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»Meine Aufgabe ist es, in der Gewissheit meines Sieges zu leben und Gott wissen zu lassen, dass er besiegt ist.« Noch während Gordon Rabe im Fall verschwundener Kinder ermittelt, erreichen ihn mysteriöse Drohbriefe eines Psychopathen. Darin werden Satans Mordtaten angekündigt, deren Opfer jedoch nicht benannt sind. Besonders, als sich die Drohungen gegen Gordons eigene Familie richten, beginnt ein Duell, das alle Ermittler an ihre Grenzen treibt. Immer ist ihnen der Täter einen Schritt voraus und erweckt den Eindruck, dass er tatsächlich mit dem Teufel im Bunde steht.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
GERAUBTE SEELEN
Band 3
Von H.C. Scherf
Kriminalroman
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Geraubte Seelen, Band 3
© 2025 H.C. Scherf
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GERAUBTE SEELEN
Band 3
Von H.C. Scherf
Wer liebt, der hat den Schlüssel zur
letzten Wahrheit gefunden.
Wer hasst, steht vor dem Nichts.
© Martin Luther King
1
Niemand wird dich dort finden.
Der leblose und blutüberströmte Körper glitt in das Loch, das der ehemalige Bergbau dort im Waldboden zurückgelassen hatte. Nur ein immer mehr leiser werdendes Scharren verriet ihm, dass der Leichnam tiefer in den Hohlraum hineinglitt, um schließlich irgendwo dort unten die ewige Ruhe zu finden oder sich in dem endlos erscheinenden Schacht zu verkeilen. Keiner würde ihn dort unten jemals finden. Ines Schuckart war Geschichte, zumindest für ihn, der ihren qualvollen Tod herbeigeführt hatte.
Der Weg zurück zum Auto führte ihn wieder vorbei an dem Waldsaum, der noch immer durchzogen war vom Morgennebel und der Szenerie zusätzlich etwas Mystisches verlieh. Fröstelnd zog er die Schultern zusammen, da selbst er, der glaubte, das Böse zu verkörpern, bei diesem Anblick ein gewisses Unbehagen spürte. Immer wieder, wenn er hier seine Arbeit beendete, überfiel ihn das Gefühl, bei seinen Entsorgungen beobachtet zu werden. Er stoppte und wandte sich dieser Nebelwand zu. Sein Selbstgespräch, sein sichtbarer Atem wurden von dieser grauen Wand förmlich aufgesogen, als wollte sie ihn verhöhnen.
»Lasst mich in Ruhe! Ihr werdet mich nicht aufhalten können. Das, was ich tun muss, werdet ihr niemals verstehen ... niemals.«
Der Wald blieb eine Antwort schuldig. Dafür schickte er einen kalten Windhauch herüber, der den erregten Mann erstaunt zurückweichen ließ. Sein Gesicht verzerrte sich, wobei ein Betrachter nicht hätte sicher sein können, ob es Angst, kalte Wut oder eine Mischung aus beidem war. Letztendlich blieb purer, trotziger Hass zurück, der ein Gesicht kurzzeitig verunstaltete, das ansonsten als absolut attraktiv zu bezeichnen war.
Nach einigen Hundert Metern hatte der groß gewachsene Mann die Lichtung erreicht, auf der er seinen Wagen zwischen zwei Büschen geparkt hatte. Forschend betrachtete er die Umgebung, bevor er die Kofferraumklappe öffnete und die Plane heraushob, auf der zuvor noch der leblose Körper gelegen hatte. Der Sprühnebel des Desinfektionsmittels erreichte jeden Winkel der Plane und vernichtete jegliche Rückstände, die ihn und seine Fracht hätten verraten können. Mittlerweile hatten sich auch seine Gesichtszüge entspannt, die nun einen völlig anderen Menschen zeigten, der in der Masse der Millionen Gesichter der Stadt untergehen würde. Nichts an ihm verriet den Teufel, der noch Minuten zuvor von ihm Besitz ergriffen hatte. Ein Lächeln bewies seine beeindruckende Wandlungsfähigkeit, die ihn schon über Jahre vor einer zufälligen Entdeckung bewahrte und die oftmals übersteigerte Selbstsicherheit noch weiter verstärkte.
Ich bin ein Gott und nichts wird mir im Weg stehen, wenn ich diese Welt von unwertem Leben befreie.
Sorgfältig legte er die Plane wieder über den Boden des Kofferraums und richtete sie pedantisch exakt aus. Automatisch senkte sich der Kofferraumdeckel und verschloss den Raum, der schon oft dem Zweck diente, Opfer eines kranken Geistes zu transportieren. Zufrieden setzte sich der Fremde hinter das Steuer und verharrte minutenlang in dieser Position, ohne den Blick vom Horizont zu nehmen, der allmählich von der aufgehenden Sonne erhellt wurde. Im nun langsam losrollenden Wagen saß ein Mann, dessen Gedanken um sich selbst kreisten, da sein Wohlbefinden für ihn an erster Stelle stand. Niemand würde seine Abwesenheit bemerkt haben. Auf der Fahrt zurück in die Stadt begleitete ihn durch den Innenraum dröhnend die epische Musik von Richard Strauss Also sprach Zarathustra, die Hymne und Titelmusik aus dem Film 2001 Odyssee im Weltraum. Immer wieder nahm er die Hände vom Steuer und dirigierte eifrig mit. Klassische Musik war seine Welt. Eine Macht, die über alles stand, es sogar schaffte, bei ihm, dem Empathie ein Fremdwort war, Gefühle zu erzeugen oder zumindest zu verändern.
