Gesammelte Werke - Paul Heyse - E-Book

Gesammelte Werke E-Book

Paul Heyse

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Beschreibung

Neue Deutsche Rechtschreibung Paul Johann Ludwig von Heyse (15.03.1830–02.04.1914) war ein deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer. Neben vielen Gedichten schuf er rund 180 Novellen, acht Romane und 68 Dramen. Heyse ist bekannt für die "Breite seiner Produktion". Der einflussreiche Münchner "Dichterfürst" unterhielt zahlreiche – nicht nur literarische – Freundschaften und war auch als Gastgeber über die Grenzen seiner Münchner Heimat hinaus berühmt. 1890 glaubte Theodor Fontane, dass Heyse seiner Ära den Namen "geben würde und ein Heysesches Zeitalter" dem Goethes folgen würde. Als erster deutscher Belletristikautor erhielt Heyse 1910 den Nobelpreis für Literatur. Mit Index Null Papier Verlag

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Paul Heyse

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Paul Heyse

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 1. Auflage, ISBN 978-3-962811-04-4

null-papier.de/527

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Bio­gra­phi­sches

Le­ben

Werk

An­drea Del­fin

1

2

3

4

Am Ti­be­ru­fer

An­fang und Ende

Bar­ba­ros­sa

Bea­tri­ce

Das Bild der Mut­ter

Das Glück von Ro­then­burg

Das Mäd­chen von Trep­pi

Der Kin­der Sün­de, der Vä­ter Fluch

Der Kreis­rich­ter

Der letz­te Zen­taur

Der Wein­hü­ter

Die Blin­den

Ers­tes Ka­pi­tel.

Zwei­tes Ka­pi­tel.

Drit­tes Ka­pi­tel.

Vier­tes Ka­pi­tel.

Fünf­tes Ka­pi­tel.

Sechs­tes Ka­pi­tel.

Die Ein­sa­men

Die klei­ne Mama

Die Pfad­fin­de­rin

Die Wit­we von Pisa

Ein Ring

Er­ken­ne dich selbst

Im Gra­fen­schloss

In der Geis­ter­stun­de und an­de­re Spuk­ge­schich­ten

Wid­mung

In der Geis­ter­stun­de

Mar­tin der Stre­ber

Das Haus »Zum un­gläu­bi­gen Tho­mas«

Kleo­pa­tra

L’Ar­rab­bia­ta

Ma­ria Fran­cis­ca

Ma­ri­en­kind

Ma­ri­on

Neue Mora­li­sche No­vel­len

Wid­mung

Jo­rin­de

Ge­treu bis in den Tod

Die Kai­se­rin von Spi­net­ta

Das See­weib

Die Frau Mar­che­sa

No­vel­len in Ver­sen

Die Braut von Cy­pern.

Die Brü­der.

Kö­nig und Ma­gier.

Mar­ghe­ri­ta Spo­le­ti­na.

Uri­ca.

Die Fu­rie.

Rafa­el.

Mi­che­lan­ge­lo Buo­narot­ti.

Die Hoch­zeits­rei­se an den Wal­chen­see.

No­vel­len vom Gar­da­see

Wid­mung

Ge­fan­ge­ne Sing­vö­gel

Die Macht der Stun­de

San Vi­gi­lio

Ent­sa­gen­de Lie­be

Eine ve­ne­zia­ni­sche Nacht

An­ti­qua­ri­sche Brie­fe

Spiel­manns­le­gen­de

Trou­ba­dour-No­vel­len

Wid­mung

Der lah­me En­gel

Die Ra­che der Vi­ze­grä­fin

Die Dich­te­rin von Car­cas­son­ne

Der Mönch von Mon­tau­don

Ehre über Al­les

Der ver­kauf­te Ge­sang

Un­heil­bar

Un­ver­ge­ss­ba­re Wor­te

In­dex

Dan­ke

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Biographisches

Paul Jo­hann Lud­wig von Hey­se (15.03.1830–02.04.1914) war ein deut­scher Schrift­stel­ler, Dra­ma­ti­ker und Über­set­zer. Ne­ben vie­len Ge­dich­ten schuf er rund 180 No­vel­len, acht Ro­ma­ne und 68 Dra­men. Hey­se ist be­kannt für die „Brei­te sei­ner Pro­duk­ti­on“. Der ein­fluss­rei­che Münch­ner „Dichter­fürst“ un­ter­hielt zahl­rei­che – nicht nur li­te­ra­ri­sche – Freund­schaf­ten und war auch als Gast­ge­ber über die Gren­zen sei­ner Münch­ner Hei­mat hin­aus be­rühmt.

1890 glaub­te Theo­dor Fon­ta­ne, dass Hey­se sei­ner Ära den Na­men „ge­ben wür­de und ein Hey­se­sches Zeit­al­ter“ dem Goe­thes fol­gen wür­de. Als ers­ter deut­scher Bel­le­tris­ti­k­au­tor er­hielt Hey­se 1910 den No­bel­preis für Li­te­ra­tur.

Leben

Hey­se wird am 15. März 1830 in Ber­lin ge­bo­ren. Sein Va­ter Karl Wil­helm Lud­wig Hey­se ist Pro­fes­sor für Klas­si­sche Phi­lo­lo­gie und All­ge­mei­ne Sprach­wis­sen­schaft. Die Mut­ter Ju­lie Hey­se stammt aus ei­ner wohl­ha­ben­den und kunst­lie­ben­den Fa­mi­lie. Im El­tern­haus trifft sich die kul­tu­rel­le Spit­ze der Stadt. Er be­sucht das Fried­rich-Wil­helm-Gym­na­si­um. Sein Abi­tur er­zielt er mit Best­no­ten.

1846 lernt er sei­nen spä­te­ren Men­tor, den 15 Jah­re äl­te­ren Dich­ter Ema­nu­el Gei­bel ken­nen, der da­mals große Po­pu­la­ri­tät ge­nießt. Zwi­schen den bei­den Schrift­stel­lern ent­wi­ckelt sich eine le­bens­lan­ge Freund­schaft. Über Gei­bel lernt Hey­se auch sei­ne spä­te­re Ehe­frau ken­nen.

Nach dem Abi­tur be­ginnt Paul Hey­se 1847 in Ber­lin mit dem Stu­di­um der Klas­si­schen Phi­lo­lo­gie. 1848 wer­den ers­te Ge­dich­te von ihm ver­öf­fent­licht. Er kommt in Kon­takt mit Ja­cob Burck­hardt, Adolph Men­zel, Theo­dor Fon­ta­ne und Theo­dor Storm.

Nach zwei Jah­ren Stu­di­um in Ber­lin wech­selt er im April 1849 nach Bonn, um an der dor­ti­gen Uni­ver­si­tät Kunst­ge­schich­te und Ro­ma­nis­tik zu stu­die­ren. 1850 ent­schei­det er sich end­gül­tig, Dich­ter zu wer­den. We­gen ei­ner Lie­bes­af­fä­re mit der Frau ei­nes sei­ner Pro­fes­so­ren muss Hey­se aber nach Ber­lin zu­rück­keh­ren. Im sel­ben Jahr er­scheint sein De­büt „Der Jung­brun­nen“, das er aber an­onym ver­öf­fent­licht.

Sein ers­ter Ro­man „Ma­ri­on“ wird 1852 aus­ge­zeich­net. Eben­falls 1852 über­setzt er erst­ma­lig Tex­te von Gei­bel für ein Lie­der­buch ins Spa­ni­sche. Zeit sei­nes Le­bens soll er auch als her­vor­ra­gen­der Über­set­zer (be­son­ders für Ita­lisch) zu Ruhm ge­lan­gen.

Nach ei­ner Pro­mo­ti­on 1852 un­ter­nimmt Hey­se ers­te Rei­sen nach Ita­li­en, dem Land, dem er für im­mer ver­bun­den blei­ben wird – nicht zu­letzt auch in sei­nen Wer­ken.

Un­ter dem Ein­fluss der ita­lie­ni­schen Land­schaft ver­fasst er Wer­ke, die ihn als Schrift­stel­ler be­rühmt ma­chen sol­len, u.a. die Tra­gö­die „Fran­ces­ca von Ri­mi­ni“, sei­nen be­rühm­tes­ten Ro­man, „L’Ar­rab­bia­ta“ (1853) und sei­ne „Lie­der aus Sor­rent“ (1852/53).

Hey­se ist ein „Wie­de­rent­de­cker Ita­li­ens“. Er nennt Ita­li­en und Deutsch­land sei­ne bei­den Her­kunfts­län­der. Er ver­schafft der neue­ren, ita­lie­ni­schen Li­te­ra­tur – nicht zu­letzt durch sei­ne kon­ge­nia­len Über­set­zun­gen – Ge­hör und trägt mit sei­nen Ver­öf­fent­li­chun­gen und sei­ner Mit­ar­beit an ver­schie­dens­ten Antho­lo­gi­en viel zum Aus­tausch bei­der Kul­tu­ren bei.

Durch Ver­mitt­lung sei­nes Freun­des Gei­bel wird der baye­ri­sche Kö­nig Ma­xi­mi­li­an II. auf Hey­se auf­merk­sam. Ma­xi­mi­li­an heu­ert ihn für eine staat­li­che Lei­b­ren­te als eine Art li­te­ra­ri­schen Be­ra­ter, Über­set­zer, Rei­se­be­glei­ter und Vor­le­ser an. Es folgt 1854 der Um­zug nach Mün­chen. Im jun­gen Al­ter von 24 hat es Hey­se so schon zu be­acht­li­chen Er­folg ge­bracht.

Sei­ne Frau Mar­ga­re­tha, ge­bo­re­ne Kug­ler, schenkt Hey­se vier Kin­der. Das Erst­ge­bo­re­ne, Franz, kommt 1855 zur Welt. Am 30. Sep­tem­ber 1862 stirbt Mar­ga­re­tha an ei­ner Lun­gen­krank­heit. Hey­se hei­ra­tet 1867 er­neut.

1868 über­wirft sich Hey­se mit Kö­nig Ma­xi­mi­li­an und ver­zich­tet dar­auf­hin auf sei­ne jähr­li­che Ren­te. Hey­se ist ein Mann der Mit­te, ein li­be­ral ge­sinn­ter An­hän­ger Bis­marcks. Wie vie­le sei­ner Schrift­stel­ler­kol­le­gen setzt er große Hoff­nun­gen auf die Reichs­grün­dung. In Kai­ser Wil­helm II. sieht Hey­se eine Ge­fahr für das Land. Und trotz sei­ner Be­wun­de­rung für Bis­marck teilt er des­sen ne­ga­ti­ve An­sich­ten über die auf­kom­men­de So­zi­al­de­mo­kra­tie in Deutsch­land nicht.

Hey­se ist zu sei­ner Zeit ein li­te­ra­ri­scher Fix­stern in Deutsch­land. In Mün­chen gilt er nicht nur als schrift­stel­le­ri­sches Vor­bild und ein­fluss­rei­cher Kunst­ken­ner, son­dern auch als be­lieb­ter Gast­ge­ber. Er en­ga­giert sich für die recht­li­chen und so­zia­len Be­lan­ge sei­nes Be­rufs­stan­des und ist als Mä­zen tä­tig. Hey­se bie­tet zahl­rei­chen zeit­ge­nös­si­schen Au­to­ren Hil­fe und Freund­schaft an. Im­mer wie­der er­mu­tigt er zum Bei­spiel den schwä­bi­schen Dich­ter Her­mann Kurz und be­ar­bei­tet nach sei­nem Tod des­sen Ge­samt­aus­ga­be.

Vie­le jün­ge­re Schrift­stel­ler kön­nen ihm den Re­spekt vor sei­nem fa­cet­ten­rei­chen Werk nicht ver­weh­ren: „Vi­el­leicht nur noch Mau­passant gab mir tech­nisch und sti­lis­tisch so viel Vor­bild­li­ches wie Paul Hey­se“, schreibt zum Bei­spiel Lud­wig Gang­ho­fer. Vie­le, erst nach sei­nem Tode ak­ti­ve Au­to­ren des noch jun­gen 20. Jahr­hun­derts, von Tho­mas Mann bis Isol­de Kurz, ge­hö­ren zu sei­nen Le­sern.

