Genugtuung - Katy Miles - E-Book

Genugtuung E-Book

Katy Miles

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Beschreibung

Cornwall 1816: Charlotte und Henry Campbell erwarten ihr erstes Kind. Ruhe, Beschaulichkeit, Entspannung? Weit gefehlt! Charlie wäre nicht Charlie, wenn sie nicht weiterhin alle ihre Projekte verfolgen würde wie bisher. Also stapft sie jeden Morgen unverdrossen zum neu eingeweihten Schulhaus, um dort den Unterricht für die Kinder der Pächter abzuhalten, unermüdlich hilft sie beim Aufbau ihres eigenen Zucht- und Ausbildungsstalles und zudem rettet sie zwei verwahrloste Stuten, die wieder aufgepäppelt werden müssen. Als sie immer schmaler wird und ihren Appetit verliert, ruft Henry seine Schwester Georgie zu Hilfe. Doch nun kommen die Dinge erst richtig ins Rollen: Der kalte Sommer 1816 sorgt für Brennstoff- und Nahrungsknappheit. In St. Yves treten die ersten Typhusfälle auf. Harold Tremayne, der befreundete Mediziner aus dem Ort, bringt ein Findelkind nach Cairn House und Georgie verliebt sich unsterblich. Und Charlie? Die schafft es, sich zwischendurch noch ganz schön in Schwierigkeiten zu bringen! Band 2 der Serie um Charlie und Henry!

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Seitenzahl: 735

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Historischer Roman

Impressum

Texte: © 2024 Copyright by Katy Miles

Umschlag:© 2024 Copyright by Y. Miles

Verantwortlich

für den Inhalt:Katy Miles

[email protected]

Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Juli 1805, Manchester

„Es ist mir egal, ob du ein Stipendium bekommen hast oder nicht! Du wirst nicht studieren gehen! Und du wirst erst recht nicht arbeiten gehen, wenn du dein Studium beendet hast!“ Arthur Tremayne, der zwölfte Viscount Boltham, hing - wie an jedem Abend nach dem Dinner - in seinem Sessel in der Bibliothek des Hauses, ein übervolles Whiskyglas in der Hand und starrte seinen Sohn feindselig aus blutunterlaufenen Augen an. Harold trug das Schreiben des „Royal College of Surgeons“, das ihm ein Stipendium anbot, bereits seit mehreren Wochen in seinen diversen Jacketts herum – weshalb es schon ganz zerknittert war! Heute allerdings hatte er den Brief seinem Vater präsentiert, denn nun musste er eine Entscheidung treffen: Das College wollte seine Antwort bis nächste Woche haben.

Er hatte gewusst, dass sein Vater so reagieren würde! Das war ja auch der Grund dafür gewesen, ihm nichts von diesem Vorhaben zu erzählen. Und dennoch….

„Mein Praktikum am College war das Beste, was ich in meinem Leben bisher erlebt habe! Ich möchte mich weiterbilden! Ich möchte Chirurg werden!“ Sein Vater wurde lauter. „Dein Praktikum war der blödsinnigste Schwachsinnseinfall, der je deinem verwirrten Hirn entsprungen ist. An Leichen rumschneiden! Wie krank muss ein Mensch denn sein?! Nur der Einmischung meiner genauso verrückten Schwägerin Deborah hast du diese Zeit zu verdanken. Du wirst den guten Namen deiner Familie nicht durch diese hirnverbrannte Idee eines Medizinstudiums in den Dreck ziehen. Ein Tremayne arbeitet nicht, er lässt arbeiten! Hast du das jetzt verstanden?“

Doch so leicht wollte Harold nicht aufgeben.

Zeit seines Lebens war er immer nur der jüngere Sohn gewesen. Hatte seine Schullaufbahn brav durchgezogen.

Hatte all die Demütigungen seiner Familie und der Gesellschaft über seinen Platz als Zweitgeborener klaglos ertragen, aber nun?! Es ging um sein Leben, darum, was er den Rest seines Daseins noch tun wollte. Er wollte die Welt verbessern und nicht nur als Schmarotzer andere für sich arbeiten lassen. Die Gesellschaft krankte! Und er hatte als Adliger doch trotz aller Privilegien seinen Teil dazu beizutragen, dass sie funktionierte! Davor konnte man die Augen doch nicht verschließen!

Zum Henker! Er wollte etwas bewegen und er hatte das Zeug dazu! Er besaß genügend Intelligenz und Interesse, um sich zu bilden und um die komplexen Zusammenhänge der Anatomie des Menschen zu verstehen. Darum empfand er es sogar auch als Verpflichtung, sich für andere einzusetzen, wenn er die Möglichkeit dazu bekam. Familienname hin – Familienname her!

„Ich bin nicht der Erbe! Ich bin ein unwichtiger, zweiter Sohn! Die feine Gesellschaft schert sich keinen Deut um meinen Verbleib oder um mich.“ An der Schläfe seines Vaters pochte nun eine Ader und Harold merkte, wie sich die Gesichtsfarbe seines alten Herren allmählich zu einem dunklen Rot verfärbte. „Du warst schon immer schuld am Leid dieser Familie! Die eigene Mutter hast du auf dem Gewissen. Noch mehr Schande bringst du nicht über dieses Haus! Die Diskussion ist zu Ende. Sie ist für mich völlig belanglos. Ich verbiete dir dieses Studium!“

Da…! Er hatte geahnt, dass sein Vater ihm die Verantwortung für den Tod der Mutter in die Schuhe schob. Nein, eigentlich hatte er es schon immer gewusst. Ausgesprochen hatte sein Vater diese Anschuldigung jedoch noch nie. Nun war sie heraus – endlich. Und just in diesem Moment zerbrach in Harold etwas, oder es starb ab, so genau konnte er das nicht benennen.

Ruhig bemerkte er: „Du kannst es mir verbieten, wie auch immer du willst. Ich werde trotzdem studieren!“ Erzürnt sprang sein Vater auf, wobei er ungeschickt von seinem Whisky verschüttete. „Wag das nur! Du brauchst danach nie wieder auf meiner Türschwelle zu erscheinen! Keinen Cent wirst du je wieder von mir bekommen!“ Speicheltröpfchen flogen auf die Stipendiums-Zulassung, die Harold noch immer in Händen hielt! Beinahe wie in Trance – hob er den Kopf, um seinem Vater gerade in die Augen zu blicken. Tonlos antwortete er – und es war eine weitreichende Entscheidung: „Das ist in Ordnung, Vater! Ich ziehe ein erfülltes Leben voller Arbeit dem deinen vor. Mein Lebensziel könnte nicht weiter von dem deinen differieren, wenn es dir genügt, Abend für Abend volltrunken vor einer Whiskykaraffe zu sitzen und zweimal die Woche im Club Geld zu verlieren. Ich habe durchaus den Plan, mit dem Leben, das mir geschenkt wurde, und mit meinen Händen etwas zu schaffen, was anderen Menschen nützlich sein kann. Es tut mir leid, wenn unsere Wege sich so trennen müssen.“

Und noch am selben Abend bestieg er seinen Wallach und ließ sein Elternhaus, seinen verbitterten Vater und seine Familie zurück, ohne sich noch einmal danach umzusehen.

18. Dezember 1806, London

Mit großen Augen saßen sie alle da. Vincent Campbell, der vierte Duke of Moulton, schluckte schwer, während er seine Kinder betrachtete – alle sieben. Auf dem Sofa saßen kerzengerade seine drei ältesten Töchter nebeneinander. Stocksteif, wie erstarrt: Maria, die Erstgeborene und schon verheiratet, Georgiana, frisch in die Gesellschaft eingeführt, und Henrietta, die sich gegen seinen Willen erst vor zwei Monaten mit ihrem Cousin verlobt hatte. Im Sessel neben dem Kamin hockte zusammengesunken der siebzehnjährige Henry, der als Titelerbe schon jetzt eine große Last und Verantwortung auf seinen Schultern spürte, die in den kommenden Wochen und Monaten noch deutlich schwerer werden würde. Mit finsterer Miene lümmelte Charles im zweiten Ohrensessel, wobei er ein noch grimmigeres Gesicht zog als normal. Er würde in zwei Wochen sechzehn werden und haderte mit sich und der Welt. Die zarte, dreizehnjährige Phoebe mit ihren hellblonden Zöpfchen hatte im Türrahmen innegehalten, als wollte sie die letzten Schritte ins Zimmer gar nicht mehr hineingehen, um der unausweichlichen Wahrheit nicht begegnen zu müssen. Und schließlich – du liebe Güte - James, sein Nesthäkchen! Der lang ersehnte Nachzügler, der im Moment seine Ärmchen ausstreckte, um zu Henry auf den Schoß gezogen zu werden. Liebevoll lächelte der große Bruder, der sich den Hosenmatz an seine Brust bettete. Der Duke räusperte sich. „Niemals hatte ich in Betracht gezogen, dass ich euch einmal alle hier versammeln müsste, um euch auf das vorzubereiten, was nun unausweichlich scheint.“ Müde machte er eine Pause, - um dann nacheinander den Blick eines jeden Kindes zu suchen. „Dr. Williamson geht davon aus, dass wir innerhalb der nächsten Woche damit rechnen müssen, dass eure Mutter ihre Augen für immer schließen wird.“ Phoebe drehte sich auf dem Absatz um, während sie laut aufheulend aus dem Raum floh. Seine großen Mädchen weinten still vor sich hin. Nur Henry drückte seinen kleinen Bruder wie einen Rettungsanker fest an sich, wobei er ihn sacht vor und zurück wiegte.

