Gesammelte Werke Hugo Balls - Hugo Ball - E-Book

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Hugo Ball

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Beschreibung

Diese Sammlung der Werke von Hugo Ball, des berühmten deutschen Autors und Biografen sowie Mitgründers der Dada-Bewegung und Pioniers des Lautgedichts enthält: Flametti oder Vom Dandysmus der Armen Zur Kritik der deutschen Intelligenz Hermann Hesse Abendblick vom Hochstein Bagatelle Buddha und der Knabe Cabaret Cabaret Cimio Das Insekt Der blaue Abend Der Geliebten Der Gott des Morgens Der Henker Der Rasta-Querkopf Der Verzückte Die Ersten Die Katze Die Sonne Die weiße Qualle Einer Verdammten Ein und kein Frühlingsgedicht Frühlingstänzerin Karawane Legende Liebeslied für Euphemia Nachtidyll Narzissus Piffalamozza (Der Stier) Sieben schizophrene Sonette Skizze Sonnuntergang Totentanz 1916 Verse ohne Worte Versuchung des Heiligen Antonius Waldgreis Widmung für Chopin Wolken Der Henker von Brescia Tenderenda der Phantast Der Aufstieg des Sehers Das Karussellpferd Johann Der Untergang des Machetanz Die roten Himmel Satanopolis Grand Hotel Metaphysik Bulbos Gebet und der Gebratene Dichter Der Verwesungsdirigent jolifanto bamblo ô falli bamblo. Hymnus Laurentius Tenderenda baubo sbugi ninga gloffa Herr und Frau Goldkopf

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Inhaltsverzeichnis
Gesammelte Werke Hugo Balls
Flametti oder Vom Dandysmus der Armen
Zur Kritik der deutschen Intelligenz
Vorwort
Einleitung
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Hermann Hesse
Sein Leben und sein Werk
Das Vaterhaus
Die Kindheit
Kloster Maulbronn
Tübinger Goethestudien
Hermann Lauscher und Peter Camenzind
Gaienhofen am Bodensee
Demian
Siddhartha
Klingsors letzter Sommer
Abendblick vom Hochstein
Bagatelle
Buddha und der Knabe
Cabaret
Cabaret
Cimio
Das Insekt
Der blaue Abend
Der Geliebten
Der Gott des Morgens
Der Henker
Der Rasta-Querkopf
Der Verzückte
Die Ersten
Die Katze
Die Sonne
Die weiße Qualle
Einer Verdammten
Ein und kein Frühlingsgedicht
Frühlingstänzerin
Karawane
Legende
Liebeslied für Euphemia
Nachtidyll
Narzissus
Piffalamozza (Der Stier)
Sieben schizophrene Sonette
1. Der grüne König
2. Die Erfindung
3. Der Dorfdadaist
4. Der Schizophrene
5. Das Gespenst
6. Der Pasquillant
7. Intermezzo
Skizze
Sonnuntergang
Totentanz 1916
Verse ohne Worte
Versuchung des Heiligen Antonius
Waldgreis
Widmung für Chopin
Wolken
Der Henker von Brescia
Personen:
Erster Akt
1. Szene
2. Szene
3. Szene
4. Szene
5. Szene
6. Szene
Zweiter Akt
1. Szene
2. Szene
3. Szene
4. Szene
5. Szene
6. Szene
Dritter Akt
1. Szene
2. Szene
3. Szene
4. Szene
5. Szene
6. Szene
7. Szene
Tenderenda der Phantast
I Der Aufstieg des Sehers
II Das Karussellpferd Johann
III Der Untergang des Machetanz
IV Die roten Himmel
V Satanopolis
VI Grand Hotel Metaphysik
VII Bulbos Gebet und der Gebratene Dichter
VIII Hymnus 1
IX Hymnus 2
X Der Verwesungsdirigent
XI jolifanto bamblo ô falli bamblo...
XII Hymnus 3
XIII Laurentius Tenderenda
XIV baubo sbugi ninga gloffa
XV Herr und Frau Goldkopf

Hugo Ball

Gesammelte WerkeHugo Balls

Flametti oder Vom Dandysmus der Armen

Roman

Emmy Hennings zugeeignet

I

Flametti zog die Hosen an, spannte die Hosenträger und brachte durch mehrfaches Wippen der Beine die etwas straff ansetzende Hosennaht in die angängigste Lage. Er zündete sich eine Zigarette an, stülpte die Hemdärmel auf und trat aus dem Schlafgemach in das Gasfrühlicht seiner geheizten Stube.

»Kaffee!« befahl er mit etwas verschlafener, rauh gepolsterter Stimme.

Er strich sich die haarigen Arme und gähnte. Trat vor den Spiegelschrank, zog sich den Scheitel. Er bürstete Hosen und Stiefel ab, setzte sich dann auf das weinrote Plüschsofa und öffnete zögernd die Schieblade des vor dem Sofa stehenden Eßtisches.

Dort befanden sich seine Rechnungsbücher, seine verschiedenen Kassen, Quittungshefte und die brandroten Briefkuverte, die die Anschrift trugen »Flamettis Varieté-Ensemble«.

Er stellte die Gagen zusammen – es war der fünfzehnte – und fand, daß er zu zahlen habe:

dem Jodlerterzett (Vater, Mutter und Tochter), nach Abzug der à conti

Fr.

27.50

dem Kontorsionisten, nach Abzug der à conti

"

2.27

dem Damenimitator (keine à conti)

"

60.—

der Soubrette und dem Pianisten (zusammengenommen, sie lebten zusammen), nach Abzug der à conti

"

15.—

Zusammen

Fr.

104.77

Dagegen befanden sich in der Kasse:

für das Terzett (hier war Genauigkeit geboten, die Leute waren unruhig, aufsässig und Anarchisten)

Fr.

27.50

für den Kontorsionisten (dem gab er die Gage unter der Hand)

"

—.—

für den Damenimitator (bei schlechtem Geschäftsgang hatte Flametti für ihn nur jeweils die Hälfte der Gage allabends zurückgelegt)

"

30.—

für das Pianisten-Soubrettenpaar (strebsame, ruhige Leute, die Anspruch machten auf Solidität)

"

15.—

Flametti addierte

Fr.

72.50

Er zog die Summe von den Fr. 104.77 ab. Blieben Fr. 32.27, die aus der Haupt- und Betriebskasse noch nachzuzahlen waren.

Er öffnete auch diese Kasse und fand darin bar Fr. 41.81.

»Neun Franken vierundfünfzig Vermögen!« Er schloß die verschiedenen Kassen ab, schob die Schieblade zurück, schloß auch diese und steckte die Schlüssel zu sich.

Seine linke Augenbraue flog hoch, für einen Moment. Er tat einen kräftigen Zug aus der Zigarette und blies den Rauch aus der Lunge. »Lausige Zeiten!« brummte er. »Aber wird sich schon geben. Nur kalt Blut!«

Ein kleiner Schalter öffnete sich, der das Wohnzimmer mit der Küche verband, und ein übergroß langes, mürrisches Gesicht erschien in der Öffnung. Eine große, magere Hand schob ein Tablett mit Kaffee, Milch und Zucker durch die Öffnung. Dann ging auch die Türe und eine hörbar schnaubende ältere Frau erschien, mißmutig, verdrießlich, rußig, in schleppenden, grauen Pantoffeln, mit schmutzigem Rock von undefinierbarer Farbe und mit aufgestecktem Haar, das wie das Nest einer Rauchschwalbe aussah: Theres, die Wirtschafterin.

Sie schleppte sich zum Tisch, zog die Tischdecke weg und legte sie knurrend zusammen. Schlappte langsam und uninteressiert zum Schalter, nahm das Tablett und stellte es auf den Tisch.

Ohne ein Wort gesprochen zu haben, brummte sie wieder hinaus, die Tür lehnte sich hinter ihr an, und von draußen schloß sich der Schalter.

Flametti goß sich Kaffee ein. Er nahm den Hut vom Haken, legte die Joppe an, die über der Stuhllehne hing, holte aus einer Ecke sein Angelgerät, aus dem Büfett einige Blechdosen von unterschiedlicher Größe und war bereit.

Nein, die Ringe! Er drehte die Ringe von den geschwollenen Fingern, den Totenkopfring und den Ehering, legte sie in das Geheimfach im Schrank, schloß den Schrank ab, steckte den Schlüssel zu sich und ging. Auf der Postuhr schlug es halb sechs.

Er hatte ein kleines Stück Fluß gepachtet, inmitten der Stadt, nahe der Fleischerhalle. Dahin begab er sich.

Eine kurz angebundene Melodie vor sich hinpfeifend, den Kopf energisch gegen das Pflaster gesenkt, bog er aus der kleinen, verräucherten Gasse.

Im Automatenrestaurant nebenan fegte, gähnte und scheuerte man. Ein Polizist auf der anderen Straßenseite, nahe beim übernächtig nach Salmiak duftenden Urinoir, sah ziemlich gelangweilt, die Frühluft schnuppernd, über das Kaigeländer ins Wasser.

»Salü!« grüßte Flametti, knapp und geschäftig an ihm vorüberstapfend, mit dem guten Gewissen des Bürgers, der seinen Angelschein wohl in der Tasche trägt und die Obrigkeit, ihre unteren Chargen insonders, nicht zu umgehen braucht. »Salü!« rief er und fuhr mit der Hand gradaus vom Hutrand weg in die Luft.

Der Polizist brummte etwas zur Antwort, das etwa »Guten Morgen« heißen sollte. Der Gruß war aber nicht eben freundlich. Auch nicht unfreundlich. Vielmehr: verschlafen beherrscht. Man kann nicht leugnen, daß sogar Sympathie darin lag, jedoch in wohldosierter Mischung mit einer Art Mißtrauen, das auf der Hut ist. Die Gasse, aus der Flametti kam, stand nicht eben im besten ortspolizeilichen Ruf.

Der Morgen indessen war viel zu verheißend, als daß Flametti sich hätte die Laune verderben lassen. An der Fleischerhalle vorbei, die Kaitreppe hinunter, begab er sich, guter Beute gewiß, an den Steg.

Er prüfte die Angelschnur, machte den Köder zurecht, klappte den Rockkragen hoch – es war frisch – und blies sich die Hände.

Gleich der erste Fang war ein riesiger Barsch. Der Fisch flirrte und glänzte, flutschte und klatschte.