Im Jah­re 1856 ist Hey­se maß­geb­lich an der Grün­dung des Dich­ter­ver­ban­des „Die Kro­ko­di­le“ be­tei­ligt. Das Ziel ist die Schaf­fung ei­nes li­te­ra­ri­schen Sa­lons, um sich auch mit jün­ge­ren Dich­tern und Au­to­ren aus­zut­au­schen. Im Ve­rein, der sich wie eine Ge­heim­lo­ge ge­riert, wer­den Vor­trä­ge und Dis­kus­sio­nen fei­er­lich ze­le­briert. Zu den be­kann­te­ren Mit­glie­dern zäh­len ne­ben Gei­bel und Hey­se die Kul­tur­his­to­ri­ker Wil­helm Hein­rich Riehl, Fe­lix Dahn, Wil­helm Hertz, Her­mann Lingg, Franz von Ko­bell, Fried­rich Bo­dens­tedt, der Kom­po­nist Ro­bert von Horn­stein und der Rei­se­schrift­stel­ler und Kunst­mä­zen Adolf Fried­rich von Schack.

Im Jah­re 1900 ver­öf­fent­licht Hey­se sei­ne Ju­gen­derin­ne­run­gen. Er wird Ehren­vor­sit­zen­der des Deut­schen Goe­the-Ver­ban­des und Ehren­mit­glied der Deut­schen Schil­ler-Stif­tung. Zu sei­nem 70. Ge­burts­tag er­schei­nen Son­der­aus­ga­ben, Al­ben und zahl­rei­che Pub­li­ka­tio­nen.

Die Stadt Mün­chen er­nennt Hey­se 1910 an­läss­lich sei­nes 80. Ge­burts­ta­ges zum Ehren­bür­ger der Stadt. Er wird ge­adelt, nutzt den Ti­tel aber nie. Am 10. De­zem­ber er­hält Hey­se den No­bel­preis für Li­te­ra­tur.

Hey­se, der letz­te große Er­zäh­ler des 19. Jahr­hun­derts, stirbt am 2. April 1914, we­ni­ge Mo­na­te vor Aus­bruch des Ers­ten Welt­kriegs.

Werk

Hey­se wird ei­ner der be­rühm­tes­ten Dich­ter sei­ner Zeit. Al­lein vom Ge­dicht „Im Wal­de“ sind 32 ver­ton­te Ver­sio­nen be­kannt. Hey­ses Ge­dich­te kön­nen sich in den Au­gen sei­ner Dich­ter­kol­le­gen mit den hoch­ge­schätz­ten Bal­la­den ei­nes Fon­ta­ne mes­sen.

Die ins­ge­samt 177 No­vel­len sind als wich­tigs­ter Teil des Ge­samt­wer­kes an­zu­se­hen, ob­wohl Hey­se sie als Ne­ben­pro­dukt sei­nes Schaf­fens be­trach­tet. „An­drea Del­fin“ oder „Die Sticke­rin von Tre­vi­so“ ge­hö­ren ne­ben den No­vel­len Storms zu den Bes­ten in die­sem Gen­re. Die Qua­li­tät der No­vel­len ist je­doch sehr un­ein­heit­lich, was Hey­se selbst in sei­ner Au­to­bio­gra­fie „Ju­gen­derin­ne­run­gen und Be­kennt­nis­se“ ein­ge­steht.

Die Ge­schich­ten wer­den von Hey­se nach sorg­fäl­ti­ger Pla­nung auf einen Schlag nie­der­ge­schrie­ben, im Druck­pro­zess wer­den dann nur flüch­ti­ge Feh­ler kor­ri­giert und ei­ni­ge Wör­ter durch pas­sen­de­re er­setzt.

Sein Werk ist un­po­li­tisch; er ver­tritt einen künst­le­ri­schen Idea­lis­mus: Die Kunst soll „ver­gol­den und ver­edeln“ und die Ge­gen­wart „im Licht der Ewig­keit“ dar­stel­len. Sei­ne Hel­den sind of „schö­ne See­len“, vor­bild­li­che, künst­le­risch sen­si­ble, jun­ge Men­schen und selbst­lo­se He­ro­i­nen. Und meist müs­sen die­se dann an der Här­te der Rea­li­tät ver­zwei­feln und schei­tern. Die No­vel­le „An­drea Del­fin“ be­schäf­tigt sich mit dem The­ma des „ge­rech­ten Rä­chers“, der durch sei­ne Ta­ten nur neue Un­ge­rech­tig­keit schafft.

In­ter­na­tio­nal be­kannt wird Hey­se durch sei­nen ers­ten Ro­man „Kin­der der Welt“ (1873). Er zeich­net dar­in die Fi­gur des Fran­ze­li­us, ei­nes So­zia­lis­ten, der eine bür­ger­li­che Kar­rie­re für sei­ne uto­pi­schen Idea­le auf­gibt. Das sechs­bän­di­ge Früh­werk er­regt ers­tes, großes Auf­se­hen und in­spi­riert be­son­ders jun­ge Le­ser. Seit den 1860er Jah­ren ist Hey­se ei­ner der be­lieb­tes­ten und meist­ge­le­se­nen deut­schen Au­to­ren. Für bür­ger­li­che Krei­se gilt er als ein schrift­stel­le­ri­sches Ide­al, mit­hin als le­gi­ti­mer Nach­fah­re Goe­thes.

Aber um die Jahr­hun­dert­wen­de hat Hey­se den Ze­nit sei­nes Ruh­mes über­schrit­ten. Die jün­ge­re Schrift­steller­ge­ne­ra­ti­on ver­wei­gert ihm zu­se­hends die Aner­ken­nung. Rin­gel­natz, der ihn per­sön­lich trifft, ver­spot­tet ihn. Im Sim­pli­cis­si­mus er­scheint er als Ka­ri­ka­tur. Den Au­to­ren der Ber­li­ner Na­tu­ra­lis­ten um Ger­hart Haupt­mann gilt er zu­se­hends als Epi­go­ne ohne ei­ge­ne Krea­ti­vi­tät; sie be­zeich­nen sei­ne Spra­che als „geis­te­s­arm“, sei­ne Fi­gu­ren als „flach und reiz­los“. Frag­lich ist, ob die­se Kri­tik nicht mehr dem Neid als der künst­le­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zung ge­schul­det ist.

In Ber­lin, Mün­chen und Leip­zig wer­den Stra­ßen nach Hey­se be­nannt. Nach dem Ers­ten Welt­krieg, der Au­tor ist schon längst tot, wer­den er und sein Werk zur Ziel­schei­be auf­kom­men­der an­ti­li­be­ra­ler und an­ti­jü­di­scher Ten­den­zen. Er wird ver­leug­net, ge­rät in Ver­ges­sen­heit. Heu­te, mehr als hun­dert Jah­re nach sei­nem Tod, ist trotz sei­nes Er­fol­ges zu Leb­zei­ten sei­ne Be­deu­tung hin­ter der ei­nes Fon­ta­nes, Storms oder Kel­lers zu­rück­ge­blie­ben. Es gilt, ihn neu (wie­der) zu ent­de­cken.

Andrea Delfin

1

In je­ner Gas­se Ve­ne­digs, die den freund­li­chen Na­men Bel­la Cor­te­sia trägt, stand um die Mit­te des vo­ri­gen Jahr­hun­derts ein ein­fa­ches, ein­stö­cki­ges Bür­ger­haus, über des­sen nied­ri­gem Por­tal, von zwei ge­wun­de­nen höl­zer­nen Säu­len und ba­rockem Ge­sims ein­ge­rahmt, ein Ma­don­nen­bild in der Ni­sche thron­te und ein ewi­ges Lämp­chen be­schei­den hin­ter ro­tem Glas her­vor­schim­mer­te. Trat man in den un­te­ren Flur, so stand man am Fuße ei­ner brei­ten, stei­len Trep­pe, die ohne Win­dung zu den obe­ren Zim­mern hin­auf­führ­te. Auch hier brann­te Tag und Nacht eine Lam­pe, die an blan­ken Kett­chen von der De­cke her­ab­hing, da in das In­ne­re nur Ta­ges­licht ein­drang, wenn ein­mal die Haus­tür ge­öff­net wur­de. Aber trotz die­ser ewi­gen Däm­me­rung war die Trep­pe der Lieb­lings­auf­ent­halt von Frau Gio­van­na Da­nie­li, der Be­sit­ze­rin des Hau­ses, die seit dem Tode ih­res Man­nes mit ih­rer ein­zi­gen Toch­ter Ma­ri­et­ta das er­erb­te Häu­schen be­wohn­te und ei­ni­ge über­flüs­si­ge Zim­mer an ru­hi­ge Leu­te ver­mie­te­te. Sie be­haup­te­te, die Trä­nen, die sie um ih­ren lie­ben Mann ge­weint, hät­ten ihre Au­gen zu sehr ge­schwächt, um das Son­nen­licht noch zu ver­tra­gen. Die Nach­barn aber sag­ten ihr nach, dass sie nur dar­um von Mor­gen bis Abend auf dem obe­ren Trep­pen­ab­satz ihr We­sen trei­be, um mit je­dem, der aus- und ein­gin­ge, an­zu­bin­den und ihn nicht vor­über­zu­las­sen, ehe er ih­rer Neu­gier und Ge­sprä­chig­keit den Zoll ent­rich­tet habe. Um die Zeit, wo wir sie ken­nen ler­nen, konn­te die­ser Grund sie schwer­lich be­we­gen, den har­ten Sitz auf der Trep­pen­stu­fe ei­nem be­que­men Ses­sel vor­zu­zie­hen. Es war im Au­gust des Jah­res 1762. Schon seit ei­nem hal­b­en Jahr stan­den die Zim­mer, die sie ver­mie­te­te, leer, und mit ih­ren Nach­barn ver­kehr­te sie we­nig. Dazu ging es schon auf die Nacht, und ein Be­such um die­se Zeit war ganz un­ge­wöhn­lich. Den­noch saß die klei­ne Frau be­harr­lich auf ih­rem Pos­ten und sah nach­denk­lich in den lee­ren Flur hin­ab. Sie hat­te ihr Kind zu Bett ge­schickt und ein paar Kür­bis­se ne­ben sich ge­legt, um sie noch vor Schla­fen­ge­hen aus­zu­ker­nen. Aber al­ler­lei Ge­dan­ken und Be­trach­tun­gen wa­ren ihr da­zwi­schen ge­kom­men. Ihre Hän­de ruh­ten im Schoß, ihr Kopf lehn­te am Ge­län­der, es war nicht das ers­te Mal, dass sie in die­ser Stel­lung ein­ge­schla­fen war.

Sie war auch heu­te nahe dar­an, als drei lang­sa­me, aber nach­drück­li­che Schlä­ge an die Haus­tür sie plötz­lich auf­schreck­ten. »Mi­se­ri­cor­dia!«,1 sag­te die Frau, in­dem sie auf­stand, aber un­be­weg­li­che ste­hen blieb, »was ist das? Hab’ ich ge­träumt? Kann er es wirk­lich sein?«

Sie horch­te. Die Schlä­ge mit dem Klop­fer wie­der­hol­ten sich. »Nein«, sag­te sie, »Orso ist es nicht. Das klang an­ders. Auch die Sbir­ren2 sind es nicht. Lass se­hen, was der Him­mel schickt.« – Da­mit stieg sie schwer­fäl­lig hin­un­ter und frag­te durch die Tür, wer Ein­lass be­geh­re.

Eine Stim­me ant­wor­te­te, es ste­he ein Frem­der drau­ßen, der hier eine Woh­nung su­che. Das Haus sei ihm gut emp­foh­len; er hof­fe, lan­ge zu blei­ben und die Wir­tin wohl zu­frie­den zu stel­len. Das al­les wur­de höf­lich und in gu­tem Ve­ne­zia­nisch vor­ge­tra­gen, so dass Frau Gio­van­na, trotz der spä­ten Zeit, sich nicht be­dach­te, die Tür zu öff­nen. Der An­blick ih­res Gas­tes recht­fer­tig­te ihr Ver­trau­en. Er trug, so­viel sie in der Däm­me­rung se­hen konn­te, die an­stän­di­ge schwar­ze Klei­dung des nie­de­ren Bür­ger­stan­des, einen le­der­nen Man­tel­sack un­ter dem Arm, den Hut be­schei­den in der Hand. Nur sein Ge­sicht be­frem­de­te die Frau. Es war nicht jung, nicht alt, der Bart noch dun­kel­braun, die Stirn fal­ten­los, die Au­gen feu­rig, da­ge­gen der Aus­druck des Mun­des und die Art zu spre­chen müde und über­lebt, und das kurz ge­scho­re­ne Haar in selt­sa­mem Ge­gen­satz zu den noch ju­gend­li­chen Zü­gen völ­lig er­graut.