2
Hauptkommissar Gordon Rabe sah nicht einmal hoch, als jemand sein Büro betrat. Er hatte schon am Stakkato der herannahenden Schritte erkannt, dass es seine Kollegin Leonie Felten war, die, ohne vorher anzuklopfen, die Tür öffnete und dort einige Sekunden verharrte.
»Soll ich dir helfen, Gordon? Ich habe erst gestern Gallseife besorgt. Die liegt noch verschlossen auf dem Schreibtisch. Beim letzten Einsatz habe ich mir die Weste versaut und will versuchen ...«
»Lass gut sein, Leonie«, unterbrach Gordon, »die Colaflecken bekomme ich auch so wieder raus. Das ist eben der Vorteil bei Jeansstoff, dass der einem das kräftige Reiben nicht so übel nimmt.«
Ohne Unterlass rieb er weiter an dem Flecken, der durch das angewandte Wasser beängstigende Ausmaße annahm. Als er glaubte, den Flecken weit genug auf dem Ärmel seiner Jeansjacke verteilt zu haben, legte er sie auf die Heizung und schwang sich hinter seinen Schreibtisch, wo er genüsslich in die Brötchenhälfte biss. Sein lautes Fluchen wurde lediglich von Leonies Lachen übertroffen, die das Malheur schon kommen sah, bevor es passierte. Das Stück Camembert, das Gordon herausgequetscht hatte, fiel zielgenau auf seinen rechten Oberschenkel und schien Gefallen daran zu finden, sich dort mit dem Jeansstoff zum nächsten Fleck zu verbinden. Fluchend knipste Gordon den Käse von der Hose und warf das angebissene Brötchen in den Papierkorb. Gespielt beleidigt warf er Leonie einen bösen Blick zu, die sich weiterhin lachend näherte.
»Zieh die Hose besser aus. Ich reibe dir den Fleck raus. Kein Problem mit Gallseife.«
»Das könnte dir so gefallen, mich hier in Unterhose sitzen zu sehen. Hol von mir aus dein Wundermittel, lass mich das aber bitte allein erledigen. Ich will hier im Präsidium nicht zur Lachnummer werden. Außerdem hat sich unser Chef angesagt, der wohl ziemlich sparsam gucken würde, wenn du meine Hose in der Hand halten würdest.«
»Was sollte die Kollegin denn mit Ihrer Hose anfangen, Rabe?«, bemerkte Kriminalrat Kläver, der jetzt ebenfalls, von den beiden unbemerkt den Raum betreten hatte. Mit einem Blick auf Gordon wurde ihm alles klar. »Konnten Sie das Wasser nicht halten und haben die Kollegin um Hilfe gebeten? Ich habe Ihnen schon vor Wochen geraten, mal die Prostata beim Urologen kontrollieren zu lassen. In Ihrem Alter beginnt das so langsam ...«
Als sich Leonie die Hand vor den Mund presste, um nicht laut loszuprusten, lenkte Kläver wieder ein.
»War nur ein Scherz, Rabe. Den Fleck sieht man kaum und sollte für Ihre Frau kaum ein Problem darstellen. Doch bin ich nicht gekommen, um gute Ratschläge loszuwerden. Gut, dass die Kollegin Felten auch hier ist. Dann muss ich das nicht doppelt erzählen. Kai Wiesner dürfte auch jeden Moment hinzustoßen.«
Rabe wischte noch einmal über den Schenkel und konzentrierte sich auf den Kriminalrat, der nun eine ernste Miene zeigte. Als hätte Kai Wiesner alles gehört, erschien nun auch er im Zimmer und besetzte den vierten Stuhl am Besprechungstisch.
»Was gibt es so Dringendes, Chef. Ich sichte gerade ein paar Listen, die uns das LKA zum letzten Fall mit dem Kinderhandel zur Verfügung stellte. Bin ganz Ohr.«
»Tut mir leid, aber dann muss ich dem Ganzen noch eins draufsetzen. Wenn ihr glaubt, die Entführungen vorerst in unserem Bereich gestoppt zu haben, muss ich euch enttäuschen. Wir haben einen neuen Fall, der sogar schon durch die Presse geht. Fragt mich nicht, woher die das haben, aber die Pressefuzzis haben den Vermisstenfall sofort in Verbindung mit den letzten Fällen gebracht und versuchen, uns lächerlich zu machen. Es gibt schon einen bebilderten Bericht auf der Titelseite. Es geht um ein Mädchen, neun Jahre alt und Halbwaise. Hier, lest selbst.«
Kläver warf die Zeitung auf den Tisch und goss sich Kaffee in seine Tasse. Die beiden Freunde beugten sich über den Tisch und überflogen die reißerisch aufgemotzte Titelgeschichte.
Schlagen die Menschenhändler erneut zu? Polizei beweist einmal mehr ihre Unfähigkeit.
Innerhalb des nachfolgenden Textes nannte man zwar keine Namen, und doch war klar, wen sie damit meinten. Gordon schüttelte verständnislos den Kopf und wandte sich an Kai.
