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Otfried Höffe

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Beschreibung

Diese kulturen- und epochenübergreifende Einführung in Begriff und Geschichte der Gerechtigkeit reicht von der Frühzeit des Menschen bis in das heutige Zeitalter der Globalisierung. Höffes historisch und systematisch kompetente Darlegung behandelt einen zentralen Grundsatz des menschlichen Zusammenlebens.

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Otfried Höffe

GERECHTIGKEIT

Eine philosophische Einführung

C.H.Beck

Zum Buch

Diese kulturen- und epochenübergreifende Einführung in Begriff und Geschichte der Gerechtigkeit reicht von der Frühzeit des Menschen bis in das heutige Zeitalter der Globalisierung. Höffes historisch und systematisch kompetente Darlegung behandelt einen zentralen Grundsatz des menschlichen Zusammenlebens.

Über den Autor

Otfried Höffe, Prof. em. für Philosophie und Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie, ist Herausgeber der Reihen «Denker» und «Klassiker auslegen». Bei C.H.Beck erschienen zuletzt: Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne (2015), Geschichte des politischen Denkens. Zwölf Porträts und acht Miniaturen (2015) und Die hohe Kunst des Alterns. Kleine Philosophie des Guten Lebens (2018). Otfried Höffe, Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Nationalakademie Leopoldina, ist Träger des Bayerischen Literaturpreises (Karl-Vossler-Preis) für wissenschaftliche Werke von literarischem Rang.

Inhalt

Dank

I. Ein Erbe der Menschheit

1. Interkulturelle Gemeinsamkeiten

2. Göttlicher Ursprung (Frühzeit)

Ägypten und Mesopotamien

Alt-Israel

Griechenland

3. Ordnung stiften (Platon)

4. Maßgebliche Unterscheidungen (Aristoteles)

II. Zum Begriff der Gerechtigkeit

1. Die Herausforderung

Knappheit oder Konflikt?

Handlungsfähigkeit

2. Geschuldete Sozialmoral

3. Gerechtigkeit als Tugend

4. Intermezzo: Gerechtigkeit Gottes

III. Skepsis gegen die Gerechtigkeit

1. Rechtspositivismus

2. Systemtheoretische Skepsis

3. Utilitarismus als Alternative?

IV. Politische Gerechtigkeit oder Naturrecht?

1. Der Gedanke eines Naturrechts

2. Einwände

3. Ein kritisches Naturrecht

V. Verfahrensgerechtigkeit

VI. Drei Grundsätze

1. «Lebe ehrenhaft»

2. «Tue niemandem Unrecht»

3. «Gewährleiste jedem das Seine»

VII. Justiz

1. Gerechtigkeitsprinzipien der Justiz

2. Zur Ergänzung: Billigkeit

3. Gefahr: Richterstaat

VIII. Zur Begründung politischer Gerechtigkeit

1. Kooperationsmodell (Aristoteles)

2. Konfliktmodell (Vertragstheorien)

3. Gerechtigkeit als Fairness (Rawls)

4. Gerechtigkeit als Tausch

IX. Mittlere Prinzipien: Menschenrechte

1. Menschenrechte und Grundrechte

2. Ein Blick in die Ideengeschichte

3. Freiheitsrechte, Sozial- und Kulturrechte, Mitwirkungsrechte

X. Strafgerechtigkeit

1. Strafe definieren

2. Strafe normieren

3. Strafe legitimieren

4. Die Strafe aufheben?

XI. Soziale Gerechtigkeit

1. Tauschgerechtigkeit

2. Ausgleichende Gerechtigkeit

3. Gerechtigkeit zwischen den Generationen

4. Gerechtigkeit und Solidarität

5. Gerechtigkeit gegen Tiere?

XII. Gerechtigkeit im Pluralismus: Toleranz

XIII. Globale Gerechtigkeit

1. Eine föderale Weltrepublik

2. Recht auf Differenz

3. Globale Rechtsaufgaben

Weltjustiz

Weltbürgerschutz

Globaler Sozial- und Umweltstaat?

4. Anamnetische Gerechtigkeit

5. Weltrechts- und Weltgerechtigkeitssinn

6. Eine realistische Vision

XIV. Sonderstrategien

1. Bürgerlicher Ungehorsam

2. Humanitäre Intervention

XV. Mehr als Gerechtigkeit: Gemeinsinn und Freundschaft

Literatur

Personenregister

Sachregister

Dank

Für mannigfache Hilfe danke ichmeinem Mitarbeiter Tim Wagner.