»Gute Frau«, sag­te er, »ich habe Euch schon im Schla­fe ge­stört, und so­gar viel­leicht ver­ge­bens. Denn, um es gleich zu sa­gen, wenn Ihr kein Zim­mer habt, das auf einen Kanal hin­aus­geht, bin ich nicht Euer Mie­ter. Ich kom­me von Bre­s­cia, mein Arzt hat mir die feuch­te Luft Ve­ne­digs emp­foh­len für mei­ne schwa­che Brust; ich soll überm Was­ser woh­nen.«

»Nun Gott sei Dank!«, sag­te die Wit­we, »so kommt doch ein­mal ei­ner, der un­se­rem Kanal Ehre an­tut. Ich hat­te einen Spa­nier vo­ri­gen Som­mer, der aus­zog, weil er sag­te, das Was­ser habe einen Ge­ruch, als wä­ren Rat­ten und Me­lo­nen dar­in ge­kocht wor­den! Und Euch ist es emp­foh­len wor­den? Wir sa­gen wohl hier in Ve­ne­dig:

Was­ser vom Kanal. Ku­riert ra­di­kal.

Aber es hat einen ei­ge­nen Sinn, Herr, einen bö­sen Sinn, wenn man be­denkt, wie man­ches Mal auf Be­fehl der Obe­ren eine Gon­del mit Drei­en auf die La­gu­nen hin­aus­fuhr und mit Zwei­en wie­der­kam. Da­von nichts mehr, Herr – Gott be­hüt’ uns alle! Aber habt Ihr Eu­ren Pass in Ord­nung? Ich könnt’ Euch sonst nicht auf­neh­men.«

»Ich hab’ ihn schon drei Mal prä­sen­tiert, gute Frau, in Me­stre, bei der Wacht­gon­del drau­ßen und am Traghet­to. Mein Name ist An­drea Del­fin, mein Stand rechts­kun­di­ger Schrei­ber bei den No­ta­ren, als wel­cher ich in Bre­s­cia fun­giert habe. Ich bin ein ru­hi­ger Mensch und habe nie mit der Po­li­zei gern zu schaf­fen ge­habt.«

»Um so bes­ser«, sag­te die Frau, in­dem sie jetzt ih­rem Gas­te vor­an die Trep­pe wie­der hin­auf­stieg. »Bes­ser be­wahrt als be­klagt, ein Aug’ auf die Kat­ze, das an­de­re auf die Pfan­ne, und es ist nütz­li­cher, Furcht zu ha­ben als Scha­den. O, über die Zei­ten, in de­nen wir le­ben, Herr An­drea! Man soll nicht drü­ber nach­den­ken. Den­ken ver­kürzt das Le­ben, aber Kum­mer schließt das Herz auf. Da seht, und sie öff­ne­te ein großes Zim­mer, ist es nicht hübsch hier, nicht wohn­lich? Dort das Bett, mit mei­nen ei­ge­nen Hän­den hab’ ich’s ge­näht, als ich jung war, aber am Mor­gen kennt man nicht den Tag. Und da ist das Fens­ter nach dem Kanal, der nicht breit ist, wie Ihr seht, aber de­sto tiefer, und das an­de­re Fens­ter dort nach der klei­nen Gas­se, das Ihr zu­hal­ten müsst, denn die Fle­der­mäu­se wer­den im­mer dreis­ter. Seht da überm Kanal, fast mit der Hand ab­zu­rei­chen, der Palast der Grä­fin Ami­dei, die blond ist wie das Gold und durch eben­so viel Hän­de geht. Aber hier steh’ ich und schwat­ze, und Ihr habt noch we­der Licht noch Was­ser und wer­det hung­rig sein.«

Der Frem­de hat­te gleich beim Ein­tre­ten das Zim­mer mit ra­schem Blick ge­mus­tert, war von Fens­ter zu Fens­ter ge­gan­gen und warf jetzt sei­nen Man­tel­sack auf einen Ses­sel. »Es ist al­les in der bes­ten Ord­nung«, sag­te er. »Über den Preis wer­den wir uns wohl ei­ni­gen. Bringt mir nur einen Bis­sen und, wenn Ihr ihn habt, einen Trop­fen Wein. Dann will ich schla­fen.«

Es war et­was selt­sam Ge­bie­te­ri­sches in sei­ner Ge­bär­de, so mil­de der Ton sei­ner Wor­te klang. Ei­lig ge­horch­te die Frau und ließ ihn auf kur­ze Zeit al­lein. Nun trat er so­fort wie­der ans Fens­ter, bog sich hin­aus und sah den sehr en­gen Kanal hin­ab, der durch kein Zit­tern sei­ner schwar­zen Flut ver­riet, dass er teil­ha­be an dem Le­ben des großen Mee­res, dem Wel­len­schlag der al­ten Adria. Der Palast ge­gen­über stieg in schwe­rer Mas­se vor ihm auf, alle Fens­ter wa­ren dun­kel, da die Vor­der­sei­te nicht dem Kanal zu­ge­kehrt war; nur eine schma­le Tür öff­ne­te sich un­ten, dicht über dem Was­ser­spie­gel, und eine schwar­ze Gon­del lag an­ge­ket­tet vor der Schwel­le.

Das al­les schi­en den Wün­schen des neu­en An­kömm­lings durch­aus zu ent­spre­chen, nicht min­der auch, dass man ihm durch das an­de­re Fens­ter, das nach der Sack­gas­se ging, nicht ins Zim­mer se­hen konn­te. Denn drü­ben lief eine fens­ter­lo­se Wand ohne an­de­re Un­ter­bre­chung als ei­ni­ge Vor­sprün­ge, Ris­se und Kel­ler­lö­cher hin, und nur den Kat­zen, Mar­dern und Nacht­vö­geln konn­te die­ser düs­te­re Win­kel an­ge­nehm und wohn­lich er­schei­nen.

Ein Licht­strahl aus dem Flur drang ins Ge­mach, die Tür öff­ne­te sich, und mit der Ker­ze in der Hand trat die klei­ne Wit­we wie­der ein, hin­ter ihr die Toch­ter, die in der Eile noch ein­mal hat­te auf­ste­hen müs­sen, um beim Empfang des Gas­tes zu hel­fen. Die Ge­stalt des Mäd­chens war fast noch klei­ner als die der Mut­ter, er­schi­en aber doch durch die höchs­te Zier­lich­keit und kaum ge­reif­te Schlank­heit al­ler For­men grö­ßer und wie auf den Fuß­spit­zen schwe­bend, wäh­rend man auch im Ge­sicht die­sel­be Ähn­lich­keit und den­sel­ben Un­ter­schied, der auf Rech­nung der Jah­re kam, auf den ers­ten Blick er­kann­te. Nur der Aus­druck in bei­den Ge­sich­tern schi­en nie­mals ein­an­der ähn­lich wer­den zu kön­nen. Es war zwi­schen den dich­ten Brau­en der Frau Gio­van­na ein Zug von Span­nung und kum­mer­vol­lem Har­ren, der auch mit den Er­fah­run­gen des Al­ters auf Ma­ri­et­tas kla­rer Stirn nie dau­ernd eine Stät­te fin­den konn­te. Die­se Au­gen muss­ten im­mer la­chen, die­ser Mund im­mer ein we­nig ge­öff­net sein, um je­den Scherz un­ver­züg­lich hin­aus­zu­las­sen. Es war un­end­lich drol­lig zu se­hen, wie jetzt in die­sem Ge­sicht­chen Ver­schla­gen­heit, Über­ra­schung, Neu­gier und Mut­wil­le mit­ein­an­der kämpf­ten. Sie bog beim Ein­tre­ten den Kopf, des­sen lose Flech­ten mit ei­nem schma­len Tuch um­wun­den wa­ren, seit­wärts, um den neu­en Haus­ge­nos­sen zu se­hen. Auch sei­ne erns­te Mie­ne und sein grau­es Haar stimm­ten ihre Mun­ter­keit nicht her­ab. Mut­ter, flüs­ter­te sie, in­dem sie einen großen Tel­ler mit Schin­ken, Brot und fri­schen Fei­gen und eine halb vol­le Fla­sche Wein auf den Tisch stell­te, er hat ein ku­rio­ses Ge­sicht, wie ein neu­es Haus im Win­ter, wenn der Schnee aufs Dach ge­fal­len ist.

»Schweig, du schlim­me Hexe!«, sag­te die Mut­ter rasch. »Wei­ße Haa­re sind falsche Zeu­gen. Er ist krank, musst du wis­sen, und du soll­test Re­spekt ha­ben, denn Krank­hei­ten kom­men zu Pfer­de und ge­hen zu Fuß, und Gott be­hü­te dich und mich, denn die Kran­ken es­sen we­nig, aber die Krank­heit frisst al­les. Hole nur ein we­nig Was­ser, so­viel wir noch ha­ben. Mor­gen müs­sen wir früh auf und neu­es kau­fen. Sieh, er sitzt da, als ob er schlie­fe. Er ist müde von der Rei­se, und du bist müde vom Still­sit­zen. So ist die Welt ver­schie­den.«

Wäh­rend die­ser halb­lau­ten Re­den hat­te der Frem­de am Fens­ter ge­ses­sen und den Kopf in die Hand ge­stützt. Auch als er jetzt auf­sah, schi­en er die Ge­gen­wart des zier­li­chen Mäd­chens, das ihm eine Ver­beu­gung mach­te, kaum zu be­mer­ken.

»Kommt und esst et­was, Herr An­drea«, sag­te die Wit­we. »Wer nicht zu Nacht isst, hun­gert im Traum. Seht, die Fei­gen sind frisch, und der Schin­ken zart, und dies ist Zy­per­wein, wie ihn der Doge nicht bes­ser trinkt. Sein Kel­ler­meis­ter hat ihn uns selbst ver­kauft, eine alte Be­kannt­schaft noch von mei­nem Mann her. Ihr seid ge­reist, Herr. Ist er Euch nicht ein­mal be­geg­net, mein Orso, Orso Da­nie­li?«

»Gute Frau«, sag­te der Frem­de, in­dem er ei­ni­ge Trop­fen Wein ins Glas goss und eine der Fei­gen auf­brach, »ich bin nie über Bre­s­cia hin­aus­ge­kom­men und ken­ne kei­nen die­ses Na­mens.«

Ma­ri­et­ta ver­ließ das Zim­mer, und man hör­te sie, wäh­rend sie die Trep­pe hin­un­ter­flog, ein Lied­chen mit hel­ler Stim­me vor sich hin sin­gen.

»Hört Ihr das Kind?«, frag­te Frau Gio­van­na. »Man hiel­te sie nicht für mei­ne Toch­ter, ob­wohl auch eine schwar­ze Hen­ne ein wei­ßes Ei legt. Im­mer sin­gen und sprin­gen, als wä­ren wir hier nicht in Ve­ne­dig, wo es gut ist, dass die Fi­sche stumm sind, weil sie sonst re­den wür­den, was ei­nem das Haar sträub­te. Aber so war ihr Va­ter auch, Orso Da­nie­li, der ers­te Ar­bei­ter auf Mu­ra­no, wo sie die bun­ten Glä­ser ma­chen, wie nir­gend auf der Welt. Ein fröh­lich Herz macht rote Wan­gen, das war sein Spruch. Und dar­um sag­te er ei­nes Ta­ges zu mir, ›Gio­van­ni­na‹, sag­te er, ›ich hal­t’ es hier nicht aus, die Luft schnürt mir die Keh­le zu, ges­tern erst ist wie­der ei­ner er­dros­selt und mit dem Fuß an den Gal­gen ge­henkt wor­den, weil er freie Re­den ge­führt hat ge­gen die In­qui­si­to­ren.3 und den Rat der Zehn4 Man weiß, wo man ge­bo­ren wird, aber nicht, wo man stirbt, und man­cher denkt auf dem Pfer­de zu sit­zen und sitzt auf der Erde. Also, Gio­van­ni­na‹, sag­te er, ›ich will nach Frank­reich, Kunst bringt Gunst, und der Hel­ler läuft dem Bat­zen nach. Mei­ne Sa­che ver­ste­he ich, und wenn ich’s drau­ßen zu was ge­bracht habe, kommst du nach mit un­se­rem Kind.‹ – Das war da­mals acht Jah­re alt, Herr An­drea. Es lach­te, als es der Va­ter zu­letzt küss­te; da lach­te er auch. Ich aber wein­te, da muss­te er wohl mit­wei­nen, ob­wohl er ganz lus­tig weg­fuhr in der Gon­del, ich hör­t’ ihn noch pfei­fen, als er schon um die Ecke war. So ging es ein Jahr. Und was ge­sch­ah? Die Si­gno­ria ließ nach ihm fra­gen; es dür­fe kei­ner von Mu­ra­no sein Ge­werk ins Aus­land tra­gen, da­mit sie es dort ihm nicht ab­sä­hen; ich soll­t’ ihm schrei­ben, dass er wie­der­käme, bei To­dess­tra­fe. Über den Brief lach­te er; aber den Her­ren vom Tri­bu­nal war’s nicht spaß­haft. Ei­nes Mor­gens, da wir noch zu Bett wa­ren, wur­de ich ab­ge­holt, das Kind mit mir, und hin­auf­ge­schleppt un­ter die Blei­dä­cher, und muss­te ihm wie­der schrei­ben, wo ich wäre, ich und un­ser Kind, und dass ich da blei­ben wür­de, bis er sel­ber mich ab­for­der­te in Ve­ne­dig. Nicht lan­ge, so hat­te ich sei­ne Ant­wort, das La­chen sei ihm ver­gan­gen, er wan­de­re dem Brief auf den Fer­sen nach. Nun, ich hoff­te täg­lich, dass er es wahr­ma­chen wer­de. Aber Wo­chen und Mon­de ver­gin­gen, und mir ward im­mer we­her ums Herz und krän­ker im Haupt, denn da dro­ben ist die Höl­le, Herr An­drea, nur dass ich das Kind hat­te, das nichts von dem Jam­mer be­griff, au­ßer dass es schlecht aß und über Tag heiß hat­te; aber den­noch sang es, um mich lus­tig zu ma­chen, dass mich’s vollends an­griff, die Trä­nen zu ver­hal­ten. Erst im drit­ten Mo­nat wur­den wir her­aus­ge­holt, es hieß, der Glas­blä­ser Orso Da­nie­li sei in Mai­land am Fie­ber ge­stor­ben, und wir könn­ten nach Hau­se ge­hen. Ich habe es auch von an­de­ren ge­hört – aber wer das glaubt, kennt die Si­gno­ria nicht. Ge­stor­ben? Stirbt man auch, wenn man Frau und Kind un­ter den Blei­dä­chern sit­zen hat und sie her­aus­ho­len soll?«

