Geisterschreie - P.S. Daniela - E-Book

Geisterschreie E-Book

P.S. Daniela

0,0

Beschreibung

Lydias Abenteuer geht weiter. Sie hat seltsame Erscheinungen, in denen ihr verstorbener Großvater zu ihr spricht. Und wäre das nicht genug, hat sie böse Träume über jemanden, der ihr sehr nahesteht. Kann sie ihren Freunden noch vertrauen? Um das Schlimmste zu verhindern, muss Lydia die schwierigste Entscheidung ihres Lebens treffen. Tauche ein in die wunderbare Welt der Hexenmeister und ihrer Freunde! Der würdige Abschluss der Legenden der Hexenmeister-Dilogie, geschrieben von einem jungen Mädchen für junge und jung-gebliebene Fantasy-Fans!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 267

Veröffentlichungsjahr: 2021

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



P.S. Daniela lebt in Vöcklabruck, Oberösterreich, wo sie auch ins Gymnasium geht.

Schon im zarten Alter von acht Jahren verfasste sie ihre ersten Geschichten. Einige Jahre später entdeckte sie ihre Leidenschaft für Fantasy-Romane, welche sie dann inspirierten, einen eigenen Roman zu schreiben.

Das war dann auch der Start zu den „Legenden der Hexenmeister“.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

EPILOG

PROLOG

Das Ticken des Zeigers der vergoldeten Uhr neben dem Krankenbett hielt den Hexenmeister Joseph die Nacht wach. Es erinnerte ihn daran, bald sterben zu müssen und an die kurze Zeit, welche seinem geliebten Leben noch bleiben sollte. Waren es noch Stunden, Tage, oder doch nur mehr wenige Minuten? Seitdem die Geister Joseph gesagt hatten, er würde nicht mehr lange leben, konnte er seine Gedanken davon nicht mehr abwenden. Auch wenn er so viel erlebt hatte und ein erfülltes Leben gelebt hatte, blieb ihm das Gefühl, so viel zu verpassen. Er würde nie seine Enkelin Lydia erwachsen werden sehen. Joseph würde sich nie bei Andrew entschuldigen können, es zugelassen zu haben, dass ihn seine Eltern weggegeben hatten. Und das Schlimmste, seine Lebensgefährtin Margaret zu verlieren, schmerzte ihn am meisten.

Joseph wollte noch nicht sterben. Warum hatten die Geister nicht warten können? Oder wer auch immer es bestimmte, wann jemand stirbt. Er wünschte sich, zumindest noch zu leben, bis Lydia ihren Seelendrachen und ihre Fähigkeiten entdecken würde, was aber, wenn es nach ihrer Mutter Jenna ging, nie passieren sollte. Aber das würde Joseph nicht zulassen. Er musste Lydia alles sagen. Auch wenn es das Letzte war, was Joseph tat.

Es war ihm klar, dass Jenna, wenn sie es erfuhr, auf ihn böse sein würde, aber das war ihm egal. Joseph hatte zu lange untätig zugesehen. Die Heirat zwischen diesem nutzlosen Vampir Michael und Jenna und das Verstoßen seines hilflosen Enkels Andrew. Joseph hatte mehrmals versucht, mit Jenna zu reden, aber das Ganze hatte immer mit einem Streit geendet. Es gab keine Chance, sie zu überzeugen. Also musste er es selbst in die Hand nehmen.

Joseph setzte sich auf und warf einen Blick auf die Uhr. Er hatte den Drang, sie zu nehmen und aus dem Fenster zu werfen, ließ es aber. Es wäre schließlich nur vergeudete Zeit. Joseph nahm all seine Kraft zusammen und versuchte aufzustehen. Vergeblich. Bevor er stürzte, konnte er sich gerade noch rechtzeitig an der Bettkante abstützen. Joseph war zu schwach, um sich zurück ins Bett zu legen. Sein Gesundheitszustand verschlimmerte sich von Minute zu Minute, während sich seine Todesangst verstärkte. Jedes Mal, wenn plötzlich die Schmerzen kamen, beschleunigte sich sein Herzschlag und Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Joseph war aber noch nicht bereit, sich von der Welt zu verabschieden.

Plötzlich hörte er Schritte vor der Tür. Joseph hoffte, dass es seine Frau oder Lydia war. Falls er dem Tod in die Augen sah, wollte er eine Person bei sich haben, der er vertraute. Lydia war zwar jung, aber sie hatte etwas Besonderes an sich. Sie war nicht wie andere Hexenmeister.

Seine Hoffnung wurde Sekunden später zerstört. Jenna trat mit einem Tablett, auf dem ein Glas mit einer grünen, zähen Flüssigkeit stand, an sein Bett heran. „Willst du mich vergiften? Ich hätte nicht gedacht, dass du mich so schnell loswerden willst“, sagte Joseph lachend. Das Lachen tat in seinen Mundwinkeln weh, also hörte er schnell damit auf. Jenna grinste kurz, stellte das Tablett auf das Nachtkästchen und eilte zu ihm, um ihm zurück ins Bett zu helfen. „Danke, dass du so schnell zur Hilfe geeilt bist“, meinte er sarkastisch und deckte sich selbst zu. „Die Doktorin meinte, dir wird es bald besser gehen. Vorerst habe ich gezweifelt, aber jetzt, da du wieder Witze reißen kannst, geht es dir offensichtlich besser“, antwortete Jenna und ging zur Tür.