»Denkst du das Gleiche wie ich?«
»Es könnte auch ein Trittbrettfahrer sein, der jetzt aus seinem Loch gekrochen kommt und ebenfalls Ruhm einheimsen möchte. Ist es das, was du meinst?«
»So ungefähr.« Gordon wandte sich an Kläver. »Ist das die einzige Vermisste oder macht die Presse wieder aus einem einzigen Fall ein Riesentheater?«
Kläver setzte die Tasse wieder ab, die er gerade zum Mund führen wollte.
»Wer weiß das schon, Leute? Es stehen noch genug Vermisste auf der Liste, doch das ist ja nichts Ungewöhnliches. Den Zusammenhang mit unserem Menschenhandel herzustellen, finde ich schon sehr abenteuerlich. Die Mutter von dieser Sophia Rennert, eine gewisse Claudia Weichel, hat zwar die Anzeige bei uns erstellt, hat sich aber noch am selben Tag bei der Redaktion gemeldet und ihre Geschichte vorgetragen. Wir wissen doch zur Genüge, wie diese Hyänen das gierig aufgenommen und ausgeschlachtet haben. Panik erzeugen bedeutet höheres Leserinteresse. Eine einfache Formel in dem Gewerbe.«
»Sie sagen, dass die Kleine mit Nachnamen Rennert heißt. Die Mutter ist aber eine Weichel.«
Kai sah von der Zeitung nicht auf, während er die Frage stellte. Kläver klärte auf.
»Als der Vater sich mit einer anderen Frau absetzte, hat Claudia Weichel wieder ihren Mädchennamen angenommen, dem Kind aber den Taufnamen belassen. Ihr solltet mal als Erstes klären, wo sich der Vater aufhält. Möglich, dass er sich zurückholte, was er glaubte, zu besitzen.«
»Klar, Chef. Das gehört ja zum Standardprogramm. Haben wir kein besseres Bild von der Kleinen? Das in der Zeitung ist verdammt pixelig.«, beruhigte Kai den Kriminalrat. »Wenn das Mädchen im Original auch so hässlich ist, würde ich Zweifel an der These anmelden, dass sie zur Adoption entführt wurde. Anders wäre es, jemand braucht ein neues Organ.« Er kam den Protesten der anderen zuvor und ergänzte das Gesagte. »Sorry, Leute, aber würdet ihr dieses Mädchen adoptieren, wenn ihr die Auswahl in einem Katalog schönerer Kinder hättet? Das hört sich beschissen und überheblich an, weiß ich, aber seid mal ehrlich. Kinderprostitution wäre noch denkbar.«
»Du kannst manchmal ein richtiges Arschloch sein mit deiner Direktheit. Das ist zwar keine Schönheit, aber schließlich ein Mensch.«
Leonie spürte Gordons Hand auf ihrem Arm, der sie mahnend ansah.
»Nimm das von Kai nicht so wörtlich. Aber in gewisser Weise hat er recht mit seiner These. Dieses Mädchen wird niemals einen Schönheitswettbewerb gewinnen und dürfte für Händler nur bedingt von Wert sein. Komm also wieder runter, Leonie. Er hat es nicht so gemeint, wie es sich vielleicht angehört hat. Möglicherweise kommt sie auch wieder zurück. Verdammt, sie wird erst ein paar Stunden vermisst und könnte sich jeden Moment melden. Ich kann es mir nur schlecht vorstellen, dass diese Bande so schnell wieder die Arbeit hier bei uns aufnimmt. Außerdem wissen wir doch alle, dass wir uns auf einem Marathon befinden, der nie wirklich endet. Mal gewinnen wir eine Teilstrecke, um im nächsten Moment wieder auf die Schnauze zu fallen. Aufgeben ist allerdings keine Option ... zumindest nicht für mich.«
Kläver schien die Ansicht teilweise zu teilen, als er sich dazu äußerte.
»Wir alle hier wissen nur zu gut, dass wir es mit einer Hydra zu tun haben. Schlägst du ihr einen Kopf ab, wächst ein anderer prompt nach und das Spiel beginnt von vorne. Wäre es nicht so, wären wir unseren Job irgendwann los. Das klingt makaber, entspricht aber den Tatsachen.«
Aus den Reihen der Ermittler kam kein Veto, sondern bestätigendes Kopfnicken. Kläver erhob sich und legte die Hand auf Gordons Schulter.
»Hat Jonas einen besonderen Wunsch zu seinem Geburtstag. Wir wollen nächste Woche nicht mit dem falschen Geschenk bei ihm auftauchen. Bleibt es bei sechzehn Uhr?«
Gordon war auf diese plötzliche Gesprächswendung nicht vorbereitet und musste überlegen.
