Geistergeschichten aus aller Welt -  - E-Book

Geistergeschichten aus aller Welt E-Book

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Dämonen, Vampire, Hexen, Teufel oder Werwölfe: Die Welt des Aberglaubens steckt voller Unholde und Ausgeburten der Fantasie, die uns erschaudern lassen. Sie kommen in Geisterschiffen oder unheimlichen Kutschen, kehren als Wiedergänger zurück und bringen Tod und Verderben. Hier versammelt ist ein gespenstisches Panoptikum von Spukgestalten aller Art aus aller Welt. Neben Geschichten und Märchen des Volksglaubens umfasst es Erzählungen aus der Hand der großen Klassiker Puschkin, Maupassant, Knut Hamsun und Mark Twain.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 424

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Geistergeschichten aus aller Welt

Herausgegeben und mit einem Vorwort von Erich Ackermann

Anaconda

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der ­Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält ­technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2022 by Anaconda Verlag, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotiv: Eugene Grasset (1841–1917), »Three Women and Three Wolves«, Musée des Arts Decoratifs, Paris, France © Peter Willi / Bridgeman Images

Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de

Satz und Layout: Achim Münster, Overath

ISBN 9-783-6412-9474-8

www.anacondaverlag.de

Inhalt

Vorwort

Die Geister in der Spinnstube

Die Wäscherinnen der Nacht

Die weiße Herberge

Das Spukhaus in Athen

Die Braut von Amphipolis

Der Gespensterbräutigam

Der Küster von Mörkaa

Der Andreasabend

Zusammenkunft der Toten

Das Gespenstermahl

Das Gespenst am Brunnen

Der wilde Jäger

Raunacht-Abenteuer

Der schwarze Geisterhund von Dorset

Die nächtlichen Kirchgänger

Julspuk

Die Christmesse in der Wildermänner Kirche

Die Totenmette

Die Überfahrt der Totengeister

Ein Besuch in der Anderswelt

Der Sargmacher

Die Strafe nach dem Tode

Die schwarze Prinzessin

Eine Vision Karls des Elften

Das Seegespenst

Der fliegende Holländer

Die Höhle von Steenfoll

Die Banshee von Bunworth

Das verwünschte Schloss

Der Bahrgeist

Die dankbaren Toten

Auf dem Wasser

Geschichte des Fischers mit dem Geist (Dschinni)

Sigurd und das Gespenst

Die weiße Frau

Eine Geistergeschichte am Broadway

Die Nordlichtgeister

Ein Poltergeist vom platten Lande

Das Irrlicht

Das Totenhemd

Nornagest

Der Tod und die alte Frau

Der Totenarm

Das gebückte Mütterchen

Die Geisterküche

Die Maske des Roten Todes

Ein Vampir auf dem Balkan

Ein Vampir im hohen Norden

Das Mädchen und der Vampir

Das Gespenst in Fjelkinge

Der Werwolf im Feenwald

Der Werwolf in Ottensen

Der tote Gast

Ursprung der bösen Geister

Der wilde Hund

Das tote Mädchen

Die Geister der Erhängten

Die Nacht auf dem Schlachtfeld

Die gespenstische Füchsin

Miura Takeschi

Die Vampirkatze

Juki-onna, die Schneefrau

Das Land des Todes

Tschibi oder die zwei fettessenden Geister

Die Totenbraut

Quellenverzeichnis

Vorwort

Die Geister aller Art gehören in den großen Bereich des Übernatürlichen, welches nicht den Gesetzen der Natur unterworfen zu sein scheint und Wesen und Gebilde nicht physischer Art umfasst, die nur auf der Vermutung beruhen. Solche übernatürlichen Deutungen der Welt sind in allen Religionen zu finden und betreffen die Frage nach der Gottheit schlechthin, den himmlischen Wesen, den Prophetien, den Wundern, dem Himmel und der Erde, dem Weiterleben nach dem Tod, finden sich aber auch im Aberglauben aller Völker bei der Annahme von Geistern und Dämonen, die einen magischen Raum beherrschen. Die Annahme von Geistern ist ein nicht auf dem Verstand gegründeter Glaube, der von der Furcht und dem Nichtwissen um die wirklichen Gegebenheiten gespeist wird und gewissen Erscheinungen im physischen wie auch im psychischen Gebiet einen dämonischen und magischen Ursprung zuerteilt. Ursprünglich sind die Dämonen oder Geister bei den Griechen neutrale Wesen, die eine Mittelstellung zwischen den Menschen und Göttern einnehmen und mit ihnen in Verbindung stehen; erst das Christentum hat diese antiken wie auch die germanischen Geistwesen diabolisiert, weshalb der Begriff Dämon auch heute noch mit dem Bösen assoziiert wird. In unseren Geistergeschichten allerdings werden die Begriffe Dämonen und Geister als Synonyme gleichgesetzt.

Kulturgeschichtlich entstammt der Glaube an Geister dem Animismus der frühen Völker. Er ist eine Vorstufe der später überall entwickelten Religionen und will die Ursachen der Dinge in der Umwelt erklären. Es ist der Glaube an eine vitale Kraft in allen Lebewesen, aber auch in den Dingen, die den Menschen umgeben wie etwa Felsen, Flüsse und meteorologische Erscheinungen, der sich in der Beseelung der Welt mit Geistern manifestiert. Diese können für den Menschen sowohl eine bedrohliche als auch eine schützende Wirkung haben. Solche übernatürlichen Wesen sind Hausgeister, Spukgeister, die meist als Gespenster auftauchen, und vor allem auch Totengeister. Ihre äußere Gestalt kann anthropomorph sein, wie es meist beim Gespenst der Fall ist, theriomorph wie beim Werwolf, kann zwischen Mensch und Tier wechseln; sie kann auch ein reines Produkt der menschlichen Fantasie sein, welches dann meist ein gefährliches Ungeheuer ist, wie es oft in der Mythologie (Chimären, Meeresdrachen) vorkommt, oder auch dinglicher Art wie das Irrlicht in Mooren und Sümpfen.

Bei dieser Geisterwelt, die im Leben der Menschen und in der Welt aktiv ist, gibt es keine Unterscheidung zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen, weil der gesamte Kosmos, sichtbar wie auch unsichtbar, als natürlich angenommen wird. Neben Phänomenen wie Stürmen, Hungersnöten, Unfällen und allem anderem Missgeschick, das dem Menschen widerfahren kann, soll die Geisterwelt aber auch der ganz elementaren Umwelt mit all ihren Geheimnissen eine Deutung geben. So sind auch die vier klassischen Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde als Elementar- oder Naturgeister Personifikationen dieser Elemente. Der Arzt und Naturphilosoph Theophrastus Paracelsus(1493–1541) hat eine Theorie und eine Hierarchie dieser Elementargeister aufgestellt und spricht von Silvanen, Faunen, Satyrn, Panen, Nymphen, Najaden, Nereiden, Dryaden und Sylphen u. a.

