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Ein ödipales Vergnügen – Faktors erotischer Entwicklungsroman über Widerstände, Schmutz und Schönheit Georg wächst in der schönsten Wohngegend Prags in einem summenden Frauenhaushalt auf. Leider zur Zeit des politischen Terrors, der überirdischen Atomversuche und später des Reformversuchs von '68. Zwischen Tanten mit Kriegstraumata, dem tyrannischen Onkel ONKEL und der überstrahlend-schönen Mutter bleibt ihm nur die Flucht nach vorn.Das sozialistische Prag hat in den Jahren von Georgs Jugend seinen Glanz verloren. In einer Stadt voller gewalttätiger Müllmänner, 50-ccm-Motorradcowboys, sexbesessener Fremdgänger und vieler anderer unsozialistischer Elemente nutzt Georg alle sich bietenden Freiräume, um auszubrechen: Er experimentiert mit hochexplosiven Substanzen, verbringt die Nachmittage mit wilden Jugendcliquen und findet im Kreis der Familie schließlich auch eine Geliebte. In einer Gesellschaft, die von den Rändern her vergammelt und sich von innen auflöst, bekommt das Körperliche eine befreiend-subversive Bedeutung. Georg mobilisiert alle Kräfte, um neben der Mutter auch dem stickig-klebrigen Vaterhaushalt zu entkommen, in dem er seine verhassten Wochenenden verbringen muss. Als er nach der Okkupation des Landes den kulturellen Niedergang miterlebt und sich der Prager Dissidentenszene nähert, wird ein geschasster Intellektueller, der sich trotz seiner Blindheit wie ein Sehender in der Stadt bewegt, zu seinem Wunschvater.Georg macht sich seit seiner frühen Kindheit Sorgen um seine Vergangenheit, seiner hellen glücklichen Zukunft ist er sich aber völlig sicher. Die Frage, ob er wirklich glücklich werden wird, beantwortet sich bei einer zufälligen, aber nicht wirklich vermeidbaren Begegnung auf der Straße.Indem Jan Faktor Georg selbst erzählen lässt, macht er das Erzählen zu einem zweiten subversiven Akt – und führt damit den Entwicklungs- und den Gesellschaftsroman zusammen. So entstehen ein vor Witz strotzendes Psychogramm einer Familie und ein hellsichtiges Porträt einer Stadt.
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Seitenzahl: 829
Veröffentlichungsjahr: 2010
Inhalt
TitelWidmungwir lebten, ohne unter den klebestreifen sonderlich zu leidenaus den lagern kamen nach dem krieg eher die damen zurückmanchmal stürzten ganze vorhangsysteme zu bodenich sah den untröstlichen penis in einer weiten, unwirtlichen höhle wedelnfassgoltviele der fliegen überlebten nicht einmal die erste drehzahlstufein seiner socke steckte eine heiße und vollkommen trockene gewehrkugelals er die messerklinge aus seiner handfläche zog, blieb die wunde trockender gitarrist wurde von saftigen stromstößen gekrümmtdanadie störche und der reiher kamen im winter ins hausdie türendie besüßte schien leicht nach innen zu lächelnrücklings schob er sich wie eine dampfgetriebene wühlmaus die gänge langlizzyer sparte sich im geheimen einen schatz zusammenKapitel baue keine bomben, spiele lieber fußball mit dem königssohndie affenbande war schneller als das blutman wärmte sich die hände im schneegestöbernun haben wir, was wir wolltenihre waschlappen waren voller hautpartikel, hautfett und hautbakteriensein auge blieb trocken, floß nicht ausentspannt schnippelten sie in meinem beisein an ihren schamhaaren herumden einmarsch haben wir gewonnenjede dieser dreißigtausend schönbeinigen frauen putzte sich täglich die zähnebeachte den einbrecher nicht – wir werden ihn einfach ignorierenfrau šlajsováin der stadt gab es immer mehr rollstuhl-desperados auf crashkursmutter anna iolantheniemand konnte ihn von seinen haaren, seiner nässe und seiner nervosität befreiendie quader standen ruhig, atmeten vor sich hin und waren sich selbst genugonkel ONKELegal, was man ruft, unten hören die leute immer nur »hilfe!«im schnellen takt glitten vorschlaghämmer knapp an ihren köpfen vorbeipetr skopkasie betrat die landschaft, trat in sie hineinostfront, märz 1944meine mutter ließ sich seine erinnerungen in ihr schönes ohr flüsternessen? – hier kann man nicht essen – DAS kann man wirklich nicht essenich bekam giftig rote haare und brandwunden von der kochenden granatenfüllungmanchmal lief der mann gleichzeitig in zwei entgegengesetzte richtungenseine herzrhythmusstörungen überraschten ihn regelmäßigNachtragImpressumDie Themen- und Personenkreise, die mir den Stoff für diese fiktive Geschichte geliefert haben, haben mich und Annette, meine Frau, jahrzehntelang beschäftigt. Ohne diese gemeinsame Vorarbeit hätte ich dieses Buch nie schreiben können.
Die ersten Sorgen um meinen Penis machte ich mir schon vor etwa fünfzig Jahren im Kindergarten damals nur aus rein hygienischen Gründen. Um mit der Penisspitze nicht die Klobrille oder sogar die Innenseite der Schüssel zu berühren, griff ich beim Pinkeln mit der Hand zwischen meine Schenkel und drückte meinen Apparat senkrecht nach unten. Damit wollte ich gleichzeitig verhindern, daß der Urinstrahl durch den Spalt unterhalb der Klobrille meine heruntergelassene Hose benäßte.
Was machst du da? fragten dann die Erzieherinnen, die die Zufluchtsorte der Aufsässigen häufig kontrollierten.
– Nichts, nichts weiter.
Offenbar konnte ich meine Lippen und meinen Unterkiefer gerade frei bewegen. Man klebte mir den Mund nur an den Tagen mit Klebeband zu, an denen ich ununterbrochen redete und nicht anders zu stoppen war. Das papierene Klebeband wurde von den Erzieherinnen immer großzügig angeleckt, und ich mußte den Mund fest verschlossen halten, um die Feuchtigkeitslinie meiner Lippen vor der klebrigen Fremdspucke zu schützen. Bald spürte ich schon, wie der Klebestreifen trocknete, sich zusammenzog und meinen Mund ein bißchen kleiner machte. Dazu muß man wissen: Wir die Kleinen wie die Großen lebten damals in Prag, ohne darunter sonderlich zu leiden, in einer totalitären Gesellschaft.
Wenn ich mir meinen Penis heute ansehe und mich kurz konzentriere, bekomme ich umgehend das Gefühl, daß es sich um ein ästhetisches Gebilde handelt. Er sieht schön aus, etliche Details im Eichelbereich finde ich sogar wunderschön. Seine Ästhetik entdeckte ich allerdings erst relativ spät, etwa ein Jahrzehnt nach seinem Erwachsenwerden, etwa dreizehn Jahre nach seiner späten Beschneidung, die meine Mutter nicht mehr aus nächster Nähe verfolgen, nicht mehr liebend begleiten konnte. Meine Mutter badete und pflegte mich in meiner Kindheit mit großer Inbrunst, strahlte dabei jedesmal intensiv als ob sie mich gerade frisch geboren hätte. Daß ich in die Länge wuchs und immer großflächiger gesäubert und gepflegt werden mußte, störte sie überhaupt nicht. Wenn eines Tages der strenge Tantenrat nicht eingeschritten wäre, hätte meine Mutter sicher weitergemacht und ich hätte mich heute als Mutters Pflegefall präsentieren können.
Wie man sich dank dieser kleinen Information denken kann, war ich Mutters einziges Kind. Es ist aber nicht die ganze Wahrheit: Ich hatte um mich herum mehrere mütterliche Wesen zur Auswahl und war auf meine Mutter nicht unbedingt angewiesen. Sie fiel als Bezugsperson sowieso öfter aus. Aber sie liebte mich trotz ihrer häufigen Depressionen und trotz meiner Widerspenstigkeit über alles, und ich versuchte später, ihre Liebe mit allen Mitteln weiterzugeben. Das nötige Zeug dazu hatte ich nun mal. Wieso ich meinen Hodensack mit seinem unsichtbaren und geheimnisvollen Samenlabor im Gegensatz zu meinem Penis nie sonderlich schön finden konnte, beschäftigt mich bis heute. Was den dunklen Sack im Konkurrenzkampf mit der Nr. 1 so blaß aussehen läßt, ist natürlich die ihm fehlende Orgasmusfähigkeit. Das gleiche gilt allerdings auch für die zart-schönen Augenlider, die egal, wie schnell man sie bewegt nicht in der Lage sind, Lust zu spenden.
Die späteren Sorgen um meinen Penis betrafen in erster Linie seine angemessene Unterbringung; sie beherrschten mein Denken, überschatteten meinen Alltag, ließen mich oft wie einen sabbernden Idioten aussehen. Zum Glück konnte ich bald das erste konkrete Ziel meiner Wünsche ins Auge fassen. Als Dana einmal bei uns übernachtete, trug sie ein ziemlich durchsichtiges Nachthemd. Abends bekam ich das nicht mit. Um so intensiver erlebte ich es am nächsten Morgen. Dana kam aus dem sogenannten Gästezimmer, das indirekte Sonnenlicht beleuchtete sie schräg, und ich sah deutlich ihre steifen Brustwarzen und ihr dunkles Schamhaar. Von diesem Augenblick an war klar, daß ich eines Tages dorthin, genau an diese nämlichen Punkte, gelangen wollte. Dana war ein reizend zierliches Wesen. Problematisch war nur, daß sie viel älter war als ich. Sie war über vierzig, ich war damals sechzehn. Die nächste Schwierigkeit bestand darin, daß sie die beste Freundin einer meiner Tanten war, natürlich auch die Freundin meiner Mutter.
