang machen, um zu sehen, ob alles seine Richtigkeit hat. Vielleicht gehe ich auch nachher noch etwas Bogen schießen.«

Vale nickte zustimmend. »Viel Erfolg!«

Claude hob den Saum ihres Kleides an und machte einen übertriebenen Hofknicks. »Ihnen wünsche ich auch viel Erfolg, Lady Valentina.«

Beide lachten wieder, dann stürmte Claude voller Tatendrang aus dem Zimmer und vergaß wie immer, die Tür hinter sich zu schließen. Nachdem Vale schwächlich aufgestanden war, um dies zu erledigen, sah sie noch einen Moment voller Stolz ihrer Tochter nach.

Claude ging in ihr Zimmer, das sich direkt neben dem ihrer Mutter befand. Es war sehr chaotisch dort drinnen. Überall lagen Papier sowie Füller, Pinsel und Farben herum. Doch war es ein sehr großes, helles Zimmer, das noch immer den Anschein einer gewissen Ordnung aufrechterhielt. Claude wollte auch nicht, dass einer der Bediensteten bei ihr aufräumte; sie wollte ihr kreatives Chaos so behalten, wie es war. Schnell zog sie ihr neues Kleid aus, legte es vorsichtig auf ihr ungemachtes Bett und zog sich ein lockeres braunes Kleid über. Um die Taille schnürte sie sich wie üblich einen dicken, schwarzen Gürtel, in den sie ihre silberne Taschenuhr einhängen konnte. In das Täschchen des Gürtels steckte sie stets einen kleinen, glänzenden Spiegel, der aufklappbar war. Sie war nicht eitel, doch ihre Haare waren widerspenstig und hingen ihr beharrlich in die Augen. Mit dem Spiegel konnte sie überprüfen, wo genau sich diese unbändigen Haarsträhnen befanden. Massive Stiefel dürften bei ihren täglichen Rundgängen auch nicht fehlen, denn über das Gelände erstreckte sich teilweise ein weitläufiges Moor. Dies kannte sie zwar ziemlich gut, doch letzte Nacht hatte es stark geregnet, und das Grundstück veränderte sich bei diesem wechselhaften Wetter gerne. An diesem Tag jedoch schien die Sonne so stark, dass sie den Eindruck erweckte, mit dem Strahlen nie mehr aufhören zu wollen.

Als Claude einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel warf, sah sie für einen Moment jemand anderen als sich selbst. Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, doch Claude konnte deutlich das Gesicht eines dunkelhaarigen Mädchens erkennen, das sie düster angrinste. Für diesen Augenblick roch es modrig, und Claude schauderte es am ganzen Körper. Doch dies war nicht das erste Mal, dass sie dieses Mädchen sah. Im Laufe ihrer Kindheit hatte sie schon das ein oder andere Mal das unschöne Vergnügen mit diesem Wesen gehabt. Doch in letzter Zeit sah sie es immer häufiger. Es machte ihr noch immer große Angst, doch das wollte sie sich niemals anmerken lassen. Unbeeindruckt strich sich Claude eine ihrer wilden Haarsträhnen aus dem Gesicht, ging aus ihrem Zimmer und tat so, als hätte sie das Mädchen nicht bemerkt.

Sie erinnerte sich an die Geschichte, die ihre Mutter vor vielen Jahren erzählt hatte: die Geschichte vom Rollstuhlgeist. Doch kannte sie auch Vales andere Geschichten und was sie alles durchgemacht haben musste. So wollte Claude sie nicht zusätzlich damit belasten, dass sie ebenfalls merkwürdige Dinge zu sehen vermochte.

Als Claude die langen, hellen Flure des großen Gebäudes entlangging, war sie noch immer etwas benommen von dem Anblick des Mädchens. Es war nie ein vollständiges Gesicht zu erkennen, eher verschwommene, düstere Umrisse; dunkle Haare und ein seltsam bedrohliches Grinsen. Was hatte das nur zu bedeuten?