Es ist die meist unbewusste Angst vor dem Unerklärlichen, dem Fremden, dem Unbestimmten, welche eine solche Geisterwelt entstehen lässt. Der Glaube an die Geister will all die Phänomene der Umwelt, die auf den Menschen, und vor allem den unaufgeklärten, zukommen und die in seine alltägliche und vertraute Umgebung einbrechen, erklärlich machen. Im Urgrund ist das Unheimliche das, was draußen liegt, nicht im Heim drinnen. Die Unwissenheit gegenüber dem Draußen lässt beim Menschen in seinem Drinnen, der eigenen Psyche, Gestalten und Geschehnisse entstehen, die dämonisch sind. Geister sind in diesem Sinne psychische Realitäten, Projektionen der eigenen unbewussten Psyche auf vermeintlich äußere magische übernatürliche Wesen. Neben der Angst vor der äußeren Umwelt spielen hierbei auch die verborgenen Ängste vor dem unbekannten Abgrund in uns selbst eine entscheidende Rolle. Dass das Gespenst nicht nur eine Projektion nach außen, sondern auch eine nach innen in die eigene Seele ist, bezeugt eine schöne, vom griechischen Schriftsteller Plutarch (um 45–125 n. Chr.) überlieferte Geschichte: Als der Cäsarmörder Brutus sich auf der Flucht auf hoher See befand, sieht er ein fürchterliches Gespenst vor sich stehen. Auf die Frage, wer es denn sei, gibt ihm dieses zur Antwort: »Dein böser Geist, Brutus. Bei Philippi sehen wir uns wieder.« Und so geschah es denn auch. In der Schlacht bei Philippi (42 v. Chr.) wird Brutus wie andere Cäsarmörder auch fallen. In dieser Geschichte ist das Gespenst das eigene böse Gewissen, das der antike Mythos in den Erinyen und Furien personifiziert. Die Angst vor der eigenen Psyche gebiert für Brutus den Horror. Das Gespenst befindet sich nicht irgendwo außerhalb, Brutus selbst ist es.

Hinter der Tatsache, dass zumal der unaufgeklärte Mensch in und um sich das Dämonische walten sieht, verbirgt sich ein tiefes und dauerndes Gefühl des Misstrauens gegenüber der Wirklichkeit. Auch dem Menschen, der die Welt rational zu erkennen und zu deuten weiß, wohnt archetypisch ein Ahnen übernatürlicher Dinge inne, eine Grundempfindlichkeit der Angst vor dem Unheimlichen, die sich vor nichts Bestimmtem fürchtet, sondern vor der Welt dahinter, die unwillkürlich in unsere vertraute Welt einbrechen kann. Das ­Unheimliche an sich erregt Schrecken und Grauen; für den Philosophen Martin Heidegger (1889–1976) ist es keine konkrete Furcht, sondern »ein existentiales Gestimmtsein des Nicht-zuhause-seins in der Welt«. Für den Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud (1856–1939) ist das Unheimliche dem Seelenleben des Menschen vertraut, aber durch den Prozess der Verdrängung ins Unbewusste entfremdet worden. Aber dieses Unheimliche ist nicht verloren gegangen, in Träumen, Visionen, fantastischen Erzählungen und schlimmstenfalls in Wahnvorstellungen kehrt es zurück.

Der Schauer angesichts des Dämonischen und Unheimlichen hat sich mit der Weiterentwicklung des Menschengeschlechts vom mythischen zum logischen Denken nicht verflüchtigt, er hat nur eine andere Dimension angenommen. Geistergeschichten, die früher die Bauern um das winterliche Feuer geschart hatten, waren für den damaligen Rezipienten wahr. Das magische Weltbild schenkt der Existenz von zwei Welten, deren Grenzüberschreitung fließend ist, unbedingten Glauben. Der heutige Mensch glaubt nicht an das Dämonische, es überfällt ihn einfach von Zeit zu Zeit, worin sich in der modernen Industriegesellschaft auch die Empfindung widerspiegelt, einer geheimnisvollen, unbekannten Welt ausgesetzt zu sein, die im Grunde nur noch bedrohlich ist.

Der Glaube an eine Geisterwelt hat sich seit alters her in Sagen und Erzählungen niedergeschlagen, die den bedrohlichen Phänomenen eine Gestalt gegeben haben, deren Formen vielfältig sind. Die Erlebnisberichte über die Erscheinungen des Übernatürlichen in Volksglauben und Volkssagen zeugen von einer subjektiven Glaubwürdigkeit der Tradition; für den früheren Rezipienten waren sie wahre Geschehnisse, die das Element des Schauervollen, des tremendum, vor dem es sich zu fürchten gilt, mit dem des fascinosum, das den Menschen fesselt und in seine Bann zieht, verbindet, so der Religionswissenschaftler Rudolf Otto (1869–1937).

Die Projektion bedrohlicher Bilder und die Umsetzung von Schreckenserlebnissen oder solcher Empfindungen in Erzählungen sind universelle kulturelle Phänomene. Kristallisation und Hauptmotiv dieser Angst vor dem Unheimlichen in allen Kulturkreisen sind der Tod und essenziell mit ihm verbunden die Nacht, die eigentliche Zeit der Toten. Wie viele Menschen, die sich auch heute noch frei von jedem Aberglauben dünken, werden in der Nacht, wenn die Psyche empfindsamer frei liegt, vom Schauer vor diesem Unheimlichen gepackt, mögen sie auch beim ersten Hahnenschrei ihre Leichtgläubigkeit belächeln und skeptisch sein! Die Unwissenheit von all dem, was in der Umwelt vor sich geht, ist ja schon am helllichten Tag beängstigend, umso mehr verstärkt sie sich auch im emotionalen Bereich noch in der Dunkelheit, zumal der Mensch physiologisch ein Tagtier ist, das mit seinen Augen die Finsternis nicht zu durchdringen vermag. In den im Volksglauben überlieferten Geistergeschichten zeigt sich die Ambivalenz dieser Totengeister, die zum einen als verehrungswürdige Ahnen erscheinen, dann aber auch immer wieder als bösartige Dämonen, die fürchterlich ins Dasein der Lebenden eingreifen.

Einzelne Motive und Gestalten in diesem Pandämonium der Angst sind archetypisch und finden sich in den Gruselgeschichten vieler Kulturen wieder wie etwa:

Naturgeister aller vier Elemente; Hausgeister; Poltergeister; Aufhocker; Todesboten; die unerlöste Seele; anthropomorphe Gespenster, die nicht erlöst und zu einer ewigen Fahrt verurteilt sind; Verkörperungen des Todes; die Zusammenkunft der Toten z. B. zu einer Geistermesse; der personifizierte Tod, der z. B. als Gerippe den Lebenden erscheint (bretonischer Ankou); Lebendtote; Wiedergänger; Vampir; Werwolf; der Tod als Bräutigam; unheimliche Tiere (schwarzer Hund, schwarze Katze); Stillstand der Zeit, in der die Toten wie z. B. an Samuin (Halloween) an die Stätte ihres früheren Lebens zurückkehren; Nachtmahr oder Nachtalb; Monster, die ihrer Gestalt nach undefinierbar sind; das unsichtbare bedrückende Ding, das auf unerklärliche Weise einfach da ist und tötet oder verletzt; Geisterschiffe; Geisterkutschen und Leichen aller Art auf Friedhöfen in aller Welt!

Neben den Sagen, die dem Volksglauben entspringen, hat sich auch früh schon die Geistergeschichte literarisch niedergeschlagen. Neben einigen Geistergeschichten aus der Antike wie bei Plautus und Plinius und den Dämonen aus Tausendundeiner Nacht wie den Dschinn, Ghulen und den Ifrit (Afrit) sind auch solche aus dem alten China und Japan überliefert. So enthält das Werk DieGeschichte des Prinzen Genji der japanischen Hofdame und Schrifstellerin Murasaki Shikibu aus dem 11. Jahrhundert Geistergeschichten und erzählt von Personen, die von Geistern besessen sind; in China ist es der Dichter Pu Songling, der im 17. Jahrhundert fantastische Geschichten von übernatürlichen Wesen erzählt, in denen vor allem die Fuchsgeister eine große Rolle spielen. Den eigentlichen Aufschwung erlebten aber die Geistergeschichten in Europa nach dem rational geprägten Zeitalter der Aufklärung mit dem Beginn der Romantik, wobei vor allem E.T.A. Hoffmann (1777–1822) prägend war. In England sind es Schauergeschichten, die in den Werken der gothic novel dem Leser wohliges Gruseln bereiten, gefolgt von den Erzählungen des Viktorianischen Zeitalters, welche die große Welle der fantastischen Horrorliteratur des 20. Jahrhunderts vorbereiten, die sich auch bis heute in den Medien Film und Internetspielen u. a. größter Beliebtheit erfreuen. Das gleiche gilt für die Literatur des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten (Washington Irving, Edgar Allan Poe), in Russland (z. B. NikolaiGogol, Alexander Puschkin) und in Frankreich (Guy de Maupassant, Prosper Mérimée).