„Warte. Wo ist deine Mutter?“, krächzte Joseph hinterher. Seine Tochter blieb stehen, ließ die Tür aber offen. Ein Windstoß fegte ins Zimmer. „Sie ist noch nicht da, sie musste irgendetwas organisieren, was weiß ich.“ Joseph schnaubte und sank tief in seine Bettdecke. Hoffentlich kam Margaret noch rechtzeitig. Sie wusste nichts davon. Joseph hatte damit noch warten wollen, aber mittlerweile zweifelte er nicht mehr an der Warnung der Geister. „Kannst du Lydia sagen, sie soll kommen?“ Jenna nickte und verließ das Zimmer. Bevor sie die Tür schloss, drehte sie noch einmal um und sah ihm traurig in die Augen. „Dir wird es doch besser gehen, oder?“

In diesem Moment vergaß Joseph die vielen Streitereien zwischen ihnen und sah seine Tochter wieder als unschuldiges, kleines Mädchen. Warum hatte sie sich nicht in einen anderen Mann verlieben können? Warum ausgerechnet Michael? Joseph hatte nichts dagegen, dass er ein Vampir war. Er respektierte die anderen übernatürlichen Wesen. Aber Michael strahlte eine Aura aus, der man nicht vertrauen konnte. Joseph hätte es nicht gewundert, wenn er ihn vergiftet hätte.

Joseph lächelte. „In wenigen Tagen bin ich wieder auf den Beinen. Versprochen!“ Jenna atmete erleichtert aus, ging und schloss die Tür hinter ihr. Joseph war wieder allein. Er sollte sich lieber an das Gefühl gewöhnen. Als Geist würde es nicht sehr viel anders sein. Die Geister, mit denen er geredet hatte, hatten nicht wirklich glücklich gewirkt. Joseph wollte nicht so enden wie sie. Sein Atem beschleunigte sich, bis er zu einem heftigen Keuchen wurde. Eine Panikattacke! Seit Kurzem hatte er diese immer öfter. Sich einzureden, dass er so viel Gutes erlebt hatte und es ihm bei den Geistern genauso gut gehen würde, half da meistens eher weniger. Die Angst überwog alles. Joseph hatte viel Beängstigendes und Gefährliches erlebt. Trotzdem hatte er noch nie so große Angst empfunden. Das Wissen, bald sterben zu müssen, war schlimmer als alles andere zuvor. Er dachte an seine Hochzeit, die Geburt seiner Tochter und das Lächeln seiner Enkel. Er entspannte sich langsam. Gerade noch rechtzeitig.

Bevor Joseph Schritte vor der Tür hören konnte, stand Lydia schon in seinem Zimmer. Er warf einen Blick auf die Uhr, deren Zeiger sich viel zu schnell bewegten. Bildete er sich das ein? Verging die Zeit so schnell? „Du wolltest mit mir sprechen? Mein Gott, Opa. Geht es dir gut? Du bist so blass!“ Lydia ging zu ihm und setzte sich an den Bettrand. Joseph fuhr sich mit der Hand über die Stirn und wischte sie sich danach an der Bettdecke ab. „Mir geht es gut. Ich hatte nur einen … Tagtraum.“ Wenigstens war das nicht ganz gelogen. „Hör zu, Lydia.“ Joseph machte eine dramatische Pause. „Es sollte eigentlich nicht so ablaufen, aber mir bleibt nicht länger Zeit. Ich muss dir etwas Wichtiges mitteilen: Du hast Zauberkräfte.“

Lydia legte ihren Kopf schief und zog die Augenbraue hoch. Joseph ließ sich nicht beirren und sprach weiter. Er musste es jetzt durchziehen. „Und ich denke, dass ich weiß, welche du hast. Du kannst Geister sehen, genauso wie ich. Ich betrachte dies als Gabe, andere sehen es als Fluch. Du wirst noch herausfinden, was es für dich bedeutet. Wenn du so weit bist, werde ich hoffentlich der erste Geist sein, der dich besucht.“ Lydia sagte erst einmal nichts. Dann lachte sie. „Klar. Sonst stehlen die Geister in der Nacht meine Seele. Jetzt mal ernsthaft, Opa. Ich bin keine acht mehr, ich glaube an so einen Unsinn nicht.“ Joseph hörte die ganze Zeit über das Ticken der Uhr im Hintergrund. Es blieb ihm keine Zeit, alles ausführlich zu erklären. Außerdem wollte er seine letzten Worte nicht mit Lydia wechseln, er wollte seine Frau noch ein letztes Mal sehen und ihre bezaubernde Stimme hören. „Würde ich Witze machen, würde ich lachen. Lydia, es ist mir wichtig, dass du es von mir erfährst, bevor ich sterbe.“

