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Kiaras Leben dreht sich um Ansehen, Coolness und die ganz große Liebe. Um ihrem Schwarm, Julian, näherzukommen, nimmt sie auf seiner Halloweenparty an einer von ihm vorgeschlagenen Séance teil. Die Gruselstimmung heizt sich auf und dann passiert, was niemand für möglich gehalten hat: Aus dem Spiel wird Ernst und eine geheimnisvolle Macht ergreift Besitz von Kiara. Schnell stellt sie fest, dass auch finstere Geschöpfe antworten, wenn man ein Tor zum Jenseits öffnet, denn die Schülerin ist nicht die Einzige, an die sich ein Wesen aus einer anderen Welt geheftet hat.
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Seitenzahl: 252
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Für alle, die mich auf meinem Weg begleiten und inspirieren.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Der Zeiger unter ihren Fingern regte sich nicht. Das Holzbrett wartete auf die Kräfte aus einer anderen Welt, bereit, jede Antwort direkt an die Fragenden zu übermitteln. Kiara starrte das kleine Dreieck mit dem Loch in der Mitte gebannt an.
„Spürt ihr was?“ Suzanne betonte das ‚S‘ wie eine zischende Schlange. In ihren vom Alkohol erhitzten Wangen zeichneten sich rotglühende Grübchen ab. Sie kicherte, nickte in Richtung ihrer Hände und beugte sich zu Kiara. Diese rümpfte die Nase.
„Nein.“ Sie schluckte und schüttelte den Kopf. „Ich spüre gar nichts.“ Im Gegensatz zu ihrer Freundin war ihre eigene Stimme klar. Den Fusel, den die Jungs in der Küche ausschenkten, rührte sie nicht an.
Ein Luftzug kitzelte Kiaras Arme. Auf dem Dachboden herrschte die perfekte Grusel-Atmosphäre für eine Séance zu Halloween. Leider passte ihr dünnes Schlauchkleid nicht zu den eisigen Temperaturen dieser Herbstnacht.
„Ich merke auch nichts.“ Der Gastgeber grinste frech, seine Augen leuchteten gebannt. Julian hatte das unheimliche Brett aus einem der Kartons hervorgezogen. Ein gezackter Riss zog sich durch die Mitte des Boards, ein verwässerter Glanz zeugte von einer Schicht Kleber dazwischen.
„Nö“, fügte Marlon hinzu, dessen Blick fortlaufend zu Celine huschte. Die Langweilerin, die Unscheinbare, die es zu dieser Party verschlagen hatte. Sie verschmolz förmlich mit den flackernden Schatten hinter dem Kerzenlicht. Kiara schnaubte und das Mädchen erschrak. Ihre Lockenmähne zitterte dabei.
„Also, wer stellt eine Frage?“, nahm Kiara das Wort an sich, um diesen Quatsch hinter sich zu bringen. Alles an dieser Situation war falsch. Nichts lief nach Plan.
„Wie wäre es mit dir?“ Julian zwinkerte Kiara zu, woraufhin Suzanne empört schnaubte und ihm einen Stoß gegen die Schulter verpasste.
„Du flötest zu viel! Kia, pass bloß auf“, lallte sie und verfiel in ein Kichern.
Julian lachte zuckersüß, was ein Kribbeln in Kiaras Magen sandte. Mit seinem Charme hatte er sie in dieses eiskalte Loch unter dem Dach gelockt. Nun war es an der Zeit, ihn zu ködern.
„Ich finde ja, der Gastgeber sollte anfangen.“ Sie schenkte ihm einen reizvollen Augenaufschlag. Diesen Ausdruck hatte sie gemeinsam mit Suse vor dem Spiegel geprobt.
Julian wandte räuspernd den Blick ab. Im Kerzenschein erkannte sie nicht, ob ihre Geste die gewünschte Wirkung erzielt hatte.
„Wir haben am Anfang schon gefragt, ob jemand anwesend ist“, sprach er in die Runde.
„Ja, aber erst danach haben wir die Kerzen gefunden und aufgestellt.“ Celine stotterte. Ihre zitternde Hand glitt vom Zeiger.
Suzanne griff nach ihrem Handgelenk. „Du bist echt verklemmt.“ Sie gluckste und zog einen Schmollmund. „Willst du etwa kneifen?“
Marlon versuchte, Suzanne mit dem freien Arm anzustupsen. Er verfehlte sie jedoch. Mit vernebeltem Blick fixierte er sie, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt.
„Spaßbremse.“ Sie streckte ihm die Zunge raus und zog ihre Hand zurück.
„Hättest du besser auch einen Schluck getrunken, Schattenlöckchen. Dann würdest du jetzt nicht jammern“, brummte Kiara.
Celine zog den Kopf zwischen die Schultern. Sie öffnete den Mund, schluckte ihren Kommentar dann aber herunter.