»Und was meint Ihr, dass aus Eu­rem Mann ge­wor­den sei?«, frag­te der Frem­de.

Sie sah mit ei­nem Blick ihm ins Ge­sicht, der ihn dar­an ge­mahn­te, dass die arme Frau lan­ge Wo­chen un­ter den Blei­dä­chern ge­lebt hat­te. »Es ist nicht rich­tig«, sag­te sie. »Man­cher lebt und kommt doch nicht wie­der, und man­cher ist tot und kommt doch wie­der. Aber da­von wol­len wir schwei­gen. Ja, wenn ich es Euch sag­te, wer steht mir da­für, dass Ihr nicht hin­geht und es vor dem Tri­bu­nal aus­plau­dert? Ihr seht aus wie ein Galan­tuo­mo; aber wer ist noch recht­schaf­fen heut­zu­ta­ge? Von tau­send ei­ner, von hun­dert kei­ner. Nichts für un­gut, Herr An­drea, aber Ihr wisst wohl, wie es in Ve­ne­dig heißt:

Mit Lug und Lis­ten kommt man aus, Mit List und Lü­gen hält man haus.«

Es ent­stand eine Pau­se. Der Frem­de hat­te längst den Tel­ler weg­ge­scho­ben und der Wit­we ge­spannt zu­ge­hört.

»Ich ver­den­ke es Euch nicht«, sag­te er, »dass Ihr mir Eure Ge­heim­nis­se nicht an­ver­trau­en wollt. Sie ge­hen mich auch nichts an, und zu hel­fen wüsst’ ich Euch oh­ne­dies nicht. Aber wie kommt es, Frau, dass Ihr die­ses Tri­bu­nal, un­ter dem Ihr so viel ge­lit­ten, den­noch Euch ge­fal­len las­set, Ihr und al­les Volk in Ve­ne­dig? Denn ich weiß zwar we­nig, wie es hier aus­sieht – ich habe mich nie in po­li­ti­sche Fra­gen ver­tieft – aber so viel habe ich doch ge­hört, dass erst im vo­ri­gen Jahr hier ein Tu­mult war, um das heim­li­che Tri­bu­nal ab­zu­schaf­fen, dass ei­ner vom Adel selbst da­ge­gen auf­trat und der Gro­ße Rat eine Kom­mis­si­on wähl­te, die Sa­che zu be­den­ken, und al­les in Be­we­gung ge­riet für und wi­der. Ich hör­te da­von so­gar in mei­ner Schreib­stu­be zu Bre­s­cia. Und als end­lich al­les beim al­ten blieb und die Macht des heim­li­chen Ge­richts fes­ter ge­grün­det stand als je, warum zün­de­te da das Volk Freu­den­feu­er an auf den Plät­zen und ver­höhn­te die vom Adel, die ge­gen das Tri­bu­nal ge­stimmt hat­ten und nun sei­ne Ra­che fürch­ten muss­ten? Wa­rum war nie­mand, der es hin­der­te, dass die In­qui­si­to­ren ih­ren küh­nen Feind nach Ve­ro­na ver­bann­ten? Und wer weiß, ob sie ihn dort am Le­ben las­sen, oder ob die Dol­che schon ge­schlif­fen sind, die ihn für im­mer stumm ma­chen sol­len? Ich – wie ge­sagt – weiß nur we­nig hier­von; ich ken­ne auch je­nen Mann nicht, und es ist mir al­les sehr gleich­gül­tig, was hier ge­schieht, denn ich bin krank und wer­de es in die­ser bun­ten Welt oh­ne­hin nicht mehr lan­ge trei­ben. Aber es wun­dert mich doch, die­ses wan­kel­mü­ti­ge Volk zu se­hen, das heu­te die­se drei Män­ner sei­ne Ty­ran­nen nennt und mor­gen frohlockt, wenn die un­ter­ge­hen, wel­che der Ty­ran­nei ein Ende ma­chen woll­ten.«

»Wie Ihr da re­det, Herr!«, sag­te die Wit­we und schüt­tel­te den Kopf. »Ihr habt ihn nie ge­se­hen, den Herrn Avo­ga­do­re An­ge­lo Quer­ini, den sie ver­bannt ha­ben, weil er der heim­li­chen Jus­tiz den Krieg er­klär­te? Nun wohl, Herr, aber ich habe ihn ge­se­hen und die an­de­ren ar­men Leu­te, und sie sa­gen alle, er sei ein recht­schaf­fe­ner Herr und ein großer Ge­lehr­ter, der Tag und Nacht die al­ten Ge­schich­ten von Ve­ne­dig stu­diert hat und die Ge­set­ze kennt, wie der Fuchs den Tau­ben­schlag. Aber wer ihn über die Stra­ße ge­hen oder im Bro­glio mit sei­nen Freun­den ste­hen sah, so an die Säu­le ge­lehnt und die Au­gen halb zu­ge­drückt, der wuss­te, dass er ein No­bi­le war von der Fe­der am Hut bis zu den Schuh­schnal­len, und was er ge­gen das Tri­bu­nal re­de­te und han­del­te, war nicht fürs Volk, son­dern für die großen Her­ren. Den Scha­fen aber ist es gleich, Herr Del­fin, ob sie ge­schlach­tet oder vom Wolf ge­fres­sen wer­den, und

Rauft sich der Ha­bicht mit dem Weih, Ist das Feld für die Hüh­ner frei.

Seht, Lie­ber, dar­um war die Scha­den­freu­de groß, als das Tri­bu­nal in al­len Rech­ten be­stä­tigt wur­de und nach wie vor nie­man­dem Re­chen­schaft schul­den soll­te als am Jüngs­ten Tage dem Herr­gott und alle Tage dem Ge­wis­sen. Im Kanal Or­fa­no, von Hun­der­ten, die dort ihr letz­tes Ave ge­be­tet ha­ben, lie­gen zehn von den klei­nen Leu­ten ne­ben neun­zig von den großen Her­ren. Aber setzt den Fall, es wür­den ad­li­ge Ver­bre­cher und bür­ger­li­che vom Gro­ßen Rat öf­fent­lich ge­rich­tet und hin­ge­rich­tet – Mi­se­ri­cor­dia! wir hät­ten acht­hun­dert Hen­ker an­statt drei, und der große Dieb häng­te den klei­nen auf.«

Er schi­en et­was er­wi­dern zu wol­len, aber mit ei­nem kur­z­en Auf­la­chen, das die Wir­tin für Zu­stim­mung nahm, hat­te es sein Be­wen­den. In­dem trat Ma­ri­et­ta wie­der her­ein, ein Ge­fäß mit Was­ser tra­gend und ein Räu­cher­pfänn­chen, auf dem ein schar­frie­chen­des Kraut glimm­te und ihr sei­nen Dampf ins Ge­sicht trieb, dass sie mit Hus­ten, Schel­ten und Au­gen­rei­ben die drol­ligs­ten Ge­bär­den mach­te. Sie trug das Räu­cher­werk mit klei­nen Schrit­ten dicht an den vier Wän­den her­um, die mit ei­ner Un­zahl Flie­gen und Mücken be­deckt wa­ren.

»Mar­schiert da weg, ihr Ge­sin­del«, sag­te sie, »ihr Blut­sau­ger, schlim­mer als Ad­vo­ka­ten und Dok­to­ren! Hät­tet ihr auch Lust, Fei­gen zu Nacht zu es­sen und Zy­per zu na­schen? Da könn­tet ihr wohl la­chen und her­nach zum Dank dem Herrn da, wenn er schläft, das Ge­sicht zer­ste­chen, ihr Meu­chel­mör­der! War­tet, ich will euch was ein­ge­ben, das euch ohne Abendes­sen in Schlaf brin­gen soll.«

»Musst du im­mer schwat­zen, du gott­lo­se Krea­tur?«, sag­te die Mut­ter, die al­len Be­we­gun­gen ih­res Lieb­lings mit strah­len­den Bli­cken folg­te. »Weißt du nicht, dass ein Fass, das klingt, leer ist, und wer viel spricht, we­nig sagt?«

»Mut­ter«, sag­te das Mäd­chen la­chend, »ich muss den Mücken ein Schlaf­lied sin­gen, und seht, wie es hilft! Da fal­len sie schon von der Wand. Gute Nacht, ihr Ta­ge­die­be, ihr schlech­ten Ge­sel­len, die ihr kei­ne Mie­te be­zahlt und doch in alle Töp­fe guckt. Wir spre­chen uns mor­gen wie­der, wenn ihr heu­te nicht ge­nug be­kom­men habt.«

Sie schwenk­te das er­lö­schen­de Kraut noch ein­mal wie be­schwö­rend überm Haup­te und schüt­te­te die Asche in den Kanal, dann ver­beug­te sie sich rasch ge­gen den Frem­den und lief wie der Wind hin­aus.

»Ist es nicht eine Hexe, ein häss­li­ches, un­er­zo­ge­nes Ge­schöpf?«, sag­te Frau Gio­van­na, in­dem sie auf­stand und sich eben­falls zum Ge­hen an­schick­te. »Und doch ge­fällt je­der Äf­fin ihr Äff­chen. Und üb­ri­gens, so klein sie ist und nichts­nut­zig, so an­stel­lig ist sie auch, und es heißt auch von ihr:

Bis die Gro­ße sich nur bückt, Hat die Klei­ne schon das Kraut ge­pflückt.

Wenn ich das Kind nicht hät­te, Herr An­drea! Aber Ihr wollt schla­fen, und ich ste­he noch hier und brod­le wie die Sup­pe überm Feu­er. Schlaft wohl und will­kom­men in Ve­ne­dig!«

Er er­wi­der­te ih­ren Gruß tro­cken und schi­en es nicht zu be­mer­ken, dass sie of­fen­bar noch ein lo­ben­des Wort über ihre Toch­ter von ihm er­war­te­te. Als er end­lich al­lein war, saß er noch eine Wei­le am Tisch, und sein Ge­sicht wur­de im­mer düs­te­rer und schmerz­li­cher. Das Licht brann­te mit lan­gem Docht, die Flie­gen, die Ma­ri­et­tas He­xen­küns­ten ent­gan­gen wa­ren, be­la­ger­ten in schwar­zen Klum­pen die über­rei­fen Fei­gen, drau­ßen in dem Sack­gäss­chen flo­gen die Fle­der­mäu­se ans Fens­ter und stie­ßen ge­gen das Git­ter – der ein­sa­me Frem­de schi­en für al­les um ihn her er­stor­ben, und nur die Au­gen leb­ten an ihm.