Das Wetter war grau. Blaugrauer Nebel blähte die Türme am Wasser, die Schifflände mit ihren grünweiß gestrichenen, sechsstöckigen Häusern, den rasch vorüberstrudelnden Fluß und die jenseits hoch über die Häuser hängenden Stadtgartensträucher.

Flametti löste die Angel, ließ den Fisch in das Netz hineinschnellen, brachte den Köder in Ordnung und warf die Angel zum zweitenmal aus.

Er sah sich um nach dem Polizisten. Der war verschwunden.

»Überflüssiges Element!« brummte er, zupfte am Köder, um die Aufmerksamkeit der Fische zu erregen, machte die rechte Hand frei und schneuzte sich kräftig in ein derbes, rotbedrucktes Taschentuch. »Geschmeiß! Größere Faulenzer gibt es nicht!«

Auf der Straße ließ sich ein drohendes Brummen und Surren vernehmen, das ratternd und knatternd näherkam: ein frühester Autowagen der »Waschanstalt A.-G.«. Das Vehikel puffte, böllerte, walzte vorüber. Der ganze Kai vibrierte. Ein Ruck an der Angel: ein zweites Tier hatte angebissen. Diesmal ein Rotauge.

»Gut so«, zwinkerte Flametti, »darf so weitergehen!«

Fabrikarbeiter kamen vorüber. Sie markierten zur Bahn.

»Hoi«, riefen sie hinunter, »gibt's aus?«

»Salü!« drehte sich Flametti um. Sie gestikulierten in Eile vor sich hin und verschwanden.

Das Wasser floß graugrün und undurchsichtig. Die Möwen strichen sehr niedrig und zischten über die Brücken hinweg. An der Häuserfront der Schifflände öffnete sich ein Fenster, und eine junge Frau sah nach dem Wetter.

»Salü!« rief Flametti hinüber.

Sie lachte und schloß das Fenster.

Ein Kind schrie, und eine Turmuhr schlug. Die Glocken einer katholischen Kirche läuteten. Auch in der Fleischerhalle regte es sich. Auf der Gemüsebrücke fuhren die Händler Obst und Kartoffeln an.

Der dritte Fang war ein armslanger Aal. An der Grundangel kam er nach oben. Schwarz wie der Schlamm und die Planken, aus denen er kam, trug er deutliche Spuren von Rattenbiß.

Auf den Kaiquadern schlug ihn Flametti zu Schanden.

Schulkinder und ein von entmutigendem Beruf heimkehrendes Fräulein, die sich oben am Geländer versammelt hatten, schrien laut auf vor Entsetzen. Das Fräulein lächelte.

»Servus, Margot!« rief Flametti hinauf aus der Kniebeuge, eifrigst mit seinen Geräten beschäftigt.

Sie lachte und hielt die ringbesäte Hand in Verlegenheit vor ihre schlechten Zähne. Die Kinder sahen sie neugierig an und musterten ihren bunten Aufputz.

Übers Geländer gebeugt, ließ sie ihr Täschchen schaukeln, die Hand am Munde, und rief, auf den heftig sich krümmenden Fisch hinzeigend:

»Noch so einen, für mich!«

»Was zahlst du?« wischte Flametti sich die Hände ab, um weiterzufischen.

»Zahlen?« rief sie und schaute dabei unternehmend nach allen Seiten, »erst heraus damit!«; was der Dienstmann im blauen Leinenkittel, der sich inzwischen mit seinem Karren an der Ecke der Fleischerhalle versammelt hatte, als den besten Witz des bisherigen Morgens verständnisinnig zur Kenntnis nahm und lächelnd quittierte.

Flametti hatte Glück. Als die Uhr acht schlug, nahm er seine Büchsen, Angeln und Netze und begab sich nach Hause.

Auf zehn Kilo schätzte er, was er gefangen hatte. Damit ließ sich leben.

Er stellte das Angelgerät an seinen Platz zurück, ging in die Küche und suchte der Wirtschafterin aus dem Netz die Rotaugen heraus für den Mittagstisch. Nahm dann mit einem kräftigen Ruck seine Last wieder auf und stapfte davon.

Schnurstracks begab er sich ins Hotel Beau Rivage, wo er bekannt war, verlangte den Küchenmeister zu sprechen und bot ihm die Fische an.

»Schau her«, sagte er, »hast du so einen Aal gesehen?«

Er packte den schleimigen Aal, der sich zu unterst ins Netz verkrochen hatte, und ließ das Tier, das sich heftig sträubte und ringelte, durch die geschlossene Faust in das Netz zurückgleiten.

»Schau den Barsch!« sagte er und jonglierte den fettesten Barsch auf der flachen Hand. Dann wischte er sich mit dem Taschentuch seine Finger ab.

Man wurde handelseinig. Der Küchenmeister stellte einen Schein aus, und Flametti nahm bei der Büfettdame dreißig Franken in Empfang. Er hatte das leere Netz zusammengerollt, dankte verbindlichst und machte sich auf den Heimweg.

Das Wetter hatte sich aufgeklärt. Die herbstgelben Bäume der Seepromenade hoben sich scharf und klar gegen den hellblauen Himmel ab. Die Möwen strichen mit schwerem Flügelschlag langsam und mächtig den Fluß entlang, ballten sich kreischend zu einem wirren Schwarm und kreisten in schönem Bogen, eine leis auf die andre folgend, vor einem Spaziergänger, der ihnen Brösel zuwarf. Mit langen Schnäbeln haschten sie geschickt im Flug.

Flametti war bester Laune. Er schwenkte in eines der kleinen, am Kai liegenden Zigarrengeschäfte und erstand sich eine frische Schachtel ›Philos grün‹.

Mit Gentlemanpose warf er ein Fünffrankenstück auf den Ladentisch. Er schob das Wechselgeld in die Hosentasche, ohne viel nachzuzählen, klimperte, fuhr mit der Hand an den Hut, sagte »Salü!« und marschierte weiter.

»Salü, Fritz!« rief er, die Hand am Hut, einem Bekannten zu, der aus einer kleinen Seitengasse bog.

»Was kosten die Kressen?« fragte er im Vorbeigehen einen Gemüsehändler unter den Arkaden.

Und vor dem Fenster eines Bazars blieb er stehen, musterte mit Kennerblick die ausgestellten orientalischen Waren, ging hinein und erstand einen hellblauen Tschibuk mit Goldschnur, der ihm für seine Ausstattungsnummer ›Im Harem‹ fehlte zum Sultanskostüm.

Er war sehr zufrieden mit seinem Kauf, stapfte den Kai entlang und begegnete Engel, dem Ausbrecherkönig, Engel, seiner Kreatur, die vor kurzem noch Monteur gewesen, dann zum Varieté übergegangen war.

»Salü Max!« grüßte Engel familiär, doch in respektvoller Distanz. »Auch schon munter?«

Max machte Halt, ein wenig degoutiert, seinen Lieblingsgruß aus fremdem Mund zu vernehmen. Ziemlich nachlässig und nebenhin sagte er »Salü!«, nahm die Zigarette aus dem Mund und kniff das rechte Auge zu.

»Das war ein Gaudi heut nacht!« legte Engel los, »hättest dabei sein müssen! Der Pips war mit und die Margot und die lange Mary und eine ganze Gesellschaft aus Chaux-de-Fonds. Unten bei Mutter Dudlinger. Fünf Schampusflaschen haben wir die Hälse gebrochen. Und ein Lärm! Da war Pinke-Pinke!«

Mit sportsmännischer Nachlässigkeit hielt er den Arm lang ausgestreckt und tippte die Zigarettenasche gegen die Gosse.

Max war sehr uninteressiert. Die Abenteuer seines schmächtigen, für Zusteckereien allzu empfänglichen Ausbrecherkönigs imponierten ihm nicht.

»Komm mit!« sagte er unvermittelt und packte den Ausbrecherkönig beim Arm, »trinken wir im ›Ochsen‹ 'ne Halbe!«

Und sie schwenkten hinüber über die Gemüsebrücke zum ›Roten Ochsen‹.

»Du, Max«, meinte Engel und versuchte, mit dem mächtig ausschreitenden Flametti gleichen Schritt zu halten, »sag' mal aufrichtig: Hast du der Margot einen Aal versprochen? Sie sagt's nämlich.«

Flametti blieb stehen. »Jawohl, ich, einen Aal, der Margot! Hab' die Aale grad zum Verschenken! So seh' ich aus!«

»Na, also!« beschwichtigte Engel. »Weißt du, Margot ist man 'n verrucktes Frauenzimmer. Hab's ja gleich gesagt.«

Der Ochsenwirt war nicht zu Hause. Eigentlich war man hingegangen, um ein Geschäft auszumachen. Man nahm einige Glas Münchner, standesgemäß, Flametti zahlte, Engel nahm die Hüte vom Haken. Dann ging man zum Essen.

Mutter Dudlinger, die Dame, bei der sich Herr Engel mit der Gesellschaft aus Chaux-de-Fonds ein so lustiges und vornehmes Rendez-vous gegeben hatte, Eigentümerin des Hauses, in dem auch Flametti wohnte, lag ihrer Gewohnheit gemäß unterm Fenster, als die beiden Männer in die kleine Gasse bogen.

Sie sonnte den Busen und lächelte ihnen mit einem wohlwollenden Nicken des Kopfes Willkomm zu.

Dieser Busen! Er nahm die ganze Breite des Fensters ein und drängte dabei den wahrlich ungraziösen, fast könnte man sagen plumpen Körper zurück, der auch seinerseits aus dem grauen, schmuggeligen Hause heraus nach Licht und Sonne begehrte.

Diese Brüste! Sie blähten sich auf, quollen über, und nur mit Mühe hielt sie der speckige Rand der schwarzen, zusammengehaftelten Kammgarnbluse zurück, sich über die Fensterbank auf das holprige Pflaster zu stürzen. Die Sonnenstrahlen vom Giebel des Automatenrestaurants kamen der Bluse zu Hilfe. Steil stellten sie sich – es war Mittag – gegen besagte Fleischesfülle.

Mutter Dudlinger allein schien nichts zu bemerken vom Widerstreit ihrer Massen im Kampf ums Licht. Harmlos und freundlich lag ihre Seele gewissermaßen zwischen Busen und Körper mitten inne und schaute, umhegt von sanft hängendem Speck, aus listigen Äuglein gutmütig heraus.

