Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays - Stanislaw Przybyszewski - E-Book

Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays E-Book

Stanislaw Przybyszewski

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Beschreibung

In "Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays" versammelt Stanislaw Przybyszewski eine Vielzahl seiner literarischen Schöpfungen, die durch ihre tiefe psychologische Einsicht und den Einfluss der Symbolik geprägt sind. Die Texte unternehmen eine fesselnde Entdeckungsreise in das Wesen der menschlichen Existenz und die Abgründe der Seele. Przybyszewski, ein zentraler Vertreter des fin-de-siècle, nutzt eine ausgefeilte Sprache und eine dichte narrative Struktur, um universelle Themen wie Liebe, Tod und die Suche nach Identität literarisch zu erkunden. Seine Werke reflektieren die kulturellen und philosophischen Strömungen seiner Zeit, insbesondere den Einfluss des Dekadentismus und des Expressionismus. Stanislaw Przybyszewski (1868-1927) war ein polnischer Schriftsteller und Dramatiker, dessen Leben geprägt war von seinen intensiven Auseinandersetzungen mit Kunst und Philosophie. Als einflussreiche Figur der Warschauer Bohème und Freund von Persönlichkeiten wie Stanisław Wyspiański und Witkacy reflektiert sein Werk die Spannungen und Herausforderungen der modernen Zivilisation. Przybyszewski, bekannt für seine kontroversen Ansichten zur Moral und zur Kunst, wird oft als Brücke zwischen der romantischen Tradition und der modernen Literatur betrachtet. Diese gesammelten Werke sind eine unverzichtbare Lektüre für jeden Literaturliebhaber, der sich für die tiefen Fragestellungen der menschlichen Natur und die Komplexität der existenziellen Erfahrungen interessiert. Der Leser wird eingeladen, in Przybyszewskis faszinierende Welt einzutauchen, die sowohl provokant als auch erhellend ist. Lassen Sie sich inspirieren von einem Meister der Worte und einer Zeit, die auch heute noch nachhallt. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Eine umfassende Einführung skizziert die verbindenden Merkmale, Themen oder stilistischen Entwicklungen dieser ausgewählten Werke. - Ein Abschnitt zum historischen Kontext verortet die Werke in ihrer Epoche – soziale Strömungen, kulturelle Trends und Schlüsselerlebnisse, die ihrer Entstehung zugrunde liegen. - Eine knappe Synopsis (Auswahl) gibt einen zugänglichen Überblick über die enthaltenen Texte und hilft dabei, Handlungsverläufe und Hauptideen zu erfassen, ohne wichtige Wendepunkte zu verraten. - Eine vereinheitlichende Analyse untersucht wiederkehrende Motive und charakteristische Stilmittel in der Sammlung, verbindet die Erzählungen miteinander und beleuchtet zugleich die individuellen Stärken der einzelnen Werke. - Reflexionsfragen regen zu einer tieferen Auseinandersetzung mit der übergreifenden Botschaft des Autors an und laden dazu ein, Bezüge zwischen den verschiedenen Texten herzustellen sowie sie in einen modernen Kontext zu setzen. - Abschließend fassen unsere handverlesenen unvergesslichen Zitate zentrale Aussagen und Wendepunkte zusammen und verdeutlichen so die Kernthemen der gesamten Sammlung.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Stanislaw Przybyszewski

Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays

Bereicherte Ausgabe. Leidenschaft und Drama im Fin de Siècle
In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen
Einführung, Studien und Kommentare von Nolan Shepherd
Bearbeitet und veröffentlicht von Good Press, 2023
EAN 8596547804192

Inhaltsverzeichnis

Einführung
Historischer Kontext
Synopsis (Auswahl)
Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays
Analyse
Reflexion
Unvergessliche Zitate

Einführung

Inhaltsverzeichnis

Diese Sammlung versammelt zentrale Romane, maßgebliche Erzählungen und prägende Essays von Stanislaw Przybyszewski in einer einzigen, konzentrierten Ausgabe. Sie verfolgt das Ziel, die Spannweite seines deutschsprachigen Schaffens sichtbar zu machen und die innere Verzahnung von Dichtung, Poetik und Ideenprosa erfahrbar zu machen. Nicht als vollständige Gesamtausgabe konzipiert, bietet sie dennoch einen repräsentativen Zugriff auf Werkphasen, Themenfelder und Ausdrucksmodi, die seinen Rang innerhalb der europäischen Moderne begründet haben. So entsteht ein Leseraum, in dem sich die großen Linien seiner Obsessionen und Erkenntniswege verfolgen lassen, ohne den Blick für die Eigenständigkeit der einzelnen Texte zu verstellen.

