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Genus und Geschlecht in europäischen Sprachen E-Book

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Beschreibung

Über einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch wird in Deutschland nun schon seit über 40 Jahren diskutiert. In Folge der Verbreitung gegenderter Formen (Wählende) und grascher Sonderzeichen (Dozent*in) ist der Ton der Debatte deutlich rauer geworden; die beiden ,Lager' stehen sich inzwischen nahezu unversöhnlich gegenüber und reden nicht selten aneinander vorbei. Dieser Sammelband vereint Beiträge zu elf europäischen Sprachen, in denen sprachgeschichtliche Aspekte und die gegenwärtige Debatte so wertneutral wie möglich und unter Vermeidung von Polemik behandelt werden. Ziel des Bandes ist es, Denkanstöße zum komplexen Verhältnis zwischen Genus und Geschlecht zu bieten und auf diese Weise zu einer gelasseneren und respektvolleren Debatte beizutragen. Einen Einstieg in das Thema bietet der erste Beitrag zum Gendern in der Antike; es folgen Untersuchungen zu den Sprachen Deutsch, Englisch, Niederländisch, Norwegisch, Schwedisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Russisch, Tschechisch und Finnisch.

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Seitenzahl: 778

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Vincent Balnat / Barbara Kaltz

Genus und Geschlecht in europäischen Sprachen

Geschichte und Gegenwart

DOI: https://doi.org/10.24053/9783381123025

 

© 2025 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 2569-2275

ISBN 978-3-381-12301-8 (Print)

ISBN 978-3-381-12303-2 (ePub)

Inhalt

Vorwort der HerausgeberBibliographieVor 2500 Jahren: Gendern, das „generische Maskulinum“ und die Entdeckung des grammatischen Geschlechts1 Einleitung2 Gendern auf Avestisch2.1 Zarathustra als Religionsstifter2.2 Die Texte des Avesta2.3 Zur Stellung der Frau im Avesta2.4 Weitere Erwähnungen von Frauen im Avesta2.5 Frauen in Zarathustras „Gemeinde“3 Dürfen Frauen opfern? Rituale und das Problem des „generischen Maskulinums“3.1 Das Opfer im Veda3.2 Die Diskussion im Werk „Pūrva Mīmāṃsa Sutras“ (PMS)3.3 Das „generische Maskulinum“ als „Ermächtigung“ von Frauen3.4 Die grammatische Kategorie Genus im alten Indien4 Die Entdeckung der Kategorie „Genus“4.1 Die Wolken des Aristophanes4.2 Aristophanes und Protagoras4.3 Sprachrichtigkeit im Sinne von Protagoras4.4 Zur weiteren Entwicklung des Genus-Begriffs4.5 Die römische Tradition5 SchlussbemerkungBibliographiePrimärliteraturSekundärliteraturGenderlinguistik und deutsche Sprachgeschichte1 Einleitung2 Entstehung des indoeuropäischen Genussystems3 Diachrone Wahrnehmung von Genus und Sexus4 Geschlechtsübergreifendes Maskulinum5 Femininmovierung mit -in6 Indefinitpronomen man7 Resümee: Desiderata und Möglichkeiten der historischen GenderlinguistikBibliographieGendern im Deutschen: Aktuelle Forschungsfragen und das inhärente Positionierungspotenzial genderbezogener Personenreferenzen1 Einleitung2 Die sprachliche Konstruktion von Gender und Genderindifferenz: doing bzw. undoing gender in Bezug auf Personenbezeichnungen3 Personenreferenzen im Deutschen: das sogenannte „generische Maskulinum“4 Gendern in der Alltagspraxis: Fragen und Forschungsdefizite5 Facetten einer metapragmatischen Positionierung: zur Kontextualisierungskraft genderbezogener PersonenreferenzenBibliographieGendern in Österreich: Aktuelle Strategien und öffentliche Debatten1 Einleitung2 Strategien und Empfehlungen zum gendergerechten Sprachgebrauch in Österreich3 Genderzeichen im Sprachgebrauch4 Zur Diskussion um das Binnen-I und den Genderstern in Österreich4.1 Mehrheitstopos4.2 Ideologietopos4.3 Topos der Natürlichkeit und Ästhetik von Sprache4.4 Gendern ist kompliziert und macht Texte unleserlich4.5 Topos der sprachlichen Normalität4.6 Abbildung der Realität5 FazitBibliographieDiskussionen über geschlechtergerechte Sprache in der Deutschschweiz1 Zur Sprachsituation in der (Deutsch-)Schweiz2 Feministische Sprachkritik innerhalb und außerhalb der Universität3 In der Schweiz gab es bis in die 1990er Jahre keine Frauen4 Erste Regelungen zur sprachlichen Gleichbehandlung und politische Reaktionen5 Leitfaden der Schweizerischen Bundeskanzlei6 Intensivierung der politischen Diskussion um Genderzeichen7 Besonderheiten der geschlechtergerechten Sprache in der Deutschschweiz7.1 Das Binnen-I – eine Erfindung des Deutschschweizer Feminismus?7.2 Das Fräulein lebt etwas länger7.3 Neutrale Frauen- und Verwandtschaftsnamen im Dialekt8 SchlussbemerkungenBibliographieQuellenGeschlechtergerechte Sprache in den Schweizer Landessprachen Französisch, Italienisch und Romanisch1 Einleitung2 Allgemeines3 Sprachpolitik: die Schweiz als viersprachiges, föderales Land3.1 Grundlagen der Sprachenpolitik3.2 Geschlechtergerechte Sprache als Politikum auf Landesebene4 In den Landesteilen4.1 Französisch4.2 Italienisch4.3 Rätoromanisch5 FazitBibliographieEpicene references in British English before second-wave feminism: A diachronic perspective1 Introduction2 The weight of tradition in perpetuating male-biased descriptions of Modern English gender2.1 So-called natural gender and the prevalence of sex-based distinctions2.2 From “natural” gender to the notion of the masculine as “worthier”3 Consequences for epicene references to humans3.1 Records of actual usage3.2 Proscription of they in grammars from the 18th century3.3 The 1850 Act for shortening the Language used in Acts of Parliament3.4 The long path towards solving the problem of he in grammars and usage books4 Gender-marking morphology on nouns5 ConclusionBibliographyGender-inclusive language debates in the UK: From feminist to trans linguistics1 Introduction2 Problematising “natural” gender3 The relative success of gender-inclusive language in the UK3.1 Grammatical gender: The fall of generic he and the rise of singular they3.2 Lexical gender: The demise of generic man and feminine suffixes3.3 Semantic gender: the modest success of Ms and Mx4 From non-sexist language to gender-neutral language5 Language authorities in the UK6 Recent debates6.1 Asymmetrical language use: Sir vs Miss & the Lions vs the Lionesses6.2 The woman question6.3 Non-binary pronouns and the pronoun round7 ConclusionBibliographyGendern im Niederländischen: „m/v/x“1 Einleitung2 Gendermarkierung im Niederländischen2.1 Grammatisches Geschlecht2.2 Pronomina2.3 Rollen, Berufe und Funktionen3 Die gesellschaftliche Debatte3.1 Die zweite feministische Welle: Genderneutralität vs. Genderinklusivität3.2 Neu erwachtes Interesse an der Genderfrage4 Bestandsaufnahme: Wo werden welche Strategien angewendet?4.1 Sprachpolitik (der Sprachunion)4.2 Behörden, Instanzen und Printmedien5 FazitBibliographieGender in Norwegian: Gendered Language Structures and Language Reform1 Introduction2 Categories of genderLexical genderSocial genderReferential genderGrammatical gender3 Gendered language structuresAgreement4 Psycholinguistic evidence on the comprehension of Norwegian personal nouns5 Language reform6 ConclusionBibliographyGendern im Schwedischen: Sprachsystematische, gebrauchsbezogene und metapragmatische Aspekte1 Einleitung2 Sprachsystematische Grundlagen: Genus und Gendern im Schwedischen3 Möglichkeiten des Genderns im gegenwärtigen Schwedisch3.1 Gendern und Personenbezeichnungen3.2 Gendern bei attributiven Adjektiven und bei Pronomina4 Metapragmatische Perspektiven4.1 Metapragmatik im Kontext queerer Sprachkritik4.2 Der Fall hen und seine Rezeption in der schwedischen Öffentlichkeit5 Fazit und AusblickBibliographieZur Maskulinisierung des Französischen aus sprachgeschichtlicher Sicht1 Einleitung2 Maskulinum versus Neutrum: zur Geschichte einer erfolgreichen Übernahme2.1 Zu den Anfängen des Niedergangs2.2 Zur weiteren Ausbreitung der maskulinen Personalpronomina2.3 Zum Ende der Kategorie Neutrum2.4 Wie die Vorstellung vom Maskulinum als dem ‚edleren Genus‘ entstand2.5 Zum endgültigen Wandel3 Maskulinum versus Femininum … oder: der unaufhaltsame Aufstieg des ‚edleren Genus‘3.1 Zu den Anfängen dieser Entwicklung3.2 Zum Dogma von der Kongruenz im Maskulinum Plural3.3 Benennung geschlechtergemischter Gruppen: im Maskulinum!3.4 Der Kampf gegen die femininen Bezeichnungen für prestigeträchtige Tätigkeiten3.5 Der Kampf gegen das Pronomen la3.6 Zum Bedeutungsumfang des Wortes homme3.7 Weitere Sprachregelungen zugunsten der Dominanz des männlichen Geschlechts4 Zur Langlebigkeit des überlieferten Sprachgebrauchs4.1 Bezeichnungen für Frauen, die traditionell Männern vorbehaltene Tätigkeiten ausübten4.2 ‚Gleichberechtigung‘ bei der Kongruenz4.3 Homme5 SchlussbemerkungenBibliographie„Monsieur LA députée, si vous continuez à m’appeler Madame LE ministre …“1 Einleitung2 Zum Ausdruck von Geschlecht im Französischen2.1 Berufs- und Amtsbezeichnungen2.2 Syntax und Rechtschreibung2.3 Von der Feminisierung zu einem nichtbinären Sprachgebrauch3 Zur aktuellen Verbreitung der écriture inclusive3.1 Wer hat hier das Sagen?3.2 Politik und Behörden3.3 Hochschulwesen4 Zusammenfassung und AusblickBibliographieZur Genderfrage im gegenwärtigen Italienisch1 Zu den Anfängen der Diskussion über die Genderproblematik in Italien2 Über nicht-sexistische Sprache in Italien: Alma Sabatini und ihr Werk Il sessismo nella lingua italianaGrammatische AsymmetrienSemantische Asymmetrien3 Reaktionen auf die Vorschläge für einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch im Italienischen3.1 Im Bereich der Linguistik3.2 Presse und Fernsehen3.3 Institutionen3.4 Schulwesen4 Inklusiver Sprachgebrauch im ItalienischenBibliographieGenus und Geschlecht in der Sprachbeschreibung des Spanischen (16.–21. Jahrhundert)1 Einleitung2 Von einer grammatischen zu einer ideologisch begründeten Konzeption des Genus3 Heteronyme (oder die geschlechtliche Ordnung der Welt)4 Das Heteronymenpaar padre y madre: zur biologischen und sozialen Dimension des Ausdrucks von Geschlecht5 SchlussbemerkungenBibliographieGendergerechte Kommunikation im gegenwärtigen Spanisch1 Zum gegenwärtigen Stand der Debatte in der Wissenschaft2 Zur Bewertung der geschlechtergerechten Kommunikation in der Sprachgemeinschaft3 Institutionelle sprachpolitische Maßnahmen zugunsten eines geschlechtergerechten Sprachgebrauchs4 Sprachliche Ressourcen für eine geschlechtergerechte Kommunikation5 SchlussfolgerungenBibliographieGenus und Sexus im Russischen1 Genus im Sprachsystem1.1 Grammatisches Geschlecht (Genus) und biologisches Geschlecht (Sexus)1.2 Genus und Personenbezeichnungen1.3 Weiblichkeit und ihre Ausdrucksmittel2 Historische Entwicklung2.1 Von den Anfängen bis zum 19. Jh.2.2 Entwicklungen im 20. Jh.3 Zur gegenwärtigen Lage3.1 Aktuelle Diskussion in der Sprachwissenschaft3.2 Pro und Contra in der öffentlichen Diskussion3.3 Umsetzung des Genderns3.4 Gebrauch in den Medien4 FazitBibliographieGendern im Tschechischen1 Einleitung2 Geschlecht im Tschechischen und das Konzept des generischen Maskulinums3 Empfehlungen zum Gendern im Tschechischen3.1 Beidnennung (w, m) und Mehrnennung (w, m, divers)3.2 Umgehung des Maskulinums, Umformulierung durch direkte Rede3.3 Neutralisierung mit Metonymien3.4 Konkretisierung durch Namen, Anzahl der Mädchen und Jungen, Frauen und Männer3.5 Epikoina3.6 Kollektiva3.7 Substantivierte Partizipien; attributiv gebrauchte Adjektive3.8 Umschreibung3.9 Geschlechtsstereotypie im öffentlichen Sprachgebrauch3.10 Nichtbinäre Identitäten im Sprachusus4 Inklusive Sprache aus der Sicht der bohemistischen Institute in Tschechien4.1 Das ÚJČ4.2 Das ÚČJTK5 Inklusiver Sprachgebrauch in Publikationen tschechischer AutorInnen5.1 Artikel in bohemistischen Periodika und Sammelbänden5.2 Handbücher für Grammatik und Sprachgebrauch6 Fazit und AusblickBibliographieGendern und Gleichstellungspolitik in Finnland1 Einleitung2 Geschichte und Gesellschaft Finnlands im Überblick3 Merkmale der finnischen Sprache3.1 Allgemeines3.2 Genus3.3 Pronomina3.4 Movierung3.5 Generisches Maskulinum4 Diskurse, Entwicklungen und Tendenzen4.1 Umgang mit dem generischen Maskulinum4.2 Das finnische Echo auf die Debatten über geschlechtsneutrale Pronomina in anderen Sprachen4.3 Die hän-Kampagne4.4 Aktuelle gesellschaftliche Situation5 ZusammenfassungBibliographieVerzeichnis der Autorinnen und Autoren