Bei seinem ernsten Gesichtsausdruck hörte Lydia schlagartig auf zu lachen. „Heißt das, Mom und Dad haben mir das die ganze Zeit verschwiegen?“, fragte sie ruhig, aber gefasst. Das war das Erste, was sie fragte. Joseph hatte sich ihre Reaktion anders vorgestellt. Als er das erste Mal erfahren hatte, Geister sehen zu können, hatte er sich für zwei Tage in sein Zimmer eingesperrt und dort versucht, mit Kerzen und Pentagrammen Geister zu beschwören. So lange, bis er tatsächlich seinen ersten Geist gesehen hatte. Danach willigte er ein, die Hilfe eines erfahrenen Geistersehers anzunehmen.

Lydia stand ruckartig auf und ging, ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, aus dem Zimmer. Joseph wollte ihr nachrufen, nichts ihren Eltern zu sagen, aber er schwieg. Sie würde ohnehin nicht auf ihn hören. Lydia war ein sehr eigensinniges Mädchen. Sobald die Tür ins Schloss fiel, wurde sie schon wieder geöffnet. Margaret kam ins Zimmer und legte sich schweigend neben ihn. „Du verschweigst mir etwas“, stellte Margaret sanft fest. Sie wird nicht erfreut auf die Nachricht reagieren, aber er musste es ihr sagen. Sie war die Liebe seines Lebens, er durfte keine Geheimnisse vor ihr haben. „Ich wollte es dir schon früher sagen, aber ich konnte nicht.“ Das Ticken der Uhr wurde immer lauter. „Schätzchen. Wenn etwas nicht stimmt, kannst du es mir immer sagen. Du bist aber nicht dazu verpflichtet. Manche Dinge müssen nicht ausgesprochen werden“, flüsterte Margaret und schmiegte sich eng an Joseph. Er zögerte und war kurz davor, es nicht zu sagen, aber er entschied sich dagegen. Er wollte nicht sterben, ohne sich verabschiedet zu haben. „Ich liebe dich aus ganzem Herzen, deswegen möchte ich keine Geheimnisse vor dir haben.“ Joseph atmete tief aus und versuchte das Ticken im Hintergrund und die Gänsehaut auf seinem Rücken zu ignorieren. „Ich werde nicht länger bei dir sein können.“ Margaret setzte sich schlagartig auf. „Du willst mich verlassen? Warum ich …“ Plötzlich ging ihr ein Licht auf, dass es nicht um diese Art von Verlassen ging. Sondern um etwas Endgültiges. „Nein. Du … du schaffst das. Ich weiß das. Du darfst nicht gehen. Ich brauche dich hier.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ich liebe dich. Ich hätte mir nie eine bessere Frau wünschen können. Ich möchte nicht allein von dieser Welt gehen.“ Margaret schluchzte laut. „Ich werde immer bei dir sein.“ Sie küsste Joseph, klammerte sich förmlich an ihn. Ihre Anwesenheit tat ihm gut. Seine Angst verblasste zwar, die Gewissheit, sie zu verlieren, blieb aber. Sie in seiner Nähe zu haben, war alles, was er sich immer gewünscht hatte. Das Ticken schien immer lauter zu werden. Joseph schloss die Augen und machte sich bereit, jeden Moment zu sterben, aber es war noch nicht so weit.

Joseph sah es als Erleichterung, noch nicht gestorben zu sein. Trotzdem hätte er sich gewünscht, sich das zu sparen, was jetzt folgte. Jenna stürmte mit hochrotem Kopf ins Zimmer und schrie: „Warum mischt du dich in meine Erziehung ein? Was fällt dir ein, Lydia einfach so zu sagen, dass sie Zauberkräfte hätte? Kannst du dir vorstellen, wie fertig sie mit der Welt ist? Kannst du dich nicht um deine eigenen Probleme kümmern und meine Familie in Ruhe lassen?“ „Es war das Richtige, das weißt du. Du willst nur nicht zugeben, dass du es schon längst tun hättest müssen. Außerdem ist das hier nicht dein Schloss. Wenn dir nicht gefällt, was ich tue, kannst du gerne mit deinem Möchtegernfreund ausziehen“, antworte Joseph und schnappte erschöpft nach Luft. Margaret nahm seine Hand und sah ihn mit glasigen Augen an. „Du bist der schlimmste Vater, den man sich vorstellen kann. Ich wünschte …“ Jenna wurde von Margaret unterbrochen. „Es reicht. Siehst du nicht, dass es ihm nicht gut geht? Hör auf herumzuschreien, oder ich werde höchstpersönlich dafür sorgen, dass ihr noch heute auszieht.“ Joseph war das von Margaret nicht gewöhnt. Sie hätte sich normalerweise aus dem Streit rausgehalten.