In diesem Moment schoss eine Gestalt um die Ecke und rannte Claude beinahe um. Sie erstarrte vor Schreck und sah sie mit großen Augen an, bis sie bemerkte, um wen es sich handelte.

»Was rennst du denn so, Vedy?«

Der junge Bedienstete mit dem roten Haar und der Narbe auf der Wange war außer Atem. »Hab dich gesucht. Hab Dr. Dean beobachtet. Er scheint eine tolle neue Erfindung gebaut zu haben. Wollt, dass du es auch siehst.«

Claude kratzte sich ungläubig am Hinterkopf. »Neue Erfindung? Schon wieder? Der Mann hat Geschick, muss man sagen.«

Vedy streckte sich und gähnte laut. »Hab’s dir gesagt. Verzieh mich erst einmal auf den Heuboden. Brauch mal ein Nickerchen.«

Claude sah ihn prüfend an. »Du bist also nicht auf der Suche nach mir gewesen, sondern wolltest heimlich aus dem Fenster hinüber zum Heuboden klettern?«

Vedy sah sie peinlich berührt mit gerötetem Gesicht an und versuchte, sich stotternd eine Ausrede einfallen zu lassen.

Claude lachte und winkte gleichgültig ab. Dann setzte sie ihren Weg fort, während Vedy seine zu große Hose selbstzufrieden nach oben zog und in Richtung Heuboden tänzelte.

Bevor Claude den ersten Treppenabsatz erreichte, hörte sie schon das Schrubben einer harten Bürste auf dem robusten Holzboden. Das Murmeln der Person war unverkennbar. Als sie um die Ecke blickte, hockte dort meckernd Mrs Florence. Sie war eine griesgrämige Frau mittleren Alters, die sich ständig selbst bemitleidete. Keiner außer ihr arbeitete in diesem Haus so hart wie sie, glaubte sie stets. Und keiner war in ihren Augen so umsichtig und fleißig. Dies ließ sie alle gern spüren. Sie war die einzige Person im Haus, die Claude nicht mit Vornamen ansprach und umgekehrt, denn sie mochten sich nicht besonders. Doch Claude blieb wie immer freundlich Mrs Florence gegenüber, auch wenn sie es nicht unbedingt verdient hatte. Doch sie wollte sich nichts nachsagen lassen. So hüpfte sie heiter um die Ecke und wünschte fröhlich einen guten Morgen.

Mrs Florence sah sie gelangweilt über ihre Schulter an. Ihr frustrierter Blick war unter ihrem tief ins Gesicht gezogenen Häubchen noch immer gut zu erkennen, und ihre markanten Falten wurden dunkler. »Was soll an dem Morgen schon gut sein?«

Claude zuckte mit den Schultern. »Nun ja, die Sonne scheint und … hm, es gibt heute gebratene Ente zum Mittagessen.«

Genervt wandte Mrs Florence den Kopf wieder gen Boden und schrubbte brummend weiter. »Ist ja ganz toll.«

Claude war nun ebenfalls entnervt von Mrs Florences missmutiger Art. Doch hatte sie weder Zeit noch Lust, sich mit derart schlechter Laune anstecken zu lassen.

In diesem Moment sah sie eine der Kammerzofen, die gerade den Flur herunterkam. Claude ergriff die Gelegenheit, sich höflich von Mrs Florence zu entfernen.

»Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag.«

Dies erwiderte sie nur mit einem Murren, dem Claude keine Aufmerksamkeit mehr schenkte.

Schnell stürmte Claude in Richtung der Zofe Beema. Diese lächelte mitleidig und wusste genau, dass Claude froh war, Mrs Florences negativer Aura entkommen zu sein. Beema hatte ihr langes blondes Haar zu einem geflochtenen Zopf gebunden, der ihr seitlich über die Schulter fiel. Sie trug ihr Häubchen immer weit am Hinterkopf, um mehr als üblich damit sehen zu können. So fiel das Licht stets in ihr freundliches Gesicht, das ihre lieben Augen erstrahlen ließ. Sie war bepackt mit einem Bündel schmutziger Wäsche, als Claude auf sie zukam.