»Sorry, Chef, ich war gerade ganz woanders. Ich glaube, dass er sich über neue Ölfarben freuen würde. Seitdem er damit malt, bekommen wir ihn kaum noch zu Gesicht. Die VHS will sogar eine Ausstellung mit seinen Bildern veranstalten. Er zeigt es zwar nicht offen, und doch bin ich mir sicher, dass er sich darüber freut und stolz ist. Wir machen diesmal keinen Grill an, wegen der möglichen Kälte. Denise meint, dass wir einen Cateringdienst bestellen und diesmal drin feiern sollten.«
»Hört sich doch gut an, Gordon«, meinte Kai grinsend einwerfen zu müssen. »Ich bin dieses Steakfleisch auch langsam leid. Ein veganes Essen wäre klasse.«
»Du und vegan«, mischte nun auch Leonie mit, »das wäre, als wollte ich einen ausgewachsenen Wolf mit Karotten am Leben halten. Ich für meinen Teil würde mich jedenfalls über ein Wiener Schnitzel sehr freuen. Gordon wird sicherlich eine Schüssel Sellerie für dich auf den Rasen stellen. Satt kriegen wir dich auf jeden Fall.«
Gordon schien gar nicht bei der Sache zu sein, da er mittlerweile die Seite mit der Vermisstenanzeige aufgerufen hatte und die Daten zum verschwundenen Mädchen betrachtete.
3
Das Großaufgebot an Einsatzfahrzeugen wies Kai Wiesner den Weg zum Ort des Geschehens, zu dem er gerufen wurde. Die Kollegen vom kriminaltechnischen Erkennungsdienst waren bereits vor Ort und nahmen Spuren auf. Kai ließ sich die Lage von einer jungen Kollegin erklären.
»Eine Nachbarin, die bei dem Verstorbenen regelmäßig putzt und nur drei Türen weiter wohnt, hat den Mann gefunden und in Panik versucht, ihn mit einem Küchenmesser loszuschneiden. Davon zeugen auch die Kerben an dem Drahtseil. Das schaffte sie natürlich nicht, weil die Klinge brach. Sie rief letztendlich die Polizei.«
»Wo finde ich die Zeugin? Ist sie festgesetzt worden?«
»Die finden Sie im Schlafzimmer bei einer Kollegin, die sie zu beruhigen versucht. Ich habe schon nach einem Psychologen gerufen, denn es geht ihr nicht gut.«
»Dann sehe ich mir erst das Opfer an und befrage die Dame später. Sorgt dafür, dass sie nicht verschwindet, denn wir müssen erst sicher sein, dass sie nichts mit dem Tod zu tun hat. Ist Dr. Lieken schon vor Ort?«
Nachdem ihm das mit einem Nicken bestätigt wurde, betrat Wiesner das Wohnzimmer, in dem sich etliche in weißen Kunststoffanzügen gekleidete Figuren auf Spurensuche begeben hatten. Auch Wiesner streifte sich die Schuhschoner über und näherte sich dem Rechtsmediziner, der neben dem Verstorbenen kniete. Klaus Lieken schien zu wissen, wer hinter ihm stand, als er, ohne aufzusehen, damit begann, die Sachlage zu erklären.
»Ohne die Autopsie vorwegzunehmen, würde ich sagen, dass man hier versucht hat, uns was vorzumachen. Das war mit Bestimmtheit kein Suizid. Da war ja ein ganz Schlauer am Werk ... glaubt derjenige zumindest. Die Kollegen der SpuSi werden dir dazu noch mehr sagen können. Doch was meinen Teil betrifft, fällt Folgendes auf. Siehst du die Strangfurche? Die wäre niemals so tief, wenn man den Mann nicht hochgezogen hätte. Auffällig ist der Haken an der Decke, durch den man das Stahlseil führen kann. Normalerweise verknotet man das an dem Haken. Siehst du die Leiter, die an den Schrank gelehnt ist?«
Kai nickte zustimmend und bemerkte dazu: »Die ist ein wenig zu weit entfernt, um als Steighilfe gedient zu haben. Außerdem wäre die wohl umgestürzt oder zumindest verschoben, hätte der Mann sie benutzt. Wurde das Drahtseil sichergestellt? Dort müssten doch Spuren oder Abrieb vorhanden sein, wenn das Seil hochgezogen und gespannt wurde.«
»Das hast du fein analysiert«, kam es von der Seite. Kai wandte sich dem Kollegen der SpuSi zu, der das Drahtseil zwischen den Fingern hielt und auf genau diese Abschürfungen wies. »Doch der Doc hat noch mehr gefunden, was ein Tötungsdelikt beweisen könnte.«
Klaus Liekens Finger lag auf dem Hals des Opfers.
»Mal ganz abgesehen davon, dass unser Opfer sich niemals die Hände auf dem Rücken selbst gefesselt und dazu einen kunstvollen Knoten hätte fabrizieren können, ist es unmöglich, die Leiter zu erklimmen und sich fallen zu lassen. Siehst du, dass das Seil an dem Türknauf befestigt ist? Was glaubst du, was passiert, wenn sich ein Mann mit geschätzten einhundert Kilo reinfallen lässt?« Lieken wartete Kais Antwort nicht ab und antwortete sofort selber. »Richtig. Der Türknauf würde abreißen, möglicherweise sogar der Haken aus der Decke reißen. Man hat das Seil erst nach dem Aufknüpfen dort befestigt.« Lieken winkte ab, als Kai eine Frage stellen wollte, und fuhr unbeirrt fort. »Schon jetzt bei der äußeren Beschauung fällt mir das gedunsene Gesicht auf und die typische, aber fehlende doppelte Strangmarke. Das Opfer wurde erdrosselt und erst post mortem aufgeknüpft. Allerdings hat man dafür ein weiches Material wie etwa einen Schal benutzt. Hier fehlen die ebenfalls typischen Drosselmarken, die ich aber bei der Autopsie sicher in der Unterhaut finden werde. Die Zyanose des Gesichts spricht allein schon Bände. Die nicht passende Verteilung der Totenflecken spricht außerdem dafür, dass der Mann nicht hier am Seil starb, sondern zuvor woanders gelagert wurde. Du hast es in diesem Fall eindeutig mit Mord zu tun, mein Lieber.«
»Hat sich das Opfer denn gewehrt?«, wollte Wiesner wissen.