Lange Jahre meines Lebens empfand ich das meiste von dem, was ich erlebt habe, als so peinlich und unerträglich, daß ich froh war, es so nie wieder erleben zu müssen. Egal, wie glücklich ich in meiner Kindheit und Jugend immer wieder war, in der Regel fand ich die Umstände meiner Aufzucht fürchterlich. Leider bauten sich diese Gefühle mit der Zeit nicht ab, sie summierten und verformten sich, quetschten sich bis zur Unkenntlichkeit ineinander. Ich gewöhnte mir vorsichtshalber an, auf meine groteske Familie und auf mich mit Despektion herabzublicken. Ich sah uns wie von außen durchs Glas, ich sah uns wie durch eine kalte Wasserwand. Meine Blicke kühlten bei jeder neuen, naturgemäß oft minderwertigen Lichtbrechung weiter und weiter ab. In unserer Wohnung gab es für diese Art von Blicken etliche halberblindete Spiegel, den größten von ihnen schlug ich bei einem Wutanfall kaputt.
Der Prozeß der ständigen Herabsetzung hinterließ in mir tief eingeritzte und eingestanzte Spuren. Und weil ich diese Art Selbstbeschämung konsequent praktizierte, drohten meine Ekelgefühle mich irgendwann vollkommen auszufüllen. Sie machten ein fast hoffnungslos verschlossenes Wesen aus mir. In besonders schlimmen Kernzeiten verschlug mir meine Vergangenheit die Sprache so gründlich, daß ich es nicht einmal wagte, unverständlich zu murmeln. Ich konnte mich nur noch stumm wundern über mich und alles, was es außerhalb von mir noch so gab. Aber auch in besseren Zeiten hielt ich lieber dicht, wenn man von mir konkrete Aussagen verlangte.
Wie fühlst du dich?
– He? Hm.
Das hat sich grundlegend geändert. Mein Name ist Georg, und ich habe jetzt endgültig keine Probleme mehr damit, über mich und meine Vergangenheit zu sprechen. Seltsamerweise war mir auch in den schlimmsten Perioden meines Lebens klar und es stand trotz aller Dauerqualen immer außer Zweifel , daß mich eine helle Zukunft erwartete. Das erleichterte mir mein Vegetieren ungemein. Mein unerschütterlicher Glaube an die Zukunft bewirkte nämlich, daß meine Sorgen nicht vorrangig die jeweilige Gegenwart, sondern fast ausschließlich meine Vergangenheit betrafen. Ich mußte mich andauernd schütteln, wenn ich zurückdachte. Wenn ich daran dachte, was ich gerade hinter mir gelassen, welchen Unsinn ich da und dort erzählt hatte, litt ich wie ein verstümmeltes Versuchstier. Meine Beschäftigung mit dem Vergangenen war für mich früher auch deshalb so quälend, weil ich gern zwanghaft phantasierte, was alles hätte brutal schiefgehen können in meinem Leben noch viel schlimmer hätte ausgehen können, als es der Fall war. So graute es mir aber wirklich nur vor meiner lästigen Vorgeschichte egal, wie realistisch oder angstverfremdet ich sie in mir aufbewahrte. An die alltäglichen Abgründe war ich dagegen gewöhnt. Außerdem war ich in meinem aktuellen, wenn auch oft reichlich abgründigen Morast aktiv zugange, war wegen seiner zähen Klebrigkeit stark geworden und konnte nebenbei zusehen, wie ich meinem vorverlagerten Glück immer näher kam.
Wenn ich im Zusammenhang mit meiner Vergangenheit Wörter verwende, in denen es ums »Denken« oder »Nachdenken« geht, heißt das nicht, daß ich damals über mich wirklich nachgedacht hätte. Es war höchstens ein dumpfes Brüten, wozu ich fähig war. Bei uns zu Hause war es aus Rücksicht voreinander nicht üblich, den anderen verbal zu nahe zu treten, mit entsichertem Mund Fragen zu stellen und Antworten zu verlangen. Um gar nicht in Versuchung zu kommen, andere seelenpenetrant zu belästigen, dachten also auch die Klügeren unserer Familie über sich selbst lieber nicht nach und wegen der fehlenden Übung konnte es tatsächlich auch niemand von ihnen. Inmitten des engen häuslichen Miteinanders empfand sich sowieso kaum jemand von uns als ein ausreichend abgegrenztes Einzelwesen; man spezialisierte und reduzierte sich funktional, wie man es von Bienen oder Ameisen kennt. In meinem gedankenlosen jungen Gehirn gab es daher viele freie Kapazitäten vielleicht ist deswegen mein Geruchssinn so hündisch hypertrophiert. Daß man Geheimnisse aus dem seelischen Unterleib überhaupt preisgeben durfte, erfuhr ich erst mit sechsundzwanzig.
Was das Nachdenken betrifft, fehlten mir also jegliche Vorbilder, jegliche Möglichkeiten der Nachahmung oder Reibung; es fehlte mir auch an Material. Ich forschte nach nichts, ich speicherte nichts infolgedessen wußte ich fast gar nichts über mich. Als mich meine spätere Frau mit den einfachsten Gefühlsfragen konfrontierte und klare Antworten verlangte, empfand ich ihr Insistieren als einen gewagten Versuch, meinen Brustkorb bis zum Hals aufzubrechen, um anschließend an meinem Gehirn von unten zu zündeln.
Sehr früh in meiner Kindheit entdeckte ich den Zauber meines breiten Lächelns. Ich kann mich noch erinnern, in welcher Streßlage mir mein Trick zum ersten Mal gelang. Das Wohnzimmer war voller Menschen, eine breitgefächerte, mir gänzlich unbekannte Familie kam zu Besuch. Ich war winzig und mußte trotzdem frontal gegen diese unüberschaubare Seelenansammlung antreten, mich der Prüfung der doppelten Anzahl von Augen stellen. Viele Münder grinsten mich an, Nasenlöcher weiteten sich, die Luft war voller Lungendämpfe. Und jeder dieser Körper war dabei, den Raum immer weiter aufzuheizen, jedermann glühte wie eine 100-Watt-Birne. Ich entschied mich, breit zu lächeln. Ich kam, lächelte und gewann. Ich gewann trotz meiner tiefen Angst und war verblüfft, wie einfach es war. Alle Anwesenden waren von mir begeistert. Andere Kindergenossen konnten in solchen Situationen nur verkrampft grinsen, ich stellte dagegen ein naturidentisches Gesichtsprodukt her. Ich mußte nichts sagen, mein Lächeln sagte alles: Ich war ein glückliches Kind aus einer glücklichen Familie, und mir ging es gut. In meinem Leben lächelte ich auf diese Weise nach und nach Unmengen von Menschen an. Leider kam ich mir dabei, je bewußter ich es betrieb, immer mehr wie ein Trottel vor.
Was Depressionen sind, erlebte ich schon ziemlich früh. Ich war zehn oder zwölf. Aber auch Jahre später wußte ich noch nicht, was dieses Gefühl, das sich nicht mitteilen ließ, eigentlich war und wie es hieß. Traurigkeit war das nicht. Die Menge meiner Geheimnisse wucherte in mir kontinuierlich weiter. Als Kind hatte ich sowieso nicht viel Zeit zum Grübeln, ich spielte dauernd Fußball. Ich spielte jeden Tag Fußball, obwohl ich nicht besonders gut spielte und trotz des Dauertrainings kaum technische Fortschritte machte. Bei Tortreffern, die in der Regel den anderen geglückt waren, brüllte ich nie. Meine stumme Präsenz auf dem Feld war trotzdem hochgradig emotional. Schnelle Bewegung versetzte mich schon immer leicht in Trance, betäubte mich wie eine Droge.
Zu meiner Überlebensstrategie gehörte, daß ich keinen Fremdling in das Innere unseres Prager Wohnungslabyrinths hineinließ. Wenn ich überhaupt einen Besuch empfing, bestand er grundsätzlich nur aus einer oder zwei meiner Cousinen vom anderen Ende des Flurs. Wer von außerhalb kam, wurde so lange an der Tür aufgehalten und genervt, bis er wieder ging. Daß er die vielen seltsamen und so unterschiedlichen Namen an der Tür zu sehen bekam, war schon schlimm genug. Wenn ein solcher Störer vor der Türschwelle lange genug zermürbt wurde, kam er in der Regel nie wieder. Unsere Wohnung war hochgradig verunstaltet, sie war eine Mißgeburt voller Narben und häßlicher Kompromisse. Leider war kein einziges Familienmitglied in der Lage, das zu erkennen. Auch die schlimmsten Geschmacksverbrechen wurden einfach ignoriert.
Häßlich? Wieso häßlich? So etwas ist doch nie häßlich.
Den meisten Erwachsenen fehlte aber nicht nur jeglicher Sinn für Ästhetik. Wegen der vielen divergierenden Wünsche und Bedürfnisse, die es in unserer Zwangsgemeinschaft gab, wurde die aktuelle und oft nur lächerliche Funktionalität der Einrichtung über alle Maßen idealisiert, so daß der Wille, auch geringfügigen Änderungen zuzustimmen, grundsätzlich gegen null tendierte. Mein Grauen war nicht das Grauen meiner Damen, verzweifelt waren wir aber trotzdem alle. Manche Tanten retteten sich in Putz- und Wischzwang ihrer vertrauten Teilbereiche, ein solches Ventil hatte ich nicht. Die meisten Familienmitglieder waren genügsam und freuten sich einfach, den Krieg überlebt zu haben. Über ihren fehlenden Verschönerungswillen mußte man allerdings eher froh sein.
Unsere Wohnung war voll von dunklen Möbelstücken reicher und 1945 nach Österreich geflohener Deutscher. Diese Einrichtung war zwar nicht nur häßlich vor allem im Zimmer meiner Mutter gab es einige originelle Prachtexemplare , alle verrückbaren Einzelteile der Einrichtung waren aber trotzdem gefühllos, nur nach fragwürdig praktischen Gesichtspunkten zusammengestellt; das heißt zusammengeschoben, aufeinandergetürmt oder ineinander verkeilt. Die klobigsten, unmöglichsten Monster standen meiner Meinung nach in meinem Zimmer, und die Atmosphäre, die sie ausstrahlten, hätte vielleicht einer verarmten Witwe entsprochen, nicht mir. Jedes einzelne Stück, das die Großfamilie besaß, schien uns allen überaus kostbar; und irgendwann leuchtete es auch mir ein, daß ich mich von bestimmten Dingen nie im Leben würde trennen dürfen. Mit einigen besonderen, besonders gut riechenden Möbelstücken freundete ich mich mit der Zeit trotz allem an. Manche davon waren mir zeitweise näher als meine Mutter.