Flametti grüßte hinauf, den Kopf stark in den Nacken gebeugt. Die Gasse war eng. Und Herr Engel ebenfalls grüßte hinauf, rief wie Flametti »Salü!« und griff an den Hut.

Mutter Dudlinger streckte den Kopf aus dem Fenster, schluckte den Speiserest, der sich vom Mittagessen unversehens noch irgendwo zwischen den Speicheldrüsen gefunden hatte, und verfolgte voll Sympathie den Eintritt der stattlichen Männer in ihr gastfreies Haus. Sie bemerkte dabei zu ihrer Verwunderung heute zum ersten Mal, daß unter dem Fenstersims eine ganze Anzahl höchst niedlicher Schmutzfähnchen flatterten, die sich aus langen, auf das Gesims gefallenen Regentropfen gebildet hatten und über die Hausfront hinunterwehten.

Die Männer stiegen indessen die steile Treppe hinauf, und Engel befand sich, immer hinter Flametti stapfend, von Stufe zu Stufe mit kindlicheren Gefühlen den rückwärtigen Massen seiner mütterlichen Protektorin gegenüber, die mit gelüpftem Posterieur noch immer die Regenfähnchen der Hausfront bestaunte.

Es war eminent! Ein lächerlich kleiner Erker war der Unterbau dieser ganzen bedenklichen Last, die man Mutter Dudlinger nannte. Unterbau einer Fülle, von der man sich von der Straße aus nicht einmal einen Begriff machen konnte.

Ein Wunder, daß dieser Erker im nächsten Moment nicht krachend zusammenbrach und samt der guten Mutter Dudlinger in eine mysteriöse Tiefe hinunterstürzte. Erstaunlich, wenn man's bei Tag besah, daß man in diesem Erker sogar zu dreien sitzen konnte! Und Engel hatte mit Mutter Dudlinger und Mary zu dreien darin gesessen. Man hatte gesprochen vom Krieg, vom Konzert, von den schlechten Zeiten; im Zimmer nebenan hatten die Sektpfropfen geknallt, und Mary hatte gegähnt, weil ihr Kavalier aus Chaux-de-Fonds eine Anspielung machte auf ihre Gesundheit. Da hatte sie sich natürlich zurückgezogen und spielte die Beleidigte. Und Mutter Dudlinger hatte die Blätter der künstlichen Rebe zurechtgebogen und eingesprochen auf Mary. Aber es half nichts. Sie war beleidigt.

Als Flametti und Engel oben in die Stube traten, stand die Suppe bereits auf dem Tisch. Um den Tisch saßen: Herr und Frau Häsli nebst Tochter, das Jodlerterzett; Herr Arista, der Damenimitator; Fräulein Laura, die Soubrette, und Herr Meyer, der Pianist; Bobby, der Schlangenmensch, und das Lehrmädchen Rosa. Sämtlich mit Löffeln und Schlucken beschäftigt.

Herr Häsli hatte die Serviette vorgebunden, damit er sein gutes Hemd nicht beflecke. Bobby schlarpste. Jennymama, Flamettis Frau, saß malerisch auf der Sofakante bei der Schlafzimmertür, rosig wie eine Venus, im lachsfarbenen Schlafrock, den sie mit der rechten Hand sorgsam über die Hüften geschlossen hielt. Das offene Haar, mit Wasserstoffsuperoxyd gebeizt, war flüchtig zurückgestrichen. Die Suppenschüssel dampfte. Und der Pianist benutzte den günstigen Augenblick, um sich zum dritten Mal Suppe zu schöpfen.

»Mahlzeit!« sagte Flametti breit.

»Mahlzeit!« erwiderten sämtliche Mitglieder des Ensembles.

Flametti hängte seinen Hut an die Tür und begab sich, um den Tisch herum, an seinen frei gebliebenen Platz auf dem Sofa.

Fräulein Rosa stand sogleich auf und griff nach der Terrine, um Suppe nachzufüllen. Fräulein Theres, die Wirtschafterin, kam herein, um nach den Bedürfnissen zu sehen. Durch den offenstehenden Bretterverschlag aus dem Nebenzimmer grüßte das Krukru der kichernden Turteltauben, die Flametti für seine Zauberkunststücke pflegte.

»Setz dich, Engel!« rief Flametti gütig dem zögernden Ausbrecherkönig zu, der nicht zum Ensemble gehörte, aber darin nach Bedarf gastierte und für tausend wichtige Bühnenzwecke bestens verwendbar war.

»Merci, Max! Laß nur! Ich finde schon Platz!« Er nahm den Stuhl, den Rosa ihm aus dem Verschlag herbeiholte, und setzte sich zu dem Schlangenmenschen. Die beiden mußten sich so in das obere Tischende teilen; aber sie kamen zurecht miteinander, sie waren ja Freunde.

Schwieriger gestaltete sich die Platzfrage an der Längsseite des Tisches, wo der Damenimitator, das Jodlerterzett und die Soubrette saßen.

Fräulein Laura und Herr Arista waren verträglich. Sie fanden sich ab. Ganz unverträglich aber und bissig, sowohl untereinander wie den anderen gegenüber, waren die Jodler, die Mutter insonders. Frau Lotte Häsli spie Gift und Galle, wenn man nur an sie tippte.

Nun saßen die drei eng aneinandergedrückt. Kaum konnten sie mit den Gabeln auslangen, um einen Fisch zu spießen. Kaum mit den Ellbogen hervorkommen, um eine Platte zu greifen.

Frau Häsli auf dem Mittelplatz, zwischen Herrn Häsli und seiner Tochter, warf wütende Blicke voller Verachtung und Hohn auf den Gatten, der lammfromm dasaß und mit hochgezogenen Augenbrauen den Mund vollstopfte, statt sich zu beschweren. Sie fletschte die Zähne und trat ihm wohl fünfmal hintereinander in einem bestimmten, bösartigen Rhythmus auf den Fuß.

Die Tochter, herausgefordert durch solche forcierte Unverträglichkeit der Mutter, puffte ihr mit dem linken Arm in die rechte Seite, anscheinlich, um sie auf die Blamage aufmerksam zu machen, in Wahrheit aber mit solch erbittertem Nachdruck, daß jeder Unbefangene merken mußte, sie nütze nur die Gelegenheit aus, ihr eins zu versetzen.

Der Pianist, dem Ausbrecherkönig gegenüber, schmunzelte in seinen Teller hinein und erwiderte sehr belustigt die Zeichen des mit dem Kopf andeutenden Schlangenmenschen, der seinerseits mit Messer und Gabel den Fisch zerhackte, daß sich die Gräten bogen.

Frau Häsli wurde aufmerksam und war rot vor Wut. Doch beherrschte sie sich, drängte den Ärger zurück und rief mit unglaublich gesüßter, doch etwas gewaltsam flott gemachter Zutraulichkeit:

»Na, Herr Direktor, wie geht's, wie steht's? Geld brauchen wir. Können wir dann auch die Gage kriegen?«

Herr Häsli war konsterniert. Eben wollte er eine neue Fracht Fisch auf der Gabel zum Munde führen und hatte schon auf dem Messerrücken den Kartoffelsalat bereit, um ihn zum selben Zweck auf die Gabel zu wälzen. Da mußte er dieses unglaublich taktlose Wort vernehmen, jetzt bei Tisch, wo man aß, wo Flametti gerade gekommen war und kaum saß.

Die schon erhobene Gabel senkte sich auf den Teller zurück. Herrn Häslis straffes Gesicht bekam Käsefarbe. Die Augen, eben noch versöhnlich und ungestört an der spitzen Nase vorbei auf das Messer gerichtet, schnellten mit einem hörbaren Ruck nach rechts gegen die biestige Ehehälfte, und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre er aufgesprungen, ihr eine Watsche herunterzuhauen.

Aber dabei hätten Stühle umfallen müssen, weil man so eingekeilt saß. Dabei wäre notwendig das Tischtuch heruntergezerrt worden. Also beherrschte er sich und blieb, zitternd vor Empörung, in drohendster Pose erstarrt, still sitzen.

Das war doch die Höhe! Herr Häsli kannte Flametti seit Jahren. Wußte, daß er die Gagen nie schuldig blieb. Wußte, daß die Verlegenheit, in der sich Flametti befand, nur momentan war und nichts besagte. Wußte auch, daß die vielen Fischgerichte, die Flametti da auftischen ließ, nur seinen guten Willen verrieten, durchzuhalten um jeden Preis. Da soll einem nun die Geduld nicht reißen, wenn solch obstinates Weibsstück in ihrer spitzigen Kribbeligkeit keine Raison annahm! Man hat doch Erziehung! Man ist doch kein Schubiack! Man hat doch, zum Teufel, die Welt gesehen!

Herr Häsli hatte indessen gut denken! Er war ein Faulenzer, ein Nichtstuer, er hatte sich immer nur den Magen gestopft und die Frau schuften lassen. Beim Norddeutschen Lloyd war er Steward gewesen. In unterschiedliche Phonographen hatte er gejodelt zu Berlin und Paris. War auch mal II. Klasse gefahren, von Potsdam nach Wien, eines Phonogramms wegen. Aber was schon! Das war vor Jahren, als er die Stimme noch hatte. Das war vorbei. Jetzt hatte sie, Lotte Häsli, ihn durchzuschleppen. Wie ein Lastvieh kuranzte er sie. Immer singen und singen. Bei zwanzig Grad Kälte in den eiskalten, verschmierten, kleinen Hotels. Tagaus, tagein. In Bern: dreißig Nummern an einem Sonntag, von nachmittags drei bis nachts elf. Sie hatte es durchgemacht. Sie hatte genug. Sie kannte die Herren Direktoren. Aus war's. Sie wollte nichts mehr wissen davon. Wenn einer ihr nur in die Nähe kam – genügte schon, daß er ein Mannskerl war – fuchtig wurde sie. Die Hand weg! Wenn man nicht einmal ordentlich zu essen kriegen sollte bei solchem Betrieb, ja geschuriegelt wurde – immer nur singen und singen und etwa noch Schläge – lieber den Strick um den Hals!