Erbost sprang Charles auf, rannte auf ihn zu und schleuderte ihm ins Gesicht: „Hast du es endlich geschafft, sie ins Jenseits zu befördern?! Verdammte Sorge um das Erbe! Verdammte Gier nach Sicherheit und Kindern! Hat wohl nicht gereicht, vier potentielle Erben zu verlieren! Immer musste sie noch mehr leisten, bis sie daran kaputt gegangen ist.“ Damit stürmte er, die Hände rechts und links des Körpers zu Fäusten geballt aus der Bibliothek, bevor kurz darauf das Portal des Stadthauses lautstark ins Schloss knallte. Oh Gott! Hilflos schloss der Duke die Augen. Himmel, wie schwer das war! Welchen Schmerz mussten diese Kinder denn noch aushalten?! Vier Brüder hatten sie schon verloren. Da war Philipp gewesen, Phoebes Zwillingsbruder, der mit nur zehn Jahren kurz vor James‘ Geburt an Diphterie gestorben war. Dann der vierjährige Howard, immer krank und schwächlich – und zwei Kinder direkt nach der Geburt. Seine Frau Beatrice war untröstlich gewesen - und mit jedem Kind hatte sie scheinbar auch einen Teil ihrer Selbst zu Grabe getragen. Nach James‘ Geburt hatten sich ihre schwermütigen Phasen immer mehr ausgedehnt. Beatrice Campbell hatte keinerlei Appetit mehr gezeigt und war abgemagert. Wie durchscheinend hatte sie die letzten beiden Jahre gewirkt. Zudem hatte sich die Duchesse ganz in sich selbst zurückgezogen. Vollständig in ihre eigene Welt versunken hatte sie begonnen, apathisch vor sich hinzusummen. Die Ärzte, allen voran die unzählig konsultierten Nervenärzte, hatten keine schlüssige Therapie für die Kranke finden können und die letzten Wochen hatte sie das Essen nun komplett verweigert, wobei sie auch nicht mehr ansprechbar gewesen war.

Maria erhob sich vom Sofa, um auf ihren Vater zuzutreten, der aus den eigenen Gedanken aufschreckte. „Nimm dir nicht zu Herzen, was er gesagt hat, Vater. Charles ist so voller Wut auf alles und jeden… Ich sehe oben mal nach Phoebe.“ Mechanisch nickte der Duke seiner Tochter hinterher. „Ihr müsst daran denken, Abschied zu nehmen!“, flüsterte er in die totenstille Bibliothek hinein, in der nur das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims überlaut zu hören war, worauf Henry und die beiden großen Schwestern sich erschrocken anblickten. „Es bleibt nicht mehr viel Zeit!“

Tatsächlich war die Duchesse keine vierundzwanzig Stunden später sanft entschlummert. Während der Duke auf seine wie schlafende Frau starrte, wurde ihm erst das Ausmaß dieses Verlustes bewusst:

Er würde die Verantwortung für die Kinder in Zukunft alleine tragen.

James würde ohne Mutter aufwachsen. Komplett ohne Mutter! Vermutlich würde er sich später nicht einmal mehr an sie erinnern können.

Allerdings kam dieser Abschied aus dem Leben nicht plötzlich – es war ein langsamer Prozess des Wenigerwerdens gewesen, seelisch wie auch körperlich. Georgie und Henrietta hatten schon während der beiden vergangenen Jahre Haushalt und Kindererziehung von ihrer Mutter übernommen und sich die Aufgaben geteilt. Seine Schwester Clarice hatte die beiden Mädchen in die Gesellschaft eingeführt, während die Besuche der Kinder am Bett ihrer kranken Mutter immer weniger geworden waren. Henry und Charles waren seit Jahren nur noch in den Ferien zu Hause. Für sie würde der Unterschied nicht so ersichtlich sein. Doch Phoebe…. Und James…. Er musste mit Georgiana sprechen. Und mit Henry. Wie betäubt machte er sich auf die Suche nach seinen beiden zuverlässigsten Kindern.

September 1807, London

„Tremayne? Hast du kurz Zeit? Draußen steht eine Dame, die darauf besteht, mit dir zu sprechen!“ Sarah aus der Schreibstube steckte ihren Kopf ins Lager hinein, wobei sie die Augen verdrehte. „Sie wirkt etwas ungehalten! Milde ausgedrückt!“ Harold zuckte die Achseln. Er hatte zwar keine Ahnung, welche Dame ihn hier aufsuchen wollte, wischte sich aber folgsam den Schweiß von der Stirn.

Um sich seinen Unterhalt zu finanzieren, arbeitete er dienstags und donnerstags am Nachmittag im Lager einer Schiffsreederei am Themse-Ufer, die der Vater eines Schulkameraden betrieb. An den anderen Tagen konzentrierte er sich komplett auf die Ausbildung und das Studium am Royal College. Als er zu Beginn des Medizinstudiums nach London gekommen war, hatte er Stephen Goodman vor seinem Hotel getroffen und sich mit ihm für den Abend im Club verabredet. Sobald der Freund von der neuen Situation Harolds erfahren hatte, hatte er ihm den Aushilfsjob in der Reederei besorgt und war ihm bei der Suche nach einem günstigen Zimmer behilflich gewesen. „Ein Mann muss seinen eigenen Weg gehen, Rold!“, hatte er ihm beigepflichtet. Einmal die Woche speisten sie abends gemeinsam, mal im Club, mal in einem Gasthaus oder auch bei Stephen zu Hause.

Harold krempelte die Ärmel seines Hemdes nach unten, kramte die Manschettenknöpfe aus seiner Hosentasche und folgte Sarah durch den langen Korridor nach vorne ins Büro der Reederei. Am Tresen wartete Tante Deborah, die ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte herumklopfte. In dem Moment, in dem ihre Augen ihn erblickten, ging ein Ruck durch ihre zarte Gestalt. „Harold! Hatte ich also doch Recht damit, dass du das warst, den ich vorhin durch den Hintereingang dieses Unternehmens habe gehen sehen!“ Ihre Augen maßen ihn von oben bis unten. „Und was, um Gottes Willen, tust du hier?!“ Bittend wandte Harold den Blick zu Sarah. „Ich ziehe meine halbe Stunde Pause vor und begleite meine Tante ein Stück. Ist das in Ordnung?“ Mit zusammengekniffenen Lippen nickte die Schreibkraft, nicht ohne Tante Debbie nochmals einen bitterbösen Blick zuzuwerfen. „Das ist überhaupt kein Problem! Dir gönne ich die Unterbrechung ja!“, nickte das junge Mädchen.

Zielstrebig rauschte seine Tante durch die Holztüre der Reederei, die Harold ihr aufgehalten hatte, und wirbelte nach draußen in den warmen Spätsommernachmittag. „Du bist mir eine Erklärung schuldig – und zwar eine gute!“, schnappte sie über ihre Schulter hinweg. Aufgebracht war sie stehengeblieben, während sie sich nun nach ihm umdrehte. Hilflos hob Harold seine Hände. „Ich arbeite hier zweimal die Woche als Aushilfskraft, Tante Debbie! Das ist ja nicht verwerflich.“ Ungehalten blickten die braunen Augen seiner Tante ihn an. „Du weißt genau, dass es mir darum überhaupt nicht geht! Sag mir, warum du in London bist und nicht in eurem Stadthaus logierst! Erkläre mir, weshalb du dich bei mir nicht gemeldet hast, wenn du als mein Neffe einer geregelten Arbeit hier nachgehst und ich deshalb annehmen muss, dass du bereits seit längerer Zeit in London weilst! Und teile mir gefälligst mit, was mein verdorbener und absolut unnützer Schwager diesmal verbrochen hat, dass du hier vor dich hinvegetierst, ohne einem Menschen Bescheid zu geben!“ Ihre sonst so ruhige und ausgeglichene Miene hatte sich verfinstert mit jedem immer noch abfälliger ausgestoßenen Satz. Harold seufzte und setzte sich langsam in Bewegung, um sie ein Stück von der Reederei wegzuführen.

„Das ist relativ schnell erklärt, Tante Debbie. Ich studiere hier Medizin mit einem Stipendium des „Royal College of Surgeons“. Seit zwei Jahren bereits. Ich habe nach dem Praktikum im Frühjahr vor zwei Jahren das Stipendium erhalten und wollte mir meinen Traum, Arzt zu werden, auch verwirklichen. Vater war dagegen, wie du dir vorstellen kannst! Das Praktikum hatte ich ja auch nur antreten dürfen, weil du dich damals eingeschaltet hattest. Nun, mein alter Herr hat mir den Unterhalt gestrichen und mich des Hauses verwiesen. Ein Tremayne arbeite nicht, er lasse für sich arbeiten! Also erfülle ich mir meinen Wunsch eben aus eigenen Mitteln.“ „Himmel, Hintern und Zwirnsfaden! Du bist genauso stur wie er!“ Erbost wedelte Tante Deborah mit ihrem Schirm unter Harolds Nase herum. „Warum kannst du denn dann nicht zu mir kommen?! Seit Jahren warte ich darauf, dass ich dir endlich mal etwas Gutes tun kann, dieses Unrecht an dir gutmachen kann, das meiner Schwester mit der Verheiratung mit diesem… diesem…Trottel angetan worden ist!“ Sie wurde immer lauter. „Er war schon damals ein gefühlskalter, nichtsnutziger und ekliger Snob!“ Tränen der Wut und der Verzweiflung füllten nun ihre Augen. „Ich habe es nicht geschafft, Lilian aus dieser Ehe zu befreien, aber ich wollte doch immer für euch Jungs da sein!“ Sanft zog er Tante Debbie in seine Arme. „Ich wollte das eben selbstständig durchziehen. Kannst du das nicht verstehen?“, murmelte er über ihren Kopf hinweg, während sein Blick über die träge dahinfließende Themse wanderte. „Wenn man sich etwas verzweifelt wünscht, dann fühlt es sich nochmal so gut an, wenn man es sich durch eigene Kraft ermöglicht!“ Die kleinen Schniefer verebbten allmählich und Tante Deborah richtete sich resolut auf. Schwäche zu zeigen war eigentlich nicht ihr Ding. Innerlich musste Harold fast grinsen.