„Jetzt stell dich nicht so an und leg den Finger nicht so lasch auf den Zeiger. Wahrscheinlich tut sich deshalb nichts.“ Kiara verdrehte die Augen. Lieber klopfte sie ein paar Sprüche und spielte sich damit in den Mittelpunkt. Sie war schließlich keine Spießerin. So verdrängte sie erfolgreich, dass sie unter normalen Umständen niemals an einem solchen Experiment teilgenommen hätte. Aber für Julian würde sie die ganze Nacht dort oben verbringen.
„I-ich drücke ja gar nicht lasch drauf.“ Celine stammelte, ihre Stimme quiekte. „Ist vielleicht nur keine so gute Idee.“
„Echt ey, hast du zu viele Geisterfilme geguckt?“ Suzanne klopfte Celine auf die Schulter. Ihr heiseres Lachen erfüllte den Raum. Sie hob die Hand vom Zeiger, streckte die Arme und krümmte die Finger. Die Langweilerin zuckte zurück. Dabei stieß sie gegen Marlon, der daraufhin erneut wankte. Kiara prustete los. Mit dieser Nummer konnte ihre beste Freundin nicht mal Kinder erschrecken.
„Oh, mächtiger Geist! Beantworte uns eine Frage“, sprach Kiara mit geschwollener Stimme. „Sag uns, ob unser Löckchen diesen Abend überleben wird.“ Energisch legte sie den Finger auf den Zeiger und fixierte Celine. Eine Sekunde später deutete er auf ‚Nein’.
„Hört auf, das ist nicht fair“, schaltete Julian sich ein. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er erst Suzanne, dann Kiara. Suse lehnte sich unbeeindruckt zurück.
„Ernsthaft, wir wollen hier Spaß haben und niemanden fertigmachen. Fangen wir an.“ Julians Ausdruck verfinsterte sich.
„Ok, auf geht’s. Finger auf den Zeiger!“ Marlons Zunge trotzte dem Lallen.
Kiara verdrehte die Augen und gehorchte. Die anderen folgten ihrem Beispiel.
„Warum ist die überhaupt mitgekommen, wenn sie so ein Theater macht? Das ist echt cringe“, murmelte sie vor sich hin.
Marlon fuhr zusammen. Er sagte nichts dazu, schob die Brille auf seiner Nase zurecht und starrte den Zeiger an. Verglichen mit Julian – Kapitän des Fußballteams der Schule und zugleich beliebtester Junge am Gymnasium – war Marlon wie eines der durchgeschwitzten Trikots nach einem erfolgreichen Training. Er erfüllte seinen Zweck in der Gemeinschaft und war ansonsten ein Fall für die Waschmaschine. Kiaras Blick schweifte zu Julian. Sie strich die dunkelbraunen Haare hinter ihr Ohr, dabei ließ sie ihn nicht aus den Augen.
„Ist ein Geist anwesend?“ Kräftig echote seine Stimme über den Dachboden. Das Holzstück ruckte abrupt zum ‚Ja‘.
„Krass“, hauchte Suzanne. „Wer war das?“
„Guck mich nicht so an, ich habe nichts gemacht.“ Kiara hob abwehrend die Hände.
Der Blick ihrer Freundin wanderte von ihr zu Marlon. Dabei verengte sie die Augen zu Schlitzen und schürzte die Lippen. Der Streber zuckte zurück, sodass ihm die Brille von der Nase sprang. Celine wich dem Starren aus, das kurz darauf sie erreichte. Stattdessen fokussierte sie das Brett und rührte sich nicht.
Julian lächelte zufrieden. „Stellt eine Frage.“
„Oh du toller Geist! Kommen wir heute Nacht noch von der ollen Fusseldecke unter unseren Ärschen runter, ohne blöde Fragen stellen zu müssen?“ Suzannes Stimme mündete am Ende des Satzes in ein albernes Gackern. Sie lallte, als würde ihre Zunge Purzelbäume schlagen.
Der Zeiger regte sich nicht. Ein Klopfen am Fenster durchbrach die Stille. Ein Schaudern erfasste Kiaras Körper. Sie hatte die dürren Äste, die wie Krallen über das Glas kratzten, schon bei ihrer Ankunft auf dem Dachboden mürrisch betrachtet.
„Du musst wohl deutlicher sprechen, Suzanne, du hast zu viel getrunken.“ Julian stupste seine Nachbarin mit der Schulter an.
„Nö, gebt’s doch zu, ihr wollt nicht, dass ich hier wegkomme und euch das leckere Bier wegschlürfe.“
„Ist wohl doch kaputt, dann können wir ja gehen“, unterbrach der Lockenkopf das Gespräch. Kiara ergriff ihre Hand, ehe der Angsthase den Finger vom Zeiger ziehen konnte.
„Nicht so schnell, ich stelle jetzt meine Frage.“
Ihre Mitschülerin schluckte.
Kiara fragte eilig, ob der Geist das Mädchen mit der Lockenmähne mit in die Totenwelt nehmen würde. Sie schob den Zeiger zum ‚Ja‘.
„Lass das!“, fiepte Celine, die dagegenhielt.
„Mädels!“ Julian ermahnte sie vergeblich.