Erst als es elf schlug vom Turm ei­ner na­hen Kir­che, rich­te­te er sich me­cha­nisch auf und sah um sich. An der De­cke sei­nes nied­ri­gen Zim­mers zog in grau­en Strei­fen der schar­fe Dunst des Räu­cher­krau­tes hin und der Dampf der Ker­ze ge­sell­te sich zu der Wol­ke dro­ben. An­drea öff­ne­te das Fens­ter nach dem Kanal, um die Luft zu rei­ni­gen. Da sah er ge­gen­über Licht in ei­nem durch einen wei­ßen Vor­hang nur halb ge­schlos­se­nen Fens­ter und konn­te durch die Lücke deut­lich ein Mäd­chen be­ob­ach­ten, wel­ches am Tisch vor ei­ner Schüs­sel saß und die Res­te ei­ner großen Pas­te­te has­tig ver­zehr­te, mit den Fin­gern die Bis­sen zum Mun­de füh­rend und dazu dann und wann aus ei­nem Kris­tall­fläsch­chen trin­kend. Das Ge­sicht hat­te einen leicht­sin­ni­gen, aber eben nicht her­aus­for­dern­den Aus­druck, nicht mehr in ers­ter Ju­gend. In der nach­läs­si­gen Klei­dung und dem halb­auf­ge­lös­ten Haar lag et­was Stu­dier­tes und Be­wuss­tes, was doch nicht un­ge­fäl­lig war. Sie muss­te längst be­merkt ha­ben, dass das Zim­mer ge­gen­über einen neu­en Be­woh­ner auf­ge­nom­men hat­te; aber ob­wohl sie den­sel­ben jetzt am Fens­ter sah, fuhr sie ru­hig im Schmau­sen fort, und nur wenn sie trank, schwenk­te sie das Fläsch­chen erst vor sich her, als wol­le sie einen Mit­trin­ker be­grü­ßen. Da­rauf stell­te sie die lee­re Schüs­sel bei­sei­te, rück­te den Tisch mit der Lam­pe so ge­gen die Wand, dass al­les Licht auf einen brei­ten Spie­gel im Hin­ter­grun­de fiel, und be­gann nun einen Hau­fen Mas­ken­an­zü­ge, der auf ei­nem Arm­ses­sel bunt über­ein­an­der lag, der Rei­he nach vor dem Spie­gel an­zu­pro­bie­ren, so dass der Frem­de ge­gen­über, dem sie den Rücken da­bei zu­dreh­te, de­sto deut­li­cher ihr Ab­bild se­hen muss­te. Sie schi­en sich nicht we­nig in ih­ren Ver­klei­dun­gen zu ge­fal­len. We­nigs­tens nick­te sie ih­rem Bil­de aufs freund­lichs­te zu, lach­te sich an, dass Zäh­ne und Lip­pen schim­mer­ten, run­zel­te die Brau­en, um eine tra­gi­sche oder schmach­ten­de Mie­ne zu ma­chen, und sah da­bei heim­lich seit­wärts nach dem Beo­b­ach­ter drü­ben, den sie eben­falls durch den Spie­gel im Auge be­hielt. Als die dunkle Ge­stalt un­be­weg­lich blieb und die er­hoff­ten Zei­chen des Bei­falls auf sich war­ten lie­ßen, wur­de sie un­ge­hal­ten und be­rei­te­te einen Haupt­schlag vor. Sie band sich einen großen ro­ten Tur­ban um die Schlä­fen, aus dem an blit­zen­der Agraf­fe eine Rei­her­fe­der her­vor­sah. Das Rot stand al­ler­dings nicht übel zu ih­rer gel­ben Ge­sichts­far­be, und sie mach­te sich selbst eine tie­fe Ver­beu­gung der Aner­ken­nung. Als es aber drü­ben auch jetzt noch still blieb, riss ihr die Ge­duld, und sie trat, den Tur­ban noch auf dem Kopf, has­tig an das Fens­ter, des­sen Vor­hang sie ganz zu­rück­schob.

»Gu­ten Tag, Monsù«, sag­te sie freund­lich. »Ihr seid mein Nach­bar ge­wor­den, wie ich sehe. Hof­fent­lich spielt Ihr nicht die Flö­te wie Euer Vor­gän­ger, der mich die hal­be Nacht nicht schla­fen ließ.«

»Schö­ne Nach­ba­rin«, sag­te der Frem­de, »ich wer­de Euch mit kei­ner Art von Mu­sik läs­tig fal­len. Ich bin ein kran­ker Mensch, dem es lieb ist, wenn man ihm selbst sei­nen Schlaf nicht stört.«

»So!«, er­wi­der­te das Mäd­chen mit ge­dehn­tem Ton. »Krank seid Ihr? Aber seid Ihr auch reich?«

»Nein! Wa­rum fragt Ihr?«

»Weil es ja schreck­lich ist, krank und arm zu­gleich zu sein. Wer seid Ihr denn ei­gent­lich?«

»An­drea Del­fin ist mein Name. Ich bin Ge­richts­schrei­ber ge­we­sen in Bre­s­cia und su­che hier einen stil­le­ren Dienst bei ei­nem No­tar.«

Die Ant­wort schi­en ihre Er­war­tun­gen von der neu­en Be­kannt­schaft vollends her­ab­zu­stim­men. Sie spiel­te nach­denk­lich mit ei­ner gol­de­nen Ket­te, die sie um den Hals trug.

»Und wer seid Ihr, schö­ne Nach­ba­rin?«, frag­te An­drea mit ei­nem zärt­li­chen Ton, der dem ei­ser­nen Aus­druck sei­nes Ge­sich­tes völ­lig wi­der­sprach. »Euer hol­des Bild so nahe zu ha­ben, wird mir ein Trost sein in mei­nen Lei­den.«

Sie fühl­te sich of­fen­bar be­frie­digt, dass er in den Ton ein­lenk­te, den sie zu er­war­ten be­rech­tigt war.

»Für Euch«, sag­te sie, »bin ich die Prin­zes­sin Sme­ral­di­na, die Euch er­laubt, von fern nach ih­rer Gunst zu schmach­ten. Wenn Ihr mich die­sen Tur­ban auf­set­zen seht, so sei es Euch ein Zei­chen, dass ich ge­neigt bin, mit Euch zu plau­dern. Denn ich lang­wei­le mich mehr, als bei mei­ner Ju­gend und mei­nen Rei­zen zu er­tra­gen ist. Ihr müsst wis­sen, fuhr sie fort, in­dem sie plötz­lich aus der Rol­le fiel, dass mei­ne Herr­schaft, die Grä­fin, durch­aus nicht er­laubt, dass ich auch nur die kleins­te Lieb­schaft habe, ob­wohl sie selbst ihre Lieb­ha­ber öf­ter wech­selt als ihre Hem­den. Sie sagt, dass sie ihre Ver­trau­te und Kam­mer­jung­fer stets aus dem Dienst ge­jagt habe, so­bald sie zwei­en Her­ren habe die­nen wol­len, ihr und dem klei­nen Gott mit den Flü­geln. Un­ter die­sem Vor­ur­teil muss ich nun seuf­zen, und fän­d’ ich nicht sonst hier mei­ne Rech­nung, und wohn­te nicht zu­wei­len drü­ben in Eu­rem Zim­mer ein ar­ti­ger Frem­der, der sich ein we­nig in mich ver­liebt …«

»Wer ist jetzt ge­ra­de der Lieb­ha­ber dei­ner Her­rin?«, un­ter­brach sie An­drea tro­cken. »Emp­fängt sie den ho­hen Adel Ve­ne­digs? Ge­hen die frem­den Ge­sand­ten bei ihr aus und ein?«

»Sie kom­men meist in der Mas­ke«, er­wi­der­te Sme­ral­di­na. »Aber das weiß ich wohl, dass der jun­ge Grit­ti ihr der Liebs­te ist, mehr als je­mals ein an­de­rer, so­lan­ge ich in ih­rem Diens­te bin; ja mehr als der ös­ter­rei­chi­sche Ge­sand­te, der ihr so den Hof macht, dass es zum La­chen ist. Kennt Ihr mei­ne Grä­fin auch? Sie ist schön.«

»Ich bin fremd hier, Kind. Ich ken­ne sie nicht.«

»Wisst«, sag­te das Mäd­chen mit ei­nem schlau­en Ge­sicht, »sie schminkt sich stark, ob­wohl sie noch nicht drei­ßig ist. Wenn Ihr sie ein­mal se­hen wollt, nichts leich­ter. Man legt ein Brett von Eu­rem Fens­ter in mei­nes. Ihr steigt her­über, und ich füh­re Euch an einen Ort, wo Ihr sie ganz ver­stoh­len be­trach­ten könnt. Was tut man nicht ei­nem Nach­bar zu­lie­be! – Aber jetzt gute Nacht. Ich wer­de ge­ru­fen.«

»Gute Nacht, Sme­ral­di­na!«

Sie schloss das Fens­ter. »Arm – und krank«, sag­te sie für sich, in­dem sie den Vor­hang dicht zu­sam­men­zog. »Je nun, für die Lan­ge­wei­le im­mer noch gut ge­nug.«

Auch er hat­te das Fens­ter ge­schlos­sen und durch­maß nun sein Zim­mer mit lang­sa­men Schrit­ten. »Es ist gut«, sag­te er, »es kommt mir ge­le­gen. Im schlimms­ten Fal­le kann ich auch da­von Vor­teil zie­hen.«

Sei­ne Mie­ne zeig­te, dass er an al­les eher dach­te als an Lie­bes­aben­teu­er.

Nun pack­te er sei­nen Man­tel­sack aus, der nur we­nig Wä­sche und ein paar Ge­bet­bü­cher ent­hielt, und leg­te al­les in einen Schrank an der Wand. Ei­nes der Bü­cher fiel zu Bo­den, und die Stein­plat­te gab einen hoh­len Ton. So­fort lösch­te er das Licht, ver­rie­gel­te die Tür und fing an, in der Däm­me­rung, die durch den fer­nen Schein von Sme­ral­di­nas Lämp­chen ent­stand, den Bo­den ge­nau­er zu un­ter­su­chen. Nach ei­ni­ger Ar­beit ge­lang es ihm, die Stein­plat­te, die sau­ber, aber ohne Mör­tel ein­ge­fügt war, her­aus­zu­he­ben, und er ent­deck­te dar­un­ter ein ziem­lich ge­räu­mi­ges Loch, hand­hoch und einen Schuh breit im Ge­viert. Rasch warf er sein Ober­kleid ab und band sich einen schwe­ren Gür­tel mit meh­re­ren Ta­schen ab, den er um den Leib trug. Er hat­te ihn schon in das Loch ge­legt, als er plötz­lich in­ne­hielt.

»Nein«, sag­te er, »es könn­te eine Fal­le sein. Es ist nicht das ers­te Mal, dass die Po­li­zei in Miet­woh­nun­gen der­glei­chen Ver­ste­cke an­ge­legt hat, um her­nach bei Haus­su­chun­gen zu wis­sen, wo sie an­zu­klop­fen hat. Dies ist zu lo­ckend ein­ge­rich­tet, um ihm trau­en zu kön­nen.«

Er senk­te die Stein­plat­te wie­der ein und such­te nach ei­nem si­che­re­ren Be­häl­ter für sei­ne Ge­heim­nis­se. Das Fens­ter nach der Sack­gas­se war mit ei­nem Git­ter ver­se­hen, des­sen Stä­be einen Arm durch­grei­fen lie­ßen. Er öff­ne­te es, fass­te hin­durch und tas­te­te an der Au­ßen­wand her­um. Er fand dicht un­ter dem Sims ein klei­nes Loch in der Mau­er, das schon ein­mal Fle­der­mäu­se be­wohnt zu ha­ben schie­nen. Von un­ten aus konn­te es nicht be­merkt wer­den, und oben sprang das Ge­sims dar­über vor. Geräusch­los er­wei­ter­te er mit sei­nem Dolch die Öff­nung, in­dem er Mör­tel und Stei­ne her­aus­brach, und war bald so weit ge­die­hen, dass er den brei­ten Gür­tel be­quem dar­in un­ter­brin­gen konn­te. Als er fer­tig war, stand ihm der kal­te Schweiß auf der Stirn. Er fühl­te noch ein­mal nach, ob auch nir­gend ein Stück Rie­men oder eine Schnal­le her­vor­ste­he, und schloss dann das Fens­ter. Eine Stun­de spä­ter lag er in Klei­dern auf dem Bett und schlief. Die Mücken summ­ten über sei­ner Stirn, die Nacht­vö­gel drau­ßen um­schwirr­ten neu­gie­rig das Loch, worin sein Schatz ver­bor­gen war. Die Lip­pen des Schlä­fers aber wa­ren zu fest ge­schlos­sen, um selbst im Traum ein Wort von sei­nen Ge­heim­nis­sen zu ver­ra­ten.