Menschen brauchen wohl vor allem beim Erwachsenwerden solche Grusel erzeugende Geschichten, um Urängste zu verarbeiten und unschädlich zu machen. Typisch dafür ist das Grimmsche Märchen Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen. Es zeigt deutlich auf, dass Angst durch aktive Suche erlebt und unschädlich gemacht werden muss, wodurch dann der Mensch reift. In diesem Sinne also haben Geistergeschichten mit ihrem Potenzial an Schauer eine kathartische Wirkung, die weit über die äußerliche Gänsehaut hinausgeht. Dadurch dass innere Konflikte und verdrängte Gefühle aktiv ausgelebt werden, verlieren sie ihren Schrecken.

Die Geister in der Spinnstube

In jedem Dorf gibt es eine Spinnstube. Die Spinnstube heißt bei uns auch Lichtkarz. Abends im Winter, wenn alles ausgeschafft ist im Stall und in der Scheune, dann nehmen die ledigen Mädchen ihre Kunkeln1 und gehen zum freundlichen Nachbarn, der eine große Stube hat und umsonst einheizt und umsonst Licht gibt, und bleiben dort oft bis zwölf oder zwei Uhr des Nachts und spinnen. Zu Hause, wenn man zu lieb einbrennen müsste und Licht hertun, würde das Spinnen wenig Nutzen bringen, der Gulden käme auf achtzehn Batzen.

Allein so ganz umsonst tut’s der Spinnstubenhalter auch nicht, und das Spinnen ist auch nicht immer die Hauptsache. Da kommen die ledigen Burschen, welche ihren Schatz in der Spinnstube wissen, um die Kunkel zu heben. Das Kunkelheben ist aber nichts anders, als eine verliebte Unterhaltung, wobei es an derben Späßen nicht fehlt. Die Burschen kommen nicht leer, sondern sie bringen etwas mit, nämlich Wein und oft auch Fleischwaren, und der Spinnstubenhalter bekommt immer am meisten davon, und oft noch Geld dazu, damit er’s leide, wenn’s die Burschen oft zu toll treiben.

Das Kunkelheben ist aber noch nicht wieder die Hauptsache. Eine noch größere Hauptsache ist das Patschen oder Schwatzen. Da ist die Frau des Spinnstubenhalters, und vielleicht noch ein paar andere Frauen, oder heiratslustige Witwen, die geben den Ton an, und es wird erzählt, was vorgefallen ist den Tag über, und einander im Vertrauen mitgeteilt, was man diesem oder jenem nachsagt, dass der Hansjörg gestohlen habe und die Mariebärbel schwanger sei, und es ist eine ärgere Klatscherei als nur in irgendeiner Kaffeevisite eines Landstädtchens.

Das Klatschen ist aber auch wiederum nicht die größte Hauptsache, die allergrößten Hauptsachen sind die Geister.

Die Abendunterhaltung in einer Spinnstube wäre gar nichts, wenn man nicht am Ende auf die Geister käme. Was ist ein Geist? Ein Geist ist ein Gespenst, und ein Gespenst ist die Seele eines Abgeschiedenen, aber keine unsichtbare Seele, sondern eine sichtbare, denn sie muss zu ihrer Strafe und Qual eine bestimmte Zeit auf dieser Erde herumwandeln. Es gibt darum keine guten Geister, sondern lauter schlimme. Der Gründe, warum einer laufen muss oder geistert, gibt es verschiedene. Entweder hat er ein Verbrechen begangen, das allzu groß erscheint, als dass es Gott sogleich verzeihen könnte, oder aber, und öfter, war er ein Reicher, der dem Armen sein wenig Hab und Gut abzwackte, um sich nur allein gütlich damit zu tun, oder ein Amtmann, der die Bauern schund, dass sie die Lasten kaum erschwingen konnten, oder ein Edelmann, der seine Untertanen plagte, dass sie alle ihre Zeit mit Frondiensten hinbringen mussten, ohne für Weib und Kind etwas verdienen zu können. Die Orte, wo die Geister sich aufhalten, sind ebenfalls verschiedener Natur. Meistens sind es die Kirchhöfe, und es gibt kein ehrliches Schwabenmädchen, das abends, wenn es bereits dunkelt, an einem solchen Ort vorbei oder gar da­rüber ginge. Um zwölf Uhr über einen Kirchhof gehen, hieße Gott verachten. Allein auch andere Orte gibt’s. Jener reiche Bauer muss in seinem eigenen Hause laufen; im Keller, wo er sein Geld vergraben hat; oder auch Treppe auf, Treppe ab, und rumort herum und schlägt die Türen zu und reißt die Schubladen auf, und es klingt, als ob er Geld zählte. Oder ist es ein Acker, der unrechtmäßig erworben wurde und an den nun die Seele festgebunden ist, als an den Ort ihrer Qual, oder ein Lindenbaum, unter dem in früheren Zeiten einer erschlagen wurde, oder ein verlassenes Kloster, oder ein alter Turm, der Rest von einem Schloss, das früher da gestanden hatte, oder das Amtshaus, das jetzt in ein Schulhaus verwandelt ist. Man sieht, dass die Geister eine große Auswahl haben, wo sie laufen wollen. Ein Geist ist übrigens sehr leicht zu erkennen. Entweder sieht man gar nichts und hört bloß einen Lärm oder man sieht nichts als ein kleines Flämmchen gleich einem blauflammenden Lichte, das hin und her hüpft, bald da, bald dort, jetzt verschwindet und nun wieder auftaucht und hauptsächlich an sumpfigen Gegenden zu treffen ist. Oder ist’s ein Hund, ein schwarzer Pudel mit funkensprühenden Augen, der immer in Krümmungen sich umherbewegt und aussieht wie der lebendige Teufel, oder ist’s ein Schimmel mit drei Füßen, oder ein Rappe, der Feuer und Flammen speit, und oben drauf sitzt einer und klatscht mit der Hetzpeitsche, als ob er die Bauern prügeln wollte. Am erschrecklichsten ist’s, wenn der Geist einem Menschen gleichsieht. Man trifft diesen hauptsächlich auf Kreuzwegen und an größeren Steigen. Bald sieht er übermenschlich groß aus, wie ein in Nebel zerfließender Riese, bald macht er sich wieder klein wie ein Zwerg. Kommt ein Wagen, so hängt er sich an die Räder, wenn’s den Berg hinaufgeht und sperrt, dass die Pferde keuchen und schwitzen und doch nicht vom Flecke kommen; wenn’s aber hinuntergeht, so hängt er sich vorne an und zieht für acht Pferde und kein Halten hilft mehr etwas, im Galopp geht’s hinunter und Ross und Wagen stürzen zusammen am Fuße des Berges. Kommt dagegen ein einsamer Wanderer, so gesellt er sich zu ihm wie einer, der desselben Weges kommt, plötzlich aber nimmt er einen Fuß oder einen Arm von sich und schleudert ihn weit weg, und dann noch einen Arm und noch einen Fuß und dann den Kopf und rollt ihn vor sich her wie eine Kegelkugel und hüpft ihm nach mit dem Rumpf, und den Wanderer ergreift Grausen und Entsetzen und er läuft, was er laufen kann, über Stock und Stein, immer aber hinter sich drein hört er das heisere Lachen des Geistes und er läuft die ganze Nacht hindurch und dennoch findet er sich des Morgens an demselben Plätzchen, von dem er ausgegangen, und es ist keine Veränderung mit ihm vorgegangen, als dass er todmüde ist vom Schrecken und der Anstrengung.