Jenna hielt für einen Moment inne und betrachtete die beiden verwirrt. „Gut, ich bin es ohnehin satt, bei euch zu leben. Und nur, dass du es weißt: Wegen dir muss ich Lydias Gedanken erneut löschen“, rief sie und wollte gehen. Plötzlich überkam Joseph ein Husten. Eines, dass definitiv nicht gesund klang. Es war so weit. Margaret küsste ihn und umarmte ihn fest. Joseph nahm seine Umgebung immer weniger wahr. Alles war so verschwommen. Das Einzige, was er noch hörte, war das Ticken der Uhr. Um ihm herum wurde es schwarz und selbst das Ticken wurde leiser, bis er es schließlich nicht mehr hörte. Es war so weit. Seine Seele hatte sich auf die Reise ins Land der Geister gemacht.

KAPITEL 1

Lydia stand in ihrem alten Zimmer. Als sie sich umblickte, sah sie ihren Großvater auf ihrem Bett sitzen. Lydia konnte ihren Augen nicht trauen. „Opa?“ Er lächelte sie an und antwortete: „Lydia, wie geht es dir?“ Lydia begann zu zittern. Ihr Großvater Joseph war vor zwei Jahren gestorben. Sie wusste, dass es ein Traum war, aber alles fühlte sich so real an. „Du, du bist tot!“ „Ich weiß. Ich habe nur begrenzt Zeit und du wirst bald wieder aufwachen, also hör mir gut zu.“ „Wa… was? Woher weißt du, dass das ein Traum ist?“, fragte Lydia überrascht. „Du kannst Geister sehen, Lydia. Merke dir, was ich dir jetzt sage: In Schloss Macthorn gibt es einen Raum mit einer verschlossenen Tür. Sobald du in der Nähe der richtigen Tür bist, wirst du es spüren.“

Lydia unterbrach ihn den Tränen nahe. „Ich habe eine zweite Zauberkraft? Aber das ist unmöglich. Und warum muss ich diese Tür finden?“ „Eine zweite Zauberkraft ist nicht unmöglich. Und in diesem Raum findest du alle Aufzeichnungen über das Geistersehen und wie du Geister rufen oder besser gesagt mit ihnen kommunizieren kannst. Ich werde, so oft ich kann, Kontakt mit dir aufnehmen, aber dafür musst du es auch zulassen. Du musst, sobald du den Raum betreten hast, an mich denken oder mich herbeirufen. Und bevor ich es vergesse zu sagen, die Tür benötigt einen Schlüssel zum Öffnen. Aber ich …“ Joseph stockte. „Opa? Opa, was hast du?“, rief Lydia hysterisch und rannte zu ihm. Sein Gesicht wurde schneeweiß. Er streckte seine Arme nach Lydia aus, dann löste er sich langsam in Luft auf.

Lydia wachte schweißgebadet auf. Ihr Bruder Andrew stand neben ihr mit einem Glas roter Flüssigkeit in der Hand, die sehr nach Blut aussah, und blickte sie mit schief gelegtem Kopf an. „Geht es dir gut? Du hast im Schlaf nach Opa geschrien.“ Lydia setzte sich auf und rieb sich die Augen. „Nur ein Traum“, sagte sie sich in ihren Gedanken und wiederholte es immer und immer wieder. Aber so ganz überzeugte es sie nicht. Was, wenn ihr Großvater wirklich mit ihr gesprochen hatte und sie Geister sehen konnte? Dann musste sie um jeden Preis zu Schloss Macthorn fliegen und nach dieser Tür suchen. Lydia brauchte jemanden, mit dem sie über ihren Traum reden konnte. Jemanden, der sich mit Zauberkräften auskannte. Jemanden, dem sie vertraute. Die erste Person, die ihr einfiel, war Andrew. Aber da er ein Vampir war und sich nicht so wirklich mit Zauberkräften auskannte, würde es wenig Sinn ergeben, ihn zu fragen. Ihr Bodyguard Henry könnte ihr helfen. Er wusste schließlich viel über Kräfte und Hexenmeister. Lydia vermutete, dass sich ihr anderer Bodyguard Jackson noch besser auskannte. Aber sie fühlte sich wohler bei dem Gedanken, Henry zu fragen. Sie vertraute ihm einfach mehr.

Als Lydia nicht auf Andrews Frage antwortete, legte er ihr besorgt seine freie Hand auf die rechte Schulter. „Hey, wenn du jemanden brauchst, ich bin für dich da.“ Lydia nickte und stand auf. „Mir geht’s gut. Ich hatte nur einen sehr komischen und verwirrenden Traum. Wie geht’s Stephen?“ Andrews Miene heiterte sich schlagartig auf. „Es geht ihm viel besser. Die Kräuterhexe meinte, in ein paar Tagen ist er ganz der Alte.“ „Idhril“, Lydia verschränkte die Arme. „Die Kräuterhexe heißt Heilerin Idhril.“ Sie verstand nicht, wie Andrew trotz allem, was Idhril für sie getan hatte, sie weiterhin Kräuterhexe nennen konnte. Ohne sie wäre Stephen nicht mehr am Leben.