„Angst, Löckchen?“ Kiara flüsterte. Zu ihrer Genugtuung rutschte die Hand ihres Gegenübers von dem Holzstück.
„Schluss jetzt, das hält doch kein Geist aus.“ Julian erhob seine Stimme. Ein scheues Lächeln legte sich auf Kiaras Lippen. Seinen Einsatz für andere mochte sie besonders. Sie sehnte sich danach, dass er sich auf diese Weise auch um sie sorgte.
Ich will von ihm beschützt werden, versank sie in ihren Träumen. Das Kribbeln in ihrem Bauch breitete sich bis in ihre Fingerspitzen aus.
„Mann, Julian, ich glaube, das wird heute nichts mehr.“ Marlon strich durch sein struppiges Haar und seufzte. Er klang fast klar, schielte aber deutlich über seine Nasenspitze hinweg.
„Spießer“, flüsterte Kiara. Sie verkniff sich das Grinsen. Endlich war der Spuk vorbei.
„Du willst schon abbrechen? Es fängt doch erst an, lustig zu werden. Und ich bin sicher, die Mädels halten sich ab jetzt auch zurück, damit die Geister nicht verschreckt werden.“ Der Gastgeber blinzelte mehrmals und runzelte die Stirn.
Er war einer der wenigen nüchternen Personen auf dieser Party. Sein Team verteilte munter Bier an die Anwesenden, er selbst hielt sich aber mit dem Alkohol zurück. Kiara hoffte, dass dieser Umstand ihren Plan nicht durchkreuzen würde. Sie verzichtete lieber auf den Fusel, um einen klaren Kopf zu bewahren.
„Marlon muss nach Hause.“ Celine stand mit geballten Fäusten auf. „Er fühlt sich nicht wohl.“ Sie errötete und sah zu ihrem Begleiter, der ihren Blick mit geweiteten Augen erwiderte.
„Nein, das ist es nicht, ich – au!“ Er drückte die Hand auf den Oberarm. Seine Freundin hatte ihn gekniffen.
„Ich meine, doch. Doch mir isses nicht so gut.“ Die Worte überschlugen sich auf seiner Zunge.
„Gut“, seufzte Julian, „lasst uns das Brett und die Decke noch wegräumen. Das war wohl ein Satz mit ‚X‘.“
Suzanne erhob sich und faltete in einem Affenzahn die Decke zusammen, ehe sie sie in einen Karton schmiss. Im Vorbeigehen stupste sie Julian in die Seite und warf ihm eine Kusshand zu. Er lächelte ihr hinterher, als sie durch die Luke herunterstieg.
Kiara schüttelte den Kopf über das Verhalten ihrer angeheiterten Freundin. Sie suchte ihr Heil im Abstand zu der Gruppe und rutschte sitzend ein wenig zurück. Sie wartete, dass Marlon und Julian das Brett verstaut hatten. Der Erfolg schien zum Greifen nahe. Sie brauchte lediglich einen Moment alleine mit ihrem Crush und dann … Ein warmes Kribbeln breitete sich in Kiaras Bauch aus. Sie und er. Das Traumpaar der Schule.
Verträumt ließ sie sich gegen einen Stapel Kartons sinken, die daraufhin allesamt umstürzten. Die ergraute Pappe franste an den Rändern aus, ein paar Klebestreifen hielten das Gebilde notdürftig zusammen. Eine der Kisten öffnete sich und ergoss ihr Innerstes über die Dielen. Der aufsteigende Staub kratzte in Kiaras Kehle.
„Kiara, ach Mist! Räumst du das bitte auf?“ Julian deutete auf das Durcheinander hinter ihr. Schuldbewusst zog sie den Kopf ein und zeigte ihm ihr süßestes Lächeln. Er wandte sich ab.
„Das gibt wohl Punktabzug“, murmelte sie und unterdrückte ein Fluchen. Holzfiguren, bestickte Kissen, verfilzte Decken. Sie stopfte die Sachen achtlos in den Karton. Je eher sie fertig war, desto schneller war sie bei Julian.
Bei einem der Objekte hielt sie inne. Eine Kette. Kiara zog an dem Schmuckstück und entblößte einen Anhänger. Ein kitschiges Medaillon in angelaufenem Silber.
„Kiara? Bist du bald fertig? Wir haben schon alles aufgeräumt.“ Julian stand an der Klappe zum ersten Obergeschoss und bedeutete ihr, ihm zu folgen.
„Ja, gleich!“
Gebannt starrte sie die Kette an. Sie schimmerte wie ein Amulett im Schaufenster eines teuren Schmuckgeschäftes, das ‚Kauf mich‘ durch das Glas brüllte. In der Mitte des Anhängers funkelte ein tiefblauer Saphir, umrandet von Blumenranken aus Silber. Mit einer hingebungsvollen Berührung strichen ihre Finger über den glatten Stein. Die Zeit schien stillzustehen. Kiara wusste: Sie wollte ihn besitzen.