Frau Häsli hatte zu essen nicht nachgelassen. Mit Messer und Gabel hantierte sie eifrig. Zwei schwarze Löckchen fielen ihr zier und adrett, schwarze Bockshörner, leicht in die Stirn. Diese Stirn, eigensinnig, gedrungen, von einer kurzen, nur schlecht verheilten Narbe gezeichnet, war nicht eben häßlich.

»Mach' mal 'n bißchen Platz!« rief sie der Tochter zu, um deren Fuß sich unter dem Tisch der Damenimitator lebhaft und dringend bewarb.

Frau Häsli gelang es, durch Aufwärtsschieben der Ellbogen ihrem Brustkorb etwas mehr Luft zu verschaffen.

Toni, die Tochter aber, kam sich ganz persönlich verletzt und gepiesackt vor.

Was konnte sie dafür, daß dieser verfettete Damenimitator so aufdringlich war! Sie hatte ihm ihren Fuß überlassen, weil sie sich doch vergewissern mußte, ob er auch wirklich angelte. In diesem Moment war ihr das häßliche »Mach' mal 'n bißchen Platz!« ans Ohr gedrungen. Überhaupt: mit dem Damenimitator hatte sie nichts, wenn er auch Lackschuhe trug und einen gebügelten, kaffeebraunen Anzug. Wer weiß, ob er überhaupt bei einer Jungfrau schlafen konnte. Es war eine bekannte Sache, daß es Damenimitatoren an so manchem fehlte, was eine Toni Häsli reizen konnte.

Sie schob ihren Stuhl zurück, stand auf und sagte ziemlich schnippisch: »Ich kann ja auch in der Küche essen, wenn hier zu wenig Platz ist!«

Die Mutter hatte sich aber bereits zurechtgefunden, das Rotauge, auf das sie es abgesehen hatte, aufgespießt und auf den Teller herüberbefördert. Mit einem hörbaren Plumps ließ sie sich auf den Stuhl zurückfallen und sagte verwundert:

»Was willst du denn? Was paßt dir denn nicht? Kannst du dich nicht ein bißchen schicken? Wenn der Platz knapp ist? Sei froh, daß du so gutes Essen bekommst. Schau mal diese Forelle an« – dabei zerrte sie den Fisch mit der Gabel auf ihrem Teller hin und her – »so was Feines verdienst du gar nicht! Dankbar solltest du sein, daß man dich durchschleppt.«

Herr Häsli saß noch immer erstarrt in furchtbarer Pose, eine knödelessende Schießbudenfigur. Von der Mutter weg wandte er seine Augen zur Tochter. Ohne viel Erfolg. Toni setzte sich zwar wieder hin, konnte sich aber nicht verkneifen, die Mutter darauf aufmerksam zu machen: »Es sind ja gar keine Forellen. Es sind ja Rotaugen.«

»Na«, beschwichtigte Jenny, »sie ist ja noch jung. Versöhnt euch! Morgen gibt's Paprikabraten mit Spaghetti und Tomatensauce. Kinder! Ein feiner Fraß!« Und sie hob den Zeigefinger hoch und ließ einige fettgurgelnde, selige Laute hören.

Flametti hatte das Hemdbördchen geöffnet, um es bequemer zu haben. Mit den Oberarmen den Tisch festhaltend, lag er vor seinem Teller, den Kopf hart über dem Tellerrand, und schlarpste gierig die Suppe.

Das Plüschsofa hatte sich unter seinem Druck gesenkt mit einem Knacken der Federn, das wie ein Magenknurren Flamettis fortdröhnte. Als er nun die baumwollenen Hemdärmel aufkrempelte, konnte man so recht sehen, was für ein Riese er war.

Die Muskeln der Oberarme stiegen in einer steilen Schwellung zum Schulterblatt. Teller, Arme und Kopf bildeten ein einziges, muskulöses Dreieck. Blutunterlaufen, vom Sitzen, schwollen seine Augen.

Ganz allein hielt er das Sofa und von dort aus den Tisch in Schach. Er sprach nicht viel. Für die Worte der Häsli wegen der Gage hatte er nur ein kurzes, brummiges »Ja, ja. Sowie das Essen vorbei ist«. Was ihn ein wenig wurmte, war die Aufdringlichkeit dieser Person, die immer etwas zu bestellen hatte, immer Stank mitbrachte.

Als Herr Häsli dann jene Schießbudenpose annahm, konnte Flametti sogar ein heimliches Gaudium nicht verbergen. Er senkte den Kopf noch tiefer und blies die Backen auf, um nicht loszuprusten.

Ihm machte es einen Heidenspaß, wenn das Ehepaar sich »anblies«. Eine bösartige Rippe, diese Alte. Der kleine Häsli ein Schlappier, daß er sich das so gefallen ließ. Aber ihr Gesang: alle Hochachtung! Das mußte man ihnen lassen. Was Exaktheit, Klangfarbe und Schulung betraf: weit und breit keine Besseren.

Flametti war mit der Suppe fertig. Ein einziger Fisch lag noch auf der Platte, und Engel holte weit aus, um ihn an sich zu bringen.

Rosa beeilte sich, aufzufüllen. Jenny, gesättigte nahm ihr offenes Haar aus dem Nacken und flocht es zusammen.

»Na, kommt das Zeugs bald?« rief Flametti zum Schalter, legte mit breiter Oberlippe den Eßlöffel trocken, drehte ihn um und leckte auch die Kehrseite gründlich ab.

Bobby zerriß ein Stück Brot und stopfte es in den Mund. Die Häslis standen auf, sagten »Mahlzeit!«, gingen aber noch nicht, denn es sollte ja Gage geben.

Auch der Pianist und die Soubrette standen jetzt auf. Der Damenimitator, aus Höflichkeit, blieb noch sitzen.

»Mahlzeit!« rief Flametti. Aber für ihn begann die Sache jetzt erst. Und auch Herr Engel wurde loyal, faßte Mut, und sie stocherten um die Wette nach den pauvren Fischleins.

Engeln drohte dabei die Hose zu rutschen. Aber er hielt sie fest mit der linken Hand und rief zu Flametti hinüber: »Max, weißt du noch: ›Bratwurstglöckli‹?«

Dort muß vor Zeiten eine ungeheure Fresserei stattgefunden haben. Denn die beiden lachten einander an, verständnisinnig, und verdoppelten ihre Anstrengungen.

Flamettis Varieté-Ensemble hatte einen Ruf und war beliebt. ›Bestrenommiert‹ stand auf den Plakaten. Und durch ›bestes Renommé‹, von dem nur die Neider behaupteten, es rühre von Flamettis Renommage her, unterschied sich das Ensemble von der Konkurrenz.

Ferreros ›Damen-Gesangs- und Possen-Ensemble‹ war ›geschätzt‹, ›glänzendst‹, ›weltbekannt‹. Aber beliebt? Nein. Bestrenommiert? Nein. Es war ›vornehmst‹, infolge der vereinten Eleganz und Reserviertheit seiner Damen.

Auch Pfäffers ›Spatzen‹ konnten da nicht mit. Sie hatten weder jene geheimnisvolle Anziehungskraft, die Flamettis Ensemble eigen war, noch jene gewisse Eigenart und Popularität.

Pfäffers ›Spatzen‹ waren, wenn man ihren Wert auf einen Nenner bringen wollte, ›altbewährt‹, ›solid‹, ›reichhaltig‹, ›anerkannt‹. Ihre Force: ›dezentes Familienprogramm‹, mit ausgeschnittenen Kleidern und Broschen, die, wie Flametti höhnte, am Bauchnabel saßen.

Nein! Auch von ihnen ging jene Wirkung nicht aus, die Wärme und Begeisterung verbreitete, Einladungen zu Bier, Wein und Sekt mit sich brachte; Wagenpartien, Abenteuer und Schicksale im Gefolge hatte.

Worin lag die geheimnisvolle Anziehungskraft der Flamettis?

Darüber zerbrach sich mancher den Kopf.

Flametti zahlte weder die besten Gagen, hatte infolgedessen auch nicht die ersten Kräfte, wie Ferrero. Noch hatte er die besten Schlager, wie ebenfalls Ferrero, der Jude war, raffiniert, geschickt, tüchtig, und der infolge seiner ›Vornehmheit‹ die besten Verbindungen hatte. Noch waren Flamettis Nummern mit soviel Fleiß, Sorgfalt und Interesse herausgebracht wie etwa die Gesangs-Ensembles von Pfäffers ›Spatzen‹. Auch deren farbenprächtige, teure Matrosen-, Schornsteinfeger- und Mausfallenhändler-Kostüme hatte er nicht, die Fabrikware waren und Gesprächsthema weit und breit.

Worin also bestand Flamettis Überlegenheit?

Er war ein Kerl sozusagen, ganz persönlich. Artist von reinstem Wasser. Er hatte ein Auge, verstand, seine Leute sich auszusuchen. Er war: eine Persönlichkeit gewissermaßen. Kein Ferrero, der früher mit Lumpen gehandelt hatte. Kein Pfäffer, der seinen Weibern zurief: »Kinder, macht's euch bequem!« und dann im Hemd mit ihnen den ›Kleinen Kohn‹ einstudierte.

Fleiß? Verachtete er. Der echte Artist schläft morgens bis gegen elf. Wenn man bis in die Nacht hinein gearbeitet hat, oft die schwierigsten Nummern, kann man nicht in aller Herrgottsfrühe wieder auf den Beinen sein.

Proben? Jawohl! Aber mit Maß und Ziel. Es hat keinen Sinn, den Leuten die Lust an der Arbeit zu nehmen, sie tot zu hetzen mit Proben. Auf die Eingebung kommt es an. Nicht auf den Drill. Wer es nicht in den Fingerspitzen hat, der wird es auch auf der zwanzigsten Probe nicht haben. Man ist doch nicht beim Kommiß! Artisten sind keine Studiermaschinen. Und wenn schon Proben, dann nicht zuviel Pünktlichkeit. Pünktlichkeit soll der Teufel holen. Es muß aus dem Handgelenk kommen, spontan.

Flamettis Proben waren unberechenbar. Wenn eine angesetzt war, fand sie sicher nicht statt. Wenn eine stattfand, war sie sicher nicht angesetzt. Das Ganze blieb mehr der Inspiration, dem persönlichen Einfall und Zufall belassen.