»Oh, sorry, das habe ich noch gar nicht erwähnt. Ich fand Verletzungen an den Fingerkuppen. Das Opfer muss seinen Peiniger gekratzt haben. Morgen, spätestens übermorgen hast du die DNA. Den Körper werden wir standardmäßig auf Fremdfasern untersuchen. Reicht dir das jetzt fürs Erste, Kai? Ich muss ins Institut. Habe dort noch einen Unfalltoten auf dem Tisch und die Kollegen schreien nach meiner Hilfe, um den Bericht zu erstellen. Bringt mir den Mann hier ins Institut und ich werde sehen, ob ich den vorziehen kann. Bei mir am Arbeitsplatz hat es keiner eilig, außer ihr von der Kripo.«
Mehrfach klopfte Kai dem Rechtsmediziner auf die Schulter und nickte zustimmend.
»Du hast recht, Klaus. Trotzdem möchte ich deinen Job nicht machen. Du hast lediglich den Vorteil, dass sich bei dir keiner mehr beschwert, wenn du dich einmal verschnitten hast. Die nehmen das stumm hin. Hau ab, ich werde mich hier noch etwas umsehen und mit der Zeugin sprechen.«
Kai Wiesner fand Helen Kostka tatsächlich im Schlafzimmer, wo sie ihren Kopf an die Schulter einer Polizistin gelehnt hatte und still in sich hinein weinte. Zögernd trat er näher heran und tippte an die Schulter der Zeugin, die nur traurig hochsah und zumindest den Versuch startete, zu lächeln. Es misslang kläglich.
»Darf ich Sie einen Moment stören, oder benötigen Sie Hilfe durch unseren Psychologen? Wir brauchen eine Aussage von Ihnen, um die Ermittlungen voranzutreiben. Wie heißen Sie?«
Die Beamtin strich der Zeugin über das Haar und flüsterte ihr etwas ins Ohr, bevor sie aufstand und beiseitetrat. Allerdings klammerte sich Helen Kostka an ihre Hand und ließ sie nicht los.
»Die Kollegin wird bei uns bleiben. Sie müssen sich nicht fürchten. Wie heißen Sie?«
»Kostka ... Helen Kostka, Herr Kommissar. Ich kam heute etwas später ...«
»Langsam«, unterbrach sie Wiesner und setzte sich ebenfalls auf das Bett. »Beantworten Sie mir nur meine Fragen. Wohnen Sie hier im Haus und wie ist die Beziehung zum Verstorbenen?«
»Ich hatte keine Beziehung mit Herrn Wolfram. Was denken Sie von mir? Ich habe lediglich seinen Haushalt geführt.«
Schon oft war Kai Wiesner mit dieser Formulierung angeeckt, zumindest falsch verstanden worden. Deshalb korrigierte er sich sofort.
»Das haben Sie falsch verstanden, Frau Kostka. Niemals würde ich Ihnen ein unehrenhaftes Verhältnis unterstellen. Wie darf ich das nach Ihrer Vorstellung verstehen? Sie besaßen einen Schlüssel zur Wohnung und konnten somit nach Belieben ein und aus gehen. Dann muss zwischen Ihnen beiden doch schon ein sehr gutes Vertrauensverhältnis bestanden haben. Man gibt einer Fremden doch nicht so ohne Weiteres den Wohnungsschlüssel. Klären Sie mich bitte auf.«
Allmählich verschwand das zornige Funkeln in den Augen von Helen Kostka und wich einem versöhnlicheren Schein. Sie knetete ihre Finger und suchte nach Worten.
»Ich weiß nicht, ob ich das so sagen darf, Herr Kommissar. Das ist mir ein wenig peinlich.«
»Hören Sie, liebe Frau Kostka. Wenn es Ihnen peinlich ist, etwas über den Verstorbenen zu erzählen, darf ich Sie beruhigen. Erstens wird er es Ihnen nicht mehr verübeln können, da er bereits vor seinem Herrn steht. Und zweitens ist jedes Detail wichtig, was uns der Aufklärung des Mordes näherbringt.«
»Mord?«, unterbrach Frau Kostka mit aufgerissenen Augen. »Wieso sprechen Sie plötzlich von Mord? Hat sich Herr Wolfram gar nicht selbst ...?«
Wiesner hätte sich am liebsten selbst auf den Mund geschlagen und bemerkte den entsetzten Blick der Polizistin, die sich sofort wieder neben Helen Kostka auf das Bett setzte. Nun war es jedoch raus und er musste damit leben, dass die Zeugin sich ängstlich zurückzog. Sie zitterte am ganzen Leib und krallte ihre Hand in die der Polizistin.
»Zumindest besteht die Möglichkeit einer Gewalttat, Frau Kostka, was aber noch zu beweisen wäre. Bis jetzt ist das lediglich eine Vermutung, die wir immer als Erstes in Betracht ziehen. Wir sehen immer zuerst ein Fremdverschulden, bis das Gegenteil eindeutig bewiesen ist. Also, wie lief das jetzt zwischen Ihnen und Herrn Wolfram?«
Noch immer völlig verunsichert, schielte sie auf die Polizistin, die ihr mutmachend zunickte.