Es geschah alles gleichzeitig. Ein gewaltiger Sog entstieg dem Medaillon. Wie ein Blitz schoss er in sie hinein. Feuer heizte ihren Brustkorb auf, die Flammen leckten unter ihrer Haut. Aber über ihre Lippen drang kein Laut, der dem Schmerz gerecht wurde. Kiara stöhnte leise auf. Weit entfernt hörte sie Julians Stimme, die im Tosen des Gewitters in ihren Ohren unterging. Wie in Trance öffnete sie den Anhänger. Der Geruch von Salz kitzelte ihre Nase und zartes Wellenrauschen erklang. Sie schloss das Schmuckstück wieder. Es klickte.
„Kiara?“
„Was?“ Sie erschrak, umfasste die Kette mit beiden Händen und drückte sie an ihre Brust.
„Kiara?“, fragte Julian erneut. Sie hatte ihn kaum bemerkt. Er stand an der Luke, die sie zurück in die Zivilisation führen würde. Hinunter ins erste Obergeschoss, fort von dem Dachboden. Entfernt erinnerte sie sich an ihren Plan.
„Ich komme“, sagte sie eilig. Julian klopfte den Staub von seiner Jeans und sah hinab. In diesem unbeobachteten Moment zog sie die Kette über den Kopf. Das Medaillon ließ sie in ihrem Ausschnitt verschwinden.
„Mist, mit Celine stimmt was nicht“, rief Marlon von unten. Kiara eilte zu der Tür und kniete sich neben Julian. Von dem Lockenkopf sah sie nur noch einen Schatten, der die Stufen vom Obergeschoss runter zum Wohnzimmer rannte dicht gefolgt vom Streber.
„Uuuuhhh, Kotzalarm. Das lass ich mir nich entgeh’n.“ Suzanne hüpfte den beiden vergnügt summend hinterher.
„Wow, was ist denn mit der?“, fragte Kiara. Ihre Gedanken trieben auf einem See aus Pudding, der gefährlich auf und ab wippte. Sie rieb über ihr erhitztes Gesicht, gewann etwas Klarheit.
„Keine Ahnung. Sie ist die Leiter runtergeklettert und hat gewürgt. Vielleicht war das hier doch zu furchteinflößend für sie“, mutmaßte Julian und deutete auf die Luke. „Du zuerst.“
„Danke.“ Kiara streckte die zitternden Finger nach dem Ausgang aus, der vor ihren Augen gefährlich verschwamm. Wie war sie hier hinaufgekommen? Durch dieses unförmige Loch in der Decke? Kaum vorstellbar, dass sie das unbeschadet überstanden hatte.
„Alles in Ordnung?“ Julians Stimme klang besorgt. Er reichte ihr seine Hand.
„Schon gut.“ Kiara winkte ab. „Ich brauche nur frische Luft, hier oben ist es echt staubig.“
Zögerlich trat sie mit einem Fuß auf die oberste Sprosse, der zweite folgte kurz darauf. Die glatten Sohlen der High Heels erschwerten den Abstieg.
„Wie ist Suzanne eigentlich hier runtergekommen?“, schimpfte Kiara, sie verfehlte eine Sprosse mit dem Fuß. Keuchend verkrampfte sie die Finger um die Leiter und wartete einen Augenblick.
„Gute Frage. Sie hat ein bisschen viel getrunken, ihrem Gleichgewichtssinn scheint das aber nicht zu schaden.“ Julian lachte und Kiara stimmte ein. Wenn sie mitlachte, brachte das Pluspunkte. Pluspunkte wofür? Ihre Gedanken schwammen davon.
Sie sah herab, setzte einen Fuß auf die nächste Sprosse, den anderen daneben, wartete einen Augenblick. Es wackelte nicht. Erleichtert fuhr sie mit dem Abstieg fort.
„Ja. Eigentlich komisch, dass sie es heil dieses wackelige Gestell runter geschafft hat.“ Unten angekommen rieb sie über ihre Schläfen.
Julian sprang von der dritten Sprosse herunter und schob die Leiter mitsamt der Tür zum Dachboden nach oben. Das Grauen verschloss seinen Schlund. Die Hand auf die Brust gedrückt, suchte Kiara das gestohlene Medaillon. Das Metall presste sich wie ein Eiswürfel an ihre Haut mit dem Unterschied, dass der Beweis für ihren Diebstahl nicht schmelzen würde.
„Dann geh ich mal wieder runter. Die Leute vermissen mich bestimmt schon. Wenn ich nicht bald mal mit dem Team anstoße, flößen die mir Bier mit einem Trichter ein.“
Julian winkte ihr zum Abschied und verschwand hinter dem Treppenabsatz. Kiaras Sohlen schienen am Laminat festgewachsen, sie bewegte sich nicht von der Stelle. Der Gastgeber rauschte ins Partygetümmel. Beim ersten Schritt erfasste Schwindel ihren Kopf. Taumelnd setzte sie den rechten Fuß vor. Sie stolperte über die eigenen Beine, ihre Arme ruderten voraus. Unbeholfen griff sie nach dem Geländer.
„Reiß dich zusammen!“ Sie stützte sich an die Holzbrüstung, umklammerte sie wie einen rettenden Anker.