Solche Dinge erzählt man sich in den Spinnstuben; Geschichte folgt auf Geschichte, immer eine gräulicher als die andere. Niemand von allen, die da sind, hat noch einen Geist gesehen, aber der Hansjörg hat’s erzählt, und des Hansjörg’s Großmutter hat ihn auch gesehen, und alle glauben steif und fest daran, und keine Predigt des Pfarrers und kein Räsonieren der Freigeister im Wirtshaus bringt den Glauben aus den Leuten heraus. Das Kindsmädchen hat das Kind schon mit solchen Geschichten zur Ruhe gebracht, und was man in zartester Jugend empfangen, das bleibt das ganze Leben hindurch. Einen Vorteil hat der Geisterglauben: er ist ein Femgericht2 über die Toten. So wie einer was Schlechtes begangen, wenn’s auch nicht vor Gericht bestraft wurde, sondern bloß im Munde des Volkes bekannt ist, alsbald heißt es: er geht.

Mitternacht ist nun längst vorüber. Gesponnen ist zwar nicht viel geworden, aber es ist Zeit, nach Hause zu gehen. Kann aber das Mädchen allein nach Hause gehen? Es wäre ihr zu grausig zumute; ihr Bursche muss sie begleiten. Und er begleitet sie bis ans Haus hin und oft auch bis ins Haus hinein, und geht erst des Morgens nach Hause.

1 Eine Kunkel ist eine alte Bezeichnung für Spinnrocken.

2 Das Femgericht ahndete im Mittelalter Kapitalverbrechen wie etwa Raub, Brand, Mord, Vergewaltigung, Fälschung, Meineid und Kirchenfrevel.

Die Wäscherinnen der Nacht

Wie alle anderen Menschen auch sind die Bretonen Kinder der Sünde, aber sie lieben ihre Toten; sie haben Erbarmen mit denen, die im Fegefeuer schmachten, und bemühen sich, diese von ihrer schweren Prüfung zu erlösen. Jeden Sonntag beten sie nach dem Gottesdienst auf der Erde, wo ihre armen Körper verwesen, für deren Seelen. Vor allem im November nehmen sie ihre Christenpflicht besonders ernst. Wenn Allerheiligen kommt, denkt jeder an die, die ihnen zur Gerechtigkeit Gottes vorangegangen sind. Man lässt für sie Messen lesen, zündet Kerzen an, empfiehlt sie der Fürsprache der besten Heiligen, geht mit den Kindern an ihre Grabsteine, und nach der Vesper zieht der Pfarrer mit seiner Gemeinde von der Kirche auf den Friedhof, um dort die Gräber zu segnen. In der Nacht vor Allerheiligen erleichtert Christus auch ein wenig die Pein der armen Seelen und erlaubt ihnen, diejenigen Häuser wieder aufzusuchen, in denen sie früher gewohnt hatten3. Dann sind die Häuser der Lebenden so voll von den zurückkehrenden Toten wie die welken Blätter in einem Hohlweg. Deshalb lassen die guten Christen in dieser Nacht den Tisch gedeckt und löschen das Feuer nicht im Kamin: So können die heimgekehrten Toten dort ihr Mahl einnehmen und ihre Glieder wärmen, die von der Kälte des Friedhofs ganz starr und klamm geworden sind.

Aber wie es gute Menschen gibt, die die Jungfrau Maria und ihren Sohn verehren, gibt es genauso die Kinder des Satans, die ihre nächsten Angehörigen vergessen. Einer von diesen letzteren war Wilherm Postik. Sein Vater war aus dieser Welt gegangen, ohne die Absolution bekommen zu haben, und wie das Sprichwort sagt, wie der Vater so der Sohn. So hatte denn der junge Postik nichts anderes im Sinn als verbotene Vergnügen: wenn er konnte, ging er während des Gottesdienstes zum Tanz und trank dann mit den Pferdehändlern. Der Liebe Gott hatte es indes nicht an Warnungen an ihn fehlen lassen: seine Mutter, seine Schwestern und auch seine Frau waren im gleichen Jahr gestorben, aber das hatte er leicht verschmerzt. Auch der Pfarrer hatte ihn vergeblich in der Predigt gewarnt, er sei der Stein des Anstoßes in der ganzen Pfarrei. Aber diese öffentliche Warnung war kein Grund für Wilherm, sich zu bessern; nein im Gegenteil: sie führte nämlich nur dazu, dass er ganz mit der Kirche brach; und das war leicht vorauszusehen, denn ein entlaufenes Pferd holt man nicht dadurch zurück, dass man die Peitsche knallen lässt. So wurde denn Wilherms Leben immer liederlicher, ohne Gott und Gebot wie das eines Fuchses im Dickicht.

Die schönen Herbsttage waren inzwischen zur Neige gegangen, und das Fest der Toten war gekommen. Alle Getauften zogen ihre Trauerkleider an und gingen in die Kirche, um für ihre lieben Verstorbenen zu beten, nur Wilherm nicht. Der zog seine Festtracht an und machte sich auf den Weg in den nächsten Marktflecken, der ein Treffpunkt für gottlose Matrosen und leichte Mädchen war. Und die ganze Zeit, die die anderen an diesem Gedenktag mit Gebeten für die Erlösung der armen Seelen verbrachten, die weilte er an diesem gottlosen Ort: er sprach dem Wein zu, machte Glücksspiele mit den Matrosen und erzählte den Mädchen unanständige Geschichten. So ging es dort bis fast Mitternacht zu, und er wollte nicht eher heim in sein Dorf gehen, bis seine anderen Spießgesellen von ihrem sündhaften Treiben müde geworden wären. Er selbst war standhaft im Feiern und ging als letzter aus dem Wirtshaus und war dabei noch genauso munter und sicher auf den Beinen wie vorher.

Nun hatte er vor lauter Trinken das Herz auf der Zunge. Laut grölte er auf allen Wegen die Lieder, die die Mutigsten sonst nur ganz leise brummen; und an den Wegkreuzen ging er vorbei, ohne leiser zu werden oder gar den Hut abzuziehen. Auf seinem Heimweg schlug er auch mit seinem Stock auf die Ginsterbüschel rechts und links des Weges und hatte keine Angst, damit die Seelen derer zu treffen und zu verletzen, die in dieser Nacht unterwegs waren.

So kam er auch an eine Wegkreuzung, an der zwei Straßen nach seinem Dorf abgingen. Die längere stand unter dem Schutz Gottes, während die kürzere von den wiederkehrenden Toten heimgesucht wurde. Viele Leute, die hier nachts vorbeigekommen waren, hatten Geräusche gehört und Dinge gesehen, von denen man nur spricht, wenn man in Gesellschaft mehrerer Menschen ist oder wenn ein Weihwasserkessel nicht weit weg ist. Aber Wilherm hatte nur Angst vor dem Durst und vor hässlichen Mädchen. So schlug er denn den kürzeren Weg ein und ließ seine Holzschuhe so laut auf den Kieselsteinen krachen, dass man es weithin hören musste.

Es war aber eine mondlose Nacht, und der Wind wirbelte die welken Blätter hoch in die Luft, die Quellen entlang des Hügels plätscherten traurig vor sich hin, die Büsche zitterten wie ein Mensch, der große Angst hat, und mitten in dieser Stille klangen die Schritte Wilherms in der Nacht laut wie die von Riesen. Aber nichts konnte ihn erschüttern und ängstigen, und er ging seelenruhig weiter.

Als er an dem alten verfallenen Gutshaus vorbeikam, hörte er, wie der Wetterhahn ihm zurief: »Kehr doch um, kehr um!« Aber Wilherm ging weiter, bis er zu dem Wasserfall kam, der ihm zurief: »Geh nicht weiter, geh nicht weiter!« Wilherm aber setzte seine Füße auf die vom Fluss glatt geriebenen Steine und ging ans andere Ufer hinüber. Als er zu der alten wurmstichigen Eiche kam, flüsterten deren Zweige immer wieder: »Bleib hier, bleib hier!« Aber Wilherm schlug beim Vorbeigehen mit seinem Stock auf den morschen Baum und beschleunigte seine Schritte.