In unserem Teil der Wohnung änderte sich jahrzehntelang nur wenig; und wenn, dann geschah es zu seinem Nachteil. Meistens bekamen wir nach einer Wohnungsauflösung auch als Erinnerung an den Toten, den wir persönlich gekannt hatten irgendein dunkles, zu unserer Einrichtung nicht passendes Einzelstück geschenkt. Aber auch neue helle Möbel aus modernen sozialistischen Möbelbetrieben wären für die Melange in unserer Behausung eine Katastrophe gewesen. Für solche Neuanschaffungen hatten wir zum Glück nie genug Geld. Tagsüber hielten sich diejenigen, die sich vertrugen, gern in dem gemütlichen Zimmer meiner arbeitenden Mutter auf. Mein Zimmer verkam schon sehr früh zu einem reinen Schlafzimmer, zu einer Kleider-, Wäsche- und Vorratskammer. Vorräte hielten sich in diesem sonnenfreien Nordzimmer neben dem Treppenhaus sehr gut, weil wir dort praktisch nie heizten.
In der Wohnung gab es nicht nur zu viel Häßliches, das ich vor Außenstehenden verborgen halten mußte, es gab dort vor allem Dinge, die ausgesprochen häßliche Fragen aufwerfen konnten. Und man traf dort Frauen, die seltsame Dinge erzählten wohlgemerkt mit einem ausländischen Akzent; eine von ihnen machte dabei sogar grobe grammatikalische Fehler. Außerdem stritten sich diese Personen untereinander oft auf Deutsch oder Ungarisch. Dank meines Isolationismus dachte ich in meiner Kindheit eine ganze Weile, die meisten älteren Frauen mit weißen Haaren würden das Tschechische aus Altersschwäche nicht beherrschen.
Nicht alle diese wunderlichen Menschen, die sich bei uns tagsüber aufhielten, wohnten auch tatsächlich da. Dummerweise fehlte in der Wohnung auch so etwas wie mein Vater. Klein und dick, wie er war, war er zwar kein Ausstellungsstück, sein Auslagerungszustand war aber definitiv und wäre schwer zu bestreiten gewesen. In Mutters Zimmer befanden sich viele unterschiedliche Polstersessel, es stand dort aber nie ein Doppelbett. In meinem Zimmer schlief mein Vater auch nicht, dafür schlief dort meine Hauptgroßmutter Lizzy. Daß in meinem »Kinderzimmer« zwei Betten standen, war jetzt schüttelt es mich wieder im Grunde noch geheimer als das Getrenntsein meiner Eltern.
Aus Sehnsucht nach weiblichen Wesen, die sich kraft ihres Amtes um einen bemühen mußten, ging ich gern in diejenigen Geschäfte, die von warmblütigen Frauen dominiert wurden. Abscheulich fand ich dagegen solche, in denen ein unbarmherziges männliches Kommandoregime eingeführt worden war. Zum Glück gab es solche Läden damals kaum. Kühlgeschäftige und meist von Männern befehligte Selbstbedienungsläden tauchten in unserer Nähe erst sehr spät auf. Ich bin sowieso in einer Entwicklungsphase des Sozialismus groß geworden, in der sich relativ viele Menschen feuerbeständige Illusionen über ihre gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Perspektiven machen konnten. Deshalb war die Stimmung vielerorts im Lande zwar nicht die allerbeste, sie war im allgemeinen aber zufriedenstellend und definitiv um viele Qualitätsgrade besser, als es später nach dem Einmarsch der Russen der Fall war. In Zeiten meiner Kindheit und Jugend gab es außerhalb unserer Wohnung also ich bin bis heute glücklich darüber noch wirkliche Inseln des Glücks und des Optimismus. Eine davon war ein Stoffladen, ein Ort voller gepflegter, duftender Damen und unterschwelliger Erotik. Und natürlich auch voller überwiegend häßlicher Stoffe, die man in einem solchen Laden irgendwann auch kaufen mußte, wenn man sich dort länger aufhalten wollte.
Von außen betrachtet ging es mir in der innenarchitektonischen Hölle unserer Wohnung mehr als prächtig. Ich wurde umgarnt, bewundert und gepriesen. Ich wurde über alles geliebt. Daher ist es nur logisch, daß mein Leben eine permanente Geschichte des Verliebtseins geworden ist. Ich konnte mich blitzschnell auch in rein materielle Dinge wie Elektrokabel verlieben. Aber davon lieber später.
Unsere riesige, in kleinere Wohneinheiten zerhackte Wohnung neben Trennvorhängen gehörten auch selbstgebastelte Pappwände dazu war ein kompliziertes Gebilde, und die Familien, Familienteile oder ihre freischwebenden Reste waren für Außenstehende nicht leicht zu überblicken. Das Leben in unserer Wohnung beherrschten meine drei bis sechs Tanten beziehungsweise Großmütter. Meine leibliche Mutter Anna gehörte zum herrschenden Teil des Clans. Obwohl ich mir sicher bin, daß man die vielen Namen beim Lesen andauernd verwechseln wird, nenne ich sie hier trotzdem alle und wenn schon, dann auf einmal: Zilli, Györgyi, Klára, Peprl, Ludmila, Erna, Grete, Sidla, Renáta, Lizzy, Eva, Anna und Urtante Bombe. Das sind zwar viel mehr als sechs, einen dieser insgesamt dreizehn Namen auszulassen wäre aber ein Verbrechen. Einige dieser Damen werden im Verlauf dieser Geschichte mehr Gesicht und Gestalt bekommen, andere kommen namentlich nicht wieder vor. Daß manche von ihnen mehr Präsenz zeigten als andere, sagt überhaupt nichts darüber aus, ob sie bei uns tatsächlich wohnten oder nicht. Die vierzehnte Apostelin war unsere Putzfrau Frau Šlajsová, die zweimal in der Woche kam, allerdings nicht alle Räume betreten durfte. Bei ihren wütenden Putzorgien ging immer viel zu Bruch, einiges wurde von ihr einfach kaputtgescheuert oder um irgendeine verschönernde Oberfläche gebracht. Sie schonte aber auch sich selbst nicht im geringsten, und ich bin mir sicher, daß der Ursprung ihres Namens im deutschen Wort ver-SCHLEISS zu suchen wäre. Ihre eigene Wohnung war angeblich vollkommen verdreckt. Bei allen Damen, für deren Geschichte sich in diesem Text aus rein dramaturgischen Gründen kein Platz finden wird dies gilt selbstverständlich nicht für die fleißige Frau Šlajsová –, werde ich mich später im Jenseits gern noch entschuldigen.
Eine mit Namen übersäte Skizze der Wohnung würde zu einer Klärung der Verhältnisse wenig beitragen. Unsere Wohnung erstreckte sich über die gesamte Etage eines großzügig gebauten Mietshauses und es gab dauernd irgendwelche Umschichtungen, Umbauten oder interne Umzüge. Außerdem hielt sich die eine oder andere Tante zeitweise im Ausland oder dauerhaft im Keller auf, andere kamen fast täglich vorbei, übernachteten gelegentlich, und die restlichen Mitglieder des Clans in diesem Fall waren es Männer übten ihre Macht als Phantome aus, lebten also nicht mehr wirklich. Für die wechselnden Besucher, womöglich auch für den aus völlig areligiösen Motiven erwarteten Messias, stand bei uns irgendwo immer ein Bett frei. Dazu eine Klarstellung und diese betrifft auch den enormen Frauenüberschuß: Aus den KZs kamen nach dem Krieg nicht die Herren, sondern eher die Damen zurück.
Wenn ein Besuch beziehungsweise Langzeitbesuch erwartet wurde, kam bei uns einiges in Bewegung. Ein Teil oder zwei Teile des Flurs konnten mit Vorhängen abgetrennt werden, aus einer zugerammelten Türöffnung konnte eins der Zusatzbetten heruntergeklappt, bei Bedarf auch noch ein anderes von der Wand abgenommen werden. Diese sogenannten Gästezimmer engten die Bewegungsfreiheit eines Teils der Belegschaft stark ein, alle waren an solche Komplikationen aber längst gewöhnt. Zu diesem zeitweiligen Durcheinander kam noch die wechselvolle Geschichte von diversen Kochnischen hinzu, die mit der Koalitionsbildung zwischen den Tanten und den Brüchen dieser Koalitionen zusammenhing. Eine unbewegliche Extraküche war der Grund dafür, daß eine seitliche Abzweigung des Flurs in grauen Urzeiten zugemauert worden war und es auch bleiben mußte.
Daß aber kein falscher Eindruck entsteht: Alle diese Frauen waren bis auf eine Ausnahme richtige Damen aus großbürgerlichen Verhältnissen, lebten früher in Villen und hatten mehrere Dienstboten. Meine liebste Großmutter Lizzy Schornstein war zudem mit der Baronin Sidonie Nádherná deutsch Nádherny (übersetzt: Wunderschön) befreundet, kannte Karl Kraus persönlich und hatte in der Vorkriegszeit nichts dagegen, sich ab und an im Janowitzer Schloß der Nádhernys von Borutín verwöhnen zu lassen. Wenn auch nicht so oft wie Herr Kraus.
Die Namen der wenigen, in der Wohnung kurzzeitig doch vorhandenen Männer würde ich auch gern nennen, die meisten von ihnen spielten in meinem Leben aber keine prägende Rolle. Sie wurden entweder ins Nichts verstoßen, oder sie hatten sich zu ihren heimlichen Geliebten gerettet und man sprach von ihnen nicht mehr. Der einzige, der blieb, war der Onkel ONKEL, der eines Tages allerdings hinter einer Wand aus Schränken verschwand. Aber aufgepaßt: Dieser astreine Tscheche also Nichtjude par excellence mauserte sich trotz aller seiner Schwächen und seiner Fluchtmanöver zu einer der eindrucksvollsten männlichen Gestalten meiner Kindheit. Allerdings erst posthum beim Schreiben dieses Textes.