Vorwort der Herausgeber

„Hat es sich bald ausgegendert?“ So lautet der Titel eines ausführlichen Berichts zur gegenwärtigen Lage der Debatte um die geschlechter- bzw. gendergerechte Sprachverwendung (‚Gendern‘)1 im SPIEGEL-Magazin vom 28. Juli 2024 (Maxwill/Mingels 2024). Die beiden Verfasser kommen zu dem Schluss, dass sich in Deutschland allmählich ein geschlechtsneutraler Sprachgebrauch durchsetzt, der Gebrauch von Sonderzeichen zurückgeht und das geschlechtsübergreifende Maskulinum deutlich weniger verwendet wird. Dass angesichts dieser Entwicklungen ein baldiges Ende der Genderdebatte in Sicht sein könnte, halten wir allerdings für mehr als fraglich.

In Deutschland wird nun seit mehr als vier Jahrzehnten über eine geschlechtergerechte Sprachverwendung diskutiert, und die Debatte hat sich in den letzten Jahren zunehmend verschärft.2 Umstritten sind nicht nur die Verwendung des Maskulinums zur Bezeichnung von Frauen bzw. geschlechtsgemischten Gruppen und der Einsatz nicht lexikalisierter genderneutral verwendeter Partizipialkonstruktionen (Radfahrende für Radfahrer, Wählende für Wähler).3 Vor allem über die Sonderzeichen im Wortinneren (Genderstern, Doppelpunkt,4 Schrägstrich, Unterstrich) sind lebhafte Kontroversen entbrannt; deren Gebrauch hat sich inzwischen nicht nur an Universitäten und Schulen, sondern auch in den Medien, im Internet und in der Verwaltung verbreitet.5

Wie in der Diskussion anderer gesellschaftlich und politisch relevanter Themen (Klimawandel, Zuwanderung, Impfpflicht, Krieg in der Ukraine …) ist in den letzten Jahren auch in der Genderdebatte der Ton deutlich rauer geworden. Die Argumentation von Gegnern und Befürwortern ist vielfach ideologisch überfrachtet, und es mangelt auf beiden Seiten an Bereitschaft, der Gegenseite erst einmal zuzuhören und sich ernsthaft mit ihren Argumenten auseinanderzusetzen. Manche Vertreter einer gendergerechten Sprache werfen ihren Kontrahenten Unwissen, mangelnde Empathie und eine insgesamt ‚rückständige‘ Haltung vor, die u. a. darauf zurückzuführen sei, dass die „alten weißen Männer“ „auf dem Sockel [ihr]er Privilegien hocken und niemandem wirklich zuhören, außer anderen alten weißen Männern“ (Park 2017). Gegner des Genderns sprechen von „Sprach- und Kulturverfall“ und warnen vor dem „Gender-Wahn“6 und einer „Sprachpolizei“, die keine Mittel scheue, ihren eigenen Sprachgebrauch der gesamten Sprachgemeinschaft von „oben“ aufzudrängen.