Kiara stemmte die Füße gegen den Boden, verstärkte ihren Stand und straffte die Schultern. Ein paar Sekunden wartete sie, ehe sie den Weg nach unten wagte.
Im Wohnzimmer empfing sie der Gestank von Bier und Rauch. Spinnweben hingen auf den Möbeln, LED-Kerzen flackerten und aus einem Hexenkessel auf dem Tisch stieg weißer Nebel auf. Kiara rieb über ihre Schläfen. Bunte Punkte tanzten an den Wänden. Niemand war verkleidet, die Party stand unter dem Motto ‚Menschen unter Monstern‘. Mit angehaltenem Atem schob sie sich zwischen den Gästen hindurch. Gruselig waren die Betrunkenen auch ohne Verkleidung.
Kiara sog einen Schwall Sauerstoff in ihre Lungen und rief: „Julian!? Julian, warte!“
In der Menge sah sie seinen blonden Haarschopf, der sich immer weiter von ihr entfernte. Diese Frisur würde sie unter tausenden wiederfinden. Sie stolperte auf dem Weg zu ihm über ein Paar Füße, wurde von wogenden Körpern aufgefangen und durch das Wohnzimmer geschoben. Suchend schwenkte ihr Blick umher. Der Boden unter ihr wankte wie ein Boot auf hoher See. Sie entdeckte Julian an der Tür zur Küche.
Mit aller Kraft fixierte sie seinen Hinterkopf. Er winkte jemandem, dann schlenderte er weiter in Richtung Terrasse. Kiara schlug eine Schneise durch die Tanzenden. Den Rücken an die Wand gedrückt schob sie sich Stück für Stück bis zur Terrassentür, um die herum sich glücklicherweise kaum jemand aufhielt. Am Rahmen stützte sie sich ab und schnappte nach Luft. Die Welt um sie drehte sich erbarmungslos und Kiara schloss die Augen.
„He, alles Okay?“, fragte ein Junge, zwischen seinen Lippen ragte ein Glimmstängel hervor.
Sie hob die Hand und schickte ihn mit einem Winken fort. Schweigen und kühle Nachtluft legten sich wie ein Umhang um ihre Gedanken, als sie ins Freie trat. Er vertrieb den Nebel aus ihrem Kopf.
Im Garten entdeckte sie ein paar Schatten zwischen den Lichtkegeln zweier Laternen. Der Rauch aus den rotglühenden Zigaretten sah aus, als stiegen dürre graue Geister auf und flohen zum Vollmond. Er stand in doppelter Ausführung am Himmel. Hastig schüttelte Kiara den Kopf, kniff die Augen fest zusammen und sah wieder zum Sternenzelt hinauf. Ein einzelner Mond.
Erleichtert seufzte sie. „Ich bin nur müde. Nur müde.“
Vorsichtig trat sie über die Türschwelle auf die Pflastersteine. Die Kälte des Andernacher Herbstes hauchte eine Gänsehaut auf ihre unbedeckten Arme. Sie rieb mit beiden Händen darüber. Wenn sie sich nicht beeilte, würde sie sich eine Erkältung einfangen.
„Julian?“, rief Kiara erneut nach ihm. Sie hatte doch gesehen, wie er in diese Richtung gegangen war. Im dämmrigen Licht sah sie schemenhafte Konturen. Sie verschwammen vor Kiaras Augen wie ein verschmiertes Ölgemälde, das allmählich mit dem Schwarz der Nacht verschmolz. Ihre Füße zitterten. Schlagartig stolperte sie nach links.
„Wow, pass auf.“ Eine sanfte Stimme drang aus dem Himmel zu ihr. Ruckartig zog jemand sie an seine breite Brust. „Was machst du denn hier? Hast du keine Jacke? Mit diesen Schuhen solltest du nicht durch den Rasen staksen.“
Im Schein der Laternen tanzten die Silhouetten der Partygäste durch den Garten. Der Wind trug ihr Gelächter fort. Zurück blieb das Zirpen von Grillen, die die Sterne besangen.
„Bist du okay?“ Es war Julian. Erst in diesem Moment erkannte sie seine Stimme an ihrem Ohr. Sie hatte ihn gefunden.
Die Finger in sein Shirt vergraben schmiegte sie sich an ihn. Unter ihrem Griff versteifte er sich merklich. Noch bevor sie antwortete, schob er sie zur Tür hinein. Der Bass aus der Musikanlage vibrierte in Kiaras Kopf. Eine Stimme erklang in ihren Gedanken. Zu leise, um sie zu verstehen. An ihrem Dekolleté glühte etwas, als hätte sie sich ein kleines Heizkissen zwischen die Brüste gesteckt. Dunkel erinnerte Kiara sich an das Medaillon, aber das war doch nur kaltes Metall.
„So, hier ist es etwas ruhiger. Du siehst nicht gut aus, wie viel hast du getrunken?“
Für einen Augenblick kam Kiara zu sich. Der Nebel schmolz in Julians Anwesenheit dahin und gab ihr einen kurzen Blick auf die Realität frei.