„Mit dieser Schufterei ist ab jetzt Schluss! Die Miete für dein Zimmer bezahle ich, denn wie ich dich kenne, werde ich dich nicht davon überzeugen können, in mein Stadthaus umzuziehen.“ Sie machte eine kleine Pause. „Du konzentrierst dich auf dein Studium und mindestens zweimal die Woche kommst du zum Essen!“

„Es ist wirklich…“ Doch seine Tante unterbrach ihn einfach. „Keine Widerrede. Pfff… Zwei Jahre hast du mir schon verheimlicht, dass du hier in London vor dich hinlebst. Ab jetzt will ich teilhaben an deinem Leben!“ Ergeben nickte Harold. In mancherlei Hinsicht würde eine finanzielle Unterstützung wirklich Druck von seinen Schultern nehmen. Die folgenden beiden Jahre würde er viele Prüfungen vorbereiten müssen und manchmal waren ihm die beiden langen Arbeitstage auch eine erhebliche Last gewesen. „In Ordnung, Tante Deborah! Morgen Abend komme ich zum Essen und dann besprechen wir das weitere Vorgehen!“

Endlich zufrieden rückte Tante Debbie nun ihren Hut gerade und wieselte vor ihm her zurück zur Reederei. „Die Kündigung werde gleich ICH hier aussprechen!“, freute sie sich lächelnd. Dass sie sich nicht auch noch erwartungsvoll die Hände rieb, war alles, was fehlte. Harold folgte diesem Energiebündel breit grinsend. Als würde er sein Wort nicht halten… oh mann, Tante Debbie!

Stadthaus der Campbells, London, am selben Abend

Müde lehnte Georgiana sich an diesem Abend an die Türe des Kinderzimmers, nachdem sie sie leise hinter sich geschlossen hatte. James war selig eingeschlafen, die großen Augen hatten sich über seinen runden Bäckchen glücklich geschlossen und er hatte noch keine Ahnung, dass er ein kleines Halbwaisenkind war.

Das letzte halbe Jahr hatte Georgiana und ihren Vater alle nur erdenklichen Kräfte gekostet. Und obwohl sie in einer Wolke von Traurigkeit versunken waren, hatten sie unendlich viel zu regeln gehabt. Jeden Morgen mühte sich das Mädchen aus dem Bett, um James so viel Normalität wie möglich zu schenken. Ihr Vater hatte sich ganz in sich selbst zurückgezogen und verschlossen. Die meiste Zeit des Tages verbrachte er außer Haus, um seinen Geschäften nachzugehen. Henry und Charles waren wieder nach Harrow ins Internat geschickt worden, an den Wochenenden kam Henry jedoch sofort nach Schulschluss nach Hause, um Georgiana und Henrietta bei der Führung des Hauses helfen zu können. Diese Ausnahmeregelung hatte der Duke bei der Schulleitung nach dem Tod seiner Frau erwirkt.

Georgiana war nicht der Typ zum Jammern, aber – meine Güte, sie war zwanzig Jahre alt, sie hatte sich vom Leben noch mehr erhofft, als das, was ausgebreitet derzeit vor ihr lag. Schweren Schrittes legte sie den Weg zu ihrem eigenen Zimmer eine Etage tiefer zurück, nachdem sie Feli Bescheid gegeben hatte, dass sie sich nun zurückziehen werde. In ihrem Zimmer setzte sie sich an den Schminktisch. Aus dem Spiegel starrte sie das Abbild ihrer müden Mutter an. Georgiana Campbell war klein und sehr zart. Ihre Haare waren weißblond, glatt und mussten morgens in zarte Wellen gelegt werden, wogegen ihre Augen hellblau waren und ihre Haut vornehm blass und farblos. Insgesamt fühlte das Mädchen sich eher durchscheinend und unscheinbar, was aber auch daran liegen mochte, dass sie im Umgang mit Fremden schrecklich schüchtern war. Bei ihrem Debüt im letzten Jahr hatte sie nicht ein einziges Mal unaufgefordert den Mund aufgemacht und die Männer, die kurzzeitig Interesse bekundet hatten, hatten bald jegliche Avancen eingestellt, als sie ihre ängstliche Zurückhaltung bemerkt hatten.

Seufzend erhob sich Georgie und entzündete ein Licht an ihrem kleinen Schreibpult. Trost und Freude fand sie im Skizzieren von Tieren und Pflanzen. Ganze Bücher hatte sie damit gefüllt und detailgetreue Beschreibungen zu jeder einzelnen Zeichnung verfasst. Und so widmete sie sich an diesem Abend dem Moorschneehuhn und allen seinen Besonderheiten.

Träume waren gut und schön, aber manchmal forderte das Schicksal eben gewisse Opfer. Und Georgiana Campbell schien eines davon zu sein. Ein schüchternes, zwanzigjähriges, verzweifeltes Opfer.

Fast neun Jahre später…

8. Mai 1816, Cairn House, Cornwall

An diesem Morgen erwachte Henry Campbell früh. Das war nichts Außergewöhnliches. Dass er aber vor seiner stets regen Frau erwacht war, glich einem kleinen Wunder. Vorsichtig legte er sich in dem breiten Bett im Skandinavischen Zimmer auf die Seite, stützte seinen Kopf in die Hand und betrachtete nachdenklich die Frau neben sich. Dieses unermüdliche und quicklebendige Mädchen, das im letzten Sommer sein Herz im Sturm erobert hatte. Noch heute bemerkte er verwundert ein leises Ziehen in der Brust, wenn er sie – so wie jetzt – in aller Ausführlichkeit betrachtete. Wie er sie liebte! Die kecke Nase, die frechen Sommersprossen und ihren vorlauten Mund. Ihr positives Wesen, ihren unermüdlichen Einsatz und ihren unstillbaren Durst nach ihm. Sie war das Kostbarste, was ihm das Leben hatte schenken können!

Doch heute runzelte er die Stirn. Um ihre Augen lagen dunkle Augenringe und ihre ohnehin schon schmale Gestalt wirkte knochiger als je zuvor. Besorgt betrachtete er ihren Bauch. Gwyn Ferris, die Hebamme, war überzeugt davon, dass es Charlie den Umständen entsprechend gut ging, doch sie hatte beim letzten Treffen gemahnt, dass sie es langsamer angehen lassen müsse. Aber - sag das mal einer dieser sturen Lady! Während er noch vor sich hingrübelte, tastete die vorwitzige Hand seiner Frau unter ihrer Decke zu ihm hinüber. Zielstrebig wanderten ihre unartigen Finger an seinen Rippen entlang tiefer und ließen ihn alle weiteren Gedanken zügig verdrängen. Nachher… er würde bestimmt daran denken… Später müsste er… aber dann vergaß er erst mal alles.

Den restlichen Tag über beobachtete Henry sie jedoch mit Argusaugen. Wie auch ihre irische Wolfshündin Áine, so begleitete und observierte er sie an diesem Tag auf Schritt und Tritt. Schon beim Frühstück hatte er das Gefühl, nicht die wirkliche Charlotte Bentley am Tisch sitzen zu haben. Sie lachte und scherzte zwar mit Grenny und James, als diese sich vor ihrem Unterricht zu ihnen gesellten. Sie erzählte zwar fröhlich von ihrem neuen Projekt, ihre Schüler heute erst einmal am Strand im Sand die Buchstaben schwingen zu lassen. Aber – sie aß fast nichts! Und wer Charlie kannte, wusste, dass das für sie absolut unnormal war!

Sie kam auch lachend vom Unterricht zurück. Aber beim Lunch stocherte sie lustlos in ihren Erbsen und ihren Kartoffeln herum, sodass das Magengrummeln, das sich in ihm bereits nach dem Aufwachen angedeutet hatte, immer stärker wurde.

Nachmittags ging sie in den Stall, bewegte Gipsy und Artemis je eine halbe Stunde und longierte den kleinen Kolumbus, aber als Henry ihr zwei Erdbeertörtchen von Abby bringen wollte, entdeckte er sie schlafend in Paddys Box, die treue Áine wachsam neben sich. Das Magengrummeln wuchs sich zu einem festen Klumpen Sorge aus. Verdammt! Allmählich müsste sie doch selbst merken, dass sie so nicht weitermachen konnte!

Sie erwachte nicht einmal, als er sie auf seine Arme nahm, aus dem Stall trug und die Hündin ihnen wie ein Schatten folgte.