»Guten Morgen, Claude. Hast du heute schon gegen ein paar Monster gekämpft?«

Claude seufzte und nahm Beema helfend das Wäscheknäuel aus der Hand. »Könnte man so sagen.«

Beema legte beruhigend ihre warme Hand auf Claudes Schulter. »Komm! Ich mach dir erst mal Frühstück.«

Als sie im Erdgeschoss ankamen, roch es herrlich nach frischen Brötchen und heißem Kaffee.

Claudes Magen knurrte plötzlich laut. Beema lächelte wie immer sanft und meinte, dass sie Claude nun einen heißen Kakao und Rührei machen würde.

In diesem Augenblick kam Molly aus der Küche gehastet und sah die beiden mit großen Augen an. »Habt ihr Vedy gesehen? Dieser Taugenichts sollte schon vor einer halben Stunde aus den Ställen zurück sein und mir frische Milch bringen.«

Claude und Beema schüttelten ratlos den Kopf.

»Wenn ich den erwische! Der kann was erleben.«

Brabbelnd stapfte Molly davon. Sie war eine korpulente junge Frau mit wilden braunen Haaren, die immer so aussahen, als wäre sie gerade erst aus dem Bett gestiegen. Ihre Haarpracht war so widerspenstig wie sie selbst. Doch auch wenn sie ein auffallend lauter Tölpel war, hatten sie alle sehr gern. Denn sie war eine herzensgute Frau, die alles für diejenigen tat, die auch gut zu ihr waren.

Die Frauen schauten Molly noch einen Moment hinterher, dann sah Beema Claude fragend an. »Weißt du wirklich nicht, wo Vedy steckt?«

Claude setzte eine offensichtliche Unschuldsmiene auf. »Keine Ahnung.«

Nach dem verspäteten Frühstück wollte Claude ihren täglichen Rundgang fortsetzen. Normalerweise ging sie nun immer zu den Ställen, um die Tiere zu besuchen. Doch dies ließ sie dieses Mal aus, denn dort würde Molly womöglich gerade Vedy durch die Scheune jagen.

Stark gesättigt, zückte sie ihre Taschenuhr und überprüfte die Uhrzeit. Es dauerte noch ein wenig, bis es schon wieder Mittagessen gab. Dann nahm sie ihren kleinen Spiegel hervor und überprüfte ihre Haare, die erneut kreuz und quer in alle Richtungen zeigten.

Als Claude über die Wiesen des Geländes schritt, vorbei an dem kleinen Bach und den hohen Bäumen, kam ihr der Gedanke, dass ihr Leben vielleicht zu langweilig sei. Doch diese Überlegung blieb nur kurz, denn als sie sich so umsah und die wunderschöne Natur betrachtete, dem Plätschern des Baches und dem Zwitschern der Vögel lauschte, empfand sie einen Moment der größten Freude. Was gab es Schöneres als ein ruhiges Leben im Kreis einer liebevollen Familie?

Ruckartig wurde sie aus ihrem Tagtraum gerissen, als eine ruhige, tiefe Männerstimme hinter ihr sprach: »Hallo, Claude, du bist aber spät dran.«

Claude drehte sich um und sah zu den hochgewachsenen Rosenbüschen, über denen Bills Kopf hervorragte. Er war der Gärtner und arbeitete, soweit Claude wusste, schon immer für Dr. Dean. Liebevoll lächelte der alte Mann beim Anblick seiner Rosen.