„Alles gut“, erwiderte sie. „Ich habe nichts getrunken. Vielleicht hab ich mir was eingefangen.“
Julian trat näher und legte seinen Handrücken an ihre Stirn. Hitze schoss aus ihrem Herzen bis in ihre Wangen.
„Du glühst schon ein bisschen, aber glaube Fieber hast du keins“, murmelte er. „Besser, du gehst nach Hause. Soll ich dir jemanden rufen?“
„Nein, nein.“ Kiara konnte noch nicht gehen. Nicht so früh. Die Chance verstrich mit jeder Sekunde, die sie zögerte. „Es geht mir gut.“
Sie löste sich aus Julians Griff und strich über ihr Kleid. Der Glitzer blitzte ihr entgegen. Silberne Punkte brachen vor ihren Augen ab und fielen mit einem Schweif zu Boden. Sie wankte.
„Das glaube ich eher nicht.“ Julian streckte rasch die Arme aus und führte sie zu einer Bank im Flur.
„Danke“, murmelte Kiara. Sie setzte sich und legte den Kopf in den Nacken. Winzige Funken rieselten von der Wand. Schmerz schoss wie ein Blitz durch ihren Schädel und sie schloss die Augen.
„Vielleicht sollte ich doch gehen.“
„Vielleicht?“ Julian lachte.
Sie hörte, dass seine Schritte sich entfernten. Kurz darauf kam er zurück. „Hier.“
Sie öffnete die Augen einen Spaltbreit und sah das Glas Wasser vor sich. Dankbar nahm sie es an und trank es in einem Zug aus.
„Ich suche nur eben Suse und sage ihr Bescheid. Ihre Mutter wollte uns abholen.“
Kiara erhob sich, der Boden unter ihr schien zu wanken. Ehe sie die Tür in den Wohnraum erreichte, gaben ihre Füße nach. Ihr Atem raste wie bei einem Sprint.
„Nein, ich sage ihr Bescheid“, bot Julian an.
„Danke“, war das Einzige, was sie herausbrachte.
„Keine Ursache.“
„Sorry, dass ich dir die Party versaue.“ Es war der letzte Versuch, den Plan zu retten.
„Du versaust mir gar nichts. Die Party ist cool, wir hatten oben Spaß bei einer kleinen Geisterstunde. Kannst du ja nichts für, dass es dir plötzlich schlecht geht. Celine sieht auch übel aus. Marlon hat sie nach Hause gebracht, nachdem sie mehrfach ins Klo gereihert hat.“ Julians Grinsen war wie ein Lichtstrahl in der Finsternis, die Kiaras Bewusstsein einhüllte. Sie nickte in Zeitlupe.
Sie wollte sich verabschieden, aber über ihre Lippen drang kein Wort. In ihrem Kopf hallte ein Schrei wieder, der ihr Trommelfell zu zerschlagen schien. Aus Reflex presste Kiara die Hände auf die Ohren.
„Großer Gott, was ist das?!“
„Was ist was?“, fragte Julian, der sie verwirrt musterte.
„Dieser Schrei. Es ist so laut. Oh Gott, jemand muss ihr helfen!“
Kiara sah, dass Julian die Hände nach ihr ausstreckte. Die Welt geriet ins Wanken. Der Ruf verwandelte sich in ein schrilles Pfeifen wie das einer alten Lokomotive. Salz und Meeresrauschen. Eine Stimme sang ein Lied. Das Letzte, was sie wahrnahm, war das Feuer auf ihrer Brust – dort, wo das Medaillon lag. Dann stürzte sie ins Nichts.
Graue Felsbrocken ragten vor Kiara auf. Sie streichelte den rauen Stein, der seit Jahrhunderten von den Peitschenschlägen des Meeres geformt wurde. Die Klippe an der Küste, eine Insel im Norden. Am Boden kauernd nahm sie die Umgebung in Augenschein. Woher wusste sie, wie alt das hier war? Und wo war überhaupt hier?
Ihre Knie versanken in einem Kissen aus sattgrünem Gras. Ein Fleckchen Farbe im rohen Gestein. Geborgenheit schrie ihr aus jedem Winkel dieses Ortes entgegen. Wie ein knisterndes Feuer im Kamin oder eine Tasse mit dampfendem Tee. Es roch nach Pfefferminze und Salz. Ein Traum? Kiara sog gierig beide Gerüche ein. Wenn es so war, wollte sie nie wieder aufwachen.
Eine Stimme erklang in dem Rauschen der Brandung. Eine Frau. Kiara verstand die Worte nicht. Das heisere Flüstern fegte mit den Wolken davon. Der Wind trug einen Schrei an ihre Ohren. Sie stand zitternd auf. Der mächtige Felsen zerbröckelte zu feinem Staub. Mit den Armen rudernd stürzte sie in ein pechschwarzes Loch, das sich unter ihren Füßen auftat. Die Klippe und das Meer flossen an den Rändern ihres Sehfeldes herab wie ein wässriges Aquarell von einer Leinwand. Sie verkrampfte die Finger, suchte nach etwas, das sie greifen konnte.