In der Stallgasse begegnete ihm Oakley. Auch er betrachtete seine Herrin zweifelnd. „Sollte allmählich auch kürzertreten!“, konstatierte der Stallmeister, bevor er gekonnt einen kleinen Klumpen Kautabak in die Stallgasse spuckte. Resigniert hob Henry die Augenbrauen. „Denkst du denn, ich sage ihr das nicht?! Ich rede da an eine Wand. An eine Wand aus Sturheit und Ideen, die alle noch umgesetzt werden müssen, bevor das Baby kommt.“ Gleichzeitig drückte er seine Frau jedoch noch näher an sich. „Abbys letzter Arbeitstag, was?!“, wechselte er dann das Thema, was Oakley sofort über beide Stallmeisterohren strahlen ließ. „Stimmt! Hätte mir ja auch nicht träumen lassen, dass ich noch schneller Vater werde als Ihr, Mylord!“ Er grinste breit, wobei er seine Zahnlücke blitzen ließ. „Aber Abby wird nicht immer weniger, sie wird eher mehr!“, strahlte Oakley, der darauf begeistert wilde Kurven in die Luft malte. Henry lachte leise. „Stimmt! Genieß das nur, bevor du Konkurrenz in eigener Familie bekommst, was diese Kurven anbelangt!“

Lachend verließ Henry den Stall, um Charlie in ihr Zimmer zu bringen, und hörte einen fröhlich pfeifenden Oakley in der Stallgasse verschwinden. Henry hatte nicht schlecht gestaunt, als eine kleinlaute Abby kurz nach Weihnachten in sein Büro geschlüpft war, um ihm zu beichten, schwanger zu sein. „Wer der Vater ist, brauche ich wohl nicht zu fragen!“, hatte er gutmütig gebrummt. Also wurden Köchin und Stallmeister schnellstens getraut. Parallel dazu war im Obergeschoss des Stallanbaus, der derzeit errichtet wurde, eine kleine, separate Dienstbotenwohnung am Entstehen, in der die junge Familie Platz finden sollte, sobald das Gebäude fertiggestellt sein würde.

Im Flur lärmten ihm James und Grenny entgegen, die endlich ihre Unterrichtsstunden beendet hatten. Der zehnjährige Grenville, Charlies kleiner Bruder, kratzte sich am Kopf, während er auf seine schlafende Schwester deutete. „Wir müssen uns was einfallen lassen, Henry!“, raunte er, um sie nicht aufzuwecken. Henry murmelte seine Zustimmung. „Treffen wir uns in zehn Minuten an den Picknickflächen hinten? Ihr könntet bei Abby noch Erdbeertörtchen schnorren!“ Das ließen sich die Jungs nicht zweimal sagen und trabten eilig in Richtung Küche.

Henry aber legte seine fest schlafende Frau in ihrem Bett ab, streifte ihr liebevoll die Reitstiefel von den Füßen und bat Evie, ihr die restlichen störenden Kleidungsstücke auszuziehen. Sobald er das Zimmer verließ, hörte er, wie Áine aufs Bett sprang. Sie wusste ganz genau: Lag Henry mit im Bett, war sie darin nicht erwünscht, blieb Charlie aber alleine, so nutzte sie die Gunst der Stunde. Diese kleine Unart hatte sie sich seit Charlies schrecklichen Verbrennungen im letzten Sommer angewöhnt, und keiner schaffte es, so konsequent zu sein, ihr diese wieder abzugewöhnen.

Keine zehn Minuten später lagerten die Jungs und Henry im hinteren Kräutergarten um einen Teller Erdbeertörtchen herum, wo sie zunächst wortlos und emsig jeder ein erstes Törtchen hamsterten. „Euch ist es auch aufgefallen, dass wir Charlie bremsen müssen, oder?!“, begann Henry schließlich. Die zwei Freunde nickten unisono. Grenny kannte seine Schwester am besten: „Alleine merkt Charlie nicht, dass sie nicht mehr kann. Das gab es noch nie! Sie war immer in vollem Aktions-Modus. Ausruhen und Faulenzen war nie was für sie.“ Grenny schluckte schwer.

„Sie ist so dünn geworden! Fast durchscheinend!“ Und nachdem James diesen Satz gesagt hatte, schwemmte Angst ungehindert über Henry hinweg. Durchscheinend – wie seine Mutter vor den komplizierten Geburten seiner Brüder - und vor ihrem Tod. Oh Gott! Daran durfte er gar nicht denken! Charlie war unbesiegbar. Stark. Tapfer. Aber diese leise Stimme in seinem Hinterkopf verhöhnte ihn: „Bei Geburten bringt dir das gar nichts! Da kann auch einfach so etwas schiefgehen. Und sie ist schon so schwach…“ Henry schloss die Augen. Alles konnte das Schicksal von ihm wollen, aber nicht, dass er diese Frau hergeben musste.

Eine kleinere Hand legte sich auf seine große. „Henry, können wir nicht Georgie bitten, zu uns zu kommen? Ich weiß, dass Charlie sich langfristig nach einer richtigen Lehrerin für die Schule umsehen möchte, aber jetzt, als Übergangslösung…? Meinst du nicht, Georgie könnte das übernehmen? Sie liebt Cornwall. Und Charlie würde niemandem so gerne Vertrauen schenken wie unserer großen Schwester!“ Weshalb war er denn nicht von selbst auf diese Idee gekommen?! Seine Schwester Georgie! Alleinstehend, liebevoll, hilfsbereit. Und – eine von Charlies engsten Vertrauten seit dem letzten Jahr. Yes! Das würde funktionieren!

„James! Das ist großartig! Ich schreibe ihr gleich nachher und bitte sie um ihre Hilfe!“ Erleichtert, eine erste mögliche Lösung für die derzeit prekäre Situation gefunden zu haben, stürzten sie sich auf die restlichen Kuchenteilchen und brachten Abby auf dem Teller später nur ein paar Krümel in die Küche zurück. Dort wartete diesmal jedoch eine lächelnde Madame Fontaine. „‘abt Ihr eine Unterschied gemerkt, mes enfants? Diese Mal ‘abe ich die Tortelettes gebacken..!“ Grenny strahlte. „Genau so unglaublich lecker wie immer, Madame Fontaine.“ Die kleine Französin strahlte. „Abby ‘at mir alle Rezepte gegeben, n’est-ce pas?! Auch die Pasteten, dunkle Brote… Ihr werdet keine Difference wahrnehmen!“ Damit verschwanden die Jungs mit einem fröhlichen: „Wir freuen uns aufs Dinner!“, um hastig in Richtung Stall zu wuseln.

Montag, 13. Mai 1816, London

Puh, war das gestern wieder langweilig gewesen! Lady Georgiana Campbell gähnte ausgiebig hinter vorgehaltener Hand und überlegte, welche Ausrede ihr ein Fernbleiben vom Frühstückstisch ermöglichen würde. Dummerweise fiel ihr keine einzige ein. Also wackelte sie zum Wachwerden mal mit den Zehen und streckte einen unter der Decke hervor in die kalte Luft des Zimmers. Eilig zog sie den Fuß wieder zurück. Es war Mai und wieso – verflixt nochmal – fühlte es sich in diesem alten Kasten immer noch so an, als wäre man mitten im Winter?! Tatsächlich hatte es gestern geschneit! Am 12. Mai! Als wäre man mitten im Winter!

Die Tür öffnete sich, denn Molly steckte ihren Kopf herein. Als sie erkannte, dass Georgie bereits wach war, huschte sie vollends zur Tür herein und zog diese geräuschvoll hinter sich zu. „Guten Morgen, Mylady!“, tönte sie gut gelaunt. Georgie stöhnte leise. „Gut wäre er, wenn ich beim Aufstehen nicht durch meine eigenen Atemwölkchen hindurchtauchen müsste, wenn mein Zähneklappern das Geschirr nicht in den Vitrinen erzittern und die Gänsehaut an meinem Körper nicht pickelartige Erhebungen wuchern ließe“, brummte Georgie und seufzte resigniert.

„Euer Vater ist bereits wach und erwartet Euch bestimmt in Kürze im Frühstücksraum“, versuchte es Molly nochmals. Diesmal gab ihre Herrin auch nach und schlug die Decke zurück. „Nun gut! Ich sehe schon, dass ich keine Möglichkeit habe, heute den Tag im Bett zu verbringen!“ Bibbernd hastete sie zur frisch aufgefüllten Waschschüssel, wo sie sich mit ihrer Morgentoilette beeilte.

Es war bereits kurz vor elf Uhr. Georgie wusste, dass ihr Vater ungehalten werden würde, wenn sie ihn zu lange warten ließe. Sie seufzte noch einmal. Abgrundtief.

Nur Phoebe und sie lebten noch hier mit im Stadthaus ihres Vaters, das mit zwanzig Schlafzimmern, Ballsaal und allem Komfort zwar eine prächtige Residenz darstellte, eigentlich für eine so kleine Restfamilie aber völlig überdimensioniert war.

Von Molly ließ sie sich nur in ein einfaches Tageskleid helfen. Heute würde sie nichts Pompöses anziehen müssen, denn beim gestrigen Musikabend hatte keiner der anwesenden Herren auch nur ansatzweise Interesse an ihrer kleinen, vorlauten Schwester bekundet. Also waren auch keine Besuche zu erwarten.