Zu seinen Lebzeiten verbreitete Onkel ONKEL viel Angst und Schrecken generationsübergreifend und in der Regel wortlos. So konnten wir alle, vor allem aber ich und meine Cousinen, fast täglich neue Varianten der Furcht erleben und die Auswirkungen dieser Ängste auf unseren Streßhaushalt studieren. Onkel ONKEL herrschte unter anderem mit Hilfe seiner vielen gnadenlosen Werkzeuge, die vor allem mir persönlich viel Respekt einflößten. Wenn er gewollt hätte, hätte er uns mit seinen Sägen, Bohrern, Zangen, Hämmern oder Meißel alle umbringen können. Er tat aber niemandem körperlich weh, uns Kindern nicht, den übermächtigen Frauen auch nicht. Den Anblick von Blut vertrug er sowieso nicht, bei Blutentnahmen wurde er oft ohnmächtig. Mein Onkel war kein böser Mensch, er war vielmehr ein handwerklich begnadeter Mann mit Vorbildqualitäten. Über seine manuellen Großtaten beziehungsweise Übergriffe, die immer eng damit zusammenhingen, daß er farbenblind und sein gestalterisches Gefühlsleben verkümmert war, wird noch einiges zu berichten sein. Seine technikgeprägten Gewalttaten, die manchmal in üble Desaster mündeten, hatten in der Regel irreversible Folgen. Daher war es oft vollkommen egal, ob seine Schandtaten den übrigen Familienmitgliedern schön, annehmbar, häßlich oder grundhäßlich vorkamen. Von Hause aus war Onkel ONKEL eigentlich Pfarrer der 1920 gegründeten »Tschechoslowakischen Kirche« (meine Definition: KATHOLIZISMUS minus PAPST plus JAN HUS). Nach dem Krieg wurde er aber Kommunist, verließ seine Kirche und ging wie viele junge Männer damals erst einmal zu dem frisch wuchernden Staatssicherheitsdienst.
Daß er sich eine Art Wagenburg aus Schränken gebaut hatte, war eine reine Verzweiflungstat. Bei einer sicher nicht ganz demokratisch verlaufenden Verhandlung über die Verteilung oder Umverteilung der Räumlichkeiten bekam er ein langgezogenes Durchgangszimmer zugesprochen. Und weil es für ihn allein eigentlich zu groß war, wurde er dazu verurteilt, in seinem Bereich verschiedene Wäsche-, Kleider-, Schuhschränke und Kleinkramregale unterzubringen; außerdem einige Truhen, Kisten und einige besonders sperrige Gegenstände darunter mehrere unterschiedlich lange und unterschiedlich stabile Leitern, zwei Staubsauger und einige zusammengerollte Teppiche.
Eines Tages baute er dann seine Befestigungsmauer und ließ für die Allgemeinheit nur einen schmalen Gang frei. Die Lösung war denkbar einfach: Er rückte die Schränke von der Wand ab, so daß ihre häßlichen Rückseiten diesem neu entstandenen Korridor zugewandt blieben. Manche der Schränke drehte er dagegen andersherum dabei bekam zwar er ihre Rückseiten zu sehen, konnte aber sein Bett, seinen Schreibtisch und seinen heiligen Sekretär dort heranrücken. Praktischer ging es gar nicht. Der neue Korridor wurde später mit Wandleuchten bestückt, und diese konnten mit Wechselschaltern ein- und ausgeschaltet werden. Den Eingang zu Onkels eigentlichem Innenbereich bildete ein schwerer, eine übriggelassene Lücke füllender Vorhang, den niemand gern anfassen mochte. Wenn die Sonne nachmittags ums Haus kam und der Onkel seine Pfeife rauchte, sah man von ihm nur die dicken Rauchwolken oberhalb seines Bollwerks.
Dunkel kann ich mich noch an eine sicherlich viel zu spät anberaumte Verhandlung erinnern, bei der es um seine eigenmächtige Zerschlagung dieses »Festsaales« ging.
Und wenn wir mal ein größeres Fest ausrichten möchten, was dann?
Was daraufhin geschah, prägte sich mir für immer ein. Mein Onkel war nicht dumm, er hatte alles bedacht. Er stand auf, lehnte sich gegen einen der Schränke und schob ihn mit Leichtigkeit an die Wand. In schneller Abfolge tat er das Gleiche mit zwei weiteren Schränken, wir wichen den fahrenden Kolossen aus und schwiegen. Die Gewalttätigkeit dieses massereichen Treibens war beängstigend. Einen vierten Schrank, der an Onkels Bett stand und dessen Türen zum Gang zeigten, drehte er auf dem glatten Parkettboden geräuschlos um hundertachtzig Grad und schaffte ihn auch aus dem Weg. Wie wir sehen konnten, hatte er unter allen Schrankfüßen große weiche Filzstücke befestigt.
– Bitte, sagte er dann, wen wollen wir einladen?
Alle wußten aber längst Bescheid: In seinem Zimmer würde nie ein Fest gefeiert werden. Und so war es dann auch.
Mein Onkel wurde einerseits also tantenseits zur Bedeutungslosigkeit degradiert, andererseits war er daran auch selbst schuld. Er wehrte sich oft nicht, und man hatte eher das Gefühl, er sei mit dem Abschied aus der Klammer der Großfamilie durchaus zufrieden. Den alltäglichen Familienbetrieb hielt er sich sowieso eigenmächtig und dauerhaft vom Leib physisch mit dem dreckschweren Vorhang, seine eigentliche Nebelkanone war allerdings sein Fernsehapparat, der lange Zeit auch der einzige in der gesamten Wohnung war. Mit Hilfe dieses röhrenglühenden Monstrums verschwand mein Onkel gern vollständig in den ihm vorgegaukelten Welten und befand sich gleichzeitig auf einem sehr einsamen Vorposten. Nebenbei stand er dort als unser medialer Filter seinen Mann. Anfangs mußte er mit einem einzigen Fernsehprogramm auskommen erst später kam ein zweites hinzu. Er brauchte im Grunde niemanden. In seinen vier, streng genommen zwei eigenen Wänden erschuf er sich mit der Zeit eine so geheimnisvolle Realität, daß sogar meine beiden Cousinen es waren seine Töchter sich zu ihm wie zu einem Fremden verhielten. Beim Konsumieren des Fernsehprogramms tat Onkel ONKEL so gewichtig, daß ich immer das Gefühl hatte, er wäre von großartigem Wissensdurst getrieben und würde sich vor dem Bildschirm gezielt auf neue umwälzende Großprojekte vorbereiten. Ich glaubte weiterhin an ihn jedenfalls in handwerklicher Hinsicht. Wenn man ihn durch den Spalt seines Vorhangs ansprach, an dem eine kleine Glocke hing, rief er immer laut:
– Psst! Nicht! Jetzt nicht! Sei still!
Wenn der Onkel von der Arbeit nach Hause kam, ging er als erstes zu seinem Fernseher und schaltete ihn ein. Während das Röhrengerät warmlief, zog sich Onkel ONKEL seine Hose aus und füllte seine Pfeife. Onkels journalistischer Beruf war anstrengend, verantwortungsvoll und vielschichtig. Er war der alleinherrschende Chefredakteur, der stellvertretende Chefredakteur, der verantwortliche Redakteur und die Sekretärin in einer Person, und die Fachzeitschrift für Energetik, Energiewirtschaft und Energiepolitik, die er vollkommen allein redigierte, las bei uns niemand. Für niemanden von uns hatte sie je etwas bedeutet. Außerhalb unserer Familie schien diese Monatsschrift außerdem vollkommen unbekannt zu sein. Trotzdem dürfte man meinen Onkel ohne weiteres als Karl Kraus der Energetik, Energiewirtschaft und Energiepolitik bezeichnen, denke ich. Obwohl ich zugeben muß, daß ich ihn nie im Leben an einem einzigen Artikel in Manuskriptform habe arbeiten sehen.
Eine ganze Weile nach dem Einschalten zeigte Onkels Fernseher die ersten beweglichen Bilder und lief und heizte dann ohne Pause bis zum Schlafengehen. Das Einstiegsmodell war noch riesig, der winzige Bildschirm wirkte darin wie ein Guckloch. Mit der Zeit wurden Onkels Bildschirme selbstverständlich immer größer. Weil er ein von der Technik begeisterter Mensch war, kaufte er in den Folgejahren grundsätzlich alle Neuentwicklungen, die der sozialistische Elektronikbetrieb TESLA herausbrachte. An diesem Ausgabenposten sparte er nicht.
Sein Ritual beim Zuschauen blieb jahrzehntelang unverändert. Er legte seine weichen weißen Beine auf seinen selbstgebastelten Nierentisch, rauchte dabei seine Pfeife und trank seine oft selbstkreierten Gesundheitsliköre und Kräuterschnäpschen. Ab und zu kommentierte er erregt das Programm, und dank der zentralen Lage seines Zimmers wußten über seine Gemüts- und Meinungslage jedefrau und jedermann Bescheid. Mit dem »jedermann« bin ich gemeint. In Onkels Schrankmauer gab es anfangs noch kleine Ritzen, durch die man ihn beobachten konnte. Als er diese nach und nach abdichtete, blieben uns allen nur noch links- oder rechtsseitige Durchblicksmöglichkeiten an seinem Eingangsvorhang übrig.
Als junger Mann muß mein Onkel noch ausgesprochen lebendig und witzig gewesen sein. Eva, seine zukünftige Frau, war von ihm ganz hingerissen. Und sie wollte ihre Begeisterung auch mit ihrer Mutter teilen. Nachdem sie ihn das erste Mal mit nach Hause genommen hatte, fragte sie:
– Wie findest du ihn, sag mal.
Dieser Mann wird später dick oder krank oder beides, meinte Lizzy trocken.