Als Henry und Jackson vom Gemetzel im Schloss Macthorn mit einem halbtoten Stephen zurückgekommen waren und Andrew sein Liebe zu Stephen gestanden hatte, hatten sie keine Hoffnung gehabt, dass Stephen überleben würde. Aber wie durch ein Wunder waren sie auf Idhril, die beste Heilerin, die es gab, gestoßen. Sie und Henry hatten sofort damit begonnen, Stephen zu heilen. Aber es hatte sich anfangs nur wenig an seinem Zustand verändert. Idhril meinte, sie sollten mit ihr zu ihrem Haus im Wald kommen, da sie sich dort besser konzentrieren konnte, und Stephen dort besser aufgehoben wäre. Andrew wollte mitkommen, um Stephen zur Seite zu stehen. Lydia wollte mitkommen, da sie ihren Bruder nicht allein lassen wollte und um ihn zu trösten, falls Stephen es nicht schaffen sollte. Henry und Jackson kamen mit, da sie Lydias Bodyguards waren und auf sie aufpassen und sie beschützen mussten.

So kam es, dass sie alle in einem kleinen Haus mitten im Wald waren, und das schon seit ein paar Wochen. Jackson war aber die meiste Zeit nicht da, da er Freunde besuchte oder irgendwelche Familienangelegenheiten klären musste. Henry verbrachte die meiste Zeit mit Lydia und unterrichtete sie im Drachenfliegen. Lydia wollte auch kämpfen und sich verteidigen lernen, aber Henry meinte, sie müsse sich gedulden und dass sie nicht alles auf einmal lernen konnte.

Lydia war froh, dass es Stephen besser ging, Andrew hätte es das Herz gebrochen, wenn er gestorben wäre. „Denkst du, er schafft es heute, bei uns zu essen? Ich habe gehört, es gibt Risotto?“, fragte Lydia, während sie sich ausgiebig streckte. „Ich weiß es nicht. Er will die ganze Zeit aufstehen, aber die Kräuterhexe sagt, er müsse sich noch ausruhen.“ Andrew zuckte mit den Schultern und trank einen Schluck Blut. „Ein Hexenmeister ruht sich nicht aus“, ertönte plötzlich eine Stimme von hinten. Stephen stand neben Andrew und zwinkerte Lydia zu. Andrew zuckte erschrocken zusammen und schüttete dabei das halbe Glas Blut auf den Boden, das in die Rillen des Holzbodens einsickerte und es so aussehen ließ, als hätte sich jemand in den Finger geschnitten. Lydia wurde augenblicklich schwindelig. Solange das Blut im Glas war, konnte sie sich noch einreden, dass es gefärbtes Wasser war. Aber das Blut auf dem Boden sah definitiv nicht wie gefärbtes Wasser aus, dafür war es zu dickflüssig. Lydia zwang sich den Blick vom Fußboden zu heben.

Sie rang sich ein Lächeln ab und musterte Stephen von oben bis unten. Sein Gesicht, das völlig zerfetzt gewesen war, war geheilt und es waren nur ein paar Narben zurückgeblieben. Er sah wieder gesund aus. „Du sollst dich noch ausruhen und nicht herumteleportieren“, sagte Andrew vorwurfsvoll. Stephen verdrehte die Augen. „Ja, ja schon klar. Du musst dich nicht um mich sorgen, schließlich bin ich kein Kind mehr.“ Andrew nahm seine Hand und schleppte ihn aus Lydias Zimmer. „Du benimmst dich aber wie eines, und jetzt komm.“ Lydia hörte, wie sich die Stimmen langsam entfernten. „Wenn die Kräuterhexe das erfährt, wird sie nicht länger bereit sein, dir zu helfen.“

Lydia schüttelte lächelnd den Kopf. Stephen und Andrew waren ein perfektes Paar. Sie freute sich für ihren Bruder, dass er einen Freund gefunden hatte. Trotzdem, jedes Mal, wenn sie die beiden miteinander sah, fühlte sie einen dumpfen Stich mitten im Herzen. Sie sehnte sich nach Dorian. Lydia war nicht neidisch, aber sie wünschte sich, ebenfalls in einer Beziehung zu sein. Mit ihrem Freund lachen zu können, jemanden zum Reden zu haben, dem sie alles anvertrauen konnte. Warum konnte es nicht so einfach sein? Warum musste alles so unendlich kompliziert sein? Das Leben glich einem Eiswürfel, der in der Sonne vor sich hingeschmolzen und zu nichts mehr zu gebrauchen war, dachte Lydia bitter. Lydia fragte sich jeden Tag, ob Dorian noch an sie dachte. Vermisste er sie genauso wie sie ihn? War er immer noch sauer auf sie, oder hatte er ihr verziehen und erwiderte ihre Liebe?