Phoebe und der Duke warteten bereits im Frühstücksraum, als Georgie sich beeilte zu grüßen und Platz zu nehmen. „Puh, Georgie! War das ein langweiliger Musikabend gestern. Was steht denn diese Woche sonst noch auf dem Programm?“, wollte ihre unternehmungslustige Schwester wissen, die sich ein Brötchen aus dem Brotkorb angelte. Georgie runzelte nachdenklich die Stirn. „Nun, da ist morgen Abend die Soirée bei Florence im Stadthaus.“ Ihre Schwester verdrehte genervt die Augen. „Müssen wir da wirklich hin? Lady Florence Morton ist die anstrengendste Klatschbase ganz Londons.“ Georgie zog indigniert die Augenbrauen hoch. „Eine Zeit lang war sie fast meine beste Freundin.“ Doch Phoebe schnaubte nur. „Eine Zeit lang warst du auch wirklich ein wenig langweilig, Georgie.“ Nun räusperte sich der Duke ziemlich vernehmlich. „Phoebe, du versuchst, bitte, deinen Ton zu mäßigen. Deine Schwester hat für euch alle so Vieles aufgegeben und sich selbst mit ihren eigenen Ansprüchen komplett zurückgenommen.“ Drohend schoben sich seine Augenbrauen dicht zusammen. „Noch heute… wer hat es gestern auf sich genommen, den langweiligsten Musikabend der Welt über sich ergehen zu lassen?!“ Phoebe schluckte. „Genau! Halt dich zurück, jüngste Tochter, mit irgendwelchen Anschuldigungen und Demütigungen, die du deiner Schwester entgegenschleuderst. Georgiana hat es nicht im Geringsten nötig, dich durch deine Saison zu begleiten und sich durch diese nervtötenden Bälle, Empfänge, Soireen und Musikabende zu quälen.“

Zerknirscht sah Phoebe zwischen ihrem Vater und Georgiana hin und her. „Entschuldigung! So böse war das auch nicht gemeint. Außerdem muss sie wegen mir nicht weiter Anstandsdame spielen, ich brauche gar keine Saison.“ Da kicherte Georgie plötzlich los. „Aber ganz unrecht hat Phoebe mit ihrer Einschätzung von Florence auch nicht, Pa. Sie ist wirklich ein laufendes Klatschblatt!“ Vergnügt frühstückten sie weiter, bis Franton auf dem Tablett die Post hereinbrachte. Ein Stapel geschäftliche Briefe ging an ihren Vater, Phoebe erhielt zwei Einladungen zu gesellschaftlichen Anlässen und sie selbst konnte sich über einen Brief freuen. Strahlend blickte sie auf den Absender. Ihr gegenüber seufzte Phoebe laut auf. „Das einzig interessante Schriftstück hat Georgie erhalten. Ich erkenne es genau. Das ist Post von Henry.“ Ihre große Schwester lächelte nur und erbrach freudig das Siegel.

Liebe Georgie!

Hoffentlich geht es euch in London bestens - trotz Phoebes langweiliger, endloser Saison und trotz dieses Frühjahrs, das sich wie eine Verlängerung des Winters anfühlt. Ich habe das dumpfe Gefühl, noch nie eine solch lange Heizperiode erlebt zu haben.

Immer wieder sprechen wir von euch und erinnern uns voller Freude an die Hochzeit, aber auch an deinen letzten Besuch an Weihnachten.

Den Jungs geht es hervorragend - Mister Walker ist voll des Lobes. Sie lernen gut und sind super motiviert! Richte Vater aus, dass es wirklich eine gute Entscheidung war, ihnen noch etwas mehr Kindheit zu gönnen.

James ist ziemlich gewachsen, er braucht eigentlich lauter neue Anzüge, meinte aber großzügig, wir sollten erst mal nur kurze Hosen organisieren, den Sommer über habe er nicht vor, was anderes zu tragen! Bei diesen Temperaturen! Brrr!

Charlie ist aktiv wie immer. Das ist auch der Grund, weshalb ich voller Sorge an dich schreibe. Trotz der Ermahnungen von Gwyn Ferris, sich mehr Erholungspausen zu gönnen, findet Charlotte nicht in ruhigeres Fahrwasser. Sie verliert ihren Appetit und isst nur noch wie ein Vögelchen. Und das bei Charlie! Sie wirkt schrecklich dünn und ist uns schon mehrfach irgendwo einfach eingeschlafen.

Dennoch lässt sie sich weder vom Unterrichten abhalten noch vom Pferdetraining. Meine Appelle verhallen alle ungehört. Und du kennst mich: Ich habe so gar keine Chance, mich gegen sie durchzusetzen.

Ich will nicht lange um mein eigentliches Anliegen herumreden: Georgie – könntest du dir vorstellen, den Sommer über herzukommen und den Unterricht zu übernehmen? Es wäre noch bis Mitte Juni, danach wird eine längere Erntepause eingelegt, damit die Kinder zu Hause mithelfen können. Bis zur Geburt wäre es aber trotzdem wundervoll, wenn du zur Unterstützung bleiben könntest. Du wärst uns hier eine wahnsinnige Hilfe, denn niemandem würde Charlie die Kinder bis zum Sommer so gerne anvertrauen wie dir.

„Neufundland“ wartet!

Hoffend auf deine Zusage verbleibe ich

Dein Henry

Erschrocken blickte Georgie von Henrys Schreiben auf. Charlie übernahm sich! Oh Hilfe, wenn dem Baby oder ihrer Freundin etwas zustoßen würde! Sie konnte Henrys Angst aus jeder Zeile herauslesen. Natürlich würde sie nach Cornwall fahren! Sofort! Am besten schon gestern!

„Ich muss meine Sachen packen!“, flüsterte sie und schluckte hart, bevor sie ihren Stuhl zurückschob, um eilig das Zimmer zu verlassen. Phoebe und der Duke sahen sich nur wortlos an, fischten sich den Brief von Georgies Platz und überflogen gemeinsam das Schreiben. Der Duke war bleich geworden. Niemand konnte nachvollziehen wie er, welche Ängste eine solche Schwangerschaft auch in den Vätern auslöste. Eilig stand er auf. „Ich sage Tony Bescheid, dass er alles für eine unverzügliche Abfahrt vorbereiten soll. Und ich depeschiere an Henry, dass Georgie sich so schnell wie möglich auf den Weg macht.“ Auch Phoebe war aufgesprungen. „Ich fahre auch mit. Wer weiß, es wird auf jeden Fall spannender dort werden als hier während der Saison. Und vielleicht kann ich Charlie und Henry ja auch eine Hilfe sein! Vor allem mit den Pferden!“ Zerstreut nickte Vincent Campbell, während er sich auf den Weg zu seinem Kutscher und dem Schreibpult begab.

Freitag, 17. Mai 1816, Cairn House

Sorgenvoll furchte Harold Tremayne seine Stirn. Charlie hatte ihm Donald vorbeigeschickt und gebeten, nach Abby zu sehen, da diese bereits Wehen verspüre. Der Stallknecht und engste Vertraute Oakleys war mit so erschrockenem Gesicht auf seiner Türschwelle aufgetaucht, dass der Arzt das Mittagessen halb aufgegessen samt einer entrüsteten Miss Carpenter zurückgelassen hatte. Eilig hatte er sich aufs Pferd geschwungen, um zielstrebig nach Cairn House zu galoppieren.

Dort hatte ihm ein ahnungslos vor sich hingrinsender Oakley die Zügel abgenommen, der sich pfeifend an die Arbeit gemacht hatte, Harolds alten Wallach „Principal“ zu versorgen. Seit er mit Abby verheiratet war, schien Oakley alles noch leichter und lockerer von der Hand zu gehen. Der Stallmeister wirkte durch und durch glücklich.

Besorgt überquerte Harold den Hof, um an die Türe zu klopfen. Thomas, der Butler, öffnete wie von Zauberhand. „Dr. Tremayne!“, grüßte er erleichtert. „Abby ist oben in ihrem Zimmer. Ich führe Euch direkt zu ihr.“ Oben, an der Balustrade der gewundenen Treppe, erschien Charlies blasses Gesicht. „Harold!“, freute sie sich, während sie die Treppe hinuntereilte. Er erschrak. Himmel, wie dünn Charlie geworden war! Zwar wölbte der Babybauch sich überdeutlich unter ihrem Kleid, doch alles andere schien zerbrechlich geworden zu sein. Um Charlies graue, freche Augen lagen dunkle Schatten, doch an Lebhaftigkeit hatten sie nichts eingebüßt. „Wie gut, dass du so schnell kommen konntest! Abby fühlt sich heute gar nicht wohl.“ Harold eilte neben der Freundin die Stufen empor und blickte sie warm an. „Hast du Gwyn Ferris schon benachrichtigt?“ Charlie nickte. „Sofort, nachdem Abby mir von ihren Problemen berichtet hatte. James und Grenny haben sich auf den Weg zu ihr gemacht. Ich hoffe, sie ist zu Hause, dann müssten die Jungs mit ihr auch bald hier eintreffen.“

Nebeneinander folgten sie dem Korridor, von wo aus sie die Dienstbotentreppe ins zweite Obergeschoss nahmen. Niedergeschlagen blickte Charlie auf den mit Teppichen ausgelegten Boden. „Ich habe Oakley noch nichts erzählt und alle anderen gebeten, es auch noch nicht zu tun!“ Harold nickte knapp. „Das habe ich mir fast gedacht, er kam mir pfeifend und bester Laune entgegen.“ Abrupt hielt der Arzt in der Bewegung inne, als Charlie ihn am Ärmel festhielt. „Ich mache mir solche Sorgen. Seit einigen Tagen wirkt sie so aufgedunsen. Und – Harold – sie klagt ständig über Durst. Völlig außerhalb des Normalen!“ „Ich sehe mir das alles an, den Rest muss Gwyn wissen.“ Beunruhigt fuhr er sich durch die Haare. „Ist jemand bei ihr?“ Charlie lächelte. „Mrs. Fox, die gute Seele. Ist jemand krank, weicht sie nicht von seiner Seite! Sie ist die Beste!“ „Ich sehe, was ich tun kann. Und Charlie – danach müssen WIR beide uns mal unterhalten! Lauf ja nicht weg!“ Ergeben nickte das Mädchen, bevor der Arzt sich umwandte und im Dienstbotenzimmer verschwand.