Schließlich war er in dem Tal angelangt, in dem die Geister ihr Unwesen treiben; vom Glockenturm dreier Pfarreien in der Ferne schlug es Mitternacht, und Wilherm begann, ein munteres Liedchen vor sich hin zu pfeifen. Aber als er gerade den vierten Vers pfiff, hörte er schon einen Karren kommen, dessen Räder nicht mit Eisen beschlagen waren, und bald auch sah er, wie dieser sich ihm näherte, er war bedeckt mit einem Leichentuch. Wilherm erkannte gleich, dass es der Karren des Todes war: sechs Rappen zogen ihn, und vorne saß der leibhaftige Ankou4 und lenkte ihn. Er hielt eine eiserne Peitsche in seiner Hand und wiederholte immer wieder: »Weiche oder erbleiche!«

Wilherm machte Platz, ohne auch nur im Geringsten aus der Fassung zu geraten, und fragte noch frech:

»Was machst du denn hier, Bleichgesicht?«

»Ich überfalle und fälle!«, antwortete Ankou.

»Dann bist du also ein Dieb oder ein Mörder?«, fragte da Wilherm.

»Ich bin ein Schnitter ohne Rücksicht und Nachsicht auf jeden, wer er auch sei.«

»Also ein Dummkopf oder ein brutaler Schläger! Aber wohin bist du denn heute Nacht so eilig unterwegs?«, wollte Wilherm dann doch gerne wissen.

»Ich bin auf dem Weg, um Wilherm Postik zu holen«, versetzte das Gespenst, und weiter ging seine Fahrt.

Unser Lebemann aber brach in schallendes Gelächter aus und marschierte weiter. Als er zu der kleinen Schlehdornhecke kam, die zum Waschhaus führte, bemerkte er zwei ganz in Weiß gekleidete Frauen, die Wäsche zum Trocknen über das Gebüsch legten.

»Bei meinem Leben!«, rief er da. »Das sind aber zwei Mädchen, die keine Angst vor Tod und Teufel haben. Warum seid ihr noch so spät draußen auf der Wiese, meine Täubchen?«

»Wir waschen, wir trocknen, wir bleichen!«, antworteten die zwei im Gleichklang.

»Was denn?«, wollte der junge Mann wissen.

»Das Leichentuch für einen Toten, der im Augenblick noch spricht und jetzt noch unterwegs ist.«

»Für einen Toten? Verflixt noch mal! Sagt mir, wie er heißt?«

»Wilherm Postik«, kam von beiden die Antwort wie aus einem Mund.

Da lachte Wilherm noch lauter als zuvor und ging den kleinen holprigen Weg hinunter. Aber je weiter er voranschritt, desto deutlicher hörte er, wie die Wäscherinnen der Nacht mit ihren Klopfern auf die Steine des nahen Waschhauses schlugen; und bald schon erblickte er diese selbst, sie klopften auf die Leichentücher und sangen dabei ein trauriges Lied:

»Kommt kein Christ vorbei, der uns rettet,

Müssen wir bis zum Jüngsten Tage waschen,

Beim Mondenschein und Windsgeheul

Müssen wir waschen das Leichentuch weiß.«

Sobald sie den lustigen Gesellen erblickt hatten, liefen sie alle laut schreiend auf ihn zu, zeigten ihm ihre Leichentücher und brüllten, er solle sie auswringen. »Einen kleinen Dienst unter Freunden kann man nicht ablehnen«, meinte Wilherm fröhlich, »aber jede von euch, schönen Wäscherinnen, der Reihe nach; ein Mann hat schließlich nur zwei Hände sowohl zum Auswringen als auch zum Umarmen!«

Er legte dann seinen Stock beiseite und ergriff den Zipfel des Leichentuchs, den ihm eine der Toten darbot, und achtete genau darauf, immer auf der gleichen Seite wie diese auszuwringen, denn er hatte von älteren Leuten gehört, das sei das einzige Mittel, solchen Gespenstern zu entkommen, ohne von ihnen zermalmt zu werden. Aber währenddessen umringten andere Wäscherinnen Wilherm, der in ihnen seine Tante und seine Frau, seine Mutter und seine Schwestern erkannte. Alle riefen sie: »Tausendfaches Unheil soll über den kommen, der die Seinen in der Hölle schmoren lässt. Tausendfaches Unheil!« Und dabei schüttelten sie ihr wirres Haar, hoben ihre weißen Klopfer hoch, und an allen Waschhäusern des Tals, entlang aller Hecken, oben auf allen Heidelandschaften hörte man Stimmen, die immer wieder riefen: »Tausendfaches Unheil! Tausendfaches Unheil!«

Jetzt war Wilherm außer sich und spürte, wie sich die Haare auf seinem Kopf hochstellten. Verwirrt wie er war, dachte er nicht mehr an die Vorsichtsmaßnahmen, die er vorher ergriffen hatte, und vergaß, das Tuch mit der Wäscherin über einen Strang zu drehen; er begann, es auf der anderen Seite auszuwringen, und im gleichen Augenblick schnürte dieses ihm die Hände wie ein Schraubstock zusammen, und er ging bewusstlos zu Boden, zermalmt an all seinen Gliedmaßen von den eisernen Händen der Wäscherin.

Bei Morgendämmerung kam ein junges Mädchen aus Henvik namens Fantik ar Fur an der Stelle vorbei und blieb stehen, um einen Zweig Stechpalme in ihren Topf Milch zu tun. Da erblickte sie Wilherm, wie er da hingestreckt auf den blauen Steinen lag. Weil sie glaubte, dass es der Wein war, der ihn derart zu Boden hatte gehen lassen, trat sie näher und berührte ihn leicht mit einem Binsenhalm, um ihn aufzuwecken. Als sie aber sah, dass er sich nicht regte, wurde sie von Angst ergriffen und lief ins Dorf, um dort Bescheid zu sagen. Darauf gingen der Pfarrer, der Glöckner und der Notar, der auch Bürgermeister war, zu der genannten Stelle; sie hoben den Leichnam auf und legten ihn auf einen Ochsenkarren. Doch die gesegneten Kerzen, die man anzünden wollte, gingen immer wieder aus, was wohl bedeutete, dass Wilherm Postik für immer verdammt war. Daher bettete man auch seinen Leichnam außerhalb des Friedhofs unter die steinerne Kirchhofmauer, wo die Hunde und die Ungläubigen stehen bleiben.

3 Dies ist noch ein heidnisches Relikt des keltischen Samhain – Festes. In dieser Nacht – heute als Halloween kommerzialisiert – stehen nach der keltischen Vorstellung die Tore zur Anderswelt offen, und die Geister der Toten kommen dann oft wieder auf die Erde zurück und besuchen ihre Verwandten und Bekannten, um ihnen entweder Segen zu bringen oder aber auch zu schaden.

4 Ankou ist in der Bretagne die Personifikation des überall gegenwärtigen Todes; er ist ein mächtiger Herr, der nächtens mit seinem Karren über die einsamen Lande zieht und überall seine Opfer findet. Manche Geschichten sehen in ihm einen Untoten, ein Gespenst oder einen Dämon. Er ist die Personifizierung des Todes oder ein Todesbote, in jedem Fall aber sucht er die Nähe der Menschen. Dargestellt wird Ankou meist als ein Skelett, das nachts auf einem quietschenden Wagen fährt, mit einer Sense in der Hand oder auch als ein riesiger, schattenhafter Mann in dunklem Mantel, der die Toten schweigend auf seinen Karren lädt.