Lydia ging zuerst zu Henrys Zimmer, welches direkt gegenüber war. Sie klopfte und öffnete vorsichtig die Tür. Henry saß gebeugt mit dem Kopf in den Händen auf dem Bett. Als er Lydia hörte, hob er seinen Kopf und lächelte verkrampft. „Hey, gut geschlafen?“ Lydia ging zu ihm und setzte sich neben ihn aufs Bett. Ging es ihm gut? „Ich hatte einen sehr komischen Traum, über den ich mit dir reden wollte. Aber geht es dir auch gut?“, fragte sie besorgt. „Alles gut. Worum ging es in deinem Traum?“ Lydia war sich sicher, dass er log. Irgendwas lag ihm am Herzen. Bevor Lydia etwas Falsches fragen konnte, schilderte sie ihm ihren Traum. Als sie ihn anschließend stumm ansah, runzelte er die Stirn. „Es kann gut sein, dass du die Zauberkraft von deinem Großvater geerbt hast und er als Geist zu dir gesprochen hat. Aber es könnte auch sein, dass es ein normaler Traum war, mehr nicht.“ „Meinst du, wir sollten trotzdem zu Schloss Macthorn fliegen, wie es mein Großvater gesagt hat?“

Henry wurde nervös. „Vielleicht sollten wir abwarten. Wenn er nochmals zu dir spricht, können wir ja noch immer hinfliegen.“ Lydia wurde mulmig zumute. Was machte ihn so nervös? „Ok, ich werde es dir sagen, wenn er wieder mit mir gesprochen hat.“ Lydia machte eine kurze Pause, bevor sie vorsichtig fragte: „Warum bist du nervös? Gibt es etwas, das ich wissen sollte? Schlagartig veränderte sich Henrys Gesichtsausdruck. Seine Lippen waren zu einem dünnen Strich gepresst. „Lydia, ich wollte es dir schon früher sagen, aber …“, Henry stockte und sah Lydia tief in die Augen. Lydia rutschte auf dem Bett nervös hin und her. „Deine Großmutter. Sie … Ich habe sie gefunden.“ Ihr lief ein kalter Schauer über den Rücken. Sie hoffte, dass es nicht das war, was sie befürchtete. Sie konnte nicht vermeiden, dass ihre Stimme zitterte. „Wo ist sie jetzt? Ich möchte sie sehen.“ Henry schluckte und nahm ihre Hand, die unkontrolliert zitterte. „Ich habe sie in einem Schrank im Büro gefunden. Tot. Es tut mir so leid.“

Lydia spürte eine stumme Träne über ihre Wange fließen. Sie konnte es nicht glauben. Ihre Großmutter durfte nicht tot sein! Jetzt hatte sie alles verloren, ihre Eltern, ihre Großeltern. Den Einzigen, den sie noch hatte, war ihr Bruder. Lydia löste ihre Hand von der Henrys und starrte ihn entgeistert an. Ihre Atmung wurde immer hektischer. Es war so, als würde ihre Welt untergehen. Die Strahlen, die vom Licht ausgingen, wurden zu schwarzen Streifen. Ihr wurde schwindelig und sie drohte, ohnmächtig zu werden. Henry nahm sie in die Arme und drückte sie fest. Lydia schluchzte laut. „I...ich muss z..zu ih..r.“ Henry sah ihr in die Augen und schüttelte den Kopf: „Du bist noch nicht bereit.“ Lydia schrie. „ICH BIN BEREIT!“ Sie wollte aufstehen und gehen, aber er hielt sie an der Hand fest. Lydia sah ihm fest in die Augen. Sein Gesicht war wie eine Zeichnung, die verronnen war. Die schwarzen Streifen schienen zu verblassen, waren aber noch da.

Plötzlich zog Henry sie zu sich und küsste sie sanft. Lydia war zu irritiert, um etwas zu sagen. Als sie klar denken konnte, stieß sie ihn von sich weg. Sein Gesicht war rot angelaufen und er senkte den Kopf. „Warum? Ich dachte du wüsstest, dass wir nur Freunde sind?“, fragte Lydia. Für diesen Augenblick vergaß sie alles andere. „Ich dachte … Ich dachte, du bist von Dorian getrennt“, murmelte Henry. Sie fand diese Ausrede lächerlich. „Nur weil ich von ihm getrennt bin, heißt das nicht, dass mein Herz nicht ihm gehört. Ich liebe ihn, und das wird sich auch so schnell nicht ändern.“ Als Henry nichts antwortete, ging sie stumm aus dem Zimmer und schloss die Tür. Dann klopfte sie bei Andrews und Stephens Zimmer an. Lydia brauchte jetzt irgendjemanden zum Reden.

Stephen öffnete die Tür und machte große Augen, als er Lydia sah, der getrocknete Tränen auf den Wangen schimmerten. „Komm rein.“ Lydia bedankte sich und folgte ihm ins Zimmer. Ein großes Doppelbett stand in der Mitte des Raums. Andrew lag auf der linken Seite des Bettes und las ein Buch. Zumindest tat er so. „Andrew?“, schluchzte Lydia. Andrew stand auf und ging zu Lydia. Sie fiel ihm in die Arme und konnte sich nicht zurückhalten. Tränen strömten wie ein Wasserfall über ihr Gesicht. Andrew strich ihr tröstend über den Rücken. „Ich hoffe, du hast einen guten Grund, mein T-Shirt nass zu weinen.“ Lydia musste über diese Bemerkung lachen. Seine sarkastische Art heiterte sie auf. Doch als sie an ihre Großmutter dachte, brach sie erneut in Tränen aus. „Großmutter. S…sie ist … to..tot.“ Das Einzige, was Andrew darauf sagte, war: „Oh.“ Da Andrew als Kleinkind von ihrer Familie verstoßen wurde, weil Lydia ihnen wichtiger gewesen war, schmerzte es ihn nicht so sehr, wenn ein Familienmitglied starb. Aber wie konnte er nicht um Großmutter trauern? Sie war einer der herzlichsten Menschen, die Lydia kannte.