I. Ein Erbe der Menschheit

1. Interkulturelle Gemeinsamkeiten

Ursprünglich bedeutet Gerechtigkeit lediglich die Übereinstimmung mit dem geltenden Recht. Bis heute heißt die dem Recht dienende Behörde, das Gerichtswesen, Justiz. Ohne die enge Beziehung zum Recht aufzugeben, hat die Gerechtigkeit aber seit langem eine umfassendere und stärker moralische Bedeutung. Sie meint in erster Annäherung sowohl objektiv die inhaltliche Richtigkeit des Rechts als auch subjektiv die Rechtschaffenheit einer Person. Insbesondere als objektive Gerechtigkeit ist sie ein Grundbegriff menschlichen Verlangens: ein Gegenstand menschlicher Sehnsucht und menschlicher Forderung zugleich. Keine Kultur und keine Epoche will auf Gerechtigkeit verzichten. Dass in der Welt Gerechtigkeit herrsche, gehört zu den Leitzielen der Menschheit seit ihrer Frühzeit.

Relativ früh taucht allerdings auch ein (rechts-)ethischer Relativismus auf. Weil man in anderen Ländern andere Gerechtigkeitsvorstellungen sieht, bezweifelt man die Möglichkeit einer kultur- und epochenunabhängigen Gerechtigkeit. In diesem Sinn hält schon der antike Skeptiker Karneades (214–​129 v. Chr.) zwei in ihrer Stoßrichtung bewusst widersprüchliche Reden, sowohl eine für als auch eine gegen die Gerechtigkeit. Und Blaise Pascal (1623–​1662) stellt spöttisch fest, die Gerechtigkeit werde durch einen Fluss begrenzt, da diesseits und jenseits des Rheines unterschiedliche Gerechtigkeiten herrschten (Gedanken, Nr. 294). Häufig erliegt man aber einer perspektivischen Täuschung. Auch Pascal unterscheidet nicht zwischen weniger elementaren Gerechtigkeitsvorstellungen – etwa dass die Erstgeborenen alles erben (Gedanken, Nr. 291) – und einem unstrittigen Kern. Auf diese Weise entgeht den Zweiflern, was so gut wie alle Kulturen miteinander teilen: eine schon im empirischen Sinn nicht bloß regional und epochal gültige Gerechtigkeit. Ihretwegen ist Goethe zu widersprechen, wenn er behauptet: «Gerechtigkeit: Eigenschaft und Phantom der Deutschen» (Maximen und Reflexionen, Nr. 167: Werke, Bd. XII, S. 386).

Abb. 1: Berner Gerechtigkeitsbrunnen, Ausschnitt

Wegen der kulturen- und epochenübergreifenden, interkulturell anerkannten Gerechtigkeit lässt sich die gesamte Menschheit als eine Gerechtigkeitsgemeinschaft ansprechen. Das den Menschen Gemeinsame setzt beim Gleichheitsgebot an: «Gleiche Fälle sind gleich zu behandeln». Sowohl in seiner negativen Gestalt, als Willkürverbot, als auch in seiner positiven Gestalt, als Gebot der Unparteilichkeit, fordert es, Streitfälle ohne Ansehen der Person zu schlichten. In diesem Sinn stellt die bildende Kunst die elementare Gerechtigkeit, die Göttin Justitia, mit einer Augenbinde dar. Ob Frau oder Mann, reich oder arm, mächtig oder schwach – nach der Unparteilichkeit erster Stufe, der der Regelanwendung, wird jeder nach der entsprechenden Regel gleich behandelt: Alle sind vor dem Gesetze gleich. Für die weitere Aufgabe, jedem das ihm Gebührende genau zuzumessen, hält die Justitia häufig eine Waage in der Hand. Und das Schwert symbolisiert ihre doppelte Aufgabe, sowohl zu schützen als auch zu strafen.