»Sieh sie dir an, Claude! Sind sie nicht wunderschön? Es ist so schade, dass sie bald verblühen werden.«

Claude lächelte den grauhaarigen alten Mann mit dem schmutzigen Strohhut auf dem Kopf freundlich an und erwiderte: »Ja, Bill, das stimmt. Aber der Herbst ist auch sehr schön, und im Winter kannst du neue Kraft schöpfen, bevor es für dich hier wieder viel zu viel Arbeit gibt.«

Bill nickte zufrieden und ging gedankenversunken weiter seiner Arbeit nach. Denn immer, wenn er sich mit seinen Blumen beschäftigte, vergaß er alles und jeden um sich herum. Das störte Claude jedoch keineswegs. Sie wusste, dass er schon sehr alt war, und wenn er Glück hatte, könnte er seine geliebten weißen Rosen nächstes Jahr wiedersehen.

Von Weitem sah Claude schon Dr. Deans Werkstatt. Sie war eine große Ruine, die er ausgebaut hatte, um sich dort die fantastischsten Erfindungen auszudenken und anzufertigen. Claude kletterte über einen großen, schweren Baumstamm, der schon sehr lange quer vor dem Eingang der Fabrikationsstätte lag. Als sie eintrat, konnte sie Dr. Dean nicht erblicken. Nur die unzähligen fertigen und unfertigen Maschinen standen wie üblich an den vergilbten Wänden. Überall lagen Werkzeug, Zahnräder und Metallteile verstreut. Claude liebte diesen Ort. Es roch nach Öl und Feuer. Plötzlich erklang laut das Geräusch eines rotierenden Sägeblattes von der oberen Etage. Sie lief schnell die enge metallene Treppe hinauf und betrat den großen Dachboden mit der modrigen Decke. Die Sonnenstrahlen, die durch die Löcher des Daches schienen, ließen den wirbelnden Staub glitzernd umhertanzen. In der hintersten Ecke des Raumes sah sie Dr. Dean. Er stand an seiner großen Werkbank und tüftelte an einem kleinen, glänzenden Gegenstand herum. Dr. Dean hatte seinen großen, vor Funken schützenden Helm auf und seine feuerfeste Schürze um. Er trug auch seine dicken Ohrenschützer, denn es machte immer sehr viel Lärm, wenn er arbeitete. Das Schleifen, Sägen und Schweißen ertönte oft Tag und Nacht.

Claude wartete kurz ab, bis sie einen Moment finden würde, in dem Dean für einen Augenblick seine Werkzeuge ruhen ließe. Doch da sah er sie bereits lächelnd an.

»Ganz schön spät dran heute, Claude.« Er nahm seinen Helm ab, und seine grauen zerzausten Haare kamen zum Vorschein. Er setzte sich auf einen selbst gebauten Stuhl aus alten Metallröhren, in den ein Getränkehalter integriert war. Darin befand sich eine Flasche Milch, aus der er einen kräftigen Schluck nahm. »Ich habe etwas für dich, Claude.« Hastig stand er wieder auf und begab sich zu seinem Safe, während Claude ihn neugierig beobachtete.

»Was ist es denn?«

Dean nahm eine kleine Schatulle heraus und drückte sie Claude in die Hand. »Alles Gute zum Geburtstag, im Voraus.«

Claude öffnete sie. Es waren goldene Pfeilspitzen. Ihr Herz hüpfte vor Glück. Sie liebte das Bogenschießen. Als sie gerade erst acht Jahre alt geworden war, hatte ihr Dr. Dean ihren ersten Bogen geschenkt, den er natürlich selbst angefertigt hatte.

Sie gingen seit diesem Tag immer wieder auf die Jagd nach Bärenwölfen. Denn diese mächtigen Tiere waren aggressiv und immer auf der Suche nach Nahrung in der Gegend des Anwesens. Sie rissen mit ihren fünfhundert Kilo Gewicht des Öfteren die schützende Mauer des Grundstücks ein. Am Anfang hatte Claude noch mit normalen Pfeilen geschossen, doch sie wurde immer besser, und Dr. Dean ließ sich immer unterschiedlichere Wirkungsweisen der Pfeilspitzen einfallen. Zu ihrem letzten Geburtstag hatte sie welche bekommen, die in Flammen aufgingen, sobald sie abgeschossen wurden. Das Jahr davor hatte sie welche erhalten, die ihr Ziel vergifteten. Claude war keine große Freundin des Tötens, doch sie wusste, dass sie sich verteidigen und Haus und Familie beschützen musste.