Plötzlich hörte Lydia eine bekannte Stimme in ihrem Kopf: die ihrer Großmutter. Sie sagte, Lydia solle aufhören zu weinen und sich um wichtigere Dinge kümmern, als um sie zu trauern. Lydia fuhr sich an den Kopf, als wäre dort eine Spinne. Sie hatte auf einmal stechendes Kopfweh, als ob kleine Dolche auf ihren Kopf einstachen. Sie hörte viele verschiedene Stimmen in ihrem Kopf. Andrew sah sie besorgt an und half ihr, sich in sein Bett zu legen. Sie schloss die Augen und versuchte, Ruhe zu bewahren. Was, wenn es doch kein Traum mit ihrem Großvater war, und sie wirklich Geister sehen und mit ihnen reden konnte, dachte Lydia grübelnd. Dann musste sie nach Hause, wie er es gesagt hatte, und nach der Tür suchen. Aber wer würde ihr dabei helfen? Allein würde sie es wohl kaum schaffen. Andrew und Stephen fielen schon einmal aus, da Stephen noch zu schwach war und Andrew ihn nicht alleine lassen würde. Henry würde bestimmt nicht mitkommen, nach dem, was zwischen ihnen passiert war. Und Jackson war noch nicht zurück. Eigentlich hatte sie niemanden, der sie begleiten konnte. Und um bereit zu sein, sich den Gefahren im Schloss auszusetzen, musste sie entweder vorher kämpfen lernen oder jemanden überzeugen, sie zu begleiten. Beides erschien ihr unwahrscheinlich. Wer sollte ihr das Kämpfen beibringen? Bevor sie auf diese Frage eine Antwort finden konnte, übernahm ihre Müdigkeit die Macht über ihren Körper und sie schlief ein.

Lydia wurde durch ein leichtes Schütteln an ihrer rechten Schulter geweckt. Langsam öffnete sie die Augen und merkte, dass das Kopfkissen durchnässt war. Hatte sie im Schlaf etwa geweint? Lydia rieb sich ihre Augen und setzte sich auf. Neben ihr auf der Bettkante saß Andrew mit einem Glas Wasser in der Hand. Mit einem Glas Wasser, ein Vampir! Irgendetwas stimmte da nicht. „Seit wann trinkst DU Wasser?“, fragte sie und merkte, dass ihre Stimme heiser war. „Das ist für dich, Schwesterherz. Du siehst aus, als würdest du es brauchen“, meinte Andrew und reichte ihr das Glas. Als ihr wieder einfiel, warum sie so viel geweint hatte, wollte sie am liebsten die Augen schließen und alles ausblenden. Ihre Großmutter war tot, Lydia hatte sich nicht einmal von ihr verabschieden können. Das letzte Mal, als sie sie gesehen hatte, war, als sie ihre Bodyguards kennengelernt hatte. Selbst dort hatte sie sich nicht verabschiedet.

Plötzlich kam ihr ein Gedanke, der ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Sie konnte sich von ihrer Großmutter verabschieden. Sie konnte auch mit ihr reden. Schließlich konnte sie Geister sehen. Aber nur in ihren Träumen, wie sie bereits herausgefunden hatte. Würde es funktionieren, wenn sie jetzt schlafen und an ihre Großmutter denken würde? Sie musste es probieren. Für alles muss es ein erstes Mal geben. Aber was sollte sie Andrew sagen? „Kannst du bitte gehen, ich muss schlafen, um mit unserer Großmutter zu reden“, konnte sie nicht sagen. Er wusste doch nicht einmal, dass sie mit Geistern reden konnte und dass das mit ihrem Großvater nicht nur ein Traum war. Lydia wollte ihm die Wahrheit sagen, aber sie hatte Angst vor seiner Reaktion. Lydia atmete tief ein, sie musste es ihm sagen. Sie sollte kein Geheimnis vor ihrem Bruder haben, zumindest keines dieser Art.