In der­sel­ben Nacht saß in Ve­ro­na ein Mann bei sei­ner ein­sa­men Lam­pe und ent­fal­te­te, nach­dem er Fens­ter­lä­den und Tür sorg­fäl­tig ver­schlos­sen hat­te, einen Brief, der ihm heu­te in der Däm­me­rung, als er in der Nähe des Am­phi­thea­ters sich er­ging, von ei­nem bet­teln­den Ka­pu­zi­ner heim­lich zu­ge­steckt wor­den war. Der Brief trug kei­ne Auf­schrift. Aber auf die Fra­ge, wo­her der Über­brin­ger wis­se, dass er das Schrei­ben in die rich­ti­gen Hän­de gebe, hat­te der Mönch geant­wor­tet: »Je­des Kind in Ve­ro­na kennt den ed­len An­ge­lo Quer­ini wie sei­nen Va­ter.« Da­rauf war der Bote ge­gan­gen. Der Ver­bann­te aber, des­sen Haft durch die Ach­tung, die ihm in das Un­glück folg­te, ge­lo­ckert wor­den war, hat­te den Brief trotz der Spä­her, die ihn be­ob­ach­te­ten, un­be­merkt in sei­ne Woh­nung ge­bracht und las jetzt, wäh­rend der Schritt der Wa­che drau­ßen am Hau­se dro­hend durch die Stil­le er­klang, fol­gen­de Zei­len:

An An­ge­lo Quer­ini.

Ich kann nicht hof­fen, dass Ihr Euch der flüch­ti­gen Stun­de er­in­nert, in der ich Euch per­sön­lich be­geg­net bin. Vie­le Jah­re lie­gen zwi­schen da­mals und heu­te. Ich war mit mei­nen Ge­schwis­tern in der länd­li­chen Stil­le un­se­rer Gü­ter in Fri­aul auf­ge­wach­sen; erst als ich bei­de El­tern ver­lo­ren hat­te, trenn­te ich mich von mei­ner Schwes­ter und dem jün­ge­ren Bru­der. Schon nach we­ni­gen Ta­gen hat­te mich der ver­füh­re­ri­sche Stru­del Ve­ne­digs ver­schlun­gen.

Da wur­de ich ei­nes Ta­ges im Palast Mo­ro­si­ni Euch vor­ge­stellt. Noch füh­le ich den Blick, mit dem Ihr uns jun­ge Leu­te mus­ter­tet, einen nach dem an­de­ren. Euer Auge sag­te: »und das ist das Ge­schlecht, auf des­sen Schul­tern die Zu­kunft Ve­ne­digs ru­hen soll?« – Man nann­te Euch mei­nen Na­men. Un­ver­merkt lenk­tet Ihr das Ge­spräch mit mir auf die große Ver­gan­gen­heit des Staa­tes, dem mei­ne Ah­nen ihre Diens­te ge­wid­met hat­ten. Von der Ge­gen­wart und den Diens­ten, die ich ihm schul­dig blieb, schwiegt Ihr scho­nend.

Seit je­nem Ge­spräch las ich Tag und Nacht in ei­nem Buch, das ich frü­her nie ei­nes Blickes ge­wür­digt hat­te, in der Ge­schich­te mei­nes Va­ter­lan­des. Die Frucht die­ses Stu­di­ums war, dass ich, von Grau­en und Ab­scheu ge­trie­ben, die Stadt für im­mer ver­ließ, die einst Län­der und Mee­re be­herrscht hat­te und nun die Skla­vin ei­ner kläg­li­chen Ty­ran­nis war, nach au­ßen so ohn­mäch­tig, wie un­se­lig und ge­walt­tä­tig nach in­nen.

Ich kehr­te zu mei­nen Ge­schwis­tern zu­rück. Es ge­lang mir, mei­nen Bru­der zu war­nen, ihm die Fäul­nis des Le­bens auf­zu­de­cken, das von fern sich so glei­ßend an­sah. Aber ich dach­te nicht, dass al­les, was ich tat, um ihn und uns zu ret­ten, uns nur um so ge­wis­ser ver­der­ben soll­te.

Ihr kennt die Ei­fer­sucht, mit der die Macht­ha­ber in der Mut­ter­stadt den Adel der Ter­raf­er­ma von je­her be­trach­tet ha­ben. Hat­te man doch in Zei­ten, wo der Re­pu­blik zu die­nen eine Ehre war, nie auf­ge­hört, ein Los­rei­ßen des Fest­lan­des zu fürch­ten. Jetzt, wo ver­schul­de­te und un­ver­meid­li­che Übel eine Än­de­rung der Welt­stel­lung Ve­ne­digs her­bei­ge­führt hat­ten, wur­de jene Furcht die Quel­le der un­er­hör­tes­ten Rän­ke und Fre­vel­ta­ten.

Lasst mich von den Schick­sa­len schwei­gen, die ich in der Nach­bar­schaft mei­ner Pro­vinz mit an­sah, von den aus­ge­such­ten Mit­teln, durch die man die Selbst­stän­dig­keit und Un­ab­hän­gig­keit des Adels von Fri­aul zu bre­chen such­te, von dem Heer der Bra­vi, wel­ches man ge­gen Wi­der­spens­ti­ge schick­te und durch eine Un­zahl von Am­nes­tie­de­kre­ten selbst von der Stra­fe ih­rer ei­ge­nen Ge­wis­sen ent­band. Wie man den Zwist in die Fa­mi­li­en zu tra­gen, Freund­schaf­ten zu ver­gif­ten, Ver­rat und Hin­ter­list im Schoß der engs­ten Bluts­ge­nos­sen­schaft zu er­kau­fen streb­te, das al­les ist Euch län­ger be­kannt als mir.

Und nicht lan­ge soll­te mich das An­den­ken, das ich durch mei­ne lo­cke­ren Sit­ten in Ve­ne­dig zu­rück­ge­las­sen hat­te, vor dem Ver­dacht schüt­zen, dass auch ich ei­nes Ta­ges ge­fähr­lich wer­den könn­te. Als ich für mei­ne Schwes­ter um die Er­laub­nis nach­such­te, die Hand ei­nes vor­neh­men deut­schen Herrn an­zu­neh­men, wur­de die Ein­wil­li­gung der Re­gie­rung rund­weg ver­wei­gert. Man wähn­te mich und mei­nen Bru­der im Ein­ver­ständ­nis mit der kai­ser­li­chen Po­li­tik und be­schloss, uns bü­ßen zu las­sen.

Eine Be­schwer­de der Pro­vinz ge­gen ih­ren Gou­ver­neur, die ich samt dem Bru­der mit un­ter­zeich­ne­te, lie­fer­te der In­qui­si­ti­on den An­lass, das Netz über uns zu wer­fen.

Mein Bru­der wur­de nach Ve­ne­dig ge­ru­fen, sich zu ver­ant­wor­ten. Als er kam, wur­de er un­ter die Blei­dä­cher ge­führt, und vie­le Wo­chen lang such­te man bald durch Dro­hun­gen, bald durch ver­lo­cken­de Aner­bie­tun­gen ihn zu Ge­ständ­nis­sen zu be­we­gen. Je­nen einen Schritt brauch­te er nicht zu be­schö­ni­gen; er war ge­setz­lich. An­de­res hat­te er nicht zu ge­ste­hen, da wir nichts ge­gen den Staat un­ter­nom­men hat­ten. So muss­te man ihn end­lich ent­las­sen. Aber man dach­te nicht dar­an, ihn zu be­gna­di­gen.

Ich selbst hat­te ihn schrift­lich ge­be­ten, nicht so­gleich ab­zu­rei­sen, um nicht neu­en Ver­dacht zu er­we­cken. Wir woll­ten ihn lie­ber ei­ni­ge Mo­na­te län­ger ent­beh­ren. Als er end­lich kam, soll­ten wir ihn nach we­ni­gen Ta­gen für im­mer miss­en. Er er­lag ei­nem lang­sam wir­ken­den Gift, das man ihm in ei­nem der glän­zen­den Häu­ser, die er be­such­te, un­ter die Spei­sen ge­mischt hat­te.

Noch war der Stein über sei­nem Gra­be nicht auf­ge­rich­tet, als der Gou­ver­neur der Pro­vinz mei­ner Schwes­ter sei­ne Hand an­trug. Sie wies sie mit Ent­rüs­tung zu­rück; in ih­rem Schmerz ent­fuh­ren ihr Wor­te, die ih­ren Nach­hall im Saal des In­qui­si­ti­ons­tri­bu­nals fin­den soll­ten.

Eine neue An­stren­gung des Adels von Fri­aul, die Lage des Lan­des zu bes­sern, wur­de be­ra­ten. Ich hielt mich von den ge­hei­men An­stal­ten fern, da ich von ih­rer Frucht­lo­sig­keit über­zeugt war. Aber das böse Ge­wis­sen der Her­ren der Re­pu­blik deu­te­te auf mich, als den am här­tes­ten Ge­trof­fe­nen, der einen Bru­der zu rä­chen hat­te. Ein Hau­fen ge­dun­ge­ner Bra­vi über­fiel nachts un­se­re ein­sa­me Vil­la in den Ber­gen. Ich hat­te nur mei­ne Die­ner zur Ver­tei­di­gung. Als die Elen­den uns wohl­ge­rüs­tet und ent­schlos­sen fan­den, uns nicht leich­ten Kaufs zu er­ge­ben, zün­de­ten sie das Haus an vier Ecken an. Ich mach­te mit mei­nen Leu­ten einen ver­zwei­fel­ten Aus­fall, die Schwes­ter, die selbst eine Pis­to­le trug, in un­se­rer Mit­te. Da streck­te mich ein Schlag ge­gen die Stirn be­sin­nungs­los zu Bo­den.

Erst am Mor­gen wach­te ich auf. Die Stät­te war ein men­schen­lee­rer Trüm­mer­hau­fen, mei­ne Schwes­ter in den Flam­men um­ge­kom­men, mei­ne bra­ven Die­ner teils er­schla­gen, teils in das bren­nen­de Haus zu­rück­ge­trie­ben.

Vie­le Stun­den lag ich so ne­ben dem rau­chen­den Schutt und starr­te in das lee­re Nichts, das mir mei­ne Zu­kunft be­deu­te­te. Erst als ich un­ten im Tal Bau­ern her­an­zie­hen sah, raff­te ich mich auf. Eins wuss­te ich: So­lan­ge man mich am Le­ben glaub­te, wür­de man mich für einen Feind hal­ten und über­all hin ver­fol­gen. Das bren­nen­de Grab war ge­räu­mig ge­nug; wenn ich ver­schwand, wür­de nie­mand zwei­feln, dass auch ich dort bei den Mei­ni­gen aus­ruh­te. Im He­ru­mir­ren auf der Fels­hö­he fand ich die Brief­ta­sche ei­nes mei­ner Be­dien­ten, der aus Bre­s­cia ge­bür­tig und viel in der Welt her­um­ge­fah­ren war. Sei­ne Pa­pie­re la­gen dar­in; ich steck­te sie zu mir, auf alle Fäl­le, und floh durch den dich­ten Klip­pen­wald. Nie­man­dem be­geg­ne­te ich, der mich hät­te ver­ra­ten kön­nen. Als ich mich ver­schmach­tet zu ei­nem trü­ben Wald­see bück­te, sah ich, dass auch mein Äu­ße­res mich nicht ver­ra­ten konn­te. Mein Haar war in der Nacht er­graut; mei­ne Züge wa­ren um vie­le Jah­re ge­al­tert.

In Bre­s­cia an­ge­langt, konn­te ich ohne Schwie­rig­kei­ten mich für mei­nen Die­ner aus­ge­ben, da der­sel­be schon als Kna­be die Stadt ver­las­sen hat­te und dort kei­ne Ver­wand­ten mehr be­saß. Fünf Jah­re lang leb­te ich wie ein licht­scheu­er Ver­bre­cher und ver­mied die Men­schen. Eine Ohn­macht hat­te sich auf mei­nen Geist ge­senkt, als wäre durch je­nen Schlag, der mich zu Bo­den warf, das Or­gan des Wil­lens in mir zer­trüm­mert wor­den.