Dean setze sich zufrieden wieder auf seinen quietschenden Stuhl. »Diese Pfeile sind sehr wirkungsvoll, Claude. Doch musst du sie mit Bedacht einsetzen. Sie explodieren, wenn du dein Ziel damit getroffen hast. Lass sie also besser nicht fallen.«

Claude sprang auf Dean zu, umarmte ihn und bedankte sich mehrmals bei ihm. Er war augenscheinlich gerührt von Claudes überschwänglicher Freude. Er räusperte sich und trank schnell einen großen Schluck Milch.

»Als du klein warst, habe ich dir immer Spielzeug gebaut, Claude. Weißt du das noch?«

Claude nickte eifrig, während sie ihre neuen Pfeile begutachtete.

»Jetzt bist du schon eine erwachsene Frau und gehst vermutlich bald deine eigenen Wege.«

Claude sah Dean fragend an.

»Claude, du kannst hier nicht ewig eingesperrt bleiben. Du verpasst so viel: die Liebe und das Leiden; die unterschiedlichen Charaktere der Menschen, gute und böse; verschiedene Länder; andere Spezialitäten, als wir sie kennen, wie die aus Gorath oder Lichtfeste; fremde Wesen, Tiere und Kreaturen; Magie und Musik – und noch so viel mehr.«

Claude war etwas traurig, diese Worte zu hören. Sie hatte das ungute Gefühl, er wolle sie fortschicken, dabei war er doch immer wie ein Vater für sie gewesen.

Dr. Dean stand mit ernster Miene auf, nahm Claudes Bogen von der Wand und drückte ihn ihr in die Hand. »Versteh mich nicht falsch. Mir würde nichts mehr gefallen, als dich und deine Mutter für immer bei mir zu haben, aber du musst leben, Claude!«

Sie sah ihn noch immer etwas verwundert an, dann antwortete sie ihm stolz und gefasst: »Irgendwann werde ich gehen, Dainan. Wenn die Zeit reif ist.« Sie wollte sich gerade umdrehen und sich entfernen, als Dean sie fest umarmte.

»Ich möchte nur das Beste für dich … Ich will nicht, dass du es eines Tages bereust, hiergeblieben zu sein und nichts von der Welt da draußen kennengelernt zu haben. Doch wenn du bei uns bleiben möchtest, wäre ich der glücklichste Mensch auf Erden. Ich weiß, es klingt egoistisch, doch fürchte ich mich jeden Tag davor, dass du fortgehen würdest, so, wie es meine kleine Schwester einst tat, weil sie die Abgeschiedenheit hier nicht länger ertrug.«

Claude hatte die Geschichte seiner verschwundenen Schwester schon häufiger gehört. Als die beiden noch klein gewesen waren und miteinander gespielt hatten, war sie plötzlich davongelaufen und nie wieder zurückgekehrt. Claude glaubte, nun zu verstehen, was Dean damit sagen wollte: Sie sollte nicht gehen.

Beiden standen Tränen in den Augen, und Claude wischte sie sich mit der flachen Hand aus dem Gesicht.

»Darf ich wenigstens noch meinen Geburtstag nächste Woche mit euch hier verbringen?«

»Du kannst deine nächsten fünfzig Geburtstage noch hier verbringen. Doch ohne es zu bereuen!«

»Ich werde es nicht bereuen.«

Dann ging Dean wortlos zum Safe, nahm ein kleines Bündel Schriftrollen heraus und legte sie Claude in die Hand, während sie ihn fragend ansah.