Extempores? Prachtvoll! Er selbst war ein Extempore von Kopf bis zu Fuß. Vielseitig, unberechenbar, auch in seinem Repertoire. Nur kein festes Programm! Nichts langweiliger als das. Bei Ferrero hing das Programm jeden Abend punkt acht beim Kapellmeister am Klavier. Bei Flametti gab's überhaupt keines. Oft wußte er fünf Minuten vor seinem Auftritt noch nicht, solle er den ›Mann mit der Riesenschnauze‹ bringen oder die ›Feuernummer‹. Sprudeln muß man: das war sein oberster Grundsatz.

Auch bei Engagements: Flametti hatte das renommierteste Ensemble. Und doch keineswegs die renommiertesten Kräfte.

Im Gegenteil: darin gerade bestand sein Genie, daß er verstand, Kräfte zu entdecken, zu finden, ja aus dem Nichts zu stampfen.

Flamettis Personal war: interessant. Er hatte eine Nase für natürliche Begabung. Auf Agenten, Kritiken und Renommage gab er nichts. Selber sehen! Kerle brauchte er, Personnagen. Talent kam in zweiter Linie. Mochte das Talent einen Knacks haben, die Stimme einen Knacks, die Figur einen Knacks. Wenn nur der Kerl, der dahinterstand, etwas zu sagen hatte.

Flametti hatte einen Blick für die gebrochene Linie. Einen Blick für jenen Moment, in dem etwa eine Kabarettistin reif wurde fürs Varieté. Da setzte er ein. Da bemühte er sich. Da lief er.

Und immer: das menschliche Interesse an seinem Mitglied stand im Vordergrund. Herr oder Dame: ihn interessierte zumeist, was sie erlebt und gesehen hatten. Gute Manieren. Kein Engagement ohne tagelange vorherige Beobachtung. Schicksale muß jemand gehabt haben, um interessant zu sein für Flamettis Ensemble. Schicksal brachte Vielseitigkeit mit sich, Überraschungen, Anlagen, Geist. Seine Mitglieder mußten sich bewegen können. Welt mußten sie haben. Versiert mußten sie sein. Vornehmheit war nicht seine Sache. Dahinter steckte nicht viel. Deklassierte Menschen, gerempelte Personnagen sind die gebornen Artisten. Im Druck muß man gewesen sein, um Artist zu werden.

Unter fünfzig Mädels, die auf der Straße das Täschchen schwenkten, waren zwanzig Soubretten. Es kam nur darauf an, sie davon zu überzeugen. Unter fünfzig Apachen, die keiner beachtete, zwanzig Ausbrecherkönige, Zauberkünstler, Jongleure. Es kam nur darauf an, sie zu finden und durchzusetzen. Und gerade darin bestand Flamettis Genie, seine Popularität, seine Magie.

In seinem Ensemble wurden Sprachen gesprochen: englisch, französisch, dänisch, sogar malayisch. Man hatte die Welt gesehen. Man hatte sich redlich bemüht und kannte das Leben.

Gefängnis, Skandal, Freudenhaus, Fahnenflucht waren kein Einwand. Artisten kommen aus einer anderen Welt. Sind keine Bürger. Aus Unterdrückung werden Artisten. Wo keine Defekte sind, sind keine Menschen. Buntheit, Zauber, Exotik: nur aus Verzweiflung.

Dementsprechend war auch Flamettis Verhältnis zu seinen Artisten. Kameradschaft, nicht Abhängigkeit. Freiheit, nicht Zwang. Vertrauen, keine Verträge. Gage muß sein: sowieso. Aber was nützte der beste Vertrag, wenn der Direktor einmal nicht zahlen konnte?

Hier setzte Flamettis Verläßlichkeit ein. Er war dann imstande, mit Angeln sein ganzes Ensemble zu halten. Ein anderer Direktor stellte die Zahlungen ein.

Bei Flametti konnte man aus- und eingehen, auch wenn man nicht mehr auf seinen Brettern stand. Bei welch anderem Direktor noch? Was Flametti besaß, gehörte auch seinem Ensemble. Es war nicht sein Ehrgeiz, Geld zu machen, Bankkonto und dergleichen. Sein Ehrgeiz war, eine Truppe zu haben.

Kostüme? Machte man selbst. Nummern? Erfand man sich. Er selbst, Flametti, hatte er nicht aus einer Robbe ein Seeweibchen gemacht, als Not am Mann war? Und aus Engel einen Ausbrecherkönig? Demselben Engel, der Speckschneider gewesen war bei der Handelsmarine? Eine Kiste hatte er ihm gebaut, woraus mittels einer im Innern angebrachten Mechanik selbst bei vernageltstem Zustand leicht zu entkommen war. Handfesseln hatte er ihm gearbeitet mit einem Raffinement, daß ›Henry‹ mit einem Ruck seiner zarten Gelenke innerhalb drei Minuten im Freien stand.

Freilich: Solche Gelenke aus gutem Hause gehörten dazu und ein wenig Geschick. Aber ›Henry‹ schaffte es. Kein Mensch hätte vorher daran geglaubt. Eine Berühmtheit war aus ihm geworden, über Nacht.

Welcher Direktor erlebte die Überraschung, daß seine Soubrette als Gamsbua auftrat und Schnadahüpfl sang, nur aus Jokus? Oder daß der Pianist die Klampfn nahm und der Jodler das Piston?

Flametti legte auch keineswegs Wert darauf, jeden Abend zu spielen. Besonders nicht in den kleinen Beiseln, wo man um sechs Uhr abends schon auf dem Posten sein mußte, wo das Wasser von der Decke tropfte und die Klaviere jämmerliche Drahtkommoden waren, unmöglich, Töne darauf hervorzubringen.

Mochte Jenny recht haben: man solle auch die kleinen Geschäfte annehmen; man müsse ja auch die Gagen zahlen. Aber man war doch nicht in der Tretmühle! Man war doch nicht auf der Welt, um sich abzustrapazieren!

Keine Überarbeitung: das war man seinem Ensemble schuldig. Flametti verlangte dafür nur seinerseits etwas Entgegenkommen: Anstand und guten Willen. Benehmen. Oder er wurde ›verruckt‹, was besagte: schlug alles kurz und klein, rannte Köpfe an die Wand, ging mit dem Messer los auf die Bande.

»So, Kinder«, rief Flametti, wischte sich den Mund ab und legte die Serviette hin, »jetzt kommt die Gage!«

Er nahm den Schlüssel aus der Hosentasche, schloß die Schieblade auf und rief, auf das Eßgeschirr zeigend: »Weg mit dem Zeugs!«

Rosa beeilte sich, das Geschirr wegzutragen. Das Ensemble spitzte die Ohren. Auch Engel hörte nun auf zu essen. Und alle kamen näher.

»Monsieur Arista«, begann Flametti, »sechzig Franken. Stimmt's? Quittieren Sie.«

»Stimmt«, sagte Arista, »danke schön.« Quittierte mit dem Tintenstift, den Flametti ihm hinschob, und strich das Geld ein.

»Bobby – zwei Franken siebenundzwanzig – hier.Stimmt's? A conto zweiten soundsoviel, à conto vierten soundsoviel, à conto fünften, à conto achten.«Er zeigte auf die einzelnen auf der Quittung verrechneten Posten.

»Stimmt, stimmt«, sagte Bobby. »Danke!«

»Hier – quittieren!«

Bobby quittierte.

»Herr Meyer – zehn Franken. A conto vierten – fünf Franken. A conto achten – fünfzehn Franken. A conto zwölften – fünf Franken. Stimmt's?«

»Ja, stimmt. Danke.«

»Laura – fünf Franken.A conto, à conto, à conto, à conto.«Flametti zeigte wieder die einzelnen Posten auf der Quittung.

»Ja, stimmt schon«, zögerte die Soubrette, ein wenig verwirrt und enttäuscht. Eigentlich hatte sie zehn Franken erwartet. Sie konnte sich aber auch irren.

»Immer dieselbe Sache«, maßregelte Flametti. Nie wußte sie, wieviel sie zu bekommen habe, und immer handelte es sich um etliche fünf Franken, die sie vergaß. Aber die Sache klärte sich auf, und auch diese Auszahlung ging glatt vonstatten.

»Quittieren Sie«, sagte Flametti und schob dem Pianisten-Soubrettenpaar die Formulare hin.

Herr Meyer wollte die fünfzehn Franken einstweilen zusammen an sich nehmen. Aber Laura war keineswegs einverstanden.

»Nein, das gibt es nicht!« erklärte sie ziemlich verliebt, »das istmeinGeld! Das habe ich verdient!« und suchte ihrem Freunde Meyer den Fünfliver zu entreißen. Und als ihr das nicht sofort glückte, ein wenig ärgerlich: »Was fällt dir denn ein? Wir haben doch keine Gütergemeinschaft«, was Herr Meyer spöttisch zugab.

»Wie sie sich haben!« flötete süß Frau Häsli. »Wie sie sich necken! Seht nur!« Wo ein Krakeel in Aussicht stand, war sie stets voller Freundschaft und Sympathie.

»Na so nimm schon deinen Fünfliver!« murrte der Pianist und schob sehr unwirsch der Soubrette das Geldstück hin.

»Grüatzi!« sagte der Schlangenmensch, steckte sich eine Zigarette an und verschwand.

»Addio«, sagte Herr Arista, machte der Jodeltochter insgeheim ein feuriges Zeichen und verschwand.

»Netter Mensch«, bemerkte Frau Häsli zu seinem Abgang. »So bescheiden und lieb!«

»Mahlzeit!« sagte Herr Engel, der hier nichts zu erwarten hatte, »komme später nochmal vorbei«, und ging ebenfalls; was Fräulein Rosa sehr komisch fand, denn sie bückte sich blitzschnell nach Nettchen, dem Dackel, hob ihn hoch und drehte sich tanzend mit ihm auf dem Absatz.

»Wer kommt jetzt?« fragte Flametti geschäftig, aber mit ein wenig verringerter Sicherheit. »Richtig: Häsli.« Und beeilte sich, die Summe aufzuzählen. »Siebenundzwanzig Franken fünfzig.«

»Waaaas?« rief Frau Häsli, wie von der Tarantel gestochen. Sie beugte den Oberkörper weit in den Hüften vor und blieb wie erstarrt so stehen.

»Siebenundzwanzig Franken fünfzig«, wiederholte Flametti und setzte den Tintenstift überrascht mit dem stumpfen Teil auf den Tisch.