Dass es nicht zer­stört, son­dern nur ge­lähmt war, emp­fand ich bei der Kun­de von Eu­rem Auf­tre­ten ge­gen das Tri­bu­nal. Mit ei­ner fie­ber­haf­ten Span­nung, die mich ver­jüng­te und mir das Be­wusst­sein mei­ner Le­bens­kraft zu­rück­gab, ver­folg­te ich die Nach­rich­ten aus Ve­ne­dig. Als ich das Schei­tern Eu­res hoch­her­zi­gen Wa­g­nis­ses ver­nahm, sank ich nur auf einen Au­gen­blick in die alte, dump­fe Re­si­gna­ti­on zu­rück. Im nächs­ten Au­gen­blick drang es wie ein Feu­er­strom durch alle mei­ne Sin­ne. Der Ent­schluss stand fest, das Werk, das Ihr auf dem of­fe­nen Wege des Rechts und des Ge­set­zes nicht hat­tet voll­brin­gen kön­nen, auf dem Wege der Ge­walt und ei­ner furcht­ba­ren Not­wehr, mit dem Arm des un­sicht­ba­ren Rich­ters und Rä­chers zum Heil mei­nes teu­ren Va­ter­lan­des hin­aus­zu­füh­ren.

Ich habe die­sen Ent­schluss seit­her un­abläs­sig ge­prüft und mei­ne Ab­sicht un­sträf­lich ge­fun­den. Ich bin mir hei­lig be­wusst, dass nicht Hass ge­gen die Per­so­nen, nicht Ra­che für er­lit­te­nes Leid, nicht ein­mal der ge­rech­te Gram um das Weh, das mei­nen Lie­ben wi­der­fah­ren, mei­nen Arm ge­gen die Ge­walt­her­ren be­waff­net. Was mich be­wegt, für ein gan­zes in Knecht­schaft ver­sun­ke­nes Volk als Ret­ter auf­zu­tre­ten und ein­zeln den Spruch zu voll­stre­cken, der zu an­de­ren Zei­ten vom Ge­samt­wil­len ei­ner frei­en Na­ti­on über un­ge­rech­te, dem Arm des Rich­ters un­er­reich­ba­re Mäch­ti­ge ver­hängt wor­den ist – es ist we­der Ei­gen­sucht, noch eit­le Ruhm­be­gier; es ist nur eine Schuld, die ich durch eine ta­ten­lo­se Ju­gend auf mich ge­la­den habe, und an de­ren Be­zah­lung mich da­mals Euer Blick im Palast Mo­ro­si­ni mahn­te.

Gott, in des­sen Schutz ich mei­ne Sa­che be­feh­le, möge mir als ein­zi­gen Er­satz für al­les, was er mir ge­nom­men, die Gna­de zu­teil wer­den las­sen, dass ich in ei­nem be­frei­ten Ve­ne­dig Euch noch ein­mal die Hand drücken kann. Ihr wer­det die blut­be­fleck­te nicht zu­rück­sto­ßen, die dann in kei­ner Freun­des­hand mehr ru­hen wird; denn wer das Amt des Hen­kers ver­wal­tet hat, ist der Ein­sam­keit ge­weiht und hat den Blick der Men­schen zu mei­den. Gehe ich aber an mei­nem Werk zu­grun­de, so weiß der­je­ni­ge, an des­sen Ach­tung mir am meis­ten ge­le­gen ist, dass es auch in dem jün­ge­ren Ge­schlecht nicht ganz an Män­nern fehlt, die für Ve­ne­dig zu ster­ben wis­sen.

Die­sen Brief wird Euch ein zu­ver­läs­si­ger Mann zu­stel­len, der das Kleid ei­nes Se­kre­tärs der In­qui­si­ti­on mit der Mönchs­kut­te ver­tauscht hat, um durch Fas­ten und Ge­bet die Sün­den der Re­pu­blik zu bü­ßen, de­nen er sei­ne Fe­der lei­hen muss­te. Ver­brennt die­ses Blatt. Lebt wohl!

Can­dia­no.

Als der Ver­bann­te den Brief zu Ende ge­le­sen hat­te, saß er wohl eine Stun­de in tie­fem Kum­mer vor den ver­häng­nis­vol­len Blät­tern. Dann hielt er sie über die Flam­me, streu­te die Asche in den Ka­min und ging ru­he­los bis an den frü­hen Mor­gen auf und nie­der, wäh­rend der Un­glück­li­che, des­sen Beich­te er ver­nom­men, wie ei­ner, des­sen Sa­che ge­recht und des­sen Sach­wal­ter der Him­mel ist, schon längst den Schlaf ge­fun­den hat­te.

Barm­her­zig­keit  <<<

mi­li­tä­risch or­ga­ni­sier­ten Ge­richts­die­ner im Va­ti­kan und der Re­pu­blik Ve­ne­dig  <<<

Die ve­ne­zia­ni­sche Staats­in­qui­si­ti­on war eine Ge­richts­bar­keit der Re­pu­blik Ve­ne­dig, die für Staats­ver­bre­chen wie Hoch­ver­rat, Spio­na­ge, Ge­heim­nis­ver­rat, Sa­bo­ta­ge, Geld­fäl­sche­rei oder Kon­spi­ra­ti­on jeg­li­cher Art zu­stän­dig war. Sie war dem­zu­fol­ge von der kirch­li­chen In­qui­si­ti­on, der Glau­bens­ge­richts­bar­keit, ge­trennt.  <<<

Der Rat der Zehn war seit sei­ner Grün­dung im Jahr 1310 ei­nes der wich­tigs­ten Gre­mi­en im Jus­tiz- und Herr­schafts­sys­tem der Re­pu­blik Ve­ne­dig. Ge­grün­det als au­ßer­or­dent­li­cher Ge­richts­hof, wur­de der Rat der Zehn bald eine stän­di­ge Ein­rich­tung als höchs­tes Ge­richt und obers­te Po­li­zei­be­hör­de. Im Lau­fe des 15. Jahr­hun­derts konn­te sich der Rat der Zehn im­mer mehr Kom­pe­ten­zen an­eig­nen.  <<<

2

Am an­de­ren Tage ging der spä­te An­kömm­ling in der Stra­ße del­la Cor­te­sia zei­tig aus. Das lus­ti­ge Sin­gen Ma­ri­et­tas drau­ßen auf dem Flur hät­te ihn viel­leicht noch län­ger schla­fen las­sen, aber das lau­te Schel­ten der Mut­ter, dass sie einen Lärm ma­che, der einen To­ten er­we­cken kön­ne, und dass sie noch alle Frem­den aus dem Hau­se trei­ben wür­de, er­mun­ter­te ihn völ­lig. Er hielt sich an der Stie­ge, wo sei­ne Wir­tin be­reits auf ih­rem al­ten Pos­ten saß, nur ge­ra­de so lan­ge auf, um sich nach den Woh­nun­gen ei­ni­ger No­ta­re und Ad­vo­ka­ten zu er­kun­di­gen, de­ren Na­men ihm ein Freund in Bre­s­cia auf­ge­schrie­ben hat­te. Als er Be­scheid wuss­te, konn­te we­der die zärt­li­che Sor­ge der Wit­we um sei­ne Ge­sund­heit, noch die rote Schlei­fe, die Ma­ri­et­ta in ihr Haar ge­steckt hat­te, ihn zu län­ge­rem Ver­wei­len be­we­gen, und wäh­rend sich die gute Frau sonst be­müht hat­te, den Ver­kehr ih­rer Miets­leu­te mit ih­rer Toch­ter mög­lichst zu ver­hin­dern, war es ihr jetzt fast un­heim­lich, dass der Frem­de das lie­be Ge­schöpf, ih­ren Aug­ap­fel, hart­nä­ckig über­sah. Sein er­grau­tes Haar er­klär­te ihr die­se selt­sa­me Blind­heit nicht ge­nü­gend. Er muss­te einen ge­hei­men Kum­mer ha­ben oder sich so krank füh­len, dass ihm der An­blick ei­nes fri­schen Le­bens wehe tat. Den­noch ging er straff und rasch, und sei­ne Brust war breit und ge­wölbt, so dass die Krank­heit, von der er sprach, tief im In­nern ih­ren Sitz ha­ben muss­te. Auch sei­ne Ge­sichts­far­be war nicht ver­däch­tig. Wie er die Stra­ßen Ve­ne­digs durch­schritt, zog er den wohl­ge­fäl­li­gen Blick manch ei­nes Frau­en­au­ges auf sich, und auch Ma­ri­et­ta sah ihm aus ei­nem der obe­ren Fens­ter nicht ohne An­teil nach.

Er aber ging in sich ge­kehrt sei­nen Ge­schäf­ten nach, und ob­gleich er sich bei Frau Gio­van­na um­ständ­lich nach dem Weg er­kun­digt hat­te und end­lich über sei­ne Orts­un­kennt­nis durch das Sprüch­lein: »Mit Fra­gen kommt man bis Rom« von ihr ge­trös­tet wor­den war, schi­en er doch jetzt ohne alle Hil­fe sich in dem Netz der Gas­sen und Kanä­le zu­recht­zu­fin­den. Meh­re­re Stun­den ver­gin­gen ihm mit Be­su­chen bei Ad­vo­ka­ten, die aber auf sei­ne Emp­feh­lung von ei­nem Kol­le­gen aus Bre­s­cia we­nig Ge­wicht leg­ten und de­nen er, so be­schei­den er auf­trat, ver­däch­tig vor­kom­men moch­te. Denn al­ler­dings war ein ge­wis­ser Stolz in der Fal­te sei­ner Stirn, der ei­nem schär­fe­ren Beo­b­ach­ter sag­te, dass er die Ar­beit, die er such­te, ei­gent­lich un­ter sei­ner Wür­de hielt. Zu­letzt kam er zu ei­nem No­tar, der in ei­nem Sei­ten­gäss­chen der Mer­ce­ria wohn­te und al­ler­lei Win­kel­ge­schäf­te ne­ben­bei zu trei­ben schi­en. Hier fand er mit ei­nem sehr mä­ßi­gen Ge­halt eine Stel­le als Schrei­ber, vor­läu­fig zum Ver­such, und die has­ti­ge Art, wie er zu­griff, brach­te den Mann zu dem Ver­dacht, er habe es etwa mit ei­nem ver­arm­ten No­bi­le zu tun, de­ren man­cher, nur um das Le­ben zu fris­ten, sich zu je­der Ar­beit wil­lig fin­den ließ, ohne um ih­ren Preis zu han­deln.

An­drea je­doch war au­gen­schein­lich mit dem Er­folg sei­ner Be­mü­hun­gen sehr zu­frie­den und trat, da es in­zwi­schen Mit­tag ge­wor­den war, in die nächs­te Schen­ke, wo er Leu­te aus den un­te­ren Klas­sen an lan­gen un­ge­deck­ten Ti­schen sit­zen sah, die ihre sehr ein­fa­che Kost mit ei­nem Glas trü­ben Weins würz­ten. Er nahm sei­nen Platz in ei­nem Win­kel nahe der Tür und aß die et­was ran­zi­gen Fi­sche ohne Mur­ren, wäh­rend er frei­lich den Wein, nach­dem er ihn ge­kos­tet hat­te, ver­schmäh­te.

Er war schon im Be­griff, nach der Ze­che zu fra­gen, als er sich von sei­nem Nach­bar höf­lich an­re­den hör­te. Der Mann, den er bis­her ganz über­se­hen hat­te, saß schon lan­ge vor sei­ner hal­b­en Fla­sche Wein, aß nichts, trank nur dann und wann einen Schluck, wo­bei er je­des Mal den Mund ein we­nig ver­zog; wäh­rend er aber schein­bar vor Mü­dig­keit die Au­gen halb ge­schlos­sen hielt, wan­der­ten sei­ne schar­fen Bli­cke durch die gan­ze düs­ter­li­che Hal­le und hef­te­ten sich mit be­son­de­rem An­teil an un­se­ren Bre­s­cia­ner, der sei­ner­seits nichts Merk­wür­di­ges an ihm wahr­ge­nom­men hat­te. Es war ein Mann in den Drei­ßi­gen, mit blon­dem, lo­cki­gen Haar, der in der schwar­zen ve­ne­zia­ni­schen Tracht sei­ne jü­di­sche Her­kunft nicht so­gleich ver­riet. In den Ohren trug er schwe­re gol­de­ne Rin­ge, an den Schu­hen Schnal­len mit großen To­pa­sen, wäh­rend sein Hals­kra­gen zer­knit­tert und un­sau­ber, und sein Rock von fei­nem Wol­len­stoff seit Wo­chen nicht ge­bürs­tet war.