Besorgt betrachtete Harold Abbys runde Gestalt auf dem Bett, obwohl er nach außen hin versuchte, unbeschwert zu wirken. „Guten Tag, die Damen!“, grüßte er gut gelaunt, während er an Abbys Bett trat. „Was macht uns denn heute Beschwerden, Abby, dass ich so gar keine Chance auf deine leckeren Erdbeertörtchen habe?“ Abby kicherte leise. „So schlimm ist es gar nicht! Und Lady Charlotte macht sich bestimmt ganz umsonst solche Sorgen!“ „Dann mal raus mit der Sprache!“ Geduldig hörte er Abbys Beschreibung der Beschwerden zu. Füße und Finger waren dick angeschwollen, die sonst so tatkräftige Köchin wirkte heute vor allem matt, ausgelaugt und aufgedunsen. „Und dann ständig dieser Durst! Nachts – ich muss ja sowieso ständig raus – aber nun muss ich jedes Mal auch noch eine Menge trinken. Und ständig habe ich Kopfschmerzen!“

In diesem Moment schwang die Zimmertüre auf, weil Gwyn Ferris hereinrauschte. Die junge Hebamme ließ ihren Blick sofort über ihre Patientin wandern und blickte erst dann den Arzt an. „Harold!“, äußerte sie knapp, bevor sie sich direkt der werdenden Mutter zuwandte. „Abby! Meine Güte, du jagst mir vielleicht einen Schrecken ein!“

Gemeinsam hörten sie sich nochmals die Aufzählung der Beschwerden an, dann zog Harold sich nach draußen zurück, damit die Hebamme Abby ungestört untersuchen konnte.

Er hatte von einer Häufung dieser Beschwerden durchaus schon gehört. Vor allem auch bei älteren Müttern, die ihr erstes Kind erwarteten. Auf dem Flur tigerte eine nervöse Charlotte auf und ab. „Kannst du unten im Salon auf mich warten, Charlie? Ich würde mich hier noch gerne mit Gwyn beraten.“ „Ja, du hast Recht! Ich lasse uns Tee richten.“ Und Charlie verschwand nach unten.

Müde lehnte sich der Arzt an die Wand im Korridor, wo er seine Tasche abstellte. Die letzte Woche war anstrengend gewesen. Es hatte einen Kutschenunfall am Klippenpfad gegeben, nach welchem er drei Verletzte hatte behandeln müssen: Platzwunden, zwei Knochenbrüche, aber auch eine Kopfverletzung. Hätte ihm vor zehn Jahren jemand weisgemacht, dass er einmal als Landarzt enden würde, der alle Formen der Behandlung in seinem Repertoire vorrätig haben musste, so hätte er ihm den Vogel gezeigt. Aber eigentlich war er froh über die Wendung, die sein Leben genommen hatte. So nah und andauernd an einem Patientenstamm dran zu sein, ermöglichte tiefere Bindungen und Beziehungen. Er lächelte. Auch die Freundschaft zu Henry und Charlie war eigentlich erst aus einigen Behandlungen in der Familie entstanden. Und nun trafen sie sich mindestens wöchentlich, spielten zusammen Whist oder Schach, aßen gemeinsam und diskutierten sich die Köpfe heiß über die politische Situation. Freunde eben!

Es dauerte nicht lange, bis die Hebamme aus Abbys Zimmer trat. Als sie Harold auf dem Gang warten sah, schloss sie hastig die Türe hinter sich. „Das gefällt mir nicht!“, flüsterte sie. Harold nickte. „Mir auch nicht. Ganz und gar nicht!“ „Ich habe ihr strikte Bettruhe befohlen, aber ich weiß nicht, ob das die Wehen noch bremsen kann. Das Kind liegt schon enorm tief im Becken“, informierte Gwyn den Mediziner. „Und diese trockene Haut… dieser Durst… Es gibt einige Frauen, bei denen genau diese Kombination von Symptomen zu wirklichen Komplikationen führt. Sie hat auch zu viel zugenommen. Ich habe sie gebeten, sich beim Essen etwas zu mäßigen.“ Sie seufzte, Harold auch. „Ganz im Gegensatz zu Charlie!“, brummte er. Gwyn schüttelte erbost das Haupt. „Ich rede mir den Mund fusselig, dass sie kürzertreten muss! Aber nein, Lady Charlotte fährt ihr Programm wie immer.“ Harold lachte. „Wenn sie Programm fahren würde, wie all die anderen adligen Damen… aufstehen gegen Mittag… Tee trinken… und abends einem Konzert lauschen. Aber diese spezielle Dame ackert vom Morgengrauen bis zum Dinner.“ Während sie die Treppe hinabstiegen, hörten sie durch das offene Fenster im Treppenhaus Kutschräder auf dem Kies des Vorplatzes knirschen und gleich darauf die aufgeregten Stimmen der Jungs. Wer auch immer da angekommen war, er wurde sehnlichst erwartet.

Obwohl sie die Strecke von London eigentlich in Rekordzeit zurückgelegt und sich auch kaum Pausen gegönnt hatten, hatte sich der Weg diesmal endlos angefühlt. Und es war kalt gewesen in der Kutsche – verdammt kalt! Wollte es dieses Jahr überhaupt noch warm werden? Eingemummelt in Decken, vor sich hinbibbernd hatten die Stunden sich zäh gezogen wie alter Haferbrei. Georgie hatte das Gefühl gehabt, jede Stunde, die Charlie sich noch überanstrengen würde, könnte die eine Stunde zu viel gewesen sein. Aufgeregt hatte sie sich seit heute Morgen die Nase am Fenster plattgedrückt. Je bekannter ihr die Landschaft vorgekommen, je rauer die Küste geworden war, desto heller strahlte ihr Gesicht. Phoebe musterte ihre Schwester neugierig. „Du bist ja schrecklich gerne hier!“, lachte sie, als Georgie verzückt in die Hände klatschte und hauchte: „Da ist schon die Schmiede bei Carbis.“

Endlich bogen sie vom Klippenpfad in Richtung Cairn House ab. Als sie den frisch renovierten, „alten Schafstall“ passierten, erhaschte Georgie einen kurzen Blick auf das Gebäude, das nun in neuem Glanz erstrahlte. Gleich darauf erreichte die Kutsche den Hof, sie hörten aufgeregtes Gebell und die übermütigen Stimmen der Jungen, bevor der Verschlag rasant aufgerissen wurde, wo sich rechts und links der Trittstufen die beiden Jungen postiert hatten. In der Mitte wartete schwanzwedelnd und hechelnd Áine.

„Georgie!“, schrie James. Dann noch lauter: „Phoebe! Ihr seid sogar beide gekommen!“ Grenville hüpfte aufgeregt von einem Bein aufs andere.

Phoebe grinste. „Dachte, ich muss mal nach diesem kleinen, nervigen Bruder sehen – und nach dem nervigen großen!“ Freundschaftlich wuschelte sie James durchs Haar, dann grinste sie Grenville an. „Grenny! Lange nicht gesehen!“ Suchend blickte sie sich um. „Wo ist Henry?“ „Der musste heute dringend zum nördlichen Schafstall und ist da auch schon eine ganze Weile. Es ist irgendeine ansteckende Krankheit unter den Tieren ausgebrochen.“ Erschrocken blickten die Damen sich an.

In diesem Moment trat Gwyn Ferris aus dem Haus. Lächelnd begrüßte sie Georgie und streichelte Áine ausgiebig. Grenny strahlte die Hebamme an. „Dass wir Áine von Euch bekommen haben, das war das Allerbeste!“ Die Hebamme streichelte weiter. „Sie hat sich zu einer tollen Hündin entwickelt. Und dabei war sie anfangs so ein frecher, kleiner Welpe.“ Ernst blickte sie alle an. „Ich bitte inständig darum, Lady Charlotte in ihrem Handlungsdrang zu bremsen. Sie muss sich viel mehr Ruhe gönnen!“ „Deswegen sind wir ja da!“, lächelte Georgie, worauf die Hebamme zufrieden nickte. „Ich komme morgen wieder“. Damit verschwand sie im Stall.

Georgie freute sich, als Thomas aus dem Portal trat. „Willkommen auf Cairn House! „Neufundland“ ist für Euch und Eure Zofe Molly vorbereitet!“ Erfreut klatschte Georgie in die Hände! „Und Lady Phoebe darf sich auf das „Portugiesische Zimmer“ freuen.“ Während Tony zunächst das Gepäck ablud, verteilten die Jungs die Kisten und Koffer auf die richtigen Zimmer, dann trat Charlie mit Harold Tremayne aus dem Salon. „Oh, du meine Güte, sie sind schon angekommen!“ Begeistert flog Charlie förmlich die Treppe hinauf, sofort von Áine verfolgt. Harold schüttelte nur resigniert den Kopf: „Gerade habe ich ihr doch ins Gewissen geredet… jetzt rennt sie schon wieder weiter.“

Im selben Moment trat Henry müde durchs Portal. „Harold!“, freute er sich. Der Mediziner grinste. „Deine Frau hält nichts vom Ausruhen, irgendein wichtiger Besuch muss angekommen sein, denn sie ist mir gerade enteilt.“ Henry lachte. „Ja, ich habe Tony an der Kutsche meines Vaters bereits getroffen. Georgie und Phoebe sind angereist, um Charlie auszubremsen und ihr Arbeit abzunehmen.“ „Dem Himmel sei Dank!“, strahlte Harold, während er eine Kopfbewegung in Richtung seines Freundes andeutete. „Du siehst ziemlich fertig aus!“ Henry nickte. „Hast du kurz Zeit? Lass uns einen Tee oder einen Whisky trinken.“ „Whisky!“, stimmte Harold zu. „Tee hatte ich gerade mit deiner Frau.“ Nachdem sie gemeinsam zur Bibliothek geschlendert waren, ließen sie sich in zwei der Ohrensessel sinken, die an den riesigen Fenstern standen und den Blick in den Garten erlaubten. Früher hatte sich hier die Orangerie befunden. Da Charlies Großvater jedoch eine große Liebe zum geschriebenen Wort empfunden hatte, hatte er das Glashaus lieber in eine unglaubliche Bibliothek umbauen lassen.