Auffallend ist der häufige Rekurs auf die Kriegsmetaphorik auf beiden Seiten: In diesem „Kulturkampf um die deutsche Sprache“ (Bohr et al. 2021),7 scherzhaft auch „Star Wars“ (Ritter 2023) oder „Krieg der Stern*innen“ (Bender/Eppelsheim 2021) genannt, stehen eine „Gender-Front“ und eine „Anti-Gender-Front“ einander gegenüber und werfen sich gegenseitig ideologische Verblendung vor. Über Anti-Gender-Bürgerinitiativen wird in den Medien derzeit öfter berichtet, so über die Hamburger Volksinitiative „Schluss mit Gendersprache in Verwaltung und Bildung“ (2023), auf die Genderbefürworter übrigens mit der Initiative „Die Mitgemeinten“ reagiert haben (Pommerenke/Scheper 2023; Fromm 2023).

Diese Spaltung ist auch in der politischen Debatte greifbar. Während die Grünen, die Linke und, etwas zurückhaltender, auch die SPD dem Gendern grundsätzlich aufgeschlossen gegenüberstehen, setzen sich AfD,8 CDU/CSU und FDP vor allem für das Verbot von Genderzeichen in Verwaltung und Bildung ein. In mehreren Bundesländern (Sachsen, Sachsen-Anhalt,9 Schleswig-Holstein und Bayern; vgl. Maxwill/Mingels 2024: 35) ist deren Gebrauch an Schulen inzwischen untersagt.10 Zur Begründung dieser Verbote wird von Politikern gern auf die Stellungnahmen des (übernationalen) Rats für deutsche Rechtschreibung verwiesen. Tatsächlich äußert sich der Rechtschreibrat eher ausgewogen zum Gendern; so heißt es in der Stellungnahme im Anschluss an die Sitzung vom 15.12.2023, dass „allen Menschen mit geschlechtergerechter Sprache begegnet werden soll“ und dass diese „gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Aufgabe […] nicht mit orthografischen Regeln und Änderungen der Rechtschreibung gelöst werden kann“.11 An den Schulen wird allmählich deutlich, dass das Genderverbot in der Praxis nur schwer durchzusetzen ist; die Lage in den Hochschulen, an denen Persönlichkeitsrechte und Wissenschaftsfreiheit zentrale Werte sind (vgl. Breyton 2023), ist durch eine „allgemeine Rechtsunsicherheit“ gekennzeichnet (Thiel 2023).12

Wie die Journalistin Lara Ritter zutreffend bemerkt, ist die Polarisierung der Debatte auf verschiedene Auffassungen von Sprache zurückzuführen:

Dass es bei diesem Hin und Her blieb, lag daran, dass beide Seiten zwar von derselben Sache sprachen (der Sprache!), aber etwas anderes meinten: Die eine Seite ein Machtinstrument, die andere Seite ein nützliches Alltagswerkzeug. Dementsprechend befand erstere Seite das Schulterzucken letzterer für maximal ignorant, letztere die Forderungen ersterer für maximal nervig. Und weil beide davon ausgingen, dass beide dasselbe meinten, gab es noch weniger Verständnis für die jeweils andere Seite. Vorwürfe der „Gewaltausübung“ und „Diskriminierung“ wurden gegen Vorwürfe des „Zwangs“ in Stellung gebracht. (Ritter 2023)

Angesichts dieser verfahrenen Situation ist es an der Zeit, sich ernsthaft um einen Dialog zu bemühen, in dem auch altbekannte Argumente – einschließlich der eigenen – hinterfragt werden müssen. Unser Sammelband soll einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass das komplexe Verhältnis von Genus und Geschlecht in der Sprache endlich mit mehr Distanz und weniger Voreingenommenheit in den Blick genommen wird. In den neunzehn Beiträgen in- und ausländischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden der gegenwärtige Umgang mit dem geschlechtergerechten Sprachgebrauch und die sprach- und kulturgeschichtliche Entwicklung des Phänomens in elf ausgewählten Sprachen Europas untersucht. Die germanischen Sprachen sind mit dem Deutschen (in Deutschland, Österreich und der Schweiz), Englischen, Niederländischen, Norwegischen und Schwedischen vertreten, die romanischen mit Französisch, Italienisch und Spanisch, die slawischen mit Russisch und Tschechisch, und mit dem Finnischen ist auch eine nicht-indoeuropäische Sprache berücksichtigt. Dieser sprachübergreifende Ansatz ist im Übrigen nicht neu; bereits vor vierzig Jahren erschien der Sammelband Sprachwandel und feministische Sprachpolitik: Internationale Perspektiven (Hellinger 1985), in dem „unter feministisch-linguistischer Perspektive“ (1985: 3) sieben europäische Sprachen (Deutsch, Niederländisch, Dänisch, Norwegisch, Spanisch, Italienisch und Griechisch) beleuchtet werden. Weiter verfolgt wurde dieser Ansatz in dem vierbändigen Werk Gender Across Languages: The Linguistic Representation of Women and Men (Hellinger/Bußmann 2001–2015); in den – sämtlich englischsprachigen – Beiträgen werden sprachsystematische Aspekte und soziokulturelle Faktoren für nicht weniger als 42 Sprachen behandelt. Der Schwerpunkt beider Publikationen liegt auf der Beschreibung der damaligen Sprach(gebrauchs)zustände.13

Wir haben alle Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bands darum gebeten, die Thematik so wertfrei und unvoreingenommen wie möglich zu behandeln und von polemischen Aussagen und persönlichen Stellungnahmen abzusehen; ob und ggf. in welcher Form sie in ihren Beiträgen ‚gendern‘ wollten, blieb ihnen überlassen. Neben international auf dem Gebiet der Genderlinguistik ausgewiesenen Sprachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern sind auch Nachwuchswissenschaftler vertreten; ihre Mitwirkung war uns angesichts der gerade für die jüngeren Generationen großen Bedeutung des Themas ein besonderes Anliegen.

Einen lehrreichen Einstieg in die Thematik des Sammelbands bietet der Beitrag „Vor 2500 Jahren: Gendern, das ‚generische Maskulinum‘ und die Entdeckung des grammatischen Geschlechts“, der den Lesern und Leserinnen vor Augen führt, dass diese Fragen mitnichten so „neu“ sind, wie viele meinen. Es folgen Beiträge zur sprachgeschichtlichen Dimension und zum gegenwärtigen Umgang mit dem Gendern in den ausgewählten europäischen Sprachen; im Fall des Deutschen, Französischen, Englischen und Spanischen sind diese Aspekte in separaten Beiträgen dargestellt; für die anderen Sprachen ist die Gewichtung der beiden Dimensionen unterschiedlich ausgefallen. Um die Behandlung des Themas durch unsere Beiträgerinnen und Beiträger nicht über Gebühr einzuschränken und unterschiedliche Forschungstraditionen14 nicht von vornherein auszuschließen, wurde bewusst kein theoretischer Rahmen vorgegeben. Bei der redaktionellen Bearbeitung der einzelnen Artikel wurde jedoch auf eine gewisse konzeptuelle Vereinheitlichung geachtet, speziell im Hinblick auf die grundlegende Unterscheidung von biologischem (Sexus), grammatischem (Genus) und sozialem Geschlecht (Gender).15

Wir haben uns dafür entschieden, sämtliche Aufsätze (mit Ausnahme derjenigen zum Englischen und Norwegischen) in deutscher Sprache zu veröffentlichen; damit soll auch ein (bescheidener) Beitrag zum Erhalt des Deutschen als Wissenschaftssprache geleistet werden. Alle in anderen Sprachen verfassten Aufsätze wurden ins Deutsche übersetzt: Die Übersetzung des sprachgeschichtlichen Beitrags zum Französischen, der beiden Aufsätze zum Spanischen und des Beitrags zum Italienischen hat Barbara Kaltz übernommen, und Roland Duhamel hat den Beitrag zum Niederländischen ins Deutsche übertragen.