Die weiße Herberge

Einst gab es in dem kleinen Dorf Le Ponthou, das im Finistère liegt, eine Herberge, die man wegen der weißen Farbe ihrer Fassade Die weiße Herberge nannte. Die Wirtsleute waren grundehrlich; jedes Jahr hielten sie gewissenhaft ihre Ostern, und man brauchte bei ihnen die Zeche nicht nachzuzählen. Viele Reisende stiegen dort ab, und ihre Pferde kannten die Stalltüre der Herberge so gut, dass sie von allein davor stehen blieben.

Der Herbst, den die Bretonen Dibenn-éost, den Enthaupter der Ernten nennen, hatte begonnen, die Tage kürzer und trüber zu machen. Als nun eines Abends Floc’h, der Wirt der Weißen Herberge, vor der Tür stand, kam ein Reisender angeritten, der wie ein bedeutender Mann aussah und ein Pferd hatte, das nicht aus der dortigen Gegend zu stammen schien. Er hielt an der Schwelle an, grüßte mit der Hand an seinem Hut und sprach zum Wirt: »Ich möchte hier zu Abend essen und für die Nacht ein Zimmer für mich allein.« Floc’h nahm mal zuerst seine Pfeife aus dem Mund, dann seinen Hut vom Kopf und antwortete:

»Gott segne Euch, mein Herr! Euer Abendessen werdet Ihr bekommen; aber ein Zimmer für Euch allein können wir Euch nicht geben, denn wir beherbergen da oben noch sechs Maultiertreiber, die nach Redon zurückkehren und die sechs Betten der Weißen Herberge in Beschlag nehmen.«

»Mein Gott, guter Mann«, antwortete ihm da der Fremde, »versucht doch bitte, dass ich die Nacht über nicht draußen bleiben muss. Die Hunde haben einen Zwinger, und es ist nicht gerecht, dass Christenmenschen bei so einem Wetter keine Stelle finden können, wo sie ihr Haupt hinbetten können.«

»Fremder Herr«, sagte dann der Wirt untröstlich, »ich kann Ihnen nur sagen, dass die Herberge voll ist, und dass nur das rote Zimmer noch frei ist.«

»Na gut«, dann der Unbekannte, »dann gebt mir dieses!«

Aber der Wirt kratzte sich am Kopf und wurde traurig, dass er dem Reisenden das rote Zimmer nicht geben konnte.

»Seit ich hier Wirt in der Weißen Herberge bin«, sagte er dann schließlich, »haben nur zwei Männer in diesem Zimmer übernachtet, und am folgenden Morgen waren ihre Pferde, die am Abend noch schwarz waren, ganz weiß.«

»Habt Ihr hier denn hier wiederkehrende Tote, guter Mann?«, fragte da der Fremde.

»Ja, die gibt es hier in der Tat«, murmelte Floc’h.

»Na dann, bei der Güte des Lieben Gottes und der Jungfrau Maria, macht mir im roten Zimmer Feuer und legt eine Wärmflasche ins Bett, denn mir ist kalt.«

Der Wirt tat dann, was der Reisende verlangt hatte. Als dieser nun zu Abend gegessen hatte, wünschte er allen, die noch am Tisch saßen, eine gute Nacht und ging dann nach oben ins rote Zimmer. Der Wirt und seine Frau aber zitterten am ganzen Leibe und begannen zu beten.

Als der Reisende oben in seinem Zimmer war, schaute er um sich. Es war ein großes feuerrotes Zimmer, mit großen Flecken an der Wand, die leuchteten so, dass man hätte glauben können, sie seien mit noch frischem Blut gemalt. Hinten im Raum stand ein viereckiges Bett, das von großen Vorhängen umgeben war. Sonst war alles leer im Zimmer, und man hörte den Wind im Kamin und in den Fluren heulen und klagen, als seien es Seelen, die um Gebete flehten. Der Reisende kniete nieder, betete ganz leise zu Gott und ging dann furchtlos zu Bett; bald war er auch schon eingeschlafen.

Aber als es gerade von der fernen Kirche her Mitternacht schlug, wurde er wach und hörte, wie sich die Bettvorhänge an ihren Stangen bewegten und sich zu seiner Rechten öffneten. Als er aus seinem Bett heraussteigen wollte, stießen seine Füße an etwas Kaltes und voller Entsetzen wich er zurück: Vor ihm stand ein Sarg mit vier Kerzen an seinen vier Ecken, und das große schwarze Leichentuch darüber war mit weißen Tränen übersät. Schnell schwang sich der Reisende auf die andere Seite des Bettes, und sogleich auch war der Sarg auch dahin gekommen und versperrte ihm wieder den Weg. Fünf Mal versuchte er, aus dem Bett herauszukommen, und fünf Mal stellte sich der Sarg mitsamt Kerzen und schwarzem Tuch vors Bett unter seine Füße.

Da begriff der Reisende, dass es ein Toter war, der ihn um etwas bitten wollte. Er kniete in seinem Bett nieder, bekreuzigte sich und sagte:

»Wer bist du, Toter? Sprich! Ein Christ hört dir zu.«

Da erhob sich aus dem Sarg eine Stimme:

»Ich bin ein Reisender, der von den Wirtleuten, die vor den jetzigen diese Herberge hatten, ermordet worden ist. Ich bin im Zustand der Sünde gestorben und muss jetzt im Fegefeuer büßen.«

»Womit kann ich dir, du Seele in großer Not, deine Pein lindern?«, fragte da unser fremder Reisender.

»Ich brauche sechs Messen, die für mich ein Priester in schwarzer und weißer Stola in der Kirche Notre-Dame von Le Folgoat liest; dann auch noch eine Pilgerfahrt, die ein Christ in meinem Anliegen zur Kirche Notre-Dame de Rumengol macht!«

»Du Seele in Pein, du wirst deine sechs Messen bekommen, und ich, der ich ein Christ bin, werde in deinem Anliegen auch eine Pilgerfahrt nach Notre-Dame de Rumengol machen.«

Kaum hatte der Reisende diese Worte gesprochen, da verlöschten die Kerzen, die Vorhänge ums Bett zogen sich von selbst zu, und alles war wieder ganz still. Der Reisende verbrachte indes den Rest der Nacht in Gebeten.

Am folgenden Morgen erzählte er dem Wirt alles, was vorgefallen war, und sagte ihm dann: »Guter Mann, ich bin Monsieur de Rohan, aus der vornehmsten Familie der ganzen Bretagne. Ich werde eine Pilgerfahrt nach Rumengol machen und die sechs Messen bezahlen. Seid also von nun an nicht mehr beunruhigt, denn die arme Seele wird erlöst werden.«

Ein Monat später hatte das rote Zimmer seine rote Farbe verloren; es war wieder weiß und heiter geworden wie die anderen, und man hörte darin kein anderes Geräusch mehr als das der Schwalben, die ihr Nest im Kamin hatten, und drinnen sah man nichts anderes mehr als drei Betten und ein Kruzifix.

Der Reisende hatte Wort gehalten. 

Das Spukhaus in Athen

Das Spukhaus oder Spukschloss (englisch: haunted house) ist ein Klassiker der Geistergeschichten überhaupt. Eines der ältesten Beispiele liefert uns der römische Schriftsteller Plinius der Jüngere (um 61–114 n. Chr.). Auch bei ihm ist das spukende Gespenst ein unerlöster Geist, der mit seiner Erlösung dem ganzen Unwesen ein Ende bereitet. Vor allem in der Romantik und in der Schauerliteratur des Viktorianischen England ist das von einem Geist heimgesuchte Haus ein beliebtes Motiv; es lebt aber auch noch weiter in diversen (Horror-) Filmen und in Videospielen, und nicht zuletzt auch als Geisterbahn auf dem Rummelplatz.