»Siebenundzwanzig Franken fünfzig? Häsli, komm!« Sie packte den Gatten am Ärmel. »Häsli, komm! Das ist nichts für uns.«

Häsli drehte sich auf dem Absatz und machte sich los. Er war unangenehm berührt.

»Marsch, marsch, fort, komm!« drängte die Jodlerin und packte ihn von neuem heftig am Ärmel. Sie gab keinen Pardon.

»Na, mal langsam!« brummte Flametti. Und ihre Tochter zog eine mißmutige Schnute und stampfte hörbar ungehalten »Mutter!«

Aber Frau Häsli ließ sich nicht beirren. »Nein, das ist nichts für uns!« tobte sie und schüttelte abweisend die erhobene Hand. »Die Häslis sind nicht diejenigen, die sich drücken lassen, ich kenne das schon! Ich weiß schon, worauf das hinausläuft. Häsli, komm!«

»Na was ist denn?« interessierte sich Jenny, begütigend und phlegmatisch. Sie kam aus dem Schlafzimmer und steckte sich friedlich das Haar auf.

»Himmelherrgottsakrament!« fluchte jetzt Flametti und schnellte vom Sofa auf. »Was gibt's denn? Was paßt euch denn nicht? Was wollt ihr denn? Macht doch den Schnabel auf, wenn euch etwas nicht paßt!« Die Zornadern waren ihm angeschwollen. Er sah aus wie ein tanzender Fakir.

Häsli bekam's mit der Angst, schüttelte die Frau ab und meinte kleinlaut: »Max, rechn' 's mal vor!«

»Da ist gar nichts vorzurechnen!« schnitt ihm die Alte das Wort ab. »Gar nicht nötig. Wenn ich hör: siebenundzwanzig Franken fünfzig, dann hab' ich schon genug. Dann braucht man mir gar nichts mehr vorzurechnen!« Und nestelte zitternd an ihrer Bluse.

»Was wollt ihr denn?« schrie Flametti noch lauter und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Fünfzig Franken Vorschuß bei Engagementsantritt – –«

Beide nickten, Frau Häsli so hastig, als ob sie nicht abwarten könne, weiter zu hören.

»Dreißig à conto an Häsli nach Bern –«

»So? So?« unterbrach Frau Häsli. »Dreißig à conto nach Bern für die Lumpenmenscher, für die Reitschuldamen, für die Fetzen?« Ihre Stimme schnappte über.

»Dreißig à conto nach Bern«, bestätigte Herr Häsli in aller Ruhe.

»Toni, komm!« rief Frau Häsli und packte die Tochter am Arm. »Toni, komm! Spuck deinem Vater ins Gesicht! Sieh ihn an, wie er dasteht! Als wenn er nicht auf drei zählen könnte! Dreißig à conto nach Bern! Und wir hungern zuhaus!«

Jetzt wurde aber auch Herr Häsli fuchtig. »Soll ich vielleicht von der Luft leben? Hab' ich dir nicht zehn Franken davon geschickt und den Koffer ausgelöst?«

»Was für einen Koffer ausgelöst? Die alte Scharteke! Den Koffer hat er ausgelöst! Dreißig Franken braucht er dazu. Wasserrutschbahn fahren mit den Menschern! Mit den Kellnerinnen scharwenzeln! Herr Häsli hinten, Herr Häsli vorne! Schau mich nicht so an, Mensch!« Mit ausgebreiteten Händen und vorgereckter Stirn stand sie da, im Begriff, ihm an die Gurgel zu fahren.

»Mutter!« suchte die Tochter zu beschwichtigen.

»Dummes Weib!« brachte Herr Häsli mit aller Ruhe und Verachtung auf, sah die Alte an, als zweifle er an ihrem Verstand, und sah wieder von ihr weg.

»Na, was wollt ihr also?« schrie Flametti und wühlte krampfhaft und hitzig in seinen Papieren, um die Belege zu finden.

»Weiter!« drängte die Alte, »nur weiter!«

»Zwanzig à conto an Toni am siebenten.«

»Stimmt, stimmt!« drängte die Alte, »nur weiter!« Die zwanzig Franken waren für eine Seidenbluse der Mutter.

Jetzt war aber Herr Häsli seinerseits erstaunt. »Zwanzig Franken? Für was?« fragte er sprachlos.

»Kümmer' dich nicht!« rief Frau Häsli. »Laß dir lieber vorrechnen, was noch weiter kommt. Damit du siehst, was für ein Peter du bist!«

»Ja, dann freilich!« verzichtete Herr Häsli. »Da hat ja alles keinen Zweck! Da kann man ja schuften wie man will! Wenn es hier nur so zwanzigfrankenweise weggeht! Fünf Tage ist man fort, und zu Haus verbrauchen sie zwanzig Franken für Kino, Schokolade, für Putz und Schnecken!«

»Kümmer' dich um dich!« schrie Frau Häsli. Der Geifer stand ihr in den Mundwinkeln. »Auf den Hund möcht' er einen bringen, und einem nicht einmal die paar Fetzen gönnen, die man auf dem Leibe hat! Dich kenn' ich, mein Lieber! Ich weiß ganz genau, was du vorhast mit uns!«

Nun muß man wissen, daß mit Frau Häsli nicht zu spaßen war. In Antwerpen und St. Pauli hatte sie Matrosen bedient. Ein Gummiknüttel gehörte zu ihrer Ausrüstung, und die Kassiertasche war mit Eisenketten am Lederriemen befestigt. Kerle hatte sie niedergeschlagen, baumslang, wenn es drauf ankam. Der Varietéberuf war ihr zu still. Mit der ließ sich nicht spaßen.

Also gab auch Herr Häsli klein bei, und weiter ging's mit der Abrechnung.

»Dann am zwölften zweiundzwanzig Franken fünfzig vorgestreckt für Zimmer und Konsumation – –« Die Häslis bewohnten zusammen ein Zimmer in einem Gasthof, das sich die Damen selbst ausgesucht hatten, das aber Flametti bezahlte, weil er Verbindungen hatte mit dem Wirt.

»Schon gut, schon gut«, winkte Frau Häsli ab, »ich weiß schon genug. Bleiben siebenundzwanzig Franken fünfzig. Stimmt schon. Ja, stimmt schon. Häsli, quittier! Wir gehen.« Dabei schob sie die Tochter mit beiden Händen wie aus einer Verbrecherkneipe vor sich zur Tür. »Wir verzichten. Kannst alles selber nehmen. Ich für meinen Teil will nichts davon haben. Wir verdienen uns schon unser Brot.«

Und Frau Häsli nebst Tochter waren verschwunden.

Nettchen bellte. Jenny färbte sich rosenrot im Gesicht vor verhaltenem Ärger. Herr Häsli quittierte, und Flametti schob ihm das Geld hin.

»Mahlzeit, Max!« sagte Herr Häsli geknickt und bedauernd. »Nichts für ungut!« und reichte Flametti die Hand.

»Salü!« sagte Flametti offiziös und packte seine Sachen ein.

Auch Herr Meyer und Fräulein Laura gingen. Eigentlich hatten sie um Zulage bitten wollen. Die Gelegenheit schien ihnen aber nicht günstig.

II

»Siehst du die Anarchisten«, sagte Jenny, als alle gegangen waren, »siehst du sie jetzt? Brauchst nur mal ein paar Tage kein Geschäft zu haben – gleich werden sie üppig. Nur in Verlegenheit braucht man zu kommen – schon laufen sie fort. Forellen müßt ich ihnen vorsetzen, das Kilo für acht Franken. Dann solltest du sehen! Diese Häsli – ach du mein Gottchen, wie sie hier ankam! Aus Gnade und Barmherzigkeit hat man sie aufgenommen. Das ist der Dank. Ausgehungert waren sie, daß Gott erbarm. Jetzt sind sie auf einmal vornehm. – Was machen wir nur, Max? Du wirst sehen, sie laufen uns fort!«

Aber Max hatte keine Lust zu Meditationen. »Ah was!« sagte er unwirsch und kramte verärgert in seiner Tischschublade.

Die Tür ging auf, und herein kam Fräulein Theres, lendenlahm und verdrießlich. Der Rheumatismus plagte sie heut ganz besonders. In der matt herunterhängenden Hand hielt sie einen angerauchten Stumpen und blies mit spitzem Munde den Rauch von sich. Unaufgefordert nahm sie Platz, knetete schmerzhaft ihren Gichtschenkel und drehte sich schnaufend auf dem Stuhl.

»Frau«, sagte sie, »wird gebügelt?«

»Jawohl, Theres, mach' die Eisen heiß.«

Und Theres erhob sich mühsam und troßte ab, um die Eisen heiß zu machen.

Und Fräulein Rosa legte den Bügelteppich auf den Tisch und holte den Wäschekorb aus dem Bretterverschlag, um die Wäsche einzuspritzen.

Flametti aber hatte beim Abschließen der Schieblade einen Schaden am Schloß gefunden, zückte den Hausschlüssel und hämmerte damit am Schlüsselloch.

Es klopfte. Die Türe ging auf, und herein trat Fräulein Lena, vormals Pianistin bei Flametti.

»Grüatzi!« sagte sie und schob sich in drei freundlichen Wellen herein.

»Tag, Lena!« nickte Jenny, »komm nur herein!«

»Wenns erlaubt ist!« sagte Lena.

»Tag, Lena!« bekräftigte Flametti, ohne aufzusehen; so versunken war er in seine Reparatur.

»Bügelt ihr?« fragte Lena.

»Ja, wir bügeln«, wischte Jenny sich die Schweißhände an den Busen.

Theres brachte das Bügeleisen, und Lena nahm ihren Stuhl.

»Schöne Sachen hört man!« rückte sich Lena auf ihrem Stuhl zurecht.

»Um Gotteswillen, Lena, was gibt es denn?«

»Ja, ja«, seufzte Lena.

»Was denn, Lena? Sprich doch!«

Und zu Rosa: »Geh mal raus in die Küche! Ich ruf' dich dann!«

Flametti hämmerte angelegentlich und beflissen am Schlüsselloch.