Der Rückblick auf die Sprachgeschichte der hier behandelten Sprachen führt uns besonders deutlich vor Augen, dass Überlegungen zum komplexen Verhältnis von Sexus und Genus und zur generischen Funktion des Maskulinums schon seit der Antike angestellt werden und auf welche Weise die sprachnormierenden Werke der Grammatiker und Lexikografen der Frühen Neuzeit zu einer asymmetrischen Darstellung der Geschlechter zuungunsten der Frau beigetragen haben. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass alle hier untersuchten Sprachen Möglichkeiten zur Verfügung stellen, um explizit auf Frauen zu referieren. So zeichnen sich das Französische und Russische durch zahlreiche Movierungssuffixe aus (fr. -e, -euse, -esse, -ière, -trice usw.; russ. -к(а), -иц(а), -ниц(а), -их(а) usw.), im Englischen gibt es neben wenigen Suffixen (-ette, -ess) auch feminisierte Komposita (woman golfer), und selbst das genuslose Finnisch hat einige (wenn auch selten verwendete) Movierungssuffixe (-tar, -tär).

Weiter zeigt sich, dass Mittel zur Geschlechtsneutralisierung (Abstrakta, substantivierte Partizipien, Reformulierungen und/oder neuartige Endungen und Pronomina) in allen hier vertretenen Sprachen vorhanden sind und Feminisierungs- bzw. Neutralisierungsstrategien schon seit Langem von anderen Sprachen übernommen werden. So hat das Russische im 18. Jh. das niederdeutsche Suffix -sche (-ш(а)) übernommen und im 19. Jh. einige Feminina aus dem Französischen, Deutschen und Italienischen entlehnt. Sprachkontakte spielen nach wie vor eine wichtige Rolle, etwa bei der Übernahme von Frauenbezeichnungen aus dem Englischen (dt. Model, russ. блогерка ‚Bloggerin‘) oder der Suche nach geschlechtsneutralen Pronomina (Einfluss von finn. hän auf schwed. hen bzw. von engl. they auf derartige Pronomina im Niederländischen und Norwegischen).

Schließlich muss aus sprachgeschichtlicher Sicht doch nachdenklich stimmen, dass Formen wie das Partizip I Studierende, die an deutschen Hochschulen neben Studenten im 19. Jh. durchaus gebräuchlich waren, auch von manchen Wissenschaftlern als nicht ‚systemgerecht‘ und ‚unschön‘ abgelehnt werden.16 Ähnlich sind zahlreiche suffigierte feminine Berufsbezeichnungen im gegenwärtigen Französisch abwertend konnotiert, nachdem die Grammatiker und Lexikografen des 17. und 18. Jh. deren – bis dato völlig wertneutralen – Gebrauch verworfen hatten. Dass solche Entwicklungen umkehrbar sind, zeigt die gegenwärtige Akzeptanz feminisierter Amts- bzw. Berufsbezeichnungen wie première ministre und maîtresse de conférences. Auch im Russischen, wo zahlreiche Feminitive infolge ihrer Verdrängung durch den generischen Gebrauch des Maskulinums seit den 1930er Jahren abwertend konnotiert sind (агентка ‚Agentin‘, секретарша ‚Sekretärin‘), entstehen heute wertneutrale Bildungen zur Bezeichnung neuer Phänomene (лайфхакерша ‚Lifehackerin‘), namentlich im Sprachgebrauch der jungen Generation.

Die Genderfrage gibt gegenwärtig in all diesen Sprachen Anlass zu Diskussionen und Kontroversen, die andernorts in der Regel jedoch gelassener verlaufen als in Deutschland. So zeigen die Beiträge zum Englischen, Norwegischen, Schwedischen und Niederländischen, dass der Umgang mit dem Gendern in den jeweiligen Ländern wenig problematisch ist. Dies gilt auch für die offiziellen Landessprachen in der Schweiz, wo pragmatische, anwendungspraktische Aspekte im Vordergrund stehen. Die Romania bietet ein heterogenes Bild: Während die Académie française und die Real Academia Española sich entschieden für den Gebrauch des Maskulinums als eines geeigneten Mittels sprachlicher Inklusion und ebenso deutlich gegen nichtbinäre Schreibungen und Pronomina aussprechen, zeigen die Accademia della Crusca und die politischen Institutionen in Italien sich grundsätzlich offen gegenüber Bestrebungen für eine gendergerechte Sprache. Den Einfluss von Sprachpolitik und Ideologie auf den Umgang mit dem Gendern illustrieren besonders eindringlich die Beiträge zum Tschechischen und Russischen: In Tschechien wurden Fragestellungen der feministischen Linguistik bis 1989 völlig ignoriert, und im heutigen Russland, wo das Gendern unlängst in Zusammenhang mit der kriminalisierten LGBTQ-Bewegung gebracht wurde (vgl. Chevtaeva 2024; Vitkine 2024), gibt es von sprachwissenschaftlicher Seite kaum Überlegungen zu einem nichtbinären Sprachgebrauch.

Unser Dank gilt zunächst Prof. Dr. em. Hans-Joachim Solms (Halle) für die Anregung, einen Sammelband zur Genderthematik in europäischen Sprachen zu konzipieren, in dem der sprachvergleichende Ansatz mit einer sprachgeschichtlichen Perspektive verbunden wird; seine Überzeugung, der Blick in die Sprachgeschichte könne zu einer Versachlichung der Debatte beitragen, teilen wir. Weiter danken wir allen Autorinnen und Autoren für ihre Mitwirkung an diesem Band und den durchgängig kollegialen Austausch im Zusammenhang mit der redaktionellen Bearbeitung der Beiträge. Ein ganz besonderer Dank geht an Florian Gieseler (Halle), der sich professionell, sehr engagiert und geduldig um die Formatierung des gesamten Manuskripts gekümmert und uns des Öfteren auf redaktionelle Ungereimtheiten aufmerksam gemacht hat. Und nicht zuletzt danken wir Tillmann Bub vom Narr Francke Attempto Verlag für die effiziente Betreuung bei der Endredaktion und dem Vorstand der Stiftung deutsche Sprache (Berlin) für die Förderung unseres Vorhabens mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss.

 

Vincent Balnat und Barbara Kaltz

Bibliographie

Vor 2500 Jahren:

Gendern, das „generische Maskulinum“ und die Entdeckung des grammatischen Geschlechts

Gerhard Meiser

Zusammenfassung: Gendern, generisches Maskulinum und unsere Terminologie für die Bezeichnung des grammatischen Geschlechts berühren sämtlich das Verhältnis von „natürlichem“ und „grammatischem“ Geschlecht. Die nachstehenden Ausführungen zeigen anhand von drei Texten bzw. Textgruppen – den heiligen Schriften der Zarathustrier, einem altindischen Kommentar zum Rigveda und einer altgriechischen Komödie des Dichters Aristophanes – auf, wie solche Fragen bereits vor mehr als 2000 Jahren theoretisch diskutiert oder praktisch bearbeitet wurden.

Schlüsselbegriffe: Genus und Sexus, grammatikalische Terminologie, Avesta, Rigveda, altgriechische Komödie, Sophistik, Aristophanes, Aristoteles, Varro, Zarathustra

1Einleitung

In der heftigen Diskussion, die heute um das „Gendern“1 geführt wird, bleibt häufig außer Acht, dass es sich dabei keineswegs um ein ausschließlich modernes Phänomen handelt. Einzelbelege reichen im Deutschen bis ins späte Mittelalter zurück.2 Tatsächlich aber finden sich sehr viel frühere Zeugnisse: bereits in der Zeit vor (wenigstens) etwa zweieinhalbtausend Jahren. Und die Texte, in denen die Beispiele auftreten, sind in dieser Hinsicht wesentlich konsistenter als die isolierten Beispiele aus der deutschen Sprachgeschichte. Diesen Texten ist der erste Teil des nachstehenden Artikels gewidmet.

Eng verknüpft mit dem Thema „Gendern“ ist die Diskussion um das „generische Maskulinum“. Es geht dabei, kurz gesagt, um die Frage, ob Frauen sich mitgemeint fühlen können, wenn ausschließlich die grammatikalische Form des Maskulinums gebraucht wird. Auch diese Frage ist bereits vor mehr als 2000 Jahren, und zwar in Indien, erörtert worden; hierum geht es im zweiten Abschnitt.

Wann und wie aber ist nun die grammatische Kategorie „Genus“ in unsere abendländische Grammatiktradition gekommen? Dies wird im dritten Teil der folgenden Ausführungen behandelt.