Den Mann, der mein Onkel war, nahm man nie wirklich ernst hinter seinem Rücken sprach man von ihm wie von einem Trottel , trotzdem hatten auch die stärksten meiner vielen Frauen eine Heidenangst vor ihm. Ich war ihm als Kind natürlich hoffnungslos unterlegen. Zwischen ihm und den Frauen, die als Clique unbesiegbar waren, gab es eine Art Waffenstillstand. Pro forma wurde jedenfalls so etwas wie ein Gleichgewicht simuliert. Gegenüber seiner Frau Eva hatte Onkel ONKEL allerdings gewisse, wenn auch nur beschränkte Vollmachten. Zum Beispiel durfte er sie zwingen, sich vor die Glotze zu begeben und gemeinsam mit ihm bestimmte Sendungen abzusitzen. Tante Eva, die nicht in der Lage war, sich von ihm scheiden zu lassen, bewohnte ein bescheidenes Nordostzimmerchen, das sehr weit von der Wagenburg entfernt lag. Wenn sie von ihrem Gebieter, meinem Onkel, zu einer Fernsehsitzung gerufen wurde, kam sie, setzte sich hin und widersetzte sich dem Terror dergestalt, daß sie sofort einschlief. Nach der Pflichtsendung mußte sie sich noch einige Vorwürfe anhören und durfte dann wieder gehen; manchmal wurde sie als eine Ignorantin schon während der Sendung verjagt. Und sie las dann fleißig die halbe Nacht fremdsprachige Bücher, weil sie eine gebildete Frau war, sieben Sprachen sprach und relativ wenig Schlaf brauchte.
Manche Seltsamkeiten waren für uns Kinder nicht weiter verwirrend, wir waren einiges gewöhnt. Mit schwer verdaubaren Eindrücken und unlogischen Informationsbrocken versorgte uns vor allem die Urtante Bombe. Urtante Bombe war in Wirklichkeit keine Tante von mir; das »UR« war in ihrem Fall sowieso nur ironisch gemeint. Sie wurde eher zwangsläufig zu dem, was sie war, weil sie in unserer Wohnung schon seit dem Kriegsende wohnte länger als ich. Ihr Status und der Grad ihrer genetischen Assoziierung mit unserer Familie wurden nie ganz geklärt. Da aber auch die fast verwandtschaftlichen Beziehungen bei uns schon eiserne Verpflichtungen mit sich brachten, kam es nie in Frage, ihr Zimmer zu beanspruchen und sie auszuquartieren. Auch während eines ihrer Auslandsaufenthalte blieb ihr Zimmer ihr Zimmer. Schwer zu sagen, ob diese Urtante ein Glück oder Unglück für mich war. Dank ihrer überstarken Präsenz wußte ich lange nicht, in welcher Zeit und welchem Land ich eigentlich lebte. Und auch nicht, in welche Richtung die Moldau floß. Oberhalb des Altstädter Wehres stand das Wasser relativ ruhig, und die Wellen bewegten sich je nach Windrichtung mal mit, mal gegen den Strom.
Fließt das Wasser nach links oder nach rechts?
Siehst du das nicht? Nach unten! sagte sie und zeigte nach oben also in die südliche Richtung.
In Budapest war alles anders. Großzügiger, fast wie in Wien, meinte sie nach einer Weile.
Die von mir etwas später angefertigten Stammbäume der beiden Familien also unserer und der von Urtante Bombe berühren sich in ferner Vergangenheit an zwei offengebliebenen Stellen; und zwar ausgerechnet in Budapest, wo seit dem Krieg nur noch einige kontaktscheue Reste der Familie festsaßen. Von diesen ignoranten Menschen, die sich das ist kürzlich bei einer Nachfrage mein Eindruck gewesen längst schon als ungarische Nationalisten fühlen und reine Sozialneid-Antisemiten geworden sind, wird man leider nichts mehr erfahren können. Die Urtante kam als »displaced person« nach Prag, und ihre Zugehörigkeit zu uns gründete sich sowieso nicht auf irgendwelchen verwandtschaftlichen Klarheiten. Sie war vor dem Krieg die Geliebte eines Anwalts gewesen, der ein Arbeitskollege meines noch vor dem Krieg verstorbenen Großvaters war. Nach dem Krieg versuchte Urtante Bombe bei anderen Verwandten in der Deutschen Demokratischen Republik unterzukommen, kehrte aber bald wieder zurück und wirkte etwas verwirrt. Und war noch kommunistischer geworden. Als ich sie später einmal nach den Möglichkeiten der ostdeutschen Bevölkerung ausfragte, Fernsehprogramme aus der Bundesrepublik zu empfangen, sagte sie resolut:
– Aber das tut man nicht, das tut man einfach nicht.
Auf alten Fotos haben meine vielen Tanten trotz ihrer Unterschiedlichkeit oft einen ähnlichen Gesichtsausdruck: sie sehen etwas vorsichtig in die Ferne und lächeln dabei leicht. Urtante Bombe bildet hier eine absolute Ausnahme. Ihre aufgerissenen Augen sind immer voller Schreck wie vor einer jederzeit zu befürchtenden Bombenexplosion. Dabei war sie als Sozialistin grundsätzlich voller Glauben an die Zukunft.
Daß meine private Zukunft sich zwischen den Nippeln und Spalten der fraulichen Neozoikallandschaften abspielen würde, schien mir mehr als natürlich zu sein. Und da auf mich diese Vorstellung nie beunruhigend gewirkt hat und ich kein feingeistiger Dichter geworden bin, bin ich beim Verschriften der Liebesthematik, beispielsweise auch beim Behandeln spezieller Stichworte wie VORFREUDIGE SAFTVULVA, Beihodennullbeitrag, ZERHEULTE ROTZE, Pollution verschmähten Bulbourethral-Schleims, VERPILZTE VORHAUT, Abschiedsausfluß und einiger anderer, um größere Geschmacksverbrechen herumgekommen ich hoffe es jedenfalls. Zum Glück hatte ich aber auch nie das Bedürfnis, mir wegen meiner Nippel-, Hügel- und Spaltenphilie übertrieben viel Jubel abzupressen. Nebenbei bin ich sowieso ein Gegner jeder ernstgewuchteten Poesie geworden, und mein Schädel füllt sich seit meiner Kindheit mit dunkler Leere, wenn ich gedichtartige Wortgebilde zu sehen oder zu hören bekomme. Kein Wunder! Der junge Georg wurde durch die Fernsehsendung »Das sonntägliche Sträußchen der Poesie« tieffurchig traumatisiert. Ein an ein Klavier gelehnter Schauspieler sagte zehn Minuten lang mit unsäglichem Pathos schwülstige Reime auf, und die ganze Nation nicht nur Georg litt, weil jedermann auf den ausländischen Spitzenspielfilm der Woche wartete.
Die Naivität, mit der ich alle möglichen auf mich einwirkenden Kraftfelder und mich durchschreitenden Energiequanten ertragen habe, kommt mir im Nachhinein erschreckend vor. Da ich mir in der Schule ein Schema über die für die Wetterbildung hauptverantwortlichen Luftströmungen nicht sphärisch vorstellen konnte, gab ich es irgendwann auf, mich mit den Gründen für Wetterveränderungen zu befassen. Ich wußte einfach nicht, warum es unabhängig von der Sonnenstrahlung draußen manchmal viel kälter oder wärmer war, als beim Blick durchs Fenster zu erwarten gewesen wäre. Ich nahm das Wetter über dreißig Jahre lang einfach hin bis ich einiges endlich anhand von Satellitenbildern begriff. Ähnlich naiv betrachtete ich die psychischen Dispositionen meiner Mitmenschen und schätzte ihre seelische Aussteuer als etwas ein, das jeder im fertiggebackenen Zustand geliefert bekommen hatte. Und da die jeweiligen Seelen ganz offensichtlich nicht mehr umgebacken werden konnten, nahm ich beispielsweise an, jeder wäre gezwungen, auch mit seinen ihm untergeschobenen Macken für immer auszukommen möglichst auf der Basis eines Stillhalteabkommens. Lüfte bliesen, Substanzen verteilten sich, Energien flossen oder flossen nicht. Wenn zu uns bestimmte Menschen kamen und laut klagten, war mir seit dem Sabberalter intuitiv klar, daß den meisten von ihnen nicht zu helfen war.
– Wieso kommt aus mir nie Kunst heraus, wenn ich etwas aufschreibe? jammerte ein bekannter Journalist wiederholt bei uns.
Ich mußte mich glücklicherweise nie darum kümmern, was aus mir später herausströmen wollen würde. Ich konnte ruhig warten, bis sich die für mich bestimmten Überraschungen konkretisieren würden. Daß zähfließende Schmiersubstanzen oft üble Flecke hinterlassen konnten, beschäftigte mich meine ganze Kindheit überraschenderweise auch noch nicht. Für einen erwachsenen Mann und Familienvater, wie ich heute einer bin, ist eine solche Lässigkeit kaum vorstellbar. Dabei lassen sich manche Flecke überhaupt nicht entfernen, ohne die Substanz und Struktur des Fleckträgerstoffes zu beschädigen. Ein ungünstig plazierter Fleck kann eine ganze Hose ruinieren, einen grauenhaften Besucher auf einem farb-aktiven Fußbodenbelag verewigen, einer Seele einen Schlachtstempel aufdrücken. Wann habe ich begonnen, die oben genannten und mit ihnen verknüpften Dinge in mir zu ordnen und zueinander in Beziehung zu setzen? Der Georg von heute, der nach der Kindergartenzeit auf den Toiletten Mittel- und Osteuropas vierzig Jahre lang falsch das heißt im Stehen gepinkelt hat, weiß es leider nicht.
Georg, Georg, Georg! hallte es von überall. Dauernd ging es nur um Georg trotzdem ließ man den Armen oft nur wundzappeln.