In Athen gab es ein Haus, das war geräumig und weitläufig, aber verrufen und Unheil verkündend. In der Stille der Nacht vernahm man dort ein Klirren von Eisen, und wenn man aufmerksamer zuhörte, das Rasseln von Ketten, zuerst von Weitem und dann auch ganz von Nahem. Schließlich ließ sich auch ein Gespenst sehen, ein alter Mann, abgemagert und ganz verschmutzt mit langem Bart und struppigen Haaren. An seinen Beinen trug er Fesseln, an den Händen Ketten, die er immer wieder schüttelte. Die Folge davon war, dass die Bewohner in ihrer Angst die grausigen und schlimmen Nächte schlaflos verbrachten, und diese Schlaflosigkeit führte bei ihnen zu Krankheiten und bei zunehmender Angst auch zum Tod. Denn obwohl bei Tag das Gespenst verschwunden war, schwebte ihnen in ihrer Fantasie die Erinnerung daran noch immer vor Augen, und die Furcht hielt sich länger als die Ursachen der Furcht. Schließlich wurde das Haus aufgegeben und der Verödung preisgegeben und auf diese Weise dann ganz und gar jenem Unhold überlassen. Trotzdem wurde das Schreckenshaus immer wieder zum Kauf angeboten, falls jemand es in Unkenntnis der schrecklichen Geschehnisse vielleicht doch kaufen oder mieten wollte.

Da kam eines Tages der Philosoph Athenodor nach Athen, las den Aushang, fragte nach dem Preis, und als er den hörte, zögerte er, weil er ihm verdächtig niedrig vorkam. So hörte er sich also um und erfuhr all jene Umstände; trotzdem mietete er das Haus, nun erst recht.

Als es Abend wurde, ließ er sich im vorderen Teil des Hauses ein Lager herrichten und verlangte auch Schreibtafeln, Griffel und eine Lampe; seine Leute schickt er alle weg in die inneren Gemächer. Er selbst richtete all seine Gedanken, seine Hände und seine Augen mit Aufmerksamkeit auf das Schreiben, damit sein Geist nicht unbeschäftigt bleibe und er ihm Schreckgespenster vorgaukele, von denen man gesprochen hatte, und ihm dadurch unsinnige Furcht einflöße.

Anfangs herrschte wie überall die Stille der Nacht; doch dann hörte man Eisen klirren und Ketten rasseln. Athenodor hob die Augen nicht, ließ den Griffel nicht sinken, sondern blieb fest und zwang sich, nicht hinzuhören. Dann wurde auch gleich das Getöse lauter, kam näher, und es hörte sich an, als sei es schon auf der Schwelle, und dann schon innerhalb des Zimmers. Da blickte er doch auf und erkannte die Gestalt, wie man sie ihm geschildert hatte. Sie stand da und winkte mit dem Finger, als wolle sie ihn zu sich rufen. Er hingegen gab ihr mit der Hand ein Zeichen, sie solle noch ein wenig warten, dann widmete er sich wieder Schreibtafel und Griffel. Da klirrte das Gespenst mit Ketten über dem Haupt des Schreibenden, und als er hinschaute, winkte es wieder wie vorher; jetzt nahm er ohne Zaudern die Lampe und folgte ihm.

Die Gestalt bewegte sich langsamen Schrittes, wie von Ketten niedergedrückt. Sobald sie aber in den Hof des Hauses gekommen war, entschwand sie plötzlich und ließ ihren Begleiter allein. Athenodor aber rupfte Kräuter und Blätter ab und machte damit an dieser Stelle ein Erkennungszeichen.

Am nächsten Tag nun ging er zu den Behörden und suchte darum nach, an jener Stelle aufgraben zu lassen. Und man fand von Ketten umwundene Gebeine, die vom Fleisch entblößt und im Lauf der Zeit im Erdreich verwest und zerfressen übriggeblieben waren. Sie wurden gesammelt und auf Staatskosten begraben. Da diese nun gebührend und nach Sitte beigesetzt waren, blieb das Haus fortan von Geistern verschont.

Die Braut von Amphipolis

In der Stadt Amphipolis im Norden Griechenlands lebte einst ein angesehener Bürger namens Demostratos mit seiner Gattin Charito. Beide hatten eine Tochter, Philinnion, die bald nach ihrer Hochzeit verstarb. Man bestattete sie mit großer Trauer, und seit dieser Zeit lebte die Familie in großer Betrübnis. Es ging aber bald schon das Gerücht, Philinnion sei von ihren Eltern zur Heirat mit dem ungeliebten Mann gezwungen worden, in Wirklichkeit habe sie einen anderen geliebt. Dieses Gerücht fand bald neue Nahrung und sollte sich auch bestätigen.

Die Familie des Demostratos stand schon seit langer Zeit mit der des Polyneikes aus Pella in freundlicher Verbindung. Und so kam nun nach dem Tod von Phillinion der Sohn des Polyneikes, Machates, auf einer Reise in die Stadt Amphipolis und begab sich zu Demostratos, wo er mit großer Gastfreundlichkeit aufgenommen wurde. Dieser Machates aber war schon früher einmal in diesem Haus gewesen, als Phillinion noch lebte. Damals war das junge Mädchen in heftiger Liebe zu ihm entbrannt, ohne dass Machates etwas davon bemerkt hätte.

Auf seiner Reise hatte sich also jetzt Machates wiederum in das Haus des befreundeten Demostratos begeben, wusste allerding noch nichts von der Heirat und dem frühen Tod von Phillinion. Freundlich nahm Demostratos den Jüngling wie einen alten Bekannten auf. Er wurde sogleich ins Gastzimmer geführt, wo die alte Amme der Phillinion ihm reichlich zu essen vorsetzte, damit er sich nach der langen Reise erquicken und stärken könne. Doch der junge Mann war müde von den Strapazen der Reise, sodass er die Diener, die die Speisen auftrugen, aus dem Zimmer schickte und sich dann zum Schlaf aufs Lager legte.

Doch kaum hatte er sich niedergelegt, da schreckte ihn ein Geräusch auf. Machates blickte um sich, und es stand mitten im Raum ein wunderschönes Mädchen, das ihn mit sehnsuchtsvollen Augen anblickte. Weiße Gewänder umhüllten ihren prächtigen Leib. Als Machates fragte, wer sie denn sei, antwortete ihm die schöne Unbekannte: »Ich bin Phillinion, die Tochter dieses Hauses. Ein düsteres Unheil hatte mich aus diesem Hause verbannt, nun aber hat mich ein guter Dämon hierhin zurückgeführt, zu dir, zu dem ich in Liebe entbrannt bin, seit ich dich das erste Mal in diesem Hause erblickt habe.« Sogleich ergriff sie dann einen Becher voll mit Wein und leerte ihn gierig in einem Zug. Dann setzte sie sich zu Tisch und bat den verdutzten Machates, sich doch zu ihr zu gesellen. Der Jüngling war von der zauberhaften Gestalt so angetan, dass er nicht anders konnte, als ihrer Einladung zu folgen. Eine glühende Sehnsucht hatte nämlich auch sein Herz ergriffen, und er schwor sogleich der Schönen ewige Liebe und Treue. Als Unterpfand dafür reichte er ihr einen Eisenring und einen halb vergoldeten Reisebecher und er erhielt von ihr als Zeichen ihrer Liebe einen goldenen Ring; und so verbrachten dann die beiden die Nacht in heißer Liebe miteinander. Gegen Morgen entwand sie sich seinen Armen, wollte aber am Abend wieder zu Machates kommen; so sehr nämlich hatte er sie um ein Wiedersehen gebeten.

Der nächste Tag verging für Machates langsam, und voller Erwartung eilte er dann schon am frühen Abend wieder in sein Gastzimmer, wo er sich von den Dienern ein köstliches Mahl vorbereiten ließ. Stunde um Stunde verging dem Wartenden beschwerlicher, aber auf einmal stand sie wiederum da, und beide verbrachten die Nacht wie zuvor in inniger Liebe. Auch in der nächsten Nacht kam sie wieder.