2Gendern auf Avestisch

Die frühesten Zeugnisse in einer indoeuropäischen Sprache (und vielleicht weltweit) für das Gendern kommen aus einer Region, in der man sie aus heutiger Perspektive wohl am allerwenigsten erwarten würde: aus Afghanistan und den nördlich angrenzenden Gebieten. Dort wurden und werden seit jeher iranische, also indoeuropäische Sprachen wie etwa Paschtu gesprochen. In einer altiranischen Sprache, deren lebendiger Gebrauch vor mindestens 2000 Jahren ausgestorben sein dürfte, ist das „Avesta“, das Corpus der heiligen Schriften der Zarathustrier, verfasst. In Ermangelung irgendeiner anderen schlüssigen Bezeichnungsweise wird diese Sprache heute allgemein als „Avestisch“ bezeichnet. Da mit dem Avestischen und seiner Literatur nur wenige Fachleute befasst sind, mögen hier zum besseren Verständnis einige Vorbemerkungen folgen, die eine erste Einbettung der nachstehend zitierten, uns doch zunächst recht fremdartig erscheinenden Textzeilen erlauben.

2.1Zarathustra als Religionsstifter

Wann Zarathustra gelebt und gewirkt hat, ist durchaus unklar. Die Spannweite der Schätzungen reicht vom ausgehenden zweiten vorchristlichen Jahrtausend (etwa ab 1100 v. Chr.) bis in die erste Hälfte des ersten Jahrtausends (558 v. Chr.).1 In jedem Falle aber ist ihm die Stiftung einer neuen Religion zuzurechnen, die weitgehend (Zarathustras Intention wäre wohl gewesen: vollständig) mit den überkommenen Glaubensvorstellungen bricht: Die alten Daevas – Götter – werden nunmehr zu einer Klasse von teuflischen Dämonen, deren schlimmster die Drug2 ‚Lüge‘ ist. Der alleinige Gott ist nunmehr Ahura Mazdā [‚HERR Weisheit‘], dem in der Hierarchie religiöser Verehrung eine Reihe weiterer höherer Wesen unterstellt sind. Jedoch verraten schon ihre Namen, dass ihnen jede vermenschlichende Dimension fehlt, wie wir sie etwa bei den lebensprallen griechischen Gottheiten vom Schlage eines Zeus oder einer Aphrodite finden. Zu diesen Aməṣ̌a Spəṇtas (‚Heilvollen Unsterblichen‘; Narten 1986: 70) gehören außer Ahura Mazdā selbst etwa Vohu Manah ‚Gutes Denken‘, Aša Vahišta ‚Bestes Recht‘, Xšaθra Vairiia ‚Wünschenswerte Herrschaft‘, Spəṇta Ārmaiti ‚Heilvolle Rechtgesinntheit‘, Hauruuatāt ‚Unversehrtheit‘ und Amərətāt ‚Unsterblichkeit‘. Im Laufe der Zeit werden diese Wesen personifiziert. So heißt es im Vīdēvdāt (s. u.): Nach dem Tode bei der Ankunft der Seele im Himmel „erhebt sich das Gute Denken von seinem aus Gold gefertigten Thron, es verkündet das Gute Denken …“.3 Dieser Vorgang bleibt übrigens nicht ohne Folgen für die Grammatik: ārmaiti- ‚Rechtgesinntheit‘, hauruuatāt ‚Unversehrtheit‘ und amərətāt ‚Unsterblichkeit‘ sind als Appellativa Feminina und werden in der Personifikation demgemäß zu Göttinnen. Hingegen sind die übrigen – manah- ‚Denken‘, aṣ̌a- ‚Recht‘, xšaθra- ‚Herrschaft‘ – als Appellativa Neutra. Durch die Personifikation werden sie jedoch als Götter, als männliche Wesen mithin konzipiert, da nun einmal Personen, seien sie menschlicher oder göttlicher Natur, in der Auffassung des Avesta nur als Frauen oder Männer denkbar sind. Und so heißt es denn in dem „yeŋ̇hē-hātąm-Gebet“, das sowohl in der Liturgie des Yasna wie auch innerhalb der Hymnen (Yašts) am Ende der einzelnen Abschnitte weit über hundert Male gesprochen wird, in Bezug auf die Aməša Spəṇtas:4

‚In der Verehrung welches (männlichen Wesens)5 von denen, die es gibt, Ahura Mazdā nun gemäß der Wahrheit das Bessere weiß, und (in der Verehrung) welcher (weiblichen) Wesen, diese (männlichen) und diese (weiblichen Wesen) verehren wir‘6.

Eine weitere Kategorie vergöttlichter Personifikationen stellen die Fravaṣ̌is dar. Ursprünglich bezeichnet das Wort die individuelle „Wahlentscheidung“7 der Anhängerin oder des Anhängers von Zarathustra für die zarathustrische Religion. Hierauf bezieht sich etwa Yasna Haptaŋhāiti (YH; s. u.) 37,3:

‚Ihn (Ahura Mazdā) verehren wir in den Wahlentscheidungen der Wahrhaften, der Männer und Frauen‘8.

Diese Wahlentscheidung – als solche verehrungswürdig – wandelt sich letztlich „zur Vorstellung von einem eigenen unsterblichen Wesen, das dem Gläubigen zugehört und ihm beisteht – Fravaṣ̌i als ‚Schutzgeist‘, eine der religiösen Grundeinstellung des Individuums entsprechende ‚Schutzmacht‘“.9 Als „Schutzengel“ haben die Fravaṣ̌is weibliches Geschlecht, schützen aber natürlich auch Männer. Einer der großen Hymnen, der Fravardīn-Yasht10 (Yt 13), ist ihnen gewidmet.

In Bezug auf göttliche Wesen wird also im Avesta in aller Regel gegendert!

Im Reich der persischen Großkönige hatte sich Zarathustras Religion wohl durchgesetzt.11 In der auf die griechische Eroberung durch Alexander (seit 334 v. Chr.) folgenden „Dunkelzeit“12 geriet sie in Bedrängnis. Nach der Gründung des neuen persischen Reiches der sassanidischen Könige (224 n. Chr.) wurde sie zur Staatsreligion erhoben, es wurden die heiligen Schriften gesammelt und – unter Beibehaltung der ursprünglichen Sprachform – in die für uns heute greifbare Gestalt gebracht. Eine neuerliche Katastrophe für den Zoroastrismus stellte die Eroberung Persiens durch die Araber 642 n. Chr. und die Durchsetzung des Islams dar. Der Umfang des heutigen Avesta-Corpus beträgt gemäß einheimischer Überlieferung etwa ein Viertel dessen, was zur Sassanidenzeit vorhanden war. Heutzutage lebt Zarathustras Stiftung in der Religion der Parsen fort, deren eines Zentrum sich im südostiranischen Yazd, das andere im indischen Mumbay befindet. In neuerer Zeit findet der Zoroastrismus gerade bei jüngeren Iranern Interesse als ein eigenes kulturelles Erbe aus vorislamischer Zeit (vgl. Hermann 2019).

2.3Zur Stellung der Frau im Avesta

Bemerkenswert ist, welche Stellung der Frau im Avesta eingeräumt wird. Kuiper (1978: 35) führt hierzu aus:

Since the new religion must, like the older one, primarily have been an affair of men, it is striking that Zarasthustra’s Urgemeinde seems from the beginning to have also been open to women. In Zarathustra’s Gathas, it is true, only once, amidst references to many men who supported the prophet, mention is made of women as supporters, Cf. 46.10:

yəֿ vā mōi nā gənā vā mazdā ahurā/dāyāt̰ aŋhəֿuš yā tū vōistā vahištā

„Who, indeed, be it man or woman, O wise Lord, may give (?) me those things which Thou knowest best“ (the stanza further only refers to these people in the masculine plural). In Y. 53, which cannot have been composed by Zarathustra, there are the well-known references to girls […] and the direct address in 6 iθā ī haiθyā narō aθā jə̄nayō „thus these things are true, O men, and also ye women“. Except in these places, however, women are as rule not specificially mentioned. Zarathustra refers to „the soul of the truthful man“ (45.7 aṣ̌aonō urvā, 49.10 urunascā aṣ̌āunąm, cf. Vend. [Vd] 19.30) and in the Later Avesta aṣ̌aonąm … fravaṣ̌ayō [„die Fravaṣ̌is der aṣ̌ahaften [Männer]“] is formulaic, e.g. in the Fravardīn Yasht. Curiously, both formulas occur in the Yasna Hapaŋhāiti [s. o., G.M.] in an extended form, with /narąm nāirinąmca/ [‚der Männer und der Frauen‘] added. See YH 39.2 (cf. Yt. 13.154) and 37.3. Only at the end of the Fravardīn Yasht (Yt. 13.143–145), after the list of pious women which is probably a later interpolation (Lommel 1927, 111), do we find the doubled formula narąm aṣ̌aonąm fravaṣ̌ayō … nāirinąm aṣ̌aoninąm fravaṣ̌ayō [‚die Fravashis der aṣ̌ahaften Männer … die Fravashis der aṣ̌ahaften Frauen‘]. Later additions are no doubt Y. 13.149, Y. 1.16 aṣ̌aoninąmca (cf. Y. 27.2) [„und der aṣ̌ahaften (Frauen)“] and Y. 1.6 γənąnąmca (in aṣ̌āunąm fravaṣ̌inąm γənąnąmca [‚der aṣ̌ahaften Fravaṣ̌is und der Frauen‘]). The older formulas, however, must silently have presupposed the presence of women.