Wie unterschiedlich die Stellung eines fraulichen Beckens zu ihrem übrigen Körper zum Rücken, zu den Schultern und Schenkeln dieser oder der daneben stehenden Frau sein kann! Wie unterschiedlich sich dadurch die Wölbung eines Hinterns gestaltet! Und die Festigkeitsunterschiede der darin verborgenen Grundsubstanz! In welchem Alter ich angefangen habe, meine wertvolle Zeit mit diesbezüglichen Beobachtungen zu vertrödeln, kann ich mich ebenfalls nicht erinnern. Auf jeden Fall recht früh, und leider gibt es auf dieser Bahn, wie ich jetzt weiß, für Menschen wie mich irgendwann kein Zurück mehr. Wenn man einmal anfängt, edle Gender-Studien der heiligen Ärsche zu betreiben, rutscht man zwangsläufig immer tiefer in diese Saftgrube, wird man als zukünftiger Invulvator kettenhündisch auf Dauer involviert, und es ist anschließend egal, ob man sich mit der aktuellen Rutschbahnbeschaffenheit im Sinne der Forschung beschäftigt oder unterwegs nur ungläubig staunt. Wie richtungsstrebig man sich nebenbei auch zu winden versucht: Man bleibt im Zentrum des Themas trotzdem verfangen, bleibt ihm sozusagen treu. Ist es etwa ein Geheimnis, daß jede Frau ihr ORGAN DER MITTE auf jedem Schritt und Tritt bei sich trägt? Steigt die gefühlte Temperatur des weiblichen ZENTRALORGANS aus dem Grund scheinbar immer nur an, weil sich ihm dieses vom Bewußtsein des jeweiligen Forschers gut abgeschirmt gern im Dunkeln seines Schädelinneren nähert, überhitzt wie ein Kleinkind nach dem Einschlafen? Die Vorstellungsgewaltigen unter den Männern sehen das frauliche Zentralmassiv zwangsläufig pausenlos vor ihrem inneren Hodenauge, stellen sich die Doppelwülstchen, welche die vakante Mitte links und rechts umranden, räumlich vor, hören fast, wie diese Doppellippen bei den Bewegungen der Schenkel, also bei jedem Schritt in einen leisen Massagevorgang verwickelt werden und dabei manchmal sogar zirpen vom Schmatzen würde ich hier nicht gern sprechen wollen. Auch dieser Text wird zwangsläufig keinen anderen Weg nehmen können als den durch den Haupteingang. Und jetzt Posaunensalven, bitte! Schon der Einstieg bei derartig massiver Sogwirkung und bei so viel Überzeugungskraft und der folgende allumfassende orgasmus-nahestehende Erstkuß! Wen kann es dann verwundern, daß man gleich nach dem anfänglichen Innenkontakt im vulvalen Feuchtkanal von Großmut durchflutet wird und am liebsten ausrufen möchte: Seid umschlungen, Millionen! Oder bodenständiger etwas wie: Seid umschlungen, Millionen gelobter Eicheln!
In wie viele Phasen meine private Gefühlsachterbahn auch einzuteilen wäre, ich würde sie in diesem Text nicht nur alle gern benennen, sondern die einzelnen Zeitsegmente unbedingt auch chronologisch sortiert sehen. Ich würde daran aber sicherlich scheitern. Soll sich beim Lesen jeder sein eigenes Zeitschema zusammenbasteln und jeder ein anderes, von mir aus. Ich kann sowieso jedem nur raten, sich auf die natürlichen Gezeiten seiner faunischen Weichteile zu verlassen. Ich ließ die Dinge beim Schreiben auch einfach fließen und überließ den Rest dem zuverlässigen Selbstheilungsdrang, den auch jede andere, einigermaßen lebendige Körpermasse besitzt. Daß ich dabei einige abgekapselte Altfurunkel aufgerissen, einige Ritz-, Riß- und Widerhakenwunden frisch produziert habe, bestreite ich nicht. Nur keine Jahrestage feiern, nur keine Gedenkveranstaltungen organisieren, bloß nicht irgendwelche Zeit-, Übersichts- oder Bildtafeln aufstellen. Einmal sah ich von weitem eine Gedenkveranstaltung, die im Freien stattfand. Es war im kalten Januar, es ging um die Befreiung von Auschwitz. Auf eine Leinwand wurden hintereinander gräßliche Schwarz-weißfotos projiziert. Natürlich die bekannten Berge von Brillen, Schuhen und Haaren. Es kamen auch Skelette, Goldfüllungen und Gebisse an die Reihe. Als die Gebisse die Szene eroberten, taten sie es ausgesprochen dynamisch. Es kam eine Brise auf, die Leinwand wellte sich leicht und die Gebisse begannen, leise zu kauen. Der Wind wollte sich partout nicht legen, und so kauten danach sogar auch die steifen Oberkiefer der benachbarten Schädel aufeinander, auch in den Bildern der Leichenberge begann sich plötzlich das Leben zu regen. Schnell weg, sage ich nur. Und laßt mich liebe Leute bloß nicht weiter geschmacklos faseln.
Natürlich ist es bedauerlich, wie reduziert ich mich den meisten Menschen in meinem Leben gezeigt habe mit angesetzten Brustzwingen und festgezurrten Herzbanderolen, gezähmt, wie ich nicht bin. Was Nähe und Sympathien betrifft, bin ich auf extrem-elliptischen Bahnen oft in Schräglage geraten, oft durch Geschmacklosigkeiten eigensinniger Wahlbrüder beseelt worden. Was blieb mir auch anderes übrig, als mich im Verborgenen mit vorbildhaft verdorbenen Menschen gleichzeitig den Meistern ihrer egomanischen Befreiung zu umgeben. Der ehrliche ALWAYS-MERRY-AND-BRIGHT-Henry, der treuherzige Henry Miller der zarte, weiche, liebevolle Chronist seiner Kindheit in Brooklyn, gehört dazu. Dieser angebliche Leichtbau-Antisemit im Kreis seiner jüdischen Freunde, dieser verbindliche, seriell monogame Rennrad-Enthusiast, der mit seiner jüdischen Schicksalsbraut June sein Leben lang beschäftigt blieb. Eine Tania gab es in seinem Leben auch. Jedermann sollte seine Alltagsschwere mal ablegen und bei Henry etwas dazuzulernen versuchen. Die wichtigste aller Übungen: Die OVARIEN von Geliebten WEISSGLÜHEN zu lassen. Und dann nichts wie ab auf die bereits angeschwollene Ovarienbahn, um dem Meister kurz in die Augen zu schauen. Wenn auch Henrys Tania in Wirklichkeit Bertha hieß und nicht Selbstmord beging wie meine, sind wir trotzdem Verwandte. Und wir hatten in einem Punkt beide Glück wir haben im Leben keine lächerlichen Gegner erwischt. Leider ist der apolitische Henry in einer ganz anderen Welt aufgewachsen als ich, und seine mit ihm nie zufriedene Mutter war aus einem mir mehr als fremden Kalkstein gehauen. Wenigstens gefiel Henry das sowjetische Eine-Meinung-sonst-Handzerquetschen-und-Herzraus-Regime auf Anhieb nicht. Und wenigstens versuchte er im Jahr 1938 den zweiten Weltkrieg zu verhindern, indem er einen Marsch von französischen Kriegsversehrten organisieren und sie massenhaft zu Hitler schicken wollte sie sollten möglichst bis an die tschechoslowakische Grenze marschieren. Henry litt oft Hunger ich nicht, er ließ sich von einigen seiner Frauen schlecht behandeln in meinem Leben gab es keine solchen KREUZIGUNGEN IN ROSA. Was einem die sozialistische Stabilität gab, diese Art Zukunftssicherheit ohne Eigenbeteiligung, darüber kann Henry in der Realität nicht das Geringste erfahren haben. Immerhin war seine erste langjährige Sexpartnerin Pauline etwa um zwanzig Jahre älter als er. Diese Konstellation glich fast der von mir und Dana.
In meinem Land stolperte man mit den Augen an jeder Ecke über die Losung »MIT DER SOWJETUNION AUF IMMER UND EWIG« für ewige Zeiten, hieß es im Tschechischen. Darüber hatte man sich nicht zu wundern, und man wunderte sich darüber auch nicht. Und daß man bei allen Revolutionen erst einmal massenhaft Menschen umbringen mußte, gehörte zu jedermanns Grundwissen seit der Grundschule. Im Sozialismus gehörte alles allen, und mir wurde erst viel später klar, wie geprägt ich vom Gefühl des gemeinsamen Schicksals aller fortschrittlichen Völker, auch vom Gefühl des gemeinsamen Eigentums, gewesen war. Straßen, Straßenbahnen, Gullys, Laternen, die farbigen kleinen Pflastersteine der Gehwege, Bäume, Sträucher und Singvögel das alles gehörte auch mir. Wenn eine Straße zu viele Schlaglöcher bekommen hatte, wurde sie irgendwann neu asphaltiert. Wenn man Löcher in den Strümpfen hatte, stopfte man sie wieder mit Stopfgarn Stopfgarn und Nadeln gab es in den sozialistischen Geschäften fast immer zu kaufen. Wenn die Stopferei anschließend familienintern erledigt wurde, bezahlte man dafür selbstverständlich keinen einzigen Heller. Und da ich das Stopfen beim Handarbeitsunterricht in der Schule gelernt hatte und diese Fertigkeit nicht verlieren wollte, stopfte ich meine Strümpfe oft selbst ebenfalls umsonst, versteht sich. Wenn aber der Staat seine eigene Straße gestopft haben wollte, mußte er dafür, wie ich zufällig einmal erfuhr, eine Firma seine eigene Firma wohlgemerkt BEZAHLEN. Ich weiß noch, wie schockiert ich war, als diese derartig unanständige Transaktion in meine Welt einbrach.
Dafür, was ich in diesem Text meiner Mutter und den anderen Toten antue, werde ich auch noch bezahlen müssen. Die Schwere meiner Schreibvergehen wird nicht nur in meiner etwas unanständigen Heftigkeit zu suchen sein. Ich war im Laufe dieser meiner Aufgabe gezwungen, auch einen Teil meiner politischen Loyalität meiner Mutter und ihren ehemaligen Gefährten gegenüber aufzugeben. Alle diese Leute mehr oder weniger konsequent zu verraten, könnte man sagen.