Diese Unparteilichkeit erster Stufe, die der Regelanwendung, genügt allerdings nicht. Sie ist vielmehr um eine Unparteilichkeit zweiter Stufe zu ergänzen, um die der Regelfestsetzung. Dabei ist nicht für alle Lebensbereiche eine einzige Regel zu erwarten. Bei den Grund- und Menschenrechten zählt die Gleichheit: «Jedem nach seinem Wert als Mensch überhaupt». Für die elementare Existenzsicherung drängt sich der Bedürfnisaspekt auf: «Jedem nach seinen Bedürfnissen». In der Arbeits- und Berufswelt kommt es auf das Leistungsprinzip an und in Strafverfahren auf die Schwere der Rechtsverletzung, verbunden mit dem Maß an subjektiver Schuld.

Interkulturell anerkannt sind auch Grundsätze der Verfahrensgerechtigkeit, ferner der Gedanke der Wechselseitigkeit oder Reziprozität, verbunden mit der Goldenen Regel («Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu») und mit jener Gleichwertigkeit im Nehmen und Geben («Tauschgerechtigkeit»), die keineswegs nur für Wirtschaftsbeziehungen gilt. Ebenfalls zum gemeinsamen Gerechtigkeitserbe gehört der Gedanke einer ausgleichenden («korrektiven») Gerechtigkeit. Im Zivilrecht verlangt er den Ausgleich für erlittene Schäden und im Strafrecht den für ein verschuldetes Unrecht. Ferner werden so gut wie allerorten dieselben Grundrechtsgüter geschützt. Überall werden Mord, Diebstahl und Raub sowie Beleidigungen, ferner Maß-, Gewichts- und Urkundenfälschungen, nicht zuletzt elementare Umweltverstöße, früher beispielsweise Brunnenvergiftungen, geahndet. Einigkeit herrscht schließlich über das Gebot, nur Schuldige zu bestrafen, und das Anschlussgebot, leichtere Verstöße gegen das Strafrecht leichter, schwerere Verstöße schwerer zu bestrafen. Die Gemeinsamkeiten sind also eindrucksvoll groß, so dass die globale Zivilisation, die sich heute entwickelt, ihre interkulturellen Rechtsdiskurse am Begriff der Gerechtigkeit ausrichten kann.

Abb. 2: Kodex Hammurapi, 17. Jh. v. Chr.

Andere Leitziele hat die Menschheit im Zuge der Aufklärung oder wegen ernüchternder Erfahrungen aufgegeben. Der Gerechtigkeit belässt sie dagegen das überragende Gewicht bis heute. Selbst einer der schärfsten Kritiker der abendländischen Moral, Friedrich Nietzsche (1844–​1900), spendet ihr ein Lob, das kaum größer ausfallen könnte: «wenn sich selbst unter dem Ansturm persönlicher Verletzung, Verhöhnung, Verdächtigung die hohe, klare, ebenso tief als mild blickende Objektivität des gerechten, des richtenden Auges nicht trübt, nun, so ist das ein Stück Vollendung und höchster Meisterschaft auf Erden» (Zur Genealogie der Moral, 2. Abhandlung, Nr. 11).

2. Göttlicher Ursprung (Frühzeit)

Ein interkultureller Gerechtigkeitsdiskurs gibt sich nicht mit dem gemeinsamen Erbe zufrieden. Er wirft auch einen Blick in andere Kulturen, insbesondere auch in frühe Epochen, für deren Gerechtigkeitsverständnis zweierlei charakteristisch ist: ein weit größerer Bedeutungsumfang und die Idee des göttlichen Ursprungs. In den altorientalischen Hochkulturen beispielsweise bilden Gesichtspunkte sozialer Verbindlichkeit, die später gegeneinander abgesetzt werden, noch eine relativ ungeschiedene Einheit. Sie verbinden nicht bloß die personale Gerechtigkeit, die Rechtschaffenheit, mit der politischen Gerechtigkeit, sondern nehmen noch andere Aspekte der Sozialmoral hinzu.

Nicht erst in Alt-Israel, sondern schon in den älteren Kulturen Ägyptens und – abgeschwächt – Mesopotamiens wird die Gerechtigkeit ebenso wie im archaischen Griechenland religiös begründet. Die Vergöttlichung, die «Divinisierung» bzw. Theologisierung, der Gerechtigkeit ist eine interkulturelle Gemeinsamkeit archaischer Kulturen. Ebenfalls Gemeingut sind die Einheit von Recht und Gerechtigkeit und deren Verbindung mit einer Loyalität zur eigenen Gemeinschaft, mit Solidarität, sowie die Einbindung von Recht und Gerechtigkeit in eine umfassende gesellschaftliche, sogar den gesamten Kosmos einschließende Ordnung.