2.5Frauen in Zarathustras „Gemeinde“

Selbstredend wird im Avesta nicht durchweg gegendert – den hier ausgehobenen Stellen stehen Aberdutzende gegenüber, an denen Frauen nicht erwähnt und vielfach auch nicht mitgemeint sind. Gleichwohl ist die immer wieder explizite Erwähnung von Männern und Frauen bemerkenswert, umso mehr, als beiden Geschlechtern sowohl die Fähigkeit zur „Guten Herrschaft“ (s. o. Bsp. 4) als auch zur Verkündigung der zarathustrischen Lehre zugesprochen wird (s. o. Bsp. 15). Letzteres bedeutet freilich nicht die Zulassung von Frauen zum Priesteramt – nirgendwo ist in den Texten des Avesta von Priesterinnen die Rede. Jedoch stand, wie Kuiper schreibt (s. o. Kap. 2.3), „Zarathustras Urgemeinde von Anfang an auch für Frauen offen“. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren; offenkundig hatte jedoch Zarathustra selbst eine in seiner Zeit keineswegs übliche Haltung gegenüber Frauen eingenommen. Es mag in diesem Zusammenhang nicht ohne Bedeutung sein, dass als einzigem von seinen Kindern, die er gemäß der Überlieferung hatte,1 nur seiner jüngsten Tochter Pouručistā ein eigener Hymnus in den Gāthās gewidmet ist, vielleicht von ihrem Vater selbst gedichtet (s. o. Anm. 16).

3Dürfen Frauen opfern? Rituale und das Problem des „generischen Maskulinums“

3.1Das Opfer im Veda

Das älteste Textcorpus des alten Indien stellen die vier Veden dar, deren altertümlichster und wichtigster der Rigveda (RV) ist. Er besteht aus einer Sammlung von 1028 Hymnen, die zwischen 1500 und 500 v. Chr. entstanden. Verfasst in altindischer Sprache, einer Vorstufe der klassischen indischen Sprache Sanskrit, wurden diese Hymnen jahrhundertelang mithilfe ausgefeilter Memoriertechniken ausschließlich mündlich überliefert. Als geoffenbartes heiliges „Wissen“1 sind sie inhaltlich von großer Vielfalt. In jedem Falle aber spielen Vorgaben und Regelungen für die vielen Opfer eine große Rolle, die an die zahlreichen Götter des altindischen Pantheons zu vollziehen sind. Als Opfernde treten hierbei durchweg Männer auf:

‚Diese beiden preiset bei den Opfern, verherrlichet [die Götter] Indra und Agni, ihr Männer; besinget sie in Sangesliedern‘2 (RV 1, 21,2).

‚Welch ansehnlichen löblichen Lohn die Uṣas’ für den dienstbereiten Opferer bringen […]‘3 (RV 1, 112,20).

Frauen werden nur dann erwähnt, wenn sie im Rahmen bestimmter Riten für den Hausstand gemeinsam mit dem Ehemann das Opfer vollziehen:

‚Wenn die beiden Ehegatten einträchtig (Soma4) auspressen und umschütteln (und) mit der notwendigen Milch (mischen), o Götter,/Dann empfangen sie die für die Pünktlichen bestimmten (Belohnungen)‘5 (RV 8, 315,5f.).

Für viele würde heutzutage die Darbringung des Opfers als eine lästige Pflicht erscheinen. Doch im alten Indien hängt davon viel ab: Glück, Erfolg, Wohlstand, Gesundheit, das Wohl des Landes, die Aussicht auf einen Sieg in der Schlacht usw., nicht zuletzt die Aussicht auf ein Fortleben nach dem Tode – „im Himmel“. Hatten Frauen also einen eigenständigen Anspruch auf solche „Belohnungen“ oder nicht?

3.2Die Diskussion im Werk „Pūrva Mīmāṃsa Sutras“ (PMS)

Solche und ähnliche Fragen werden im PMS diskutiert, einer Art philosophisch-juristischem Kommentar zu den Veden. Das Werk wurde zwischen 300 und 200 v. Chr. von Jaimini verfasst und stellt eines der Hauptwerke der altindischen Philosophie dar. Die „Reflexionen über die ersten (Teile der Veden)“ – dies die Bedeutung von Pūrva Mīmāṃsa – sind im „Sutra-Stil“ gehalten, bestehen also aus Sutras,1 d. h. Merksätzen, die oft bis zur Unverständlichkeit verknappt sind und eines Kommentars bedürfen, um überhaupt verständlich zu werden – der bedeutendste Kommentator des PMS ist Shābara, dessen Erläuterungen im Folgenden mit „Komm.“ eingeführt werden. Zur hier interessierenden Thematik führen die Sutras im ersten Kapitel des VI. Buches des PMS Folgendes aus:2

Sutra 4: ‚Weil der Lohn einer Handlung erwünscht ist, deshalb sind alle berechtigt, sie durchzuführen‘.

Komm.: ‚Der Opponent sagt, dass der Lohn einer Handlung das von Menschen gewünschte Objekt ist; somit kann niemand davon ausgeschlossen werden. Jeder Mensch ist dazu berechtigt. Der Himmel ist das höchste Gut; alle Personen, die ihn ersehnen, sind berechtigt, das Opfer durchzuführen, um ihn zu erlangen.‘3

Sutra 6: ‚Die Ansicht von Pratishāyana ist, dass nur ein Mann dazu berechtigt ist, weil ein bestimmtes Genus genannt wird‘.

Komm.: ‚Der Opponent im Sinne der Beweiskraft von Pratishāyanas Ansicht sagt, dass nur ein Mann berechtigt ist zu opfern, weil im Veda das maskuline Genus genannt wird.‘4

Sutra 8: ‚Andererseits ist die Ansicht von Vādarāyaṇa, dass sich (das Genus) unterschiedslos auf eine Klasse bezieht; deshalb ist die Frau auch eingeschlossen: das Element der Klasse hat keine Unterscheidung (von anderen).‘5

Sutra 9: ‚Da (das Opfer) angeordnet ist, soll es nach den Regeln des Veda durchgeführt werden‘.6

3.3Das „generische Maskulinum“ als „Ermächtigung“ von Frauen

Die Frage, ob das Opfer von Frauen vollzogen werden darf (außerhalb der wenigen Fälle, in denen dies der Rigveda ausdrücklich vorsieht, s. o. Bsp. 18), hängt also u.a.1 davon ab, ob das im Veda verwendete Genus masculinum „spezifisch“ oder „generisch“ gemeint ist. Jaimini entscheidet sich – wie (22) zeigt – für Letzteres, wodurch das PMS auch Frauen den Zugang zum Opfer eröffnet. Während die Diskussion heute darum kreist, inwieweit Frauen bei Verwendung des „generischen Maskulinums“ mitgemeint sind bzw. sich fühlen können, konstatiert das PMS, dass die Verwendung des maskulinen Genus in vedischen Regelungen zum Opfer gerade nicht „spezifisch“, sondern „generisch“ zu verstehen sei und sich deshalb auch auf Frauen bezöge: Frauen sind mitgemeint und somit opferberechtigt! Man mag dies als einen kleinen Schritt zur Gleichstellung der Frauen in Angelegenheiten des Rituals interpretieren.

3.4Die grammatische Kategorie Genus im alten Indien

Zu Zeiten, als Jaimini sein Werk verfasste, war die Genuskategorie in der Grammatik der altindischen Sprache längst etabliert, sie findet sich bereits bei dem genialen Grammatiker Pāṇini, der um 450 oder 350 v. Chr. gelebt und eine vollständige Beschreibung der altindischen Grammatik1 in 3.959 Sutras verfasst hat, gegenüber deren hochverdichteter Form sich Jaiminis Stil geradezu geschwätzig ausnimmt. Für die Bezeichnung der drei Genera verwendet er die Termini puṃs- ‚Mann‘, strī- ‚Frau‘ und napuṃsaka- ‚Eunuch‘, wodurch deutlich wird, „dass die Sprecher altindogermanischer Sprachen ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ als inhaltliche Hauptmotivation der Genussysteme ihrer Sprachen verstanden haben […]“ (Litscher 2018: 4, Anm. 6).

4Die Entdeckung der Kategorie „Genus“

Vielleicht in die Lebenszeit Pāṇinis fällt die Entdeckung der grammatikalischen Kategorie Genus für die europäische Tradition. Den zeitgenössischen Reflex dieses ‚Fundes‘ finden wir ausgerechnet in einer altgriechischen Komödie, die – etwa in Bezug auf das Verhältnis von Sexus und Genus – Fragen anspricht, die bis heute diskutiert werden.

4.1Die Wolken des Aristophanes

Im Jahre 423 v. Chr. werden in Athen die Wolken des Dichters Aristophanes aufgeführt. Darin begehrt der Bauer Strepsiades, von der Pferdeleidenschaft seines Sohnes in den Ruin getrieben, in seiner Not, die sophistische Redekunst zu erlernen, die „die schwächere Sache zur stärkeren machen“,1 also die Richtigkeit des eigenen Standpunkts beweisen kann, obwohl man tatsächlich im Unrecht ist. Mit der neu erworbenen rhetorischen Kunst will er seine Gläubiger davon überzeugen, dass er seine Schulden keineswegs begleichen müsse. Als Lehrer wählt er ausgerechnet Sokrates, der in der Komödie – im krassen Gegensatz zu dem uns geläufigen Bild, das Platon und Xenophon von ihm gezeichnet haben – als Obersophist und Leiter eines Phrontistérions, einer „Denkerei“, dargestellt wird, wo man sich gegen Geld u. a. eben die Tricks der Rhetorik aneignen kann. Vor deren Erlernung aber hat „Sokrates“ – zum Verdruss des neuen Schülers – die Beschäftigung mit der Grammatik angesetzt. Und so beginnt der Unterricht (V. 658ff.):2

23.

SO:

Du mußt zuvor noch manches andre lernen:

Vierfüß’ge Tiere nenne mir, die männlich!

(658)

 

STR:

Wer das nicht wüßte, wär’ ein Esel! Männlich

Sind Widder, Stier und Bock und Hund und Spatz.3

(660)

 

SO:

Siehst du? So geht’s: das Weibchen nennst du Spatz,

Und dann das Männchen wieder ebenso.

(662)

 

STR:

Und dann?

(664)

 

SO:

Bedenk nur einmal, Spatz und – Spatz!4

 

 

STR:

Wahr, beim Poseidon! Nun, wie muß ich sagen?

 

 

SO:

Spatz heißt das Männchen, Spätzin heißt das Weibchen.5

(666)

 

STR:

… Da muß ich wohl für diese Lehre schon

Dir bis zum Rand mit Mehl den Backtrog füllen.

(668)

 

SO:

Ein neuer Bock! Der Backtrog sagst du, männlich?

Das muß ja weiblich enden!6

(670)

 

STR:

Ei, wieso? …

… Allein im Ernst, wie muß ich sagen?

 

 

SO:

Wie? Backtrögin! wie du sagst: die Demagögin.7

(678)

 

STR:

Backtrögin? Sonderbar!

 

 

SO:

Das einzig Richt’ge!8

… von Eigennamen weißt

Du nicht, was männlich und was weiblich ist.

 

 

(682)

 

STR:

Was weiblich ist, das kenn’ ich gut.

 

 

SO:

Zum Beispiel?

 

 

STR:

Lysilla, Philina, Kleitagora, Demetria.9

(684)

 

SO:

Und Männernamen?

 

 

STR:

Weiß ich dir die Meng’! Philoxenos, Melesias, Amynias.

(686)

 

SO:

Dummkopf! Die sind nichts weniger als männlich!10

 

 

STR:

Die sind bei euch nicht männlich?

(688)

 

SO:

Nein: wie sagst/Du denn, wenn du Amynias zärtlich grüßt?

 

 

STR:

Ich denk’: Amynchen, grüß’ dich Gott, Amynchen!11

(690)

 

SO:

Nun sieh: Amynchen sagst du, wie: Philinchen: – Ein Weib!

 

 

STR:

’S ist wahr! Er zieht auch nicht zu Feld!12

Allein du lehrst mich da, was jeder weiß.13

(692)

4.2Aristophanes und Protagoras

Aristophanes ist immer für aberwitzige und absurde Wendungen der Handlung gut, aber was ist der Sinn dieser einigermaßen kruden „grammatikalischen“ Darlegungen? Nun, die Wolken setzen sich mit der sophistischen Philosophie im Allgemeinen und ganz besonders den aus Sicht des Aristophanes verderblichen Konsequenzen sophistischer Rhetorik1 auseinander. An der zitierten Stelle aber geht es um die (für den Sprachwissenschaftler nichts weniger als bahnbrechende) Entdeckung des grammatischen Geschlechts durch den zeitgenössischen Sophisten Protagoras (ca. 490–411 v. Chr.). Freilich sind von Protagoras keine Schriften erhalten; wir kennen seine Lehren nur aus Zitaten späterer Autoren. Für seine Genuslehre sind hier zwei Stellen aus den Werken des Aristoteles einschlägig:

‚Ein vierter Faktor [für korrektes Griechisch] besteht darin, Protagoras’ Unterteilung der Nomina in die Geschlechter männlich (árrena), weiblich (thḗlea) und ‚Sachen‘ (skeúē) zu beachten.‘2

Die beiden Adjektive árrēn (Nom.) ‚männlich‘ und thē̂lus (Nom.) ‚weiblich‘ entstammen dem allgemeinen Sprachgebrauch; skeúē ist ein Nomen im Nom. Pl., das ‚Gerätschaft‘ und dann allgemein ‚unbelebtes Objekt‘ bedeutet. In seiner Poetik kommt Aristoteles wieder auf die Genuslehre des Protagoras zu sprechen. Den Begriff für das „sächliche“ Geschlecht hat er jedoch geändert:

‚Von den Substantiven sind die einen männlich (árrena), die anderen weiblich (thḗlea), die dritten ‚dazwischen (liegend)‘ (metaksú)‘.3

Griech. metaksú ‚dazwischen‘ ist Adverb, das gemäß den Regeln der griechischen Grammatik attributiv verwendet werden kann und in dieser Hinsicht dem ursprünglichen skeúē ‚Gerätschaften, unbelebte Objekte‘ überlegen ist. Ob diese Begriffswahl inhaltlich besonders glücklich ist – das Neutrum bezeichnete dann etwas, was „zwischen“ Maskulinum und Femininum liegt –, mag dahingestellt bleiben.

4.3Sprachrichtigkeit im Sinne von Protagoras

Auch Protagoras hat seine Genuslehre unter den Aspekt der Sprachrichtigkeit gestellt. Was er damit meint, erhellt aus dem zweiten Aristoteles-Zitat:1

‚Was ein Solözismus (Sprachfehler) ist, ist früher (im 3. Kap.) gesagt worden. Es gibt hier drei Fälle. Man kann einen Solözismus machen (so daß er gleichzeitig als solcher erscheint), kann ihn bloß zu machen scheinen und kann ihn wirklich machen, ohne daß es doch so scheint, wie es z. B. geschieht, wenn, wie Protagoras sagt, ‚Zorn‘ (μῆνιν [mē֘nin]) und ‚Helm‘ (πήληξ [pḗlēks]) männlich ist. Wer (mit Homer im Eingang der Ilias) vom Zorn sagt οὐλομένην [ouloménēn] (‚verderblich‘, weibliche Endung), begeht nach Protagoras einen Sprachfehler, ohne daß es doch den übrigen Menschen so scheint, und wer sagt οὐλόμενον [oulómenon] (männliche Endung), scheint einen sprachlichen Fehler zu begehen, tut es aber (nach Protagoras) nicht […]‘.2

Protagoras bezieht sich offenkundig auf den Anfang von Homers Ilias, der da lautet:

‚Vom Zorn [mē֘nin, Akkusativ] singe, Göttin, des Peleus-Sohnes Achilleus,/dem verderblichen [ouloménēn] …‘3 (Ilias, I 1–2)

Das Wort mē֘nin (Akk.), Nom. mē֘nis ‚Zorn‘, ist im Griechischen Femininum, was man – da Homer den Artikel hier nicht verwendet – jedoch an dieser Stelle erst an seinem Bezugswort ouloménēn ‚verderblich‘ (Akk. Sg. Femininum) erkennen kann. Wenn nach Protagoras hier die maskuline Form oulómenon und damit auch maskulines Genus des Bezugswortes mē֘nis „richtiger“ wäre, dann offenkundig deshalb, weil der männermordende Zorn des Achilleus ein ausgesprochen männlicher Charakterzug ist. Entsprechendes gilt für das zweite Beispielwort pḗlēks ‚Helm‘, der in den Kampfschilderungen der Ilias ebenfalls eine nicht geringe Rolle spielt: Im Griechischen Femininum, sollte das Wort eigentlich im Sinne der Protagoras’schen Sprachrichtigkeit Maskulinum sein, denn der Helm ist nun einmal ein typisch männlicher Ausrüstungsgegenstand. Letztendlich geht es um die Übereinstimmung von „Form“ (Genuskategorie) und „Inhalt“ (Sexus-Konnotation des Bezeichneten).

Hieraus folgt, dass bei seiner Einführung in die Sprachbeschreibung das Genus eindeutig Sexus-konnotiert ist. Sein „Entdecker“, der Philosoph Protagoras, geht sogar so weit, zu postulieren, dass auch bei Sachbezeichnungen, die sich dem weiblichen oder männlichen Lebensbereich zuordnen lassen, das Genus – im Sinne einer „höheren Sprachrichtigkeit“ – entsprechend zu gebrauchen wäre.

Der aristophaneische „Sokrates“ geht – natürlich in parodistischer Absicht – im oben zitierten Ausschnitt aus den Wolken in drei Punkten auf die neue Lehre ein:

Die beiden Geschlechter einer Art sollten nicht durch dasselbe Wort bezeichnet werden.

Die Flexionsweise eines Wortes sollte seinem Genus entsprechen4.

Männern, die nicht die von Männern zu erwartende Verhaltensweisen zeigen, sollte auch nicht das Genus masculinum zugesprochen werden.

Jedenfalls ergäbe die Beachtung dieser „Regeln“ sicherlich einen Schritt in Richtung der von Protagoras postulierten „Sprachrichtigkeit“ im Sinne einer Übereinstimmung von „Form“ und „Inhalt“.

4.5Die römische Tradition

Zu den originellsten Sprachwissenschaftlern der Antike gehört der römische Polyhistor Marcus Terentius Varro (116–127 v. Chr.). Von den mehr als 600 von ihm verfassten Büchern, die sich zu über 70 Werken zusammenfassen lassen, ist eines der lateinischen Sprache gewidmet. De lingua Latina umfasste ursprünglich 25 Bücher, von denen sechs auf uns gekommen sind: Die erhaltenen Bücher V–VII behandeln die Etymologie, die Bücher VIII–X die Morphologie. In den letzteren ist es Varros Absicht, in dem Streit der Grammatiker zwischen „Analogisten“ und „Anomalisten“ zu vermitteln – also zwischen der Position, gemäß der Sprache regelhaft organisiert sei, und der Gegenposition, der zufolge sie es nicht sei.1 Zur Genusflexion führt er in Buch IX aus:

(Kap. 55) ‚Sie [die „Anomalisten“] bestreiten, da alle Natur entweder Mann oder Frau oder Neutrum sei, dass nicht aus den einzelnen Wörtern dreifache Wortformen entstehen müssten, wie albus alba album [‚weiß‘]. Nun gäbe es bei manchen Sachen nur Doppelformen, wie Metellus Metella, Aemilius Aemilia [römische Gentilnamen], manche nur als Einzelformen wie tragoedus [Tragödiendarsteller], comoedus [Komödienspieler]. So gäbe es Marcus, Numerius [röm. Männervornamen], nicht hingegen (deren weibliche Gegenstücke) Marca, Numeria. Man sagt Rabe, Sperling,2 man sagt hingegen nicht Räbin oder Sperlingin. Andererseits sagt man die Panthera,3Amsel, nicht hingegen Pantherich oder Amsler.‘4

(Kap. 56): ‚Hierauf antworten wir, dass zwar irgendein Objekt jeder Redeweise zugrunde liegt, wenn es aber nicht in den Gebrauch gekommen ist, dann gibt es dafür auch kein Wort. So sagen wir Hengst und Stute,5 denn ihre Unterscheidung ist gebräuchlich, hingegen nicht Rabe und Räbin, weil nicht das im Gebrauch ist, was von Natur aus unterschieden ist. Deshalb verhält es sich bei manchen Wörtern heute anders als früher. Denn früher wurden Männchen und Weibchen columbae ‚Tauben‘ genannt, weil sie nicht in der Weise als Haustiere gehalten wurden wie heute. Dagegen heute, weil wir sie wegen ihres Gebrauchs als Haustiere unterscheiden, wird das Männchen columbus ‚Tauber‘, das Weibchen columba ‚Taube‘ genannt‘.6

Interessant ist hier Varros Feststellung, dass die Genusdifferenzierung in dem Maße relevant wird, wie die Sexusdifferenzierung von Lebewesen für den Menschen bedeutsam wird. Je vertrauter ihm etwa eine bestimmte Tierart ist, etwa weil sie als Haus- oder Nutztier gehalten wird, umso stärker ausgebaut ist das entsprechende Wortfeld, gerade auch im Hinblick auf die beiden Geschlechter.

Schließlich noch zur Bezeichnung der Genuskategorien: Im Buch VIII, Kap. 46 spricht er zweimal von sexus, etwa (32) sexum, utrum virile an muliebre an neutrum sit „… das Geschlecht, ob es männlich oder weiblich oder Neutrum sei“, ansonsten von genus. Die später und bis heute üblichen Begriffe masculinum und femininum dürfte Verrius Flaccus (geb. 60 v. Chr.) eingeführt haben; wie im Griechischen (s. o. Kap. 4.4) schreitet also die Entwicklung von Wörtern der Alltagssprache zu eigens geprägten Termini voran (vgl. Schreiner 1954: 54).

Den Abschluss dieses Kapitels möge ein Zitat aus Quintilians Institutiones, Buch I, Kap. 4, Abs. 23f. bilden, in dem der Verfasser über die Qualitäten des guten Lehrers spricht:

‚Wenn jedoch ein Lehrer hinreichend unterrichtet ist und – woran es bisweilen nicht weniger zu fehlen pflegt – auch seinerseits lehren will, was er gelernt hat, wird er nicht damit zufrieden sein, die Schulweisheit weiterzugeben, die Nomina hätten drei Geschlechter, und weiter die Nomina bringen, die zweien oder allen dreien Geschlechtern gemeinsam sind. Auch werde ich nicht gleich einen Lehrer für gewissenhaft halten, der auf die Mischfälle, die epíkoina heißen, hinweist, in denen beide Geschlechter durch eins von ihnen in Erscheinung treten, oder welche durch Femininbildungen Männer oder durch Neutrumbildung Frauen bezeichnen, wie etwa ‚Murena‘ und ‚Glycerium‘‘.7

Der tatkräftige Grammatiklehrer, so Quintilian weiter, wird vielmehr auch noch die Herkunft von Namen erklären. Die Passage zeigt jedenfalls, dass das „Genus“ längst elementare Schulweisheit geworden ist.

5Schlussbemerkung

Den Beispielen in den drei Kapiteln ist gemeinsam, dass sie sich letztlich auf das Verhältnis von Genus und Sexus bzw. von grammatikalischem und natürlichem Geschlecht beziehen: Im Avesta wird der feminine Sexus explizit genannt, im Rigveda-Kommentar des Jaimini die Frage diskutiert, ob er im Maskulinum „mitgemeint“ sein kann. Am deutlichsten ist die Sexus-Genus-Korrelation bei Protagoras thematisiert, der die Korrelation zwischen beiden sogar über den Bereich der Lebewesen hinaus ausdehnen will: Was männlich konnotiert ist, sollte auch maskulines Geschlecht haben! Er hat mit dieser Meinung keine Anhänger gefunden; schon sein Zeitgenosse Aristophanes macht sich darüber mit dem Vorschlag lustig, ein Mann, der „weibliches“ Verhalten an den Tag lege, müsse dementsprechend auch als Femininum flektiert werden. Für Varro, den letzten der hier behandelten Autoren, ist die Genusdifferenzierung längst etabliert, doch setzt er sich immerhin noch mit der Ausdifferenzierung des Wortschatzes im Hinblick auf die wichtig gewordene Sexusdifferenzierung auseinander.