„Andrew? Ich muss dir etwas sagen …“ Andrew sah sie an und hob eine Augenbraue. „Ich höre?“ „Ich kann Geister sehen, genauso wie unser Großvater es konnte.“ Lydia stockte, da Andrew sie zuerst mit geweiteten Augen ansah und dann loslachte. „Und ich habe gestern ein Eichhörnchen auf einem Einhorn reiten sehen, vielleicht hängt das zusammen.“ „Ich meine das ernst“, sagte Lydia und versuchte, keine Miene zu verziehen. „Ich auch. Dieses Einhorn …“ Lydia unterbrach ihn barsch. „Ich kann Geister sehen. Ich höre auch manchmal ihre Stimmen.“ Sie hielt inne. Auf Andrews Lippen lag noch immer ein Grinsen. Er nickte und tat so, als wäre es das Interessanteste, dass er jemals gehört hatte. Es war ein Fehler gewesen, es ihm zu sagen. Er hielt sie doch nur für verrückt. „Jedenfalls hat Großvater in meinem Traum zu mir gesagt, ich solle zum Schloss gehen und nach einem Raum suchen, worin ich alle wichtigen Dinge über Leute wie mich erfahren werde. Ich brauche aber eure Hilfe, allein schaffe ich das nicht. Und außerdem möchte ich mich von Großmutter verabschieden.“ Lydia musste bei dem Gedanken an ihre Großmutter schlucken. Sie dachte, ihr Bruder würde ihr seine Hilfe anbieten, aber er nickte nur weiter. „Wie auch immer. Ich wollte dich fragen, besser gesagt bitten, mich zum Schloss zu begleiten.“ Andrew schien langsam zu realisieren, dass sie jedes einzelne Wort ernst gemeint hatte. Er hörte auf zu nicken. „Mit Großmutter kannst du von mir aus reden, aber du fliegst nicht zum Schloss.“, antwortete er ernst.

Lydia war überrascht über seine Antwort, sie hatte nicht gedacht, dass er ihr das Fliegen zum Schloss verbieten würde. „Was? Warum?“ „Es ist zu gefährlich. Stephen wäre fast gestorben. Ich will dich nicht verlieren. Ohne dich hätte ich keinen Blutsverwandten mehr“, sagte Andrew in einem Ton, der keine Widerrede duldete. Lydia ließ das Wort Blutsverwandte auf ihrer Zunge wie Brause zergehen. Er hatte nicht Familie gesagt, sie war nicht mehr seine Familie, er hatte eine andere. Lydia schob diese Gedanken grob zur Seite. Sie durfte jetzt nicht nachgeben, sonst würde sie sich nie verabschieden können. „Ich werde nicht sterben, deswegen benötige ich ja Hilfe und einen Lehrer, der mir das Kämpfen beibringt.“ Plötzlich wurde die Tür geöffnet und Stephen ging neugierig ins Zimmer. „Habe ich da etwa Kampflehrer gehört?“ Ohne auf Stephen zu achten, konterte Andrew: „Nein, Lydia. Du wirst nicht zum Schloss fliegen. Es ist zu gefährlich.“ Das war so unfair. Er benahm sich wie ihre Eltern. Lydia hätte ihm doch nichts sagen sollen. Dann wäre das nicht passiert. Stephen ging einen Schritt aufs Bett, auf dem sie saßen, zu und sagte: „Ich könnte Lydia das Kämpfen beibringen.“ Lydia konnte ihre Freude kaum unterdrücken. Stephen war ihre Rettung. „Ja, bitte Stephen. Du wärst der perfekte Lehrer!“ Andrew stand auf und atmete genervt aus. „Nein, kannst du nicht, Stephen. Du bist noch nicht vollkommen geheilt. Ich möchte nicht, dass sich dein Gesundheitszustand wieder verschlechtert.“

Stephen verdrehte die Augen und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ach komm schon, Andrew. Mir geht’s prima. Du weißt doch, dass ich auf mich aufpassen kann.“ „Merkt man an der Narbe, die quer durch dein Gesicht verläuft“, schnaubte Andrew. Darauf erwiderte Stephen voerst nichts. Doch wenige stille Sekunden später murmelte Andrew: „Ich möchte euch nichts verbieten, aber ich habe einfach Angst um euch. Warum müssen die, die ich am meisten liebe, so unfassbar lebensmüde sein?“ Stephen küsste ihn sanft und antwortete: „Wir lieben dich doch auch. Wir werden nicht trainieren. Stimmt’s, Lydia?“ Lydia hatte mehr von Stephen erwartet. Eigentlich war er jemand, der nicht so schnell aufgab. Doch da Lydia nichts anderes übrigblieb, nickte sie stumm, versuchte ihre Enttäuschung zu verbergen und ging aus dem Zimmer, außer Haus und sah sich nach ihrem Seelendrachen Heronía um.

Lydia fand sie nach langem Suchen hinter Idhrils Haus. Sie lag zusammengerollt auf einem großen, frisch gemähten Feld. Ihr Atem ging ruhig und langsam, sie schien zu schlafen. Eigentlich wollte sie mit ihr ein Stück fliegen, um ihre Gedanken zu ordnen, aber Lydia wollte Heronía nicht wecken, deswegen legte sie sich zu ihr und schloss die Augen. Sie dachte fest an ihre Großmutter und ihren Großvater. Konnte sie auch mit beiden gleichzeitig kommunizieren? Sie würde es bald herausfinden. Hoffentlich.