»Was ist das?«

Dean grinste. »Bevor du irgendwohin gehst, solltest du jedoch lernen, wie man die Pfeilspitzen herstellt, die du benutzt. Nicht, dass du eines Tages ohne sie die Welt erkunden gehst.«

Claude rollte das Pergament auf. Darauf waren unzählige Formeln niedergeschrieben und Skizzen zur Herstellung ihrer außergewöhnlichen Pfeile. Claude freute sich sehr. Doch sie hatte auch ein wenig Angst davor, denn so etwas hatte sie noch nie ohne Deans Hilfe gemacht.

Dean nickte zufrieden. »Erst wenn du die Herstellung beherrschst und noch ein wenig mehr an deiner Treffsicherheit arbeitest, lasse ich dich gehen. Die Welt ist wunderschön, doch birgt sie auch so viele Gefahren. In diesen unsicheren Zeiten muss man sich zur Wehr setzen können, Claude.«

Sie nickte entschlossen. »Das werde ich.«

Den restlichen Vormittag zeigte Dr. Dean, wie Claude die Schriftrollen zu lesen und zu verstehen hatte. Claudes Konzentration schwand langsam dahin, und dies bemerkte Dean sofort.

»Es ist fast Mittag, Claude. Hattest du nicht noch etwas zu erledigen?«

Claude sah auf ihre Taschenuhr und erschrak. »Du hast recht! Ich muss mich beeilen. Bis später.« Schnell schnallte sie ihren Bogen über die Schulter, nahm das Päckchen mit den neuen Pfeilspitzen und lief los. Sie hörte gar nicht mehr, wie Dean ihr nachrief, dass sie ihre Schriftrollen vergessen hatte.

Sie hechtete über den umgefallenen Baumstamm, sprang über den kleinen Bach und eilte zum Haus. Am Kücheneingang sprang sie die kleine Treppe nach oben, verfehlte die letzte Stufe und stürzte der Länge nach in den Raum hinein. Es gab ein lautes Scheppern und Krachen, denn sie fiel direkt in die aufgestapelten leeren Pfannen und Töpfe hinein, die dort für das Mittagessen bereitgestellt waren. Ihr war kurz etwas schwindelig, als eine helfende Hand sie am Arm nach oben zog. Sie blickte in die schläfrigen, zufriedenen Augen ihrer alten Freundin Sahra.

»Ach, Claude, sei doch nicht immer so stürmisch!«

Etwas benommen setzte sich Claude an den massiven Tisch, der sehr alten Küchenmagd Emma gegenüber. Diese war beinahe ein Jahrhundert alt, fast blind und konnte kaum noch laufen. Doch sie lächelte stets und hatte für jeden ein paar liebevolle Worte übrig.

»Ich hoffe, du hast dir nicht wehgetan, mein Kind?«

Claude rieb sich das Schienbein vor Schmerz. »Na ja, ein bisschen schon. Ist aber halb so wild.«

Emma kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. »Du warst wieder bei unserem Herrn Doktor, nicht wahr? Immer wenn du in seiner Werkstatt warst, bist du schmutzig, oder kommt das von deinem Sturz?«

Claude schmunzelte. »Dieses Mal kommt es tatsächlich von meinem Sturz, Emma. Heute hat mich Dean ausschließlich in die Kunst der Formeln eingeweiht.«

Emma lehnte sich zurück und lachte. »Du erinnerst mich so sehr an deine Mutter. Als sie hierherkam, war sie auch so ein Wildfang wie du. Dieses liebe Lächeln, immer freundlich und so genügsam! Ich konnte am Anfang gar nicht glauben, dass sie aus einer adligen Familie stammte.«

Claude nickte. Sie bekam von Sahra einen nassen Lappen und wischte sich damit das blutige Knie ab.