»Dem Herrn schmeckt der Wein nicht«, sag­te er halb­laut, in­dem er sich ge­schmei­dig zu An­drea hin­bog. »Der Herr scheint über­haupt nur aus Irr­tum hier zu sein, wo man nicht ge­wohnt ist, Gäs­te von bes­se­rem Stan­de zu be­wir­ten.«

»Um Ver­ge­bung, Herr«, er­wi­der­te An­drea ru­hig, ob­wohl er sich Ge­walt an­tat, über­haupt zu ant­wor­ten, »was wisst Ihr von mei­nem Stan­de?«

»Ich seh es an der Art, wie der Herr isst, dass er eine an­de­re Ge­sell­schaft ge­wohnt ist, als er hier fin­det«, sag­te der Jude.

An­drea maß ihn mit ei­nem fes­ten Blick, vor dem das lau­ern­de Auge des an­de­ren sich senk­te. Dann schi­en ein Ge­dan­ke in ihm auf­zu­stei­gen, der ihn plötz­lich be­wog, dem Zu­dring­li­chen mit ei­ner Art von Ver­trau­lich­keit ent­ge­gen­zu­kom­men.

»Ihr seid ein schar­fer Men­schen­ken­ner«, sag­te er. »Es ist Euch nicht ent­gan­gen, dass ich einst bes­se­re Tage ge­se­hen und einen un­ver­fälsch­ten Wein ge­trun­ken habe. Auch kam ich in gute Ge­sell­schaft, ob­wohl ich der Sohn ei­nes klei­nen Bür­gers bin und nur küm­mer­lich die Rech­te stu­diert habe, ohne einen Ti­tel zu er­wer­ben. Das hat sich ge­än­dert. Mein Va­ter mach­te Bank­rott, ich wur­de arm, und ein ar­mer Ge­richts­schrei­ber und Ad­vo­ka­ten­ge­hil­fe hat auf nichts Bes­se­res An­spruch zu ma­chen, als was er in die­ser Knei­pe fin­det.«

»Ein stu­dier­ter Herr hat im­mer An­spruch auf Ver­eh­rung«, sag­te der an­de­re mit ei­nem sehr ver­bind­li­chen Lä­cheln. »Es wür­de mich glück­lich ma­chen, wenn ich Euer Gna­den einen Dienst er­wei­sen könn­te; denn ich habe stets nach dem Um­gang ge­lehr­ter Män­ner ge­strebt und bei mei­nen vie­len Ge­schäf­ten nicht sel­ten die Ge­le­gen­heit ge­habt, mich ih­nen zu nä­hern. Wenn ich Euer Gna­den vor­schla­gen dürf­te, ein bes­se­res Glas Wein mit mir zu trin­ken, als hier zu ha­ben ist …«

»Ich kann bes­se­ren Wein nicht be­zah­len«, sag­te der an­de­re gleich­gül­tig.

»Es wür­de mir eine Ehre sein, ge­gen den Herrn, der hier fremd scheint, die ve­ne­zia­ni­sche Gast­freund­schaft zu üben. Wenn ich sonst mit mei­nem Ver­mö­gen und mei­ner Orts­kennt­nis dem Herrn ir­gend nütz­lich sein kann …«

An­drea woll­te ihm eben aus­wei­chend ant­wor­ten, als er be­merk­te, dass der Wirt der Schen­ke, der im Hin­ter­grun­de am Kre­denz­ti­sche stand, ihn leb­haft mit dem kah­len Kopf zu sich her­an­wink­te. Auch von den an­de­ren Gäs­ten, die aus Hand­wer­kern, Markt­wei­bern und Ta­ge­die­ben be­stan­den, mach­te ihn man­cher mit ver­stoh­le­nen Zei­chen auf­merk­sam, dass man ihm gern et­was mit­ge­teilt hät­te, was man nicht laut zu sa­gen wag­te. Un­ter dem Vor­wand, erst zu be­zah­len, ehe er auf die höf­li­che Ein­la­dung ant­wor­te­te, ver­ließ er sei­nen Platz und ging mit der lau­ten Fra­ge, was er schul­dig sei, auf den Wirt zu.

»Herr«, flüs­ter­te der gut­mü­ti­ge Alte, »nehmt Euch in acht vor dem. Ihr habt es mit ei­nem Schlim­men zu tun. Die In­qui­si­to­ren be­zah­len ihn, dass er die Heim­lich­kei­ten der Frem­den aus­spürt, die sich hier bli­cken las­sen. Seht Ihr nicht, dass der Win­kel leer ist, wo er Platz ge­nom­men hat? Sie ken­nen ihn alle, und nächs­tens fliegt er ein­mal zur Tür hin­aus, der Gott Abra­hams ge­segn’ es ihm! Ich aber, ob­wohl ich ihn dul­den muss, um mir nicht die Fin­ger zu ver­bren­nen, bin es Euch doch schul­dig, Euch rei­nen Wein ein­zu­schen­ken.«

»Ich dank’ Euch, Freund«, sag­te An­drea laut. »Euer Wein ist ein we­nig trü­be, aber ge­sund. Gu­ten Tag.«

Da­mit kehr­te er auf sei­nen Platz zu­rück, nahm sei­nen Hut und sag­te zu sei­nem dienst­fer­ti­gen Nach­bar: »Kommt, Herr, wenn es Euch ge­fällt. Man sieht Euch hier nicht gern, füg­te er lei­ser hin­zu. Man hält Euch für einen Spi­on, wie ich habe mer­ken kön­nen. Wir wol­len an­ders­wo un­se­re Be­kannt­schaft fort­set­zen.«

Das schma­le Ge­sicht des Ju­den erb­lass­te. »Bei Gott«, sag­te er, »man ver­kennt mich! Aber ich kann es den Leu­ten nicht ver­den­ken, wenn sie auf der Hut sind, denn es wim­melt hier in Ve­ne­dig von Spür­hun­den der Si­gno­ria. Mei­ne Ge­schäf­te, fuhr er fort, als sie schon auf der Gas­se wa­ren, mei­ne vie­len Ver­bin­dun­gen füh­ren mich in so man­che Häu­ser, dass es wohl schei­nen mag, als be­küm­mer­te ich mich um frem­de Ge­heim­nis­se. Gott soll mich le­ben las­sen hun­dert Jahr, aber was ge­hen mich frem­de Leu­te an? Wenn sie mir zah­len, was sie mir schul­dig sind, will ich ein Hund sein, wenn ich ih­nen was nach­re­de.«

»Ich mei­ne aber doch, Herr – wie ist Euer Name?«

»Sa­mu­e­le.«

»Ich mei­ne aber, Herr Sa­mu­e­le, dass Ihr zu übel denkt von de­nen, die zum Bes­ten des Staa­tes die Plä­ne und An­schlä­ge der Bür­ger aus­spä­hen und Ver­schwö­run­gen ge­gen die Re­pu­blik an den Tag brin­gen, ehe sie scha­den kön­nen.«

Der Jude stand still, hielt den an­dern am Är­mel und sah ihn an. »Wa­rum hab’ ich Euch nicht gleich er­kannt?«, sag­te er. »Ich muss­te wis­sen, dass Ihr nicht zu­fäl­lig in jene elen­de Knei­pe ge­ra­ten konn­tet, dass ich einen Kol­le­gen in Euch zu be­grü­ßen hat­te. Seit wann seid Ihr im Amt?«

»Ich? Seit über­mor­gen.«

»Was meint Ihr, Herr? Wollt Ihr mich fop­pen?«

»Wahr­lich nicht«, er­wi­der­te An­drea. »Denn es ist mein vol­ler Ernst, dass ich nächs­tens so weit kom­men wer­de, mich in Eu­ern Or­den auf­neh­men zu las­sen. Es geht mir schlecht, wie ich Euch ge­sagt habe, und ich bin nach Ve­ne­dig ge­kom­men, mei­ne Um­stän­de zu ver­bes­sern. Der Schrei­ber­lohn, um den ich mich heu­te bei ei­nem No­tar ver­dun­gen habe, ist nicht das, was ich hier vom Glück und von mei­nem biss­chen Ver­stand er­hofft habe. Ve­ne­dig ist eine schö­ne Stadt, eine lus­ti­ge Stadt; aber in dem La­chen der schö­nen Wei­ber ist ein Gold­klang, der mich im­mer an mei­ne Ar­mut er­in­nert. Ich den­ke, das kann nicht im­mer so wäh­ren.«

»Euer Ver­trau­en ehrt mich sehr«, sag­te der Jude mit ei­nem nach­denk­li­chen Zug. »Aber ich muss Euch sa­gen, dass die Her­ren nicht gern frem­de An­kömm­lin­ge in ihre Diens­te neh­men, ehe sie eine Pro­be­zeit be­stan­den und sich ein we­nig um­ge­se­hen ha­ben. Wenn ich Euch bis da­hin mit mei­ner Bör­se aus­hel­fen kann – ich neh­me nied­ri­ge Pro­zen­te von mei­nen Freun­den.«

»Ich dank’ Euch, Herr Sa­mu­e­le«, er­wi­der­te An­drea gleich­mü­tig. »Eure Pro­tek­ti­on ist mir wert­vol­ler, der ich mich hier­mit bes­tens emp­foh­len ha­ben will. Dies aber ist mein Haus; ich nö­ti­ge Euch nicht hin­ein, weil ich Ar­beit vollauf habe für mei­nen neu­en Bro­therrn. An­drea Del­fin ist mein Name. Wenn es Zeit ist, dass man mich brau­chen kann, denkt an mich: An­drea Del­fin, Cal­le del­la Cor­te­sia.«

Er schüt­tel­te dem selt­sa­men Freun­de die Hand, der drau­ßen noch eine Wei­le ste­hen blieb, sich das Haus und die nächs­te Um­ge­bung ge­nau an­sah und da­bei mit ei­ner Mie­ne des Zwei­fels und der lis­ti­gen Über­le­gung vor sich hin­mur­mel­te, aus der her­vor­ging, dass er den Bre­s­cia­ner von sei­ner Pro­be­zeit nicht so rasch frei­spre­chen wür­de.

Als An­drea die Trep­pe hin­auf­stieg, konn­te er an Frau Gio­van­na nicht vor­über, ohne ihr Rede zu ste­hen. Sie war nicht da­mit zu­frie­den, dass er nur einen so ge­rin­gen Platz ge­fun­den hat­te. Sie wer­de nicht ru­hen, bis er ihn auf­ge­ge­ben und sich einen ein­träg­li­che­ren und eh­ren­vol­le­ren ge­sucht habe. Er schüt­tel­te den Kopf. »Es reicht wohl, gute Frau«, sag­te er ernst­haft, »für die Span­ne Zeit, die ich noch vor mir habe.«

»Was Ihr auch re­det!«, schalt die Frau. »Dem Gu­ten ent­ge­gen­ge­hen und das Böse kom­men las­sen, so ziemt sich’s für einen Mann, und nach Ho­nig schleckt man, nach Wer­mut spuckt man. Seht die schö­ne Son­ne drau­ßen und schämt Euch, dass Ihr schon nach Hau­se kommt, wäh­rend auf der Pi­az­zet­ta Mu­sik ist und al­les, was hübsch und reich und vor­nehm ist, den Mar­kus­platz auf und ab spa­ziert. Da ge­hö­ret Ihr hin, Herr An­drea, statt ins Zim­mer.«

»Ich bin we­der hübsch, noch reich, noch vor­nehm, Frau Gio­van­na.«

»Habt Ihr denn gar kei­ne Freu­de, die schö­ne Welt zu se­hen?«, frag­te sie eif­rig, und sah sich da­bei um, ob Ma­ri­et­ta nicht etwa in der Nähe sei. »Ihr seid doch nicht etwa lie­bes­krank?«

»Nein, Frau Gio­van­na.«

»Oder hal­tet Ihr’s gar für eine Sün­de, lus­tig zu sein? Ihr habt da so Büch­lein auf Eu­rem Tisch lie­gen, ich sag’ es nur, weil Ihr der ers­te Frem­de seid, der in mein Haus ein er­bau­li­ches Buch mit­ge­bracht hat, Gott sei’s ge­klagt! Aber die Ju­gend denkt heut­zu­ta­ge: Frech ge­lebt und fromm ge­stor­ben, heißt dem Teu­fel den Spaß ver­dor­ben, und um Weih­nach­ten fas­ten auch die Spat­zen auf dem Dach.«

»Gute Frau«, sag­te er lä­chelnd, »ihr sorgt Euch sehr um mich, aber mir ist nicht zu hel­fen. Wenn ich still bei mei­ner Ar­beit sit­ze, ist mir am wohls­ten, und Ihr könn­tet mir einen Ge­fal­len tun, mir ein Schreib­zeug zu schaf­fen und ei­ni­ge Bo­gen Pa­pier.«