»Erzählen Sie Herrn Wiesner ruhig, was Sie mir erzählt haben. Jedes Detail ist für ihn wichtig. Bitte.«
Helen Kostkas Stimme war dünn, als sie wieder nach Worten suchte.
»Herr Wolfram lebte allein, nachdem ihn seine Frau vor etwa acht Jahren verlassen hatte. Sie verstarb an Krebs und hatte einen langen Leidensweg. Dieser wurde in den letzten Jahren nicht allein durch ihre Krankheit geprägt, sondern ...« Hier stockte sie einen Moment und suchte nach passenden Formulierungen. »... Herr Kostka hatte sich zwischenzeitlich verändert. Sie wissen sicher, was ich damit meine?«
»Tut mir leid, Frau Kostka, aber das tue ich nicht. Was meinen Sie konkret mit Veränderung?«
Immer wieder wechselte der Blick der Zeugin zwischen der Polizistin und dem Kommissar. Beide blickten sie fragend an.
»Er ... er hatte seit geraumer Zeit ein Verhältnis.«
»Ach so meinen Sie das«, beruhigte sie Kai Wiesner und atmete beruhigt aus. Doch die Zeugin ergänzte ihre Aussage noch mit einer Bemerkung.
»Herr Wolfram hatte sich in einen Mann verliebt und es seiner Frau irgendwann gestanden. Stellen Sie sich vor, wie das bei ihr, die schwer krank war, ankam. Die arme Frau hat sich oft bei mir ausgeweint und wollte sich sogar deshalb das Leben nehmen. Ab und zu hat sie sogar bei mir genächtigt, weil ihr Mann sogar seinen Freund mit nach Hause nahm und sie zusehen musste, wie die beiden Männer ... Ich hasste ihn dafür. Doch seine Frau hat ihm irgendwann verziehen und sich damit abgefunden. Sie war eine treue und gutmütige Seele. Als sie starb, war es bestimmt eine Erlösung. Ich hätte den Kerl ...«
»Sie haben aber trotzdem den Schlüssel von Herrn Wolfram,«, unterbrach Kai Wiesner die Zeugin, bevor sie etwas sagen konnte, was sie später bereuen würde. »Ihre Abneigung kann dann doch nicht so groß gewesen sein. Was ist geschehen?«
So schnell, wie sie hochkochte, kam Frau Kostka auch wieder runter.
»Ich bin ein Mensch, der verzeihen kann. Herr Wolfram war im Grunde kein schlechter Mensch, sondern eher als sanft zu bezeichnen. Wir haben noch am Tag der Beerdigung offen darüber gesprochen und ich habe eingesehen, dass jeder Mensch das Recht besitzt, so leben zu dürfen, wie es ihm gefällt oder wie es die Natur vorherbestimmt hat. Gott hat sich etwas dabei gedacht, als er dieses Problem in diese Beziehung einbaute. Ich habe dem Mann verziehen und versprochen, für ihn den Haushalt zu führen. Man kann ihn doch nicht nur wegen seiner neuentdeckten Neigung verteufeln. Das ist nicht richtig. So, jetzt wissen Sie es.«
Kai legte ihr die Hand auf den Arm und bemerkte sofort, wie ihr anfängliches Zittern verebbte.
»Als Sie den Verstorbenen fanden, haben Sie versucht, das Drahtseil mit einem Messer zu durchtrennen. Haben Sie wirklich geglaubt, das mit dem Kartoffelschälmesser schaffen zu können?«
»Ich habe überhaupt nicht gedacht, muss ich ehrlich zugeben. Ich wollte doch nur, dass er nicht mehr ... dass er nicht mehr dort hing wie ein gefangenes Kaninchen. Er hätte ja noch leben können, war mein Gedanke. Es tut mir leid, dass ich das so spät registrierte und womöglich etwas falsch gemacht habe.«
Kai winkte ab und holte seinen Notizblock aus der Tasche, wo er sich eifrig Notizen machte. Ohne von seinem Block aufzusehen, stellte er die nächste Frage.
»Kennen Sie den Partner von Herrn Wolfram mit Namen? Wo kann ich ihn finden?«
»Natürlich kenne ich den. Das wird Ihnen aber keinen Nutzen bringen, denn er lebt mittlerweile mit einem anderen Partner in Kanada. Ich hörte davon, dass er nach Calgary gezogen ist. Irgendwann haben sich Sven und Herr Wolfram zerstritten und sich getrennt. Das hat Herrn Wolfram stark mitgenommen und er spielte danach tatsächlich ebenfalls mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen. Das hat sich nun erledigt, wie man sieht. Doch wer tut so was einem alten einsamen Mann an?«
4
Kaum war Kai wieder im Büro angekommen, bemerkte er die kleine Gruppe in Gordons Büro.
»Habe ich die heutige Betriebsversammlung verpasst und ihr habt schon ohne mich angefangen? Was erregt eure Gemüter?«
Wortlos überreichte Gordon seinem Freund den Briefbogen, den er zusammen mit Schutzhandschuhen überreichte. Da Kai wusste, dass man mittlerweile auch auf Papier Fingerabdrücke sichtbar machen konnte, streifte er diese über und griff nach dem Papier. Er musste zweimal lesen, bevor er sich der Tatsache bewusst wurde, welche Folgen das für sie alle haben würde.