Emma schwelgte weiter in Erinnerungen. »So eine wilde Person war deine Mutter! Jetzt ist sie so ruhig geworden. Doch ich denke, dass sie ihren inneren Frieden bei uns gefunden hat, und das ist das Wichtigste. Und als du dann zur Welt kamst, Claude …, das war eine so große Freude. Mit weißen Haaren geboren, weiß wie das Mondlicht, das zu deiner Geburt hell in das Zimmer strahlte.«

Claude lächelte. Sie hörte gerne diese Geschichten und hätte noch stundenlang mit der alten Dame am Tisch gesessen, doch sie stand unter Zeitdruck. Sie sah Sahra an, die gerade das Mittagessen vorbereitete. Diese bemerkte sogleich, das Claude aufbrechen wollte, und stellte Emma eine Schüssel Karotten vor die Nase.

»Hier, Emma, würdest du die bitte für mich putzen? Ich schäle bereits die Kartoffeln.«

Die liebe, alte Emma nahm ihr kurzes Messer und begann mit der Arbeit.

Sahra stellte Claude einen Teller mit Kuchen und ein Glas Milch auf den Tisch. »Der Kuchen ist zwar von gestern, aber ich hoffe, das geht in Ordnung, Claude?«

»Kein Problem.« Sie nahm die Sachen und wollte soeben nach draußen gehen, als ihr Blick auf den Spiegel an der Wand fiel. Dort war wieder dieses dunkelhaarige Mädchen zu sehen. Claude erschrak und ließ beinahe das Glas Milch fallen. An ihre graue Haut und ihren düsteren Blick konnte Claude sich einfach nicht gewöhnen. Wieder lief ihr ein grausiger Schauer über den Rücken. Doch sie ging einfach weiter nach draußen und tat wieder so, als hätte sie die Gestalt nicht bemerkt.

Claude wurde von der stechenden Mittagssonne geblendet. Sie blickte in den Himmel und sah, wie sich eine große, schwarze Regenwolke langsam Richtung Sonne schob. Claude beeilte sich, um wie jeden Tag um die gleiche Zeit bei der Mühle vorbeizuschauen. Schnell stapfte sie durch hohes Gras, vorbei an einer der alten Ruinen, dann über die verfallene, schmale Brücke, die seltsamerweise über die breiteste Stelle des Baches gebaut worden war.

Ein Donnergrollen hallte aus der Ferne, und der Himmel verdunkelte sich. Doch Claude bemerkte dies kaum, denn ihre Gedanken kreisten um das Mädchen im Spiegel. Wer war diese junge Frau? Was wollte sie von ihr, und warum konnte niemand sonst sie sehen?

Von Weitem erblickte Claude bereits die alte Mühle, und ihre Grübeleien verschwanden.

Plötzlich raschelte es im Gebüsch neben ihr. Sie blieb stehen und konnte ganz kurz einen rötlichen Schatten erkennen, der in den schwarzen Dornenbüschen verschwand. Sie stellte das Glas und den Teller auf einen Stein und bückte sich, um einen Blick in die Büsche werfen zu können. Doch da war nichts. Nur spitze Dornen, die bedrohlich in alle Richtungen zeigten und wohl jeden hemmungslos zerkratzen würden, der sich in sie hineinwagte. Claude hatte großen Respekt vor diesen Pflanzen, denn ein alter Freund hatte ihr einst geraten, sie solle sich hüten, ihnen zu nahe zu kommen.

In diesem Moment hörte sie einen lauten, grässlichen Frauenschrei aus dem alten Herrenhaus ertönen.

Sie erschrak und fuhr herum. Das war Sahras Stimme.

Plötzlich hörte sie Schüsse fallen, Pferde wiehern und trampeln, Geschrei und laute Männerstimmen. Eine gefühlte Ewigkeit hörte sie dieses Getöse. Dann hetzte Claude wie von Sinnen in Richtung des großen Hauses. Sie rannte, so schnell sie konnte, doch sie hatte das Gefühl, kaum von der Stelle zu kommen. Ihre Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. Sie wurden überfallen, doch wie waren diese Männer hier unbemerkt eingedrungen, und wer waren sie?