Henry, der ihnen beiden großzügig eingeschenkt hatte, streckte die Beine aufseufzend von sich. Matt lehnte er den Kopf zurück. „Die Schafe der Nordweide hatten Scrapie!“, murmelte er mit geschlossenen Augen. „Wir mussten sie alle töten und die Kadaver verbrennen.“ Erschrocken keuchte Harold auf. „Du hast aber nicht…“ Doch Henry unterbrach den Freund. „Natürlich nicht! Ich habe alles von Apollons Rücken aus dreißig Metern Abstand delegiert, mich weder mit Schafen noch Menschen in direktem Kontakt befunden. Ich habe Charlie und das Baby nicht einen Moment aus dem Kopf bekommen. Der Einzige, der jetzt gefährdet ist, ist Simon Brady, der das erkrankte Schaf gefunden und untersucht hat.“ Langsam öffnete Henry die Augen wieder, dann schlürfte er genüsslich einen Schluck Whisky. „Aber wir haben sie eben alle verloren.“ Harold wiegte bedächtig den Kopf. „Du solltest mit Nicholas sprechen. Er hatte vor einigen Jahren auch mal Scrapie in seiner Herde.“ Einen Moment lang schwiegen sie beide, bevor Henry seinem Freund gerade in die Augen blickte. „Hast du Charlie ins Gewissen geredet?“ Harold nickte. „Wie gewünscht! Ich bin selbst auch erschrocken, wie zerbrechlich sie wirkt.“ Dann aber beugte er sich ein Stück vor. „Henry, ich mache mir aber deutlich mehr Sorgen um Abby.“ „Abby?“ Verwirrung füllte Henrys Blick, doch Harold nickte. „Deshalb bin ich eigentlich da gewesen. Charlie hat mich rufen lassen – wegen eurer Köchin! Abby hat Wehen. Sie hat Hautprobleme entwickelt. Sie ist fast vierzig. Und sie hat die letzten Wochen zu viel Gewicht zugelegt. Da stimmt etwas ganz und gar nicht! Ich fürchte – und Gwyn Ferris ist da absolut meiner Meinung - ihr müsst euch auf ziemliche Komplikationen einstellen.“ Er hielt kurz inne. „Und jemand muss es Oakley sagen, der weiß noch gar nichts davon.“ Im nächsten Moment war Henry weiß geworden wie die Wand. Himmel, nicht auch noch Abby mit Schwierigkeiten! Bei ihr hatte alles so unkompliziert gewirkt. Mühsam schluckte Henry den Kloß im Hals herunter, der sich auf einmal dort festgesetzt hatte.

In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und seine kleine Schwester Phoebe wirbelte herein. „Henry! Hier versteckst du dich! Wir sind endlich da! Meine Güte, ihr lebt hier schon im entferntesten Winkel des Königreichs!“ Lachend eilte sie auf ihn zu, nahm ihm das Whiskyglas aus der Hand und zog ihn hoch. Widerstandslos ließ Henry sich in eine Umarmung ziehen und drückte seine jüngste Schwester fest an sich. Dabei nickte er Harold über ihre Schulter zu. „Ich spreche gleich nachher mit Oakley.“ Der Freund grinste, als er sich erhob, um Phoebe zu begrüßen. Henrys Schwester war hellblond wie alle Campbell-Frauen, hatte hellblaue Augen und war mittelgroß.

Im Türrahmen tauchte nun noch Georgies schlanke Gestalt auf. Henrys ältere Schwester kannte Harold bereits flüchtig aus ihren vorigen Aufenthalten. Sie war eine kleine, zarte Person, an der alles wie bei einer kostbaren Porzellanpuppe wirkte. Sie hatte sehr helle Haut, große, blaue Guckaugen, die stets ein wenig verloren die Welt betrachteten und war schmal gebaut. Gerade leuchteten ihre Augen hell auf, als sie ihren Bruder entdeckte und auf ihn zuflog. Während er sie neben Phoebe an seine Brust zog, erhellte ein Grinsen Henrys Gesicht. „Georgie. Danke! Ihr habt ja alles stehen und liegen lassen in London!“ Ernst sah seine ältere Schwester zu ihm auf. „Natürlich! Nach deinem Brief hätte mich nichts mehr in London gehalten! Aus jeder Zeile schrie mir deine Sorge entgegen!“

Dann bemerkte sie Harold Tremayne, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. Sie lächelte vorsichtig und deutete einen Knicks an, nachdem er sich verbeugt hatte. „Dr. Tremayne! Es ist schön, Euch wiederzusehen!“ Auch Phoebe knickste brav, rief dann aber: „Ich habe mit Charlie verabredet, sie gleich in die Ställe zu begleiten und würde mich noch umziehen. Ich bitte, mich entschuldigen zu dürfen.“ Henry grinste nur. „Lauf nur! Charlie und die Jungs werden glücklich sein, dir alles zeigen zu können. Sie platzen fast vor Stolz – vor allem auch wegen des neuen Anbaus!“ Und schon war Phoebe wieder verschwunden.

Zurück blieb das etwas ernsthaftere Trio. Henry meinte: „Kannst du dir wirklich vorstellen, Charlies Unterricht zu übernehmen?“ Und seine sonst so zurückhaltende Schwester nickte lebhaft. „Ich habe mir während der Fahrt hierher einige Gedanken gemacht“, begann sie. „Ich glaube, es wäre wirklich gut, ihr die unterrichtlichen Verpflichtungen abzunehmen. Dann kann sie es morgens gemächlicher angehen lassen – und ehrlich gesagt, glaube ich, dass ich im Stall und mit den Pferden keine große Hilfe darstellen würde.“ Sie kicherte. Harold betrachtete die junge Lady erstaunt. „Ihr wollt wirklich den Unterricht der Pächterkinder übernehmen?“ Als Georgiana Campbell ihn daraufhin direkt ansah und meinte: „Ja, gerne sogar. Ich glaube, die Arbeit mit den Kindern wird mir Spaß bereiten!“, da nahm er zum ersten Mal wahr, dass deutlich mehr charakterliche Stärke in dieser kleinen Frau steckte, als er bisher vermutet hatte. Anerkennend hob er eine Augenbraue. „Ich danke Euch! Ich bin der festen Überzeugung, dass Charlie, wenn sie erst einmal eine Lösung präsentiert bekommt, jede Hilfe annehmen wird. Sie will dem Kind auf keinen Fall schaden, aber sich selbst… sich selbst verliert sie ein wenig aus den Augen.“ Georgie grinste plötzlich und wieder überraschte sie ihn. Sie schien auch schlagfertiger zu sein, als er bisher angenommen hatte, denn ihr: „Glaubt mir, ich setze immer durch, was ich will!“ passte so gar nicht zu dem Bild, das er sich von ihr gemacht hatte.

Nun grinste auch Henry. „Sieh uns doch an, uns arme Campbells: James, Phoebe und mich. Wir wurden unsere komplette Jugend hindurch von Georgie unterdrückt, manipuliert und leiden noch heute darunter!“ Harold verdrehte nur die Augen: „Bemitleidenswert! Ja! Genau dies ist der Begriff, der mir jeweils als erstes in den Sinn kommt, wenn ich dich so betrachte!“ Georgie konnte ihr fröhliches Giggeln nicht unterdrücken. „Das dachte ich schon vor 25 Jahren. Mein Vater zeigte ihn als Neugeborenen stolz herum, ich betrachtete diesen mickrigen Wurm und erkannte auf den ersten Blick: bemitleidenswert!“

Während des Schlagabtauschs hatten sie die Bibliothek verlassen, waren dem Korridor durch die Halle gefolgt und hatten den Hof überquert.