Die Menschheit hatte seine Chance, dem Teufel Paroli zu bieten. Sie hat sich dagegen entschieden und mir das Tor geöffnet, den Weg der Vergeltung zu gehen. Dabei wird jeder die gerechte Strafe finden, der mir im Wege steht. Das betrifft nicht einen Einzelnen unter euch, sondern seine ganze Familie. Ich lösche notfalls ganze Sippen aus, von denen ich glaube, dass sie meinem gerechten Unternehmen im Wege stehen. Prope est finis et ego ero iudex tuus.
»Scheiße«, rutschte es Kai heraus, »ein Irrer hat uns gerade noch gefehlt. Denken die Psychopathen dieser Welt, dass wir Langeweile haben und dass sie sich hier mitten im Ruhrgebiet versammeln müssen? Hat schon jemand die Übersetzung?«
»Ja«, mischte sich Leonie ein, »das bedeutet ungefähr: Das Ende ist nah und ich werde euer Richter sein. Ähnliches hatten wir doch schon häufiger und die Pfeifen haben wir schon nach wenigen Stunden ermittelt. Was mir hier mehr Sorgen bereitet, ist ein Zusatz. Ich meine das mit der ganzen Familie. So was kenne ich irgendwo her.«
»Das gehört zu den Regeln der italienischen Mafiagruppe ’Ndrangheta und besagt, dass Verrat verfolgt und mit dem Tod bestraft wird, was bis in das siebente Glied der Familienstruktur reichen kann. Völlig Unbeteiligte können dabei getötet werden – allein zur Abschreckung. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass die hinter der Geschichte stecken. Man macht vor Menschenhandel keinen Halt, aber man handelt nach dem Prinzip, nicht auffallen zu wollen. Hier spielt jemand Gott und ich weiß nicht, wie ernst er es meint.«
Gordon brachte die Erklärung scheinbar emotionslos, wobei jeder im Raum wusste, wie sehr ihn dieser Gedanke beschäftigte, denn nach Mafiaregeln machte man selbst vor Kindern keinen Halt.
»Möglicherweise bekommen wir es wieder einmal mit einem Abtrünnigen einer Sekte zu tun, der nun sein eigenes Ding durchzieht und sich irgendwelcher Floskeln bedient. Wenn das so ist und wir keine brauchbaren Spuren auf dem Brief finden, haben wir ein Problem und werden abwarten müssen, ob und wann er das wahr macht, was er verspricht. Schicken wir das Papier erst einmal ins Labor. Gleichzeitig konzentrieren wir uns auf aktuell bekannte Sekten und bemühen einen Grafologen wegen der Handschrift. Wir müssen den Täterkreis einengen und auf unser Glück und den Zufall hoffen. Ansonsten bleibt uns nur die Spurensuche nach Auffinden eines seiner Opfer. Das wird uns der Saukerl bestimmt auf dem Tablett servieren. Der kranke Geist will unbedingt an die Öffentlichkeit, wie ich das sehe«, konstatierte Gordon und verschwand mit dem Brief in Richtung Kriminaltechnik.
»Hallo, was verschafft mir die Ehre deines Besuches? Schön, dass du wieder mitmischst, Gordon. Wir haben dich vermisst.«
Reiner Hombuch aus der Kriminaltechnik hob erfreut den Kopf und wandte sich von seinem Mikroskop ab, unter dem er den Inhalt einer Petrischale untersucht hatte. Gordon ergriff die ausgestreckte Hand und hielt Hombuch den Briefbogen entgegen.
»Schön, dass man mich vermisst hat. Das hört doch jeder gerne. Aber zur Sache, Reiner. Was kannst du aus diesem Schreiben rausholen, um möglicherweise den Verfasser zu ermitteln? Wir haben alle mit Handschuhen gearbeitet, was natürlich nicht heißt, dass vorher das Schreiben durch viele Hände ging. Doch ich gebe die Hoffnung nie auf.«
»Das wäre auch schade und würde unsere Arbeit hier nicht würdigen. Allerdings muss ich deine Erwartungen etwas mäßigen, da meine Möglichkeiten bei Papier etwas eingeschränkter sind als bei anderen festen Stoffen. Der Kollege, der sich vorwiegend mit der Daktyloskopie beschäftigt, ist zur Pause. Aber ich kann mich nachher mal mit einer möglichen gefundenen DNA beschäftigen. Doch ich erzähle dir nichts Neues, wenn ich darauf hinweise, dass dir das nur von Nutzen ist, wenn derjenige zuvor schon erkennungsdienstlich behandelt wurde.«
Gordon hatte schon auf dem zweiten Drehstuhl Platz genommen und stibitzte sich ein Schokoplätzchen aus der offenen Tüte. Während er genüsslich kaute, erklärte er seine Absicht.
»Wie sieht es mit der Schreibweise aus? Ist das ein geübter Schreiber? Haben wir es mit einem Muttersprachler zu tun und wie alt könnte der Schreiber gemäß der Optik des Schriftbildes nach sein? Erstaunlicherweise hat der Dreckskerl das mit der Hand geschrieben und keinen Drucker benutzt. Für mich besteht der Verdacht, dass derjenige älter sein könnte und keinen PC besitzt.«
Reiner Hombuch wiegte den Kopf hin und her und schien Zweifel an dieser These zu hegen.