»Also hört zu«, strich Lena ihren Rock zu den Füßen, »sie machen euch aus, wo sie können. Sie erzählen, daß es rutschab geht: ihr zahlt keine Gagen mehr; es gibt nichts zu essen. Ihr bekommt keine Geschäfte mehr. Grad hab' ich den Bollacker getroffen. Mit dem hat's doch die Häsli. Von einem Türken haben sie erzählt und von Opium. Ich weiß ja nicht, was ihr da habt. Aber sie sagten, es sei ihnen zu brenzlich und sie sähen sich nach einem anderen Engagement um.«

»Was haben sie erzählt?« duckte sich Jenny. »So eine Gemeinheit! So eine Niedertracht! Hörst du, Max, was sie ausstreuen? Wie sie sich rächen? Ihren Gadsch hat sie instruiert, daß er herumgeht und uns das Geschäft verdirbt! So eine Infamie! – Weißt du was, Max? Die wollen selbst anfangen. Die laufen uns fort. – Wir, keine Geschäfte mehr! Lena, man läuft sich die Füße wund, daß wir spielen! An der Haustür fängt man uns ab! Wir brauchten nur rübergehen zum ›Krokodil‹! – Du kennst doch das ›Krokodil‹! Eins A, dreihundert Franken Draufgeld! Aber wir wollen nicht, weil wir neu einstudieren. Weißt du: der Braten war bißchen angebrannt. Das hat diese Alte so verbiestert, daß sie jetzt überall ausschreit, sie hätte zu hungern bei uns. Du kennst doch unsere Kost! Warst drei Jahre bei uns. Hast du dich je zu beklagen gehabt? Ist dir je etwas abgegangen?«

Lena schüttelte den Kopf. Nein, sie hatte sich nie zu beklagen gehabt, noch war ihr je etwas abgegangen.

Max hämmerte gewaltsam mit seinem Hausschlüssel am Schiebladenschloß.

»Na, gut' Nacht!« rief Jenny, »ich sollte der Direktor sein! Ich würde sie anders zwiebeln! Hier die Gage, soundsoviel Abzug und den Schuh an den Hintern! Treppe hinunter.«

»Ja ja, ich hör' schon!« fuhr Flametti jetzt auf. »Ich hör' schon. Bin doch nicht schwerhörig! Dummes Geschwätz!«

Jenny war überrascht. Fräulein Lena ebenfalls. Er hatte doch gar nicht zugehört! Er hatte doch an dem Schloß laboriert!

Flametti stand auf, sehr rasch, krempelte seine Hemdärmel herunter, knöpfte das Halsbördchen zu und ging in die Küche, um sich die Hände zu waschen. Er kam zurück, nahm Joppe und Hut und ging.

»Da hast du es!« klagte Jenny, »da geht er. Ach Lena, ich bin ganz verzweifelt! So macht er es immer. Seit er die Geschichte hat mit dem Türken, ist er wie verdreht. Kaum den Löffel aus dem Mund – fort ist er. Alles mögliche hab' ich versucht. Er hört mich nicht einmal an. Wir gehen zu Grund. Ich seh's ja. Was soll ich nur machen?«

»Tja«, meinte Lena, »was ist da zu machen?«

Flametti war dieser ›Summs‹ zuwider.

Gewiß, er liebte seine Frau. Sie war ein wenig furchtsam von Gemüt und leicht zu Übertreibungen geneigt, wie alle furchtsamen und aufgeregten Gemüter. Aber sie meinte es gut, war keine böse Natur und er hätte ihr gerne ein wenig Gehör schenken dürfen. Doch er schätzte es nicht, seine innersten Geschäfts- und Familiengeheimnisse coram publico verhandelt zu sehen.

Gewiß, das Geschäft ging schlecht. Schlechte Zeiten und keine Schlager.

Gewiß, ein Ensemble von zehn lebendigen Menschen verlangt, sich standesgemäß zu nähren, zu kleiden und zu Triumphen geführt zu werden.

Obendrein: eine Konkubinatsstrafe von hundertachtzig Franken war zu zahlen – der Beamte der Kriminalabteilung hatte zweimal bereits die Quittung präsentiert – und von der Fischerei konnte man das nicht bestreiten. Das wußte Flametti selbst.

Aber Schlager fallen nicht vom Himmel. Er hatte schon seine Pläne. Man brauchte ihn nicht zu hetzen und die halbe Nachbarschaft dabei zuzuziehen.

Gar diese Lena: Ein schönes Stück Malheur! Die mußte dann gerade noch kommen! Grausliches Weib! Keine galante Erinnerung aus seiner Direktorenzeit war Flametti unangenehmer als diese. Ein Vampir. Nicht von der Spur wich sie, wenn sie einmal Blut geleckt hatte.

Tüchtig war sie, als Pianistin. Russisch sprach sie auch, von Lodz her. Aber ein Mundwerk hatte sie wie ein Schwert. Eine böse Zunge. Und das nun verstand Flametti nicht, wie Jenny sich mit ihr einlassen konnte.

Man soll ihn in Ruhe lassen. Er wird es schon machen.

Die Hände in beide Hosentaschen gesteckt, so daß der Rockschoß weit hinten abstand, den breitkrämpigen Filzhut tief in die Stirne gerückt, froh, seinem häuslichen Glück entronnen zu sein, schickte Flametti sich an, einen Gang zu unternehmen durch sein Revier.

Dieses Revier nannte sich »Fuchsweide« und war der Konzert- und Vergnügungsrayon aller lebenslustig-abseitigen Kreise der Stadt. Treffpunkt der großen Welt, Schlupfwinkel einiger unsicherer Elemente, zugegeben. Aber alles in allem ein Monaco und Monte Carlo im kleinen.

Flametti fühlte sich frei wie ein Fürst. Aller Hader fiel von ihm ab. Aller Kleinmut verließ ihn. Hier kannte er jeden Weg, jeden Steg; jede Kneipe, jede Latrine. Hier war der Felsen, hier mußte gesprungen werden. Hier fielen die Würfel, hier war man zu Hause.

Vorbei am Alteisengeschäft des Herrn Ruppel und an der ›Drachenburg‹; vorbei an der Fischhandlung ›Teut‹ mit ihren Riesenaquarien voll stumpfsinniger Hechte und Karpfen, vorbei an ›Hähnleins Kleiderbazar‹ und ›Lichtlis Frisiersalon‹; vorbei am ›Olivenbaum‹ und an der ›Tulpenblüte‹, schwenkte Flametti in die Hauptverkehrsader der Fuchsweide, die bucklige Quellenstraße ein.

Er verlangsamte seine Schritte und klimperte, überlegend, mit dem Geld in der Tasche. Er schnupperte in der Luft, die nach Kaffee roch, und zündete sich eine Zigarette an.

Hier war der Korso! Hier war der Betrieb! Es weitete sich seine Brust und er atmete auf. Kein Gesicht, das er nicht kannte. Kein Laden, mit dessen Inhaber er nicht schon Tausch und Geschäfte hatte.

Auf dem ›Mönchsplatz‹ saßen die Katzen und putzten sich in der Sonne. Es war eine Unmenge Katzen, graue, schwarze und rote. Aber es war Platz genug für sie da. Nachts sangen sie hoch auf den Dächern.

Auf dem ›Mönchsplatz‹ lärmten die Kinder. Sie putzten einander die Nasen, banden einander die Hosen zu, säuberten sich die Köpfe. Aber um jeden Kopf legte die Sonne eine kleine Gloriole.

Über den ›Mönchsplatz‹ sprang Fräulein Frieda, die Kellnerin, daß die Röcke flogen.

»Servus Flametti!« rief sie. Es war eine Lust zu leben.

Die Niedermeyers hatten Umzug heute. Auf ein Rollwägelchen hatten sie ihre Sachen gepackt; auch den Kanarienvogel. Der Mann schob. Die Frau half drücken. Die Kinder halfen auch drücken und der kleine Peter hob die Sachen auf, die vom Wagen herunterfielen.

»Wo wohnt ihr jetzt?« rief Flametti.

Und Herr Niedermeyer rief: »Kuttelgasse 33, V.!«

»Angenehmer Flohbiß!« rief Flametti zurück. Er war ein großer Mann und konnte sich's leisten.

Die Hände in den Hosentaschen, breitspurig und schwer, den Schritt wuchtig aufs Pflaster gesetzt, ging er hinüber zur Postfiliale.

»Eine Fünferkarte!«

Der Beamte händigte ihm die Karte aus und Flametti schrieb an Herrn Fritz Schnepfe, Varietélokal, Basel:

»Werter Freund!

Teile mir, bitte, umgehendst mit, ob du geneigt bist, Flamettis Varietéensemble zu engagieren für die Zeit vom 1. bis 31. Dezember laufenden Jahres, sowie die Bedingungen. Wir haben lauter neue Nummern, erstklassige Attraktionen, und es dürfte nur in deinem Interesse sein, dir mein Ensemble für die allfällige Zeit zu sichern.

Hochachtungsvoll Dein Flametti.«

Kehrte dann zurück in die Quellenstraße und lenkte, am Luftgäßlein vorbei, vorbei an dem kleinen, aber seiner Weine wegen berühmten Gasthaus zu den ›Drei Sternen‹, vorbei am Mordloch mit den Gastwirtschaften ›Hopfenzwilling‹ und ›Jerichobinde‹, vorbei an der Stutenreite, in die Obere Träufe.

Es war ein Gang voller angestrengter Gedankenarbeit. Im Gehen pflegte Flametti zu denken. Bei scheinbarem Schlendern fand er die besten Entschlüsse.

Zwei Herren kamen die Straße herunter, geradenwegs auf ihn zu. Verflucht nochmal!

Der eine elegant, schwarzer Schnurrbart aufgekräuselt, glattes, feistes Gesicht und glänzende Drehaugen. Der andere hager, fanatisch, nervös: »Peter und Paul«. Ein Schäferhund, leichte Patten, tief wehender Hängeschwanz, folgte ihnen wippend auf dem Fuß.

Flametti steckte die Hände noch tiefer in seine Taschen, festigte seinen Gang um ein Erhebliches und grüßte forciert: »Salü!«

Die beiden nahmen ihn scharf aufs Korn, musterten unauffällig mit einem kurzen Blick seinen Anzug und gingen vorüber.

Herr Abraham Cohn stand unter der Tür seines Magazins ›Zum Chnusperhüsli‹. Er deutete mit dem Kopf nach den beiden sacht gehenden Beamten.