„Ich muss mich verabschieden. Mein überhasteter Abgang vom Mittagessen hat mich bei meiner Haushälterin Miss Carpenter bereits in Misskredit gebracht. Ich muss schauen, dass ich Punkte gutmache und rechtzeitig zum Dinner zurück bin.“ Henry zuckte bedauernd die Achseln. „Wann hast du am Wochenende Zeit, Harold? Wenn wir Nicholas noch einladen, können wir zwei Whistrunden einläuten.“ „Ohje, wirklich Whist? Du weißt, dass ich scheußlich unbegabt bin“, jammerte Georgiana, wobei sie die Nase in ulkige Falten zog. Harold lachte. „Wir geben Euch Charlie als Partnerin! Sie ist eigentlich unschlagbar, egal, wer ihr Mitspieler ist. Jedes Mal müssen wir diskutieren, wer mit ihr zusammenspielen darf.“ Henry lachte laut. „Tödlich ist die Kombination Grenny-Charlie. Man hat das Gefühl, die Seemannskinder haben das Tricksen mit der Muttermilch aufgesogen. Egal, wie gut dein Blatt ist, du wirst verlieren!“ „Bringst du schon wieder meinen guten Namen in Verruf, Campbell?!“, tadelte da seine Ehefrau, die aus Snowflakes Box trat. Louisas Stute war im Stall bei Charlie geblieben, nachdem Sir Thomas gesehen hatte, wie lammfromm sie nun geworden war und wie ausgeglichen. Sogleich zog Henry sie in seine Arme. „Natürlich! Irgendwann kommen wir euch Bentleys noch auf die Schliche mit euren gemeinen Kartentricks.“ „Da könnt ihr lange warten. Wir spielen einfach nur besser!“ Sie wandte sich an Harold. „Du musst dir das mit „Jupiter“ überlegen! Ich glaube wirklich, dass er genau der Richtige für dich wäre. Er entwickelt sich ganz wunderbar - willig und lernfreudig - und in vier Wochen oder so wäre er bestimmt bereit.“ Harold seufzte. „So viel Wahlmöglichkeiten habe ich gar nicht. Ich brauche ein zweites Pferd, das auch mehrere Einsätze am Tag verkraftet. Principal schafft das eigentlich nicht mehr.“ Donald brachte den fertig gesattelten Wallach des Arztes herbei und lächelte. „Danke, dass Ihr so schnell gekommen seid.“ Harold nickte. „War doch selbstverständlich! Aber gib mir noch fünf Minuten. Henry und ich würden gerne mit Oakley sprechen, bevor ich zurückreite.“ Donald nickte, lockerte den Sattelgurt etwas und meinte: „Kein Problem, der ältere Herr hier wartet auch noch ein bisschen länger.“ Charlie schlenderte mit Georgie zurück zum Haus.

Henry und der Arzt fanden Oakley mit Phoebe und den Jungs bei den Jungpferden im hinteren Stallteil. Wie üblich kaute der hellblonde Stallmeister mit den vielen Sommersprossen auf einem Stück Kautabak und grinste breit.

Henry machte nur ein bittendes Gesicht sowie eine Kopfbewegung nach draußen, worauf die Jungs und seine kleine Schwester sich verzogen. Als der Arzt und sein Arbeitgeber mit ernsten Gesichtern vor ihm standen, verging Oakley das Lachen. Verlegen kratzte er sich am Kopf. „Kann nix Gutes bedeuten, Euer Auftauchen zu zweit“, stellte er fest. „Nein, Oakley! Weißt du, weshalb Charlie Dr. Tremayne heute hat herkommen lassen?“ Oakley wurde eine Spur blasser und spuckte den Kautabak-Stumpen vollends aus. „Abby!“, antwortete er tonlos. „Ist etwas mit dem Baby?“, fragte er leise. Harold trat einen Schritt nach vorn. „Mit dem Baby ist derzeit noch alles in Ordnung, Oakley. Es ist Abby, die uns heute Sorgen macht. Gwyn Ferris war ebenfalls da und hat sie untersucht. Wir haben beide kein gutes Gefühl.“ Oakley war noch blasser geworden. „Aber… Dr. Tremayne… das kann doch gar nicht… sie sieht doch so gut aus, so …“ Harold nickte. „Ich weiß, was du meinst. Bis vor vier oder fünf Wochen schien auch uns alles in Ordnung zu sein. Aber es gibt einige Anzeichen, dass es jetzt zu schweren Komplikationen kommen könnte. Bei einigen Frauen, die schon über fünfunddreißig sind, wenn sie ihr erstes Kind bekommen, treten Probleme mit der Haut auf, sie wird schuppig und trocken. Dazu kommt, dass die Frauen unstillbaren Durst zu entwickeln scheinen und ziemlich zunehmen. Irgendwann schwellen dann die Beine und die Finger an und auch das Gesicht wirkt aufgeschwemmt.“ Oakley schluckte schwer. „Bei Abby hat der Bauch sich schon ziemlich gesenkt, sie hat auch erste Wehen bekommen.“ „Dr. Tremayne, was kann nun passieren?“ „Das Baby sollte eigentlich erst in sechs Wochen kommen. Es kann sein, dass es nun schon viel zu früh zur Welt kommt.“ Der Arzt schluckte. „Es kann sein, dass das Baby tot geboren wird. Es kann auch sein, dass Abby die Komplikationen nicht überlebt.“ Oakley schwankte leicht und Henry beeilte sich, seinen Stallmeister am Arm zu greifen, um ihn zu einem Strohballen zu führen, auf den der verwirrte, werdende Vater sich setzte. „Aber doch nicht Abby… und das Baby… Wir sind doch erst ganz am Anfang…“ Harold schluckte. „Abby hat strikte Bettruhe verordnet bekommen. Es kann sein, all das, worüber wir gesprochen haben, tritt nicht ein. Aber die Erfahrungen zeigen, dass es gefährlich werden kann, Oakley. Gwyn Ferris und ich versuchen alles, um Abby und das Baby gesundzuhalten.“ Henry räusperte sich leise. „Ich sage Sam Bescheid, dass Donald und er deinen Dienst vermehrt mit übernehmen sollen. Ich denke, dass Abby sich so alleine in eurem Zimmer oben ziemlich langweilt. Bitte nimm dir alle Zeit, die du brauchst.“ Mechanisch nickte Oakley, dann blickte er Henry bittend an. „Kann ich gleich zu ihr?“ „Natürlich! Ich sage Donald, dass du für heute fertig bist.“

Müde und wie ein alter Mann hievte sich Oakley mühsam von dem Strohballen hoch. „Am meisten ängstigt mich, dass ich gar nichts tun kann. Wir Männer können nur zusehen, nicht helfen!“, flüsterte er und schlich aus dem Stall. Harold sah der verlorenen, kleiner werdenden Gestalt des Stallmeisters nach. Verdammt, wie er diesen Teil seines Jobs hasste! Bedrückt tauschten die beiden Männer einen tiefen Blick. Harold meinte: „Mach dir wegen Charlie nicht allzu große Sorgen. Bei ihr glaube ich, dass Georgies Anwesenheit und mehr Ruhe ausreichen, um alles ins Lot zu bringen.“ Erleichtert sah Henry ihn an. „Das Thema ‚Kinder‘ macht mich nervös und unsicher.“ Henry schabte mit dem Stiefel ein paar Haferkörner über die Stallgasse, wobei er kleine Kreise auf den Boden malte. „Ich habe vier kleinere Geschwister verloren, zwei davon bei der Geburt.“ „Oh mann!“ Nun starrte Harold ebenfalls betreten zu Boden. „Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben!“ „Zum Henker! Wir beide machen uns gegenseitig ja Mut! Komm morgen Abend vorbei und lass uns ein wenig Ablenkung suchen.“ Gemächlich trotteten sie die Stallgasse nach vorne. Als sie Principal erreichten, zog Harold den Sattelgurt seines ergeben wartenden Wallaches an. „Gut, dann bis morgen Abend! Vergiss nicht, Nicholas noch einzuladen!“ „Den vergess‘ ich schon nicht. Danke für deine Zeit!“

Harold grinste. „Keine Sorge, ich stell dir das schon in Rechnung!“ Damit hob er die Hand zum Gruß, während er vom Hof trabte.

Ein zerknirschter Donald trat neben Henry. „Es sieht nicht gut aus mit Abby, oder?“ „Nein, Donald. Wenn ich es richtig verstanden habe, sieht es für Baby und Mutter schwierig aus. Wir müssen uns auf das Schlimmste vorbereiten. Sam und du, entlastet bitte Oakley die nächste Zeit, soweit es geht.“ Betreten nickte der junge Stallknecht.

An diesem Abend hatten sie sich nach dem Dinner zufrieden in den Salon begeben, wo sie zunächst einige Runden Scharade spielten. Irgendwann blickte Charlie auf die Uhr: „Jungs, auch wenn morgen Samstag ist, ist es Zeit fürs Bett. Da Henry für morgen Abend Nicholas und Harold eingeladen hat, müsst ihr für die geplanten Whistrunden morgen länger durchhalten.“ Strahlend sprangen die beiden Jungs auf. Grenny kuschelte zu seiner Schwester. „Hoffentlich kommen wir in ein Team, Charlie, dann können wir den Rest hier ausnehmen!“ Als Charlotte laut lachte, brummte Henry nur. James verabschiedete sich artig, überlegte es sich dann doch nochmal anders und nahm seine große Schwester in den Arm. „Die unterschätzen uns Campbells ganz gewaltig. Wir werden sie morgen in aller Form über die Spieltische ziehen.“ Georgiana zauste ihrem kleinen Bruder die Haare. Seit er zu Henry gezogen war, merkte man ihm an, wie gut ihm der gleichaltrige „Bruder“ Grenville tat. Sie hatte sich bei James‘ Erziehung alle erdenkliche Mühe gegeben, aber sie war selbst noch so jung und unsicher gewesen! Gerade mal neunzehn, frisch eingeführt in die Gesellschaft und schüchtern. Hier stand ein fröhlicher und deutlich selbstbewussterer James als letztes Jahr. Stolz betrachtete sie ihn. „Du weißt, dass du mit mir da die falsche Partnerin hast! Aber mit Henry im Team… vielleicht!“

Nachdem sich die Salontüre hinter den beiden Jungs geschlossen hatte, klingelte Henry nach Cathy und bestellte eine Flasche Wein und für Charlie noch einmal etwas von Madame Fontaines leckerer Erdbeerlimonade, von der sie gemeinsam mit den Jungs bereits zwei Karaffen geleert hatten.