Feuchter Stoff schmiegte sich an ihre Handflächen. Sie hob die Hände, rote Farbe tropfte von ihren Nägeln. Schlagartig schlug sie die Augen auf, ihr Atem glich dem Hecheln eines gehetzten Hundes. Erleichtert seufzte sie. Ein Alptraum. Dabei hatte er so prächtig begonnen.
Ein paar Mal blinzelte sie, dann erst betrachtete Kiara ihre Umgebung. Sie erkannte das Zimmer nicht. Ihr Bett war nicht so groß.
„Was … wo?“
Mit einem kräftigen Gähnen schlug Kiara die Decke beiseite und setzte sich aufrecht hin. Ein Blick zum Nachttisch erklärte den Duft von Pfefferminze, der ihr bis in den Traum gefolgt war. Eine Tasse Tee dampfte vor sich hin.
„Du bist wach.“ Julian streckte den Kopf durch den Türspalt herein und vertrieb mit seinem Lächeln die Bilder des Schlafes aus ihrem Gedächtnis.
„Wo bin ich?“ Kiara spürte ein schmerzhaftes Stechen in ihrem Kopf und presste die Hand dagegen. Bruchstückhaft kehrten die Erinnerungen an die vergangene Partynacht zurück.
„Verdammt, ist das ein Kater?“ Der Schmerz ließ sich nicht aus ihrem Schädel massieren. Am liebsten wäre sie wieder ins Bett gefallen. Sie hatte nichts getrunken.
„Ja, das könnte man so sagen.“ Julian deutete auf die Tasse. „Nimm einen Schluck von dem Tee. Ist noch heiß, sollte aber schon halbwegs trinkbar sein.“
Er trat näher und reichte ihr das Getränk. Sie setzte vorsichtig die Lippen an den Rand. Zu heiß. Ihre Zunge brannte und wurde rau. Die Hitze half ihr, den Traum zu vergessen. Dankbar schlürfte sie einen weiteren Schluck.
„Danke“, flüsterte Kiara. Die Wärme füllte ihren Bauch und breitete sich langsam in ihrem Körper aus.
Sie hob den Blick, um sich umzusehen.
„Ist, ähm. Ist das dein Schlafzimmer?“ Kiaras Wangen füllte eine Glut, die nicht vom Tee allein herrührte.
Hoffentlich werde ich nicht rot, dachte sie.
„Ja. Sorry, ich hätte dich ins Gästezimmer gebracht, aber da war besetzt.“ Sein Lächeln verrutschte, er führte die Hand hinter seinen Kopf und strich über seinen Nacken.
Kiara kniff die Lippen zusammen, um nicht breit zu grinsen.
„Idiotenpack, nächstes Mal mache ich eine Gästeliste für die Party“, fügte Julian seufzend hinzu.
„Ja, das solltest du machen.“ Nach einem weiteren Schluck stellte sie die Tasse auf dem Tisch ab.
„Du bist echt süß, wenn du dich aufregst.“ Die Worte waren ihr entwichen, ehe sie sich bremsen konnte. Habe ich das laut gesagt?
Julians Augenbrauen zuckten, doch er ging nicht darauf ein.
„Geht es dir einigermaßen? Du hast uns gestern einen ziemlichen Schreck eingejagt. Erst Celine und dann du.“
Kiara horchte auf. Dunkel erinnerte sie sich an die Mitschülerin, die vor ihr vom Dachboden geflohen war.
„Was genau ist denn noch passiert?“ Sie neigte sich ein wenig vor.
Mit verschränkten Armen trat Julian einen Schritt zurück. „Nicht viel. Nach der Séance ist Celine runter gelaufen und hat sich übergeben. Marlon hat sie nach Hause begleitet. Und dann bist du ja umgekippt.“
Nachdenklich strich Kiara über die Decke, deren Stoffbezug angenehm an ihrer Haut kitzelte. Vereinzelte Bilder huschten durch ihre Gedanken. Bruchstücke, so seltsam fern, als hätte sie sie vor ein paar Tagen geträumt. Hatte sie mit Julian gesprochen? In ihrem Kopf wirbelten Gesprächsfetzen der vergangenen Nacht durcheinander wie willkürlich zusammengewürfelte Szenen eines Films. Nur die Séance erschien so deutlich vor ihrem inneren Auge, als wäre sie noch immer auf dem Dachboden. Bei diesem Gedanken schrak Kiara auf und sah an ihrem Körper hinab. Die Kette. Sie war noch dort. Ebenso das Kleid. Nur die Schuhe fehlten. Ein Lachen erklang neben ihr.
„Keine Sorge, ich habe dich weder ausgezogen noch sonst etwas angestellt“, erklärte er strahlend.
Ihr Herz schmolz dahin. Sie würde ihm niemals krumme Ideen unterstellen. Aber die Angst, dass er die Kette entdeckt haben könnte, war plötzlich allgegenwärtig gewesen. Mit den Fingern tastete sie nach dem Medaillon und fand es unterhalb ihres Schlüsselbeins.