Als sie nach wenigen Minuten endlich dort ankam, war es bereits fast schon wieder still. Die Stimmen verteilten sich auf dem gesamten Gelände, als würden sie etwas suchen. Claude schlich samt Bogen durch das hohe Gras, um nicht gesehen zu werden. Endlich erreichte sie die Stallungen. Langsam warf sie einen Blick in die Scheune, doch was sie da sah, verschlug ihr fast den Atem.

Das Küchenmädchen Molly und der junge Vedy waren mit einem Seil an den Armen zusammengebunden und hingen an einem der dicken Stützbalken. Ihre Kehlen waren durchtrennt, und das Blut floss dünn an ihren schlaffen Körpern herunter. Aufgehängt zum Ausbluten. Claudes Magen drehte sich um, und sie musste sich übergeben. Eine solche Grausamkeit hatte sie noch nie zuvor gesehen. Es war einfach furchtbar.

Sie setzte sich einen Moment in das Heu am Eingang des Stalles und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Wer tat so etwas? Und warum auf eine solch bestialische Weise?

Wieder hörte sie die Stimmen der Männer aus der Ferne. Doch sie wurden immer deutlicher und kamen offenbar näher.

Claude hockte sich schnell hinter den Heuhaufen, vergrub sich dann darin, so gut sie konnte, und harrte darin aus. Die Gespräche der Männer wurden langsam hörbar. Claude hatte schreckliche Angst. Ihr wurde heiß und kalt. Spinnen krabbelten durch ihr Haar, und Mäuse huschten an ihren Füßen entlang. Sie kämpfte so stark mit den Tränen, dass ihr Brustkorb furchtbar schmerzte.

Dann standen zwei der Männer plötzlich am Eingang der Scheune. Sie hatten dunkle Uniformen an und trugen schwere Gewehre über den Schultern. Der eine von ihnen hatte ein Tuch vor dem Mund und trug eine Schutzbrille auf seinen dunklen Haaren. Der andere trug einen dunklen Helm, sodass man rein gar nichts von ihm erkennen konnte. Sie unterhielten sich. Der Mann mit der Schutzbrille ergriff das Wort.

»Hier waren wir vorhin doch schon mal, Hrog.«

»Ja, aber sie kann überall sein, sich überall verstecken auf diesem riesigen Gelände.«

»Ich finde es schon etwas übertrieben, diese Menschen derart abzuschlachten. Das waren Küchenhilfen, Gärtner und ein Kind. Was hätten die schon gegen uns ausrichten sollen? Fesseln, einen Knebel ins Maul stopfen und liegen lassen, das hätten wir tun sollen.«

Hrog, der Mann mit dem Helm, stutzte. »Lass ihn das lieber nicht hören, Thurn! Sonst denkt er noch, du seist weich geworden, und dann bist du schneller weg vom Fenster, als dir lieb ist.«

Thurn überlegte kurz. »Warum macht Jasper die Drecksarbeit nicht selber? Das war nun wirklich keine Anstrengung, hier alles niederzumachen.«

Claude erschrak. Es war also Lord Graham Jasper, der dieses Gemetzel veranlasst hatte. Ihre Mutter, Dean und die anderen hatten sie immer davor gewarnt, dass dieser Tag einst kommen könnte, doch sie hatte es nie geglaubt. In diesem Moment sah sie das Wappen der Jaspers auf den Uniformjacken der Männer. Ihr Herz raste vor Wut. Sie hatte den unbändigen Drang, diesen zwei Subjekten einen Pfeil direkt zwischen die Augen zu jagen. Doch sie versuchte, sich zu beruhigen. Sie durfte sich nicht bewegen, sonst hätten sie sofort gehört, dass sie nur wenige Meter von ihnen entfernt war. Aber wen suchten sie? Sie selbst oder ihre Mutter?