Die Romane entfalten psychologische Dramen von hoher Intensität, in denen Identität, Verführung, Schuld und Selbstzerstörung als innere Prozessualität sichtbar werden. Die Erzählungen zeigen die Kurzprosa in ihrer ganzen Bandbreite: von visionär-symbolistischen und existenziell zugespitzten Stücken bis zu leisen, doch unerbittlichen Studien der Grenzsituationen. Die Essays verbinden ästhetische Reflexion mit scharf konturierten Positionen zur Psychologie des Individuums, zu Musik, Philosophie und Bildender Kunst. Gemeinsam ergeben diese drei Gattungsfelder ein Panorama der Formen, in denen Przybyszewski seine Fragestellungen variiert, kontrastiert und wechselseitig beleuchtet – einmal dramatisch auskomponiert, dann verdichtet, schließlich argumentativ entfaltet.

Über die Gattungen hinweg kreisen die Texte um das Ringen des Individuums mit sich selbst: zwischen Ekstase und Absturz, Begehren und Verzicht, Selbstbehauptung und Preisgabe. Das Sakrale und das Profane, Reinheit und Verderbnis, Treue und Verrat stehen nicht als starre Gegensätze, sondern als ineinander verschränkte Kräfte, die einander rufen und bedrohen. Motive der Verdoppelung, des Androgynen und der Maskierung verweisen auf unruhige Identitäten, die erst im Durchgang durch Grenzerfahrungen Kontur gewinnen. Der wiederkehrende Bezug auf das Dämonische fungiert dabei weniger als Dogma denn als erkenntniskritisches Instrument, das verborgene Schichten der Erfahrung freilegt.

Stilistisch kennzeichnen die Prosa eine suggestive Musikalität, rhythmisierte Perioden und eine Bildsprache, die Vision und Körperlichkeit engführt. Innere Monologe, beschwörende Wiederholungsfiguren und schnelle Perspektivwechsel erzeugen einen Sog, in dem Reflexion und Affekt untrennbar werden. Die Erzählungen arbeiten mit symbolischen Verdichtungen und abrupten Hell-Dunkel-Kontrasten. Die Essays sind energisch und präzise zugespitzt, streben aber trotz Polemik nach begrifflicher Klärung. Immer wieder werden rhetorische Intensität und analytische Schärfe ineinander geschoben: Beobachtungen des seelischen Ausnahmezustands werden formal nachvollzogen, sodass Stil als Erkenntnismittel auftritt und nicht bloß ornamentale Beigabe bleibt.

Die Sammlung zeigt, wie sich fiktionale und essayistische Arbeit wechselseitig spiegeln. Thesen der Essays erhalten in den Romanen erzählerische Temperatur und erfahrbare Konsequenz; die Erzählungen wiederum dienen als Labor, in dem Motive auf ihre tragende Form getestet und verschoben werden. In den kunst- und musikbezogenen Essays öffnen sich Resonanzräume, die auch das Narrativ prägen: Ton, Rhythmus und Bildlogik wandern als Verfahren in die Prosa. Diese innere Zirkulation zwischen Argument, Figur und Metapher macht die Lektüre über die Grenzen der Einzeltexte hinweg produktiv und lässt ein geschlossenes, zugleich bewegliches Denk- und Formsystem erkennen.