Unsere Wohnung wurde optisch auch wenn bei uns niemand übernachtete von penetrant gemusterten, meist sehr bunten Vorhängen beherrscht. Diese sollten irgend etwas abschirmen, verdecken, vereinheitlichen, im Grunde aber auch verschönern meist mit Hilfe von großflächigen Blumenmustern. Mein heutiger politischer und sonstiger Geschmack formte sich wahrscheinlich als Teil einer allumfassenden, vor allem aber auch ästhetikgestützten Rebellion. Ich rebellierte gegen fast alles, was mich zu Hause umgab, also auch gegen die in der Wohnung nicht ganz gleichmäßig, trotzdem reichlich verteilten Geschmacksverbrechen. Diese waren erdrückend, weil unser einziger Familienhandwerker Onkel ONKEL war – und Onkel ONKEL fand alles, was praktisch und billig war, zwangsläufig auch schön. Gleichzeitig benutzte er beim Bauen und Basteln mit Vorliebe gefundene, übriggebliebene oder einfach in Form und Beschaffenheit also aus rein technischer Sicht geeignete Materialien, die er dann kunterbunt in- und aneinanderfügte. Sein Ausbaueifer wurde leider viel zu spät eingedämmt und strengeren Kontrollen unterworfen. Und wenn es später den Kollaps seiner visionären Etagenheizung nicht gegeben hätte, hätte er vielleicht bis zum bitteren Ende gewütet, möglicherweise seinen eigenen Sarg mit bunten Zierleisten verunstaltet.
Unsere nicht zueinanderpassenden Schränke waren in puncto Stil, Alter oder Abnutzungsgrad zu unterschiedlich, um ein harmonisches Bild abzugeben; sie hatten es aber trotzdem nicht verdient, hinter derart dumm-heiteren Sichtblenden gehalten zu werden. Manche dieser Schränke waren samt ihren Kratzspuren und Verletzungen ausgesprochen reizend und hatten Charakter. Die meisten ihrer Wunden waren mit der Zeit sowieso dank Staub, dank eingesaugter Dämpfe und dank vieler Politurschichten längst geheilt. Dagegen konnte man hinter den gemusterten Stoffen nur ganz üblen bis abartigen Monsterkram vermuten, wenn nicht gar mumifizierte Leichen. Onkels Schrankmauer wurde natürlich auch verhangen dort, wo sich viel Kleinkram befand, sogar doppelt. Im Zimmer eines meiner Schulfreunde standen ausnahmslos nur einfache alte Möbelstücke, die meisten aus weichem Holz und sie waren mit der gleichen roten Ölfarbe bepinselt. Der nicht ganz fachmännische, nicht immer deckende Anstrich und die vielen Farbtränen gehörten dazu. Ich war begeistert und ging immer wieder hin, um diese mutige, zugleich auch einfach herzustellende signalrote Harmonie zu genießen.
Unsere Vorhänge waren nicht nur konzeptionell eine Katastrophe und ein großer Irrtum, sie hingen zu allem Unglück noch auf nicht ganz stabil angebrachten Stangen, Leinen oder Leisten, auf denen die sozialistischen, nicht immer leicht gleitenden Haken, Ringe beziehungsweise Rollen klemmten und sich stauten. Bei ruckartigen Versuchen, diese trotzdem zu bewegen und den gestauten Stoff gerecht zu verteilen, stürzten oft ganze Vorhangsysteme zu Boden. Daraufhin blickten einen die entblößten Schränke bitter-böse an wie alternde Frauen, die sich ihrer Körper bereits seit zwanzig Jahren schämen. Manchmal brachen bei den Abstürzen eingegipste Verankerungen aus der Wand, ein andermal wurden sogar irgendwelche Stützwinkel aus dem Edelholz der Schränke herausgerissen. An den metallischen Klang einer im Bad überdurchschnittlich oft kollabierenden Stange kann ich mich bis heute erinnern.
Vorhänge dienten bei uns manchmal auch als Ersatztüren einzelner Schränke, wenn ihr Schließmechanismus kaputt war oder ihre Scharniere bei Karussellspielen der kleinen Cousine endgültig nachgegeben hatten. Einmal sollten sogar auf meinen eigenen Wunsch die Türen zweier (wieder mal geerbter) Schränke, die ich nach der Rückkehr aus der Schule plötzlich in meinem Zimmer vorfand, durch Vorhänge ersetzt werden. Die durchfallgelb lackierten Arme-Leute-Ungetüme waren so häßlich, daß ich einen Verzweiflungsanfall bekam. Ihre Türen waren voller Zierleisten und vorgetäuschter Schnitzereien, außerdem hatten sie in der oberen Hälfte große verglaste Öffnungen; in das Glas waren Blüten und Blätterkreationen geätzt. Als ich am Wochenende nicht zu Hause war ich absolvierte den üblichen Zwangsbesuch bei meinem Vater , wurden die Türen entfernt. Die an ihrer Stelle vom Onkel angebrachten Vorhänge waren natürlich wieder geblümt. Zu verhindern war dies nicht geeignete Stoffe waren bei uns immer vorrätig.
Mein und Großmutters Zimmer wurde danach noch häßlicher, und es konnte mich nicht trösten, daß in diesem Zimmer im Jahre 1948 eine ganze Weile die Baronin Nádherná gewohnt und sogar in meinem zukünftigen Bett geschlafen hatte. Sidi war nach dem kommunistischen Umsturz und dem Verlust ihres Schlosses damit beschäftigt, ihre Flucht nach England vorzubereiten und wichtige Bücher, Dokumente und Schriftstücke unter anderem auch Karl Kraus’ Briefe, dieses »Meer an Liebe« in Sicherheit zu bringen. Der Überlieferung nach rauchte die Baronin in meinem Zimmer so wild, daß sie sich dort wie zur Tarnung regelrecht einnebelte. Sie rauchte aber, mit dem Kopf halb hinter ihrem aufgeschlagenen Mantelkragen versteckt, auch auf der Straße, was damals eine Ungeheuerlichkeit war. Sie hustete viel. Baronin Nádherná wurde bei uns übrigens nie deutsch »Nádherny« oder sogar (um die zwei Vokalstriche gebracht und auf der zweiten Silbe betont) »Nadherny« genannt. Die »y«-Endung ist im Tschechischen männlich. Übrigens hatte Sidi ihren Namen während der Okkupation selbst verändert also zu »Nádherná« zurücktschechisiert.
In mein Zimmer ließ ich während meiner gesamten Kindheit nur ein einziges Mal einen Fremden eintreten. Der von mir ausgezeichnete Glückspilz hieß Petr Skopka; ich, der Unglücksrabe, hatte Geburtstag. Es war Anfang November, draußen war es äußerst ungemütlich, und die uralte mannshohe Gasheizung, die viel zu nah an meinem Bett stand, wurde wie üblich vor allem aus Sicherheitsgründen nicht angeworfen. Die Innereien des gußeisernen Monstrums waren verwackelt, und das Abzugsrohr war vom Onkel etwas experimentell angeschlossen worden es führte von oben nach unten und verschwand in der Wand erst kurz oberhalb des Parkettbodens. Das Besondere an diesem Museumsstück war noch, daß man sein emailliertes Regulierungsrädchen mit den Ziffern 1, 2 und 3 einfach aufdrehen und den luftigen Kraftstoff auch vollkommen flammenlos strömen lassen konnte. Eine Heizung dieser Generation kam noch ohne ein Kontrollflämmchen und ohne jegliche bimetallische Sicherung aus.
Die Geburtstage wurden bei uns schon am Vorabend gefeiert, meistens erst spät nach dem Abendbrot. Ich wunderte mich darüber immer wieder. Diesmal war aber einiges anders. Die Geburtstagsfeier fand am Nachmittag statt, außerdem sollte irgendwann auch mein Vater vorbeikommen. Er kam tatsächlich, mit Skopka gab es aber schon nach kurzer Zeit einen Streit, dann einen verbissenen Kampf auf dem Fußboden, obwohl es in meinem Zimmer für einen richtigen Kampf nicht genug Platz gab. Irgendwie sollten wir uns in einer schmalen Schlucht zwischen den türlosen Schränken und einem riesengroßen, fast nie genutzten Eßtisch gemütlich ausbreiten und spielen. Gleich nach dem Ringkampf ging Petr Skopka, der von den meisten mit seinem Nachnamen angeredet wurde, wieder nach Hause. Zum Glück ist ihm wenigstens mein charmanter, gutgelaunter Vater positiv aufgefallen und er erwähnte ihn in der Schule mehrmals. So gesehen war diese Testfeier ein Erfolg. Daß mein Vater an dem Tag wie üblich leicht angetrunken war, ging mir erst viel später auf.
Mein durch die zwei zusätzlichen Blumenschränke verunstaltetes Zimmer wurde nach dem Kampf mit Skopka für ein Jahrzehnt zu einer absoluten Sperrzone, und ich war erst in einer Notsituation wieder bereit, jemanden hereinzulassen. Der mit mir befreundete Glückspilz Nr. 2 war nur besuchsweise in Prag und mußte einen Abend irgendwo totschlagen. Wir saßen unbequem auf dem ehemaligen Bett der Baronin, als Tisch diente uns eine wackelige Platte, die lose auf einem wuchtigen Schiffskoffer lag. Den großen Eßtisch gab es nicht mehr. Dummerweise beschloß meine liebe Großmutter Lizzy, Sidis ehemalige Freundin, sich ausgerechnet an diesem Abend auch in »meinem« Zimmer aufzuhalten. Sie setzte sich auf ihr Bett, begann mit ihren üblichen Näharbeiten und empfand die Situation als vollkommen normal. Das Gespräch zwischen mir und dem Freund stockte, und mir wurde immer heißer im Kopf. Lizzy bekam unser Sprachwürgen gar nicht mit, da sie uns als eine gut erzogene Dame nicht belauschte.