Die Diener aber hatten inzwischen bemerkt, dass es im Gastzimmer nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. Sie legten sich also auf die Lauer, und als sie etwas hörten, schauten sie durch eine Türritze und erblickten drinnen ein Mädchen beim Mahl sitzen, das der verstorbenen Phillinion aufs Haar glich. Was sollten sie nun tun? Sie meldeten ihre Entdeckung schließlich der alten Amme, welche die Diener zunächst als Gespensterseher beschimpfte. Als diese ihr aber wieder und wieder versicherten, sie hätten Phillinion wirklich gesehen, packte die Amme doch die Neugier, und sie wollte sich selber überzeugen. Sie ging also zum Gastzimmer und sah durch die Türritze neben Machates das Mädchen sitzen. Und es war wirklich Phillinion! Sogleich rannte die alte Amme zur Mutter und rief dieser freudig zu: »Charito! Ein Wunder ist geschehen. Komm schnell mit zu deiner Tochter, die du tot glaubtest! Sie ist ins Leben zurückgekehrt und sitzt bei Machates im Gastzimmer!« Als sie diese aufgeregten Worte der Amme hörte, war Charito zunächst ganz verwirrt. Doch bald kam ihr wieder in den Sinn, dass ihre Tochter doch schon gestorben war, und Tränen liefen ihr die Wangen hinunter; verärgert schickte sie die Amme zurück. Doch die Alte wiederholte immer wieder das wundersame Ereignis und erzählte, Phillinion sei gesund und wohlauf. So ließ sich die Mutter schließlich von der alten Amme überreden und ging mit ihr zur Tür des Gastzimmers, um sich zu vergewissern. Doch inzwischen hatten sich Machates und Phillinion schon zur Ruhe gelegt, und die Mutter konnte durch die Türritze nur Kleider und Umrisse der Gestalt erkennen. So verhielt sie sich denn ruhig und beschloss, bis zum Morgen abzuwarten, um dann das Mädchen beim Weggehen erwischen zu können. Dann ging sie in ihre Gemächer.

Als aber der Morgen dämmerte, da war das Mädchen verschwunden, ohne dass jemand sie gesehen hatte. Erbost darüber, dass ihr Phillinion entwischt war, stellte nun Charito den jungen Machates zur Rede. Als sie ihn unter Tränen anflehte, ihr doch alles wahrheitsgemäß zu berichten, antwortete Machates schließlich nach schwerem innerem Ringen: »Ja, es war Phillinion. Sie ist zu mir ins Gastzimmer gekommen und hat mir ihre Liebe gestanden. Auch ich habe mich sofort in Eure schöne Tochter verliebt und ihr einen Eisenring geschenkt. Von ihr bekam ich als Unterpfand der Liebe auch ein Geschenk, einen goldenen Ring.« Und dabei öffnete er seine Reisetasche und zeigte der Mutter den Ring. Kaum aber hatte Charito den Ring gesehen, da raufte sie sich die Haare; Verzweiflung und Trauer überfielen sie, als sei Phillinion gerade erst gestorben.

Als Machates sah, wie bestürzt und unglücklich die Mutter war, ergriff Mitleid sein Herz, und er bat Charito inständig, doch mit ihrem Jammern einzuhalten; er werde ihr Phillinion schon zeigen, wenn sie wieder des Abends zu ihm käme. Etwas getröstet ging die Mutter dann wieder zurück in ihre Gemächer, ließ sich zuvor aber noch von ihrem Gast schwören, sie nicht zu täuschen.

Der Abend hatte sich schon gesenkt, und die Zeit war gekommen, zu der Phillinion immer zu ihrem Geliebten kam. Alle warteten. Und da erschien sie endlich mitten im Gastzimmer und setzte sich wie immer an dem Tisch zum Mahl. Machates aber wollte dieses Mal das Geheimnis ergründen und verhielt sich wie immer, damit sein schöner Gast nur nichts bemerkte. Er wollte nämlich nicht glauben, dass er eine Tote umarmt und geliebt hatte. »Vielleicht haben Räuber das Grab von Phillinion aufgebrochen und die Kleider und den Schmuck meiner unbekannten Geliebten verkauft«, dachte er bei sich. So gab er nun, als das schöne Mädchen am Tisch saß, den Dienern einen Wink, sie sollten schnell die Eltern rufen, und sofort erschienen diese.

Kaum aber hatten Demostratos und Charito das Mädchen erblickt, schrien sie laut und verzweifelt auf und wollten ihre tot geglaubte Tochter in die Arme schließen. Phillinion aber sagte zu ihnen: »Liebe Eltern, was gönnt ihr mir nicht, dass ich in unserem Haus mit Machates zusammen war, den ich immer geliebt habe. Ich habe doch niemandem etwas Böses dabei getan! Eure Neugier aber wird bewirken, dass wir nun für immer getrennt werden. Ich muss jetzt weggehen an den Ort, der mir vorbestimmt ist. Denn göttliches Los ließ mich hierher zurückkommen.« Kaum waren diese Worte über ihre Lippen gekommen, wurde sie zur Leiche. Starr und steif lag ihr Körper auf dem Lager, und Vater und Mutter beweinten fassungslos den erneuten Tod ihrer Tochter. Wer hätte sie da trösten, wer ihnen Mut zusprechen können?

Bald war das wundersame Geschehen im Hause des Demostratos in der ganzen Stadt bekannt und gelangte auch zum königlichen Verwalter der Stadt. Er ließ das Haus absperren und die ganze Nacht bewachen, damit das Gerücht über den Vorfall nicht noch neue Nahrung bekäme. Doch die Einwohner der Stadt gaben keine Ruhe. Sie beschlossen, das Grab von Phillinion zu öffnen und zu sehen, ob die Leiche noch an ihrer ursprünglichen Stelle liege. Als der Verwalter nun die Gruft öffnen ließ, da fanden die Männer auf dem Lager, auf dem Phillinion beigesetzt worden war, nur den eisernen Ring des Machates und seinen halb vergoldeten Reisebecher. Voller Schreck eilten sie da zurück zu Demostratos, weil sie sehen wollten, ob denn die Leiche der Tochter dort in seinem Hause war. Und wirklich! Man fand den toten Körper von Phillinion noch auf dem Boden liegen.

Nun herrschte vollends Aufregung in der Stadt. Was sollte man tun? Der klügste Seher schlug dem Verwalter vor, zur Entsühnung der Stadt und der ganzen Gegend den Göttern Zeus, Hermes und Ares ein Sühneopfer zu bringen und den Leichnam außerhalb der Landesgrenzen zu verbrennen. Und so geschah es denn auch.

Machates aber, der Fremdling, den der Geist heimgesucht hatte, nahm sich selbst das Leben, denn er war überzeugt, dass er ohnehin bald sterben müsse, hatte doch Phillinion, zu einer Empuse, einem vampirartigen Wesen, geworden, ihm alles Lebensblut ausgesogen.

Der Gespensterbräutigam

Vor langer, langer Zeit lebte in Boscean ein Bauer namens Lenine. Er hatte nur einen Sohn, Frank Lenine, und beide Eltern ließen dem Jungen jeden Willen. Neben anderen Knechten und Mägden gab es auf dem Hof auch ein junges Mädchen, Nancy Trenoweth; sie half Frau Lenine bei verschiedenen Arbeiten im Haushalt. Nancy war ein hübsches Mädchen, und wenn sie auch keine großartige Bildung genossen hatte, so besaß sie doch bei ihrer natürlichen Anmut Gaben, die sie zur Führung eines kleinen Hofes befähigten. Kurzum: Nancy lebte auf dem kleinen Hof wie eine Tochter des Hauses, und Frank und sie wie Bruder und Schwester. Und es kam so, wie es kommen musste.