»Könnte sein, könnte aber auch nicht sein, Gordon. Man geht immer von einem männlichen Täter aus, was nicht zwingend so sein muss. Das hier könnte auch rein theoretisch das Werk einer Frau sein. Da lassen wir mal lieber den Fachmann urteilen. Mich macht bei dem Brief der letzte Satz stutzig, der in Latein gefasst wurde. Da scheint jemand entweder sprachgewandt, doch zumindest von höherer Intelligenz zu sein. Wer sollte sich sonst die Mühe machen, so was zu schreiben?«
Jetzt war es Gordon, der Zweifel anmeldete.
»Ebenso könnte jemand so tun, als ob er wissend wäre, nur um uns zu verwirren. Oft genug haben wir erleben müssen, dass diese Menschen mit einer Bauernschläue oder Raffinesse gesegnet sind und eine erstaunliche kriminelle Energie besitzen. Das Spiel können die endlos mit den Behörden spielen, bis sie eines Tages den berühmten Fehler machen, da sie überheblich und sorglos werden. Das ist dann unsere Stunde und wir ziehen sie aus dem Verkehr. Mir macht es nur viel Kopfzerbrechen, wie viele Opfer es bis dahin gibt und wir diesen Fehler womöglich gar nicht sehen. Was glaubst du, wie lange es dauern wird, bis ihr diese Analyse liefern könnt?«
»Du hast Glück, Gordon. Momentan haben wir nur zwei Fälle auf dem Tisch, die nicht so brennen. Wir machen uns nach der Mittagspause an die Arbeit. Versprechen kann ich dir allerdings nichts.«
Hombuch wartete noch das Schulterklopfen ab, bevor er sich wieder dem Mikroskop widmete. Danach verschwand Gordon in die Kantine. Heute stand sein Leibgericht auf dem Speisenplan: Kartoffelpüree mit Kalbsleber und Apfelringe.
5
Den Weg durch den nahe gelegenen Wald kannte Maike genau, nachdem sie ihn schon seit vier Jahren entlanglief. Joggen vor der Arbeit befreite sie von der sich aufdrängenden morgendlichen Trübsal. Am Abend legte sie die Strecke ein weiteres Mal zurück, wobei sie dann auf Rachel Rücksicht nehmen musste, die bei Weitem nicht so durchtrainiert war wie sie. Doch immerwährendes Zureden hatte irgendwann zu einem Umdenken bei ihr geführt. Sie gestand sogar, dass es ihr guttat. Während Maike darüber nachdachte, stahl sich ein zufriedenes Lächeln auf ihr Gesicht und sie verlangsamte ihr Tempo des Intervalltrainings. Den leichten Anstieg zum Waldhaus wollte sie wie gewohnt mit schnellem Gehen bewältigen. Oben angekommen atmete sie durch und verharrte einen Moment neben der Rotbuche, die im Glanz der aufgehenden Sonne zu leuchten schien. Ihre Hände stützte sie auf den Oberschenkeln ab, während sich ihr Atem beruhigte. Ein Blick über den Baldeneysee, den sie aufsog und der in ihr ein Wohlgefühl aufkommen ließ. Der Tag konnte kommen, sobald sie geduscht hatte. Doch bis dahin waren es noch zwei Kilometer und mindestens zehn Minuten. Erst vor einem Jahr hatte sie das Erbe der Oma ausgezahlt bekommen und sich das kleine ehemalige Zechenhäuschen gekauft, renoviert und mit einer Riesenparty schließlich bezogen. Schwer atmend lehnte sie am Gartenzaun und öffnete das Törchen. Schon auf dem Weg zur Haustür löste sie den Pferdeschwanz und ließ die langen blonden Haare über die Schultern fallen.
»Und jetzt eine feine Dusche? Das wird Ihnen bestimmt guttun.«
Die Stimme ließ Maike zusammen- und herumfahren. Sie hatte das Herannahen des Fremden nicht bemerkt und trat reflexartig einen Schritt zurück.
»Sind Sie wahnsinnig? Ich hätte mir fast vor Schreck in die Hosen gemacht. Machen Sie so was nie wieder.«
»Versprochen.« Der fremde Besucher lächelte sie an und hob wie zum Schwur die linke Hand. »Es tut mir sehr leid, wenn ich Sie erschreckt habe. Aber ich dachte mir, dass es Ihnen nicht gut gehen könnte, so wie Sie am Zaun völlig ausgepumpt lehnten. Außerdem sagte etwas in mir: Frag doch mal nach und hilf ihr, falls es nötig ist. Aber ich sehe schon, dass ich mir umsonst Sorgen gemacht habe, und werde besser wieder gehen.«
»Nein, nein«, warf Maike immer noch schnell atmend ein und stoppte den netten Herrn, indem sie ihn am Arm zurückhielt. »Das war nicht so gemeint. Schließlich kommt es heutzutage recht selten vor, dass sich jemand um einen Mitmenschen kümmern möchte. Mir geht es wirklich gut.«
Maike schaute etwas verdutzt, als wenige Meter entfernt eine Frauenstimme erklang und eine Dame im mittleren Alter, die allerdings das rechte Bein leicht hinterherzog, auf sie zukam.
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