Flametti benutzte die Gelegenheit, stehenzubleiben und meinte: »Die Apostel gehen um!«

»Was wolln se?« meinte Herr Cohn, »mer muß se hamm. Wär mer sonst sicher?«

Flametti trat ein und kaufte eine Tüte Leckerli.

Er ging weiter und kehrte ein im Gasthaus ›Zum Vogel Strauß‹ wo die ausgestopfte Gebirgsgemse und der balzende Auerhahn standen, rechts und links vom Entrée.

Der Auerhahn trug die Fischkarte mit beigedruckten Preisen um den Hals gehängt. Die Gebirgsgemse fletschte die Zähne, ganz unnötigerweise, und sah todesmutig gen Himmel, ein Symbol ihrer Heimat. Auf dem Sockel aus Felsen und Moos lagen zerstreut die Haare, die sie gelassen hatte im Kampf mit der Scheuerbürste des Hausknechts.

Flametti trat ein und überflog mit einem Adlerblick die drei Gäste, die hier versammelt waren.

Verflucht nochmal! In der Ecke saß Kranemann! Kranemann, das Moskitogesicht; Kranemann, die geschniegelte Niedertracht und Korrektheit; Kranemann, Flamettis erbittertster Feind. Das war nicht vorauszusehen.

Einen Moment überlegte Flametti. Sollte er umkehren? Soller tun, als habe er sich im Lokal geirrt? Sollte er an den Hut fassen und grüßen: »Salü! Komme später«?

Da stand aber Kranemann schon auf, kam auf ihn zu, wie von ungefähr, und sagte: »Ah, Flametti! – was ist mit der Quittung? Wann wird sie eingelöst? Höchster Termin!«

»Hoi, hoi, hoi!« bockte der und trat einen Schritt zurück. »Nur langsam! Laß erst mal absitzen, damischer Kerl!« Und beschloß jetzt zu bleiben.

»Nix da!« rief Kranemann und faßte ihn leicht beim Kragen, »heut ist der letzte Termin! Zahlen!« und warf ein Zwanzig-Centimes-Stück auf den Tisch.

Und wieder zu Flametti: »Den ›damischen Kerl‹ werden wir uns merken. Wir sprechen uns noch!« Schob seine Röllchen zurück und verschwand.

»Was hat's denn?« fragte der Wirt neugierig, drückte den schwarzen Kneifer fester auf die Nase und kam näher. Auch die Gäste am Kartentisch waren aufmerksam geworden.

»Na«, sagte Flametti, »was hat's? Du kennst doch das damische Luder!«

Der Wirt schien das ›damische Luder‹ durchaus nicht zu kennen.

»Ne Halbe?« rief die Kellnerin. Und Flametti nahm Platz.

»Du mußt nämlich wissen«, vertraute er dem Wirt, »ich hab' doch die Konkubinatsstrafe, weil wir nicht verheiratet waren. Nun hab' ich doch inzwischen geheiratet und prozessiert. Und da haben sie abgelehnt. Nun macht's mit den Prozeßkosten zusammen seine hundertachtzig Stein. Und die wollen sie haben von mir. Und dieser Kerl war doch früher Latrinenbesitzer. Dann ist er zur Polizei übergegangen. Das ist dieser Kranemann. Und das dumme Luder meint nun, er kann mich schikanieren. – Siehst du, er tut mir ja leid. Aber es ist doch zu fad: wo man hinspuckt, stolpern einem diese traurigen Kreaturen über die Füsse!«

»Ah, so so so so!« verstand jetzt der Wirt, »das istderKranemann. Ja, so zahl' doch die paar Stein! Dann hast du doch Ruhe! Man immer berappen!«

»Siehst du«, kippte Flametti sein Bier, »jetzt erst recht nicht! Jetzt sollen sie sich mal die Beine in den Leib laufen!«

»Tja«, meinte der Wirt bedenklich, »die verstehen keinen Spaß. Da ist's schon das Gescheitste, man gibt nach.« Er lächelte schablonig und strich sich die Hände.

»Maidche, komm her!« rief Flametti der Kellnerin und zog die Tüte mit den Leckerli aus der Rocktasche. »Das ist für dich!« Und Maidche nahm beschämt die Leckerli in Empfang.

»Ein Don Juan, dieser Flametti!« versicherte der Wirt seinen schmunzelnd weitertrumpfenden Gästen.

»War der Mechmed da?« fragte Flametti die Kellnerin.

»Nein, bis jetzt nicht.«

Flametti sah nach der Uhr, geschäftsmäßig, ohne indessen verabredet zu sein. Nach der dritten Halben, als er eben gehen wollte, öffnete sich die Tür und herein trat Mechmed.

Ali Mechmed Bei hieß der Türke. Er wohnte im Parkhotel und kam aus Aleppo. Und darin hatte Jenny wohl recht, daß Flametti ein wenig verdreht war im Kopf, seit er den Türken kannte.

Ali Mechmed Bei: schon der Name faszinierte Flametti. Eunuchen, Sklaven und Harem wirbelten vor seinen aufleuchtenden Augen, wenn er in heimlichen Stunden den Namen vor sich hinsprach.

Ali Mechmed Bei: enorme Gelder mußte er haben. Man wußte nicht recht, was er eigentlich trieb. Aber er kam häufig in den ›Vogel Strauß‹, und dort hatte Flametti seine Bekanntschaft gemacht.

Ein großes Tier mußte er sein unter seinesgleichen. Denn er hatte noble Allüren an sich. Dämonisch zog er die dichten, weißen Augenbrauen hoch, wenn man ihn ansprach, und pflegte mit den Fingern zu trommeln auf der Tischdecke. »Tja, mein lieber Freund!« sagte er dann, nickte mit dem Kopfe in einer weltmännisch-gewitzigten Weise und sah nach der Decke, wo er jede Fliege, jeden Schnörkel der Tüncherarbeit eingehend verfolgte.

Tiefe kaffeebraune Tränensäcke hingen ihm unter den Augen, und diese Augen selbst blickten in abgründiger Melancholie.

Horrende Trinkgelder gab er, besaß einen Geldbeutel aus Affenhaut und roch, seiner orientalischen Herkunft gemäß, nach Zwiebel, Henna und Kokosnuß.

Dieser Türke Mechmed trat jetzt ins Lokal, und Flametti verfolgte jede seiner Bewegungen mit glühender, heißhungriger Sympathie.

Paletot und Regenschirm hing Herr Mechmed an den Kleiderhaken, und es kann zugestanden werden, daß die kleine, untersetzte Gestalt, die jetzt, zerfallen und morbid, aber freundlich lächelnd auf Flametti zukam, den mysteriösen Gestus jener Leute hatte, die im Traum wiederkehren. Jener Leute, die sehr wohl die Macht besitzen, ein Varietéunternehmen zugrunde zu richten, dessen Direktor nicht Zurückhaltung zu wahren weiß.

Dieser Türke Mechmed nämlich, dessen Smoking ölig glänzte, dessen Äußeres fadenscheinig war, besaß ein Opiumlager, hier am Platz, auch Kokain und Haschisch, im beiläufigen Werte von vierzigtausend Franken, nur prima reine, unverfälschte Ware, erste Qualität, das er – je nun! – geschmuggelt hatte, und das er – verstehen Sie! – ohne Profit, nur weil es ihn behinderte, bereit war, bei konvenierender Gelegenheit abzustoßen.

Und da Flametti sozusagen Fachmann war – er rauchte Opium in der Zigarette, nahm es wohl auch im Bier –, den Rummel verstand, ein Kerl war, so sollte er, bei Gelegenheit, mal sehen, was sich tun ließ. Man hat Bekannte, einen Arzt, einen Advokaten, einen Geschäftsfreund. Ist ja 'ne Bagatelle, vierzig Mille, liegt ja auf der Straße, ist ja gefunden, ist ja ein Dusel. So sollte er also mal sehen, ob man nicht, unter der Hand, vielleicht einen Interessenten fände.

Und Flametti hatte sich auch umgesehen, seit acht Tagen – Geschäft ist Geschäft! Spitzbuben gibt es hier wie dort! – und einen Interessenten gefunden. Aber jetzt wollte er auch wissen, wofür.

»Siehst du, Mechmed«, begann Flametti, als Mechmed Platz genommen, die Nase geschneuzt und sich ein Helles hatte kommen lassen, das er mit den Händen wärmte, »ist ja alles schön und gut. Wir kennen uns jetzt seit vierzehn Tagen. Wir haben Brüderschaft getrunken. Aber wir müssen doch jetzt einmal weiterkommen. Dein Paß ist abgelaufen – wann?«

»Zweiundzwanzigsten.«

»Zweiundzwanzigsten. Bis dahin mußt du das Quantum los sein.«

Mechmed nickte, allem Anschein nach ganz vertrottelt und schläfrig.

Flametti rückte seinen Stuhl näher ran und zündete sich eine neue Zigarette an.

»Hör' mal zu: ich bin doch kein dummes Luder, versteht sich.«

Mechmed nickte.

»Du brauchst also innerhalb vierzehn Tagen einen Käufer. – Zwanzig Prozent!«

Mechmed nahm die Zigarette aus dem Mund, hielt sie zwischen Zeige- und Mittelfinger weit von sich weg, blies langsam den Rauch aus und überlegte einen Moment.

»Zwanzig Prozent Provision?« sagte er dann und wiegte den Kopf, »gut! Abgemacht! Was heißt?« und war sehr verwundert, wie man an seiner Courtoisie zweifeln konnte.

»Langsam!« sagte Flametti. »Ichhab'den Käufer. Drei Tage Bedenkzeit. Vierzig Mille bar auf den Tisch des Hauses.«

Mechmed wurde plötzlich sehr lebendig. Mit einem Ruck fuhr er auf seinem Stuhle herum. Sein Ellbogen auf der Stuhllehne stach spitz gegen die Kellnerin, die mit einem geschickten Seitwärtsschwenken der Hüften den Tisch passierte.

»Aber«, sagte Flametti und kreuzte die Arme vor sich auf dem Tisch, »ich muß nochmal Proben haben und zwei Mille Vorschuß.« Wenn man acht Mille Provision zu erwarten hatte, konnte man wohl zwei Mille Vorschuß verlangen.

»Nix Proben!« lehnte Mechmed schwerfällig ab, die Hand am Ohr, um besser folgen zu können.

Flametti lächelte.