Im Horizont der europäischen Moderne um 1900 verhandeln diese Texte Krisen- und Umbruchserfahrungen, deren Fragestellungen fortwirken: Selbstentwurf versus Determination, Sinnsuche angesichts widersprüchlicher Werteordnungen, das Verhältnis von Kunst, Moral und Erkenntnis. Przybyszewski antwortet darauf nicht mit Lehrsätzen, sondern mit Konstellationen, die Zwiespalt und Ambivalenz ernst nehmen. So entsteht eine Literatur der Zuspitzung und des Risikos, die poetische Form als Prüfstand der Erfahrung begreift. Gerade darin liegt ihre bleibende Aktualität: Die Texte stellen nicht nur dar, sie erproben und exponieren – und machen die Unruhe, aus der sie hervorgehen, methodisch fruchtbar.

Diese Edition lädt zu verschiedenen Lektüregängen ein: Wer das narrative Kontinuum sucht, beginnt mit den Romanen; wer die Verdichtung bevorzugt, greift zu den Erzählungen; wer den gedanklichen Unterstrom erkunden will, findet ihn in den Essays. In jeder Richtung werden Motive wiederkehren und sich verändern, sodass Verknüpfungen sichtbar werden, die einzelne Texte übersteigen. Ziel ist es, das Werk nicht zu zerlegen, sondern in seiner inneren Bewegtheit erlebbar zu machen. Die Sammlung versteht sich als Angebot, die Eigenarten der Formen zu würdigen und zugleich das übergreifende Projekt zu erkennen, das sie miteinander verbindet.

Historischer Kontext

Inhaltsverzeichnis

Stanisław Przybyszewski (7. Mai 1868, Łojewo – 23. November 1927, Jaronty) war eine Schlüsselfigur der mitteleuropäischen Moderne zwischen Fin de Siècle und früher Avantgarde. Er schrieb auf Deutsch und Polnisch Romane, Erzählungen und Essays; viele Texte kursierten in beiden Sprachen und erreichten Leserschaften in Berlin, Krakau und Warschau gleichermaßen. Seine prosa-psychologischen Experimente, kunsttheoretischen Abhandlungen und liturgisch grundierten Erzählungen entstanden in einer Epoche tiefgreifender Umbrüche: Industrialisierung, Säkularisierung, neue Medien und eine sichtbar entgrenzte Großstadtkultur. Der thematische Kern des Gesamtwerks – Sexualität, Rausch, Schuld, Metaphysik und das autonome Ich – entstand aus der unmittelbaren Begegnung mit den ästhetischen, philosophischen und gesellschaftlichen Konfliktlagen der Jahre 1890 bis 1920.

Przybyszewskis Berliner Jahre (vor allem 1892–1898) situieren das Œuvre im Zentrum der nordeuropäischen Bohème. Im Kreis des Cafés „Zum Schwarzen Ferkel“ verkehrte er mit Edvard Munch, August Strindberg, Richard Dehmel und der Norwegerin Dagny Juel, die er 1893 heiratete. Die geschlossene Munch-Ausstellung der Berliner Künstlervereinigung im November 1892, die einen Skandal auslöste, wurde ästhetisch programmatisch; sein Traktat „Das Werk des Edvard Munch“ verteidigt diese neue, seelenanalytische Bildsprache. Aus dieser Konstellation erwuchs eine Poetik der „nackten Seele“, die in Romanen, Erzählungen und Essays gleichermaßen die inneren Abgründe und die ekstatische Selbstentgrenzung der Großstadtmoderne fokussiert, zwischen Atelier, Café, Klinik und Kathedrale.

Die philosophische Matrix des Gesamtwerks verbindet Schopenhauer und Nietzsche mit naturwissenschaftlichen und psychologischen Diskursen der Jahrhundertwende. Nach Nietzsches Also sprach Zarathustra (1883–1885) formulierte der Autor eine radikale Ethik der Selbstbehauptung, während Schopenhauers Wille-Lehre die metaphysische Grundspannung liefert. Zeitgleich prägten klinische Fallstudien von J.-M. Charcot und Pierre Janet sowie die sexologische Pathographie von Richard von Krafft-Ebing (Psychopathia sexualis, 1886) die Sprache des Triebs. Freud publizierte 