„Danke“, wiederholte sie. „Dass du dich so um mich kümmerst. Ich Tollpatsch habe ja nicht mal richtig was getrunken und kippe einfach um.“
„Nicht der Rede wert. Ich hole dir eben etwas zu essen. Wenn du fertig bist, bringe ich dich nach Hause. Hübsche Kette übrigens.“
Bevor Kiara antworten konnte, war er verschwunden. Er hatte das Schmuckstück nicht als Familieneigentum erkannt. Erleichtert atmete sie auf. Das sollte ihr recht sein, solange der Diebstahl nicht aufflog. Was hatte sie überhaupt geritten, dieses Ding einzustecken? Ihre Wangen glühten. Sie war doch sonst keine Diebin.
Ein Summen lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Nachttisch.
„Mist!“, fluchte Kiara und fischte das Handy aus der kleinen Handtasche. Auf dem Display erkannte sie etliche ungelesene Nachrichten und drei entgangene Anrufe in den letzten Stunden. Sie sah zur Uhr.
„Verdammt, so spät?“
Ihre Mutter war sicher stinkwütend. Sie musste schleunigst nach Hause. Mit Schwung erhob sie sich und suchte nach ihren Schuhen. Dass sie mit diesen Fußmördern den Heimweg antreten musste, passte ihr so gar nicht. Ihre Zehen schrien im Protest auf, als sie den weichen Teppich unter dem Bett berührten. Ein letztes Quäntchen Freiheit vor dem Aufbruch.
„Hier ist dein … oh, du bist schon aufgestanden?“
Julian stand im Türrahmen, in der einen Hand einen Teller mit einem Croissant und in der anderen ein geöffnetes Marmeladenglas, in dem ein Löffel steckte.
„Ich muss los. Mama killt mich.“
„Schon gut, ich habe ihr gestern Nacht schon Bescheid gegeben.“ Julian klang gelassen. Aber er kannte ihre Mutter nicht so wie sie.
Kiara nickte und scrollte dann die Nachrichten durch. Die letzte SMS war von ein Uhr in der Nacht.
„Julian hat mich angerufen. Darüber reden wir morgen!“
Danach folgten Anrufe von acht Uhr an im Halbstundentakt.
„Sie schien es recht locker aufzunehmen.“ Er zuckte mit den Schultern.
„Du kennst sie nicht. Vor dir gibt sie die nette Mutter, vor mir ist sie eine Furie. Lieber würde ich jetzt hierbleiben, aber wenn ich nicht bald zu Hause auftauche, setzt es erst recht was.“
„Du bist sechzehn und kein Kleinkind mehr.“ Sein verschmitztes Grinsen sprach Bände. „Und hat sie dir nicht erlaubt, ausnahmsweise länger wegzubleiben?“
„Sag ihr das mal“, entgegnete Kiara und streckte ihm die Zunge heraus. „Mama würde mich am liebsten im heimischen Keller vor der Außenwelt abschirmen.“
„Sie klang eigentlich ganz nett. Vielleicht ist sie nur eine sehr fürsorgliche Mutter. Immerhin hat sie erlaubt, dass du hier schlafen durftest.“
Kiara verdrehte die Augen und ließ sich auf die weiche Matratze fallen. Gerne wäre sie länger geblieben.
„Dich kennt sie ja auch. Wenn sie dich nicht beim letzten Schulfest kennengelernt hätte, hätte sie die Party gecrasht, um mich hier rauszuholen.“
Sie versuchte zu lächeln, scheiterte aber kläglich. In Gedanken ging sie den Heimweg durch. In High Heels würde sie den nicht überleben.
„Ich muss los. Steht das Angebot mit dem Heimbringen noch?“
„Klar. Aber dann gibt es kein Frühstück. Ich wollte das Croissant sowieso nicht hergeben.“
Kiara hob eine Augenbraue und sah ihn herausfordernd an. Sie hatte diese eine Chance. Wenn der Plan bei der Party auch gehörig schiefgelaufen war, bot sich ihr nun die Gelegenheit aller Gelegenheiten. Wenige Minuten, die für ihre gemeinsame Zukunft alle Zahnrädchen an die richtige Stelle rücken konnten. Mit schwingenden Hüften tapste Kiara auf ihn zu, schnappte das Croissant vom Teller und tunkte es in die Marmelade. Dann nahm sie einen großzügigen Bissen und beobachtete genüsslich, wie er sie anstarrte. Punkt für sie.
„Sorry“, sagte sie daraufhin, „konnte nicht widerstehen.“
„Macht nichts, wir haben noch eine ganze Tüte in der Küche.“ Sein Ausdruck gefror.
Kiara wandte sich ab, um ihre Enttäuschung zu verbergen. Vielleicht hatte sie es falsch gedeutet. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, ihr Brustkorb drängte sich gegen ein unsichtbares Korsett aus Angst. Mit kleinen Schritten entfernte sie sich von Julian. Ein Rückzug, um ihm etwas Raum zu geben.