Plötzlich bewegte sich mein verschwitzter und verkrampfter Freund etwas ausladender als erlaubt und streifte heftig einen der Schrankvorhänge. Ursprünglich sollten diese zwar nur die häßlich verzierten Schranktüren ersetzen, jetzt standen hinter ihnen aber noch und nur provisorisch angelehnt zwei zusammengeklappte Campingstühle. Die von mir nicht geliebten Sitzgeräte (»für deine Gäste ...«) rächten sich jetzt und kippten scheppernd nach vorn. Mein Freund vermutete einen feigen Angriff aus dem Hinterhalt, ging in Deckung und schützte instinktiv seinen Kopf. Mich überraschten die Stühle nicht mehr, ihre Aluminiumfüßchen gerieten auf dem Parkettfußboden immer wieder ins Rutschen allerdings erfolgten die üblichen Invasionen meist anders und sanfter. Die Stühle kamen einem meistens unterhalb des Vorhangs langsam entgegengerutscht, und man konnte sie dann mit einem gezielten Tritt wieder zurückdrängen. Ich stand auf und richtete die Stühle auf als ihre Füßchen aber unten wieder zu rutschen begannen und ich mit Wut gegen den Vorhang trat, hielt es mein Besucher nicht mehr aus und ging. Ich sah ihn nie wieder.
Zwischen meinen vielen Tanten gab es nicht nur graduelle Unterschiede im Verwandtschaftsgrad mir gegenüber, in erster Linie unterschieden sie sich dadurch, wie sie den Krieg überlebt hatten. Meine Hauptgroßmutter Lizzy und ihre beiden Schornstein-Töchter also meine Mutter Anna und Tante Eva, die Frau meines Schrankghetto-Onkels waren in diversen Lagern gewesen, unter anderem auch in Auschwitz. Meine slowakisch-ungarische Tante Györgyi war nach Ungarn geflohen, hatte sich in Budapest versteckt und entkam Eichmanns Transporten nur mit Hilfe ihres Schutzpasses von Wallenberg; ihre Tante wiederum ihre gleichaltrige »Urtante« Klára war mit ihrem ganzen Schmuck irgendwo in der Pußta untergetaucht und hatte vom Krieg nicht viel mitbekommen. Meine nächste Tante Erna hatte den Krieg in England überlebt. Sie kannte das Brummen der V1-»Motorräder«, hatte vor allem die Momente verinnerlicht, wenn der laute Membranenantrieb weit oben in der Luft aussetzte. Wirklich zugesetzt hatten ihr dann später die V2-Raketen und die andauernd berstenden Fensterscheiben. Man konnte sie daher mit jeder Art von Krach mit Überraschungscharakter ärgern. Als Leidende durfte sie sich allerdings nie in den Vordergrund spielen. Daß sie auch sonst zurückgepfiffen wurde, wenn sie etwas erzählen wollte, hing aber eher damit zusammen, daß sie furchtbar naiv war und oft Unsinn redete.
Daß sie dumm war, wurde ganz offen auch in ihrem Beisein besprochen. Sie war aber eine schöne Frau und trumpfte trotz allem immer wieder auf auch ohne einen großartigen Leidensweg vorweisen zu können. Ihre Stärken waren der Zauber ihres charmanten Lächelns und die Begabung, auf die Bedürftigkeit der Bedürftigen einzugehen und gleichzeitig ihre Schadhaftigkeit zu ignorieren. Ernas neue Bekanntschaften, denen ihr Mangel an Bildung und ihre Begriffsstutzigkeit noch nicht aufgefallen waren, ließen sich von ihr gern beeindrucken und nebenbei plump manipulieren. Erna spezialisierte sich bei der Kontaktsuche auf Menschen, die aus uns vollkommen fremden Kreisen stammten, so daß wir immer wieder ausgesprochen exotische Männer (»Das ist endlich der Richtige!«) zu sehen und seltsame Splitter der damaligen Realität beinah zu riechen bekamen. Wir erfuhren, daß es auf der Welt Spezialisten gibt, die sich mit dem Abzapfen von Bullensperma beschäftigen, uns wurde klargemacht, daß Werkzeugmacher nichts mit der Herstellung von Zangen oder Schraubenziehern zu tun haben, und wir erfuhren endlich, daß unsere schmackhaft gewürzten Würstchen nebenbei aus Schlachtabfall, Fettgewebe, Augen, Hautemulsion, verschimmelten Semmeln, Knochenmehl, dem vollkommen anorganischen »A«-Gel und anderem Chemiedreck bestehen.
Tante Bombe war in Theresienstadt immer wieder krank geworden nicht ganz schlimm, aber schlimm genug , so daß sie allen Transporten entkommen konnte. Und sie blieb dort bis zum Kriegsende. Die Kellertante Peprl wurde irgendwo auf dem Lande in einem Schuppen versteckt, erzählte davon aber nie. Vielleicht gab es darüber nicht viel zu erzählen.
Von meinen vielen Tanten entfernte sich keine Einzige aus der Gemeinschaft, die ganze Zeit nicht. Sie fanden einander nach dem Krieg relativ schnell und schweißten sich zu einem festen Schutzklumpen zusammen. Eine etwas minderwertige Sonderstellung besaß die gerade erwähnte Tante Peprl, die ich bei der Aufzählung weiter oben zum Glück nicht ausgelassen habe. Sie wohnte ganz allein im Souterrain und verschwand aus meinem Bewußtsein oft für Wochen wie eine Ausgelöschte. Der Grund für das filmrissige Verhältnis zwischen uns wurde mir später etwas klarer: Die Arme wurde ausgerechnet im Zusammenhang mit meiner Geburt ausgesiedelt. Die leer gewordene, halbwegs in der Erdkruste steckende Souterrainwohnung des ehemaligen Hauswarts wurde für sie, nachdem meine Mutter von meinem noch anwesenden Vater geschwängert worden war, in Beschlag genommen und renoviert. Wenn die Kellertante Peprl im Sommer hinter ihrem vergitterten, ausnahmsweise aber doch offenstehenden Fenster saß und ich ihr schattiges Gesicht entdeckte, erschrak ich.
Wer wohnt hier unten? Kann man hier überhaupt wohnen? fragten manchmal Schulfreunde, die mich unbedingt bis zur Haustür begleiten wollten.
Eine alte Frau, sagte ich so neutral und so schnell wie möglich. Meistens ist sie aber gar nicht da.
Tante Peprl war aber immer da, darauf konnte man sich verlassen. Man mußte für sie manchmal eilig Dinge besorgen gehen, die bei ihr trotz ihrer schriftlichen Bestellungen diese steckten in einer Art von totem Briefkasten im Treppenhaus immer noch nicht angekommen waren. Ich war eben nicht der Einzige, der sie wiederholt ausblendete. Die tatsächlich Toten unserer Familie wie die drei Schornsteinbrüder waren bei uns oben auf alle Fälle präsenter als sie. Jedesmal, wenn ich Peprls winzige Wohnung betrat, überraschte mich, wie zufrieden sie wirkte. Manchmal saß sie im Dunkeln auf ihrem Küchenstuhl und meinte, beim Nachdenken müßten im Grunde auch andere Menschen nicht unbedingt das Licht brennen lassen nicht nur sie.
Meine größte Freude seid ihr Kinder, weißt du das? Und vor allem du, erzähl das aber nicht den Mädchen.
Bei uns oben herrschte mehrheitlich die Meinung, Tante Peprl hätte es dort unten schön ruhig, und wegen ihrer Hüftprobleme sei es auch ihr Wunsch gewesen, nicht so weit oben zu wohnen. Sie selbst sprach so ähnlich darüber. Was für ein Glück, meinte sie, daß sie trotz der schrecklichen Wohnungsnot in Prag so nah bei uns wohnen könne. Manchmal versuchte sie über ihre Existenz sogar zu scherzen in der Art, wie sie es aus der oberen Familienetage kannte.
Ich trainiere hier unten schon für den Friedhof.
Weit und breit gab es in Prag keine Familie wie die unsere. Die anderen Brutzellen der Gesellschaft waren wesentlich übersichtlicher. Ich konnte mir lange Zeit trotzdem keine anderen Existenzumstände vorstellen und hatte auch gar keinen Grund dazu. Meine Normalität sah so aus, daß ich pausenlos und intensivst von lauter mir zugewandten Frauen umgeben war. Diese fragten mich zwischendurch nicht nur nach meinem allgemeinen Befinden, sondern auch nach ganz speziellen Dingen, die in anderen Familien, wie ich annahm, kaum abgefragt wurden. Unter Umständen bekam ich mehrmals am Tag folgendes zu hören:
– Hast du heute schon gekackt, Georg?
Immer schön im Sitzen essen! Sonst rutscht dir alles gleich nach unten, und du bekommst dicke Beine.
Hast du heute schon ... groß, sag mal?
Jedesmal war ein anderer Akzent dabei, manchmal kam die Frage aus Versehen auf Ungarisch.
Kakiltál ma már, Georg?
Für ihre Penetranz konnte ich meine Damen problemlos bestrafen mit harmlosen Lügen über eine langandauernde Verstopfung oder über Blut im Urin. Die kurze Erstarrung, die nach solchen Scherzen die ganze Wohnung durchfuhr, war erfrischend. Zu den mich liebenden Frauen konnte ich bald auch meine beiden Cousinen rechnen, die wesentlich schneller reiften als ich und auch in ihrer Fürsorglichkeit schnelle Fortschritte machten. Dabei war eine von ihnen jünger als ich. Der Vater dieser beiden Kleinode, mein Onkel ONKEL, konnte mir als Gegenspieler und männlicher Konkurrent niemals gefährlich werden. Ich allein war das männliche Prachtstück unseres Geschlechts.
Die Schar der fraulichen Wesen um mich herum wurde noch durch etliche, nicht bei uns wohnende Großmütter verstärkt. Manche von ihnen waren allerdings nur virtuelle Großmütter, weil sie enkellos geblieben waren. Bei diesen zusätzlichen und ausnahmslos großbusigen Wesen handelte es sich um die Mütter der geflüchteten oder verstoßenen Männer. Diese oft schon verwitweten oder eben alleinstehenden älteren Damen kamen, weil sie auf die lebenslustige und anziehende Gemeinschaft in unserer Wohnung nicht verzichten wollten. Sie schlugen sich logischerweise auf die Seite der Majorität und wetterten offen gegen ihr eigenes Fleisch und Blut, vor allem aber gegen ihre neuen Schwiegertöchter.
Er war so ein süßer Junge! Leider ist er immer wieder an schlechte Freunde geraten und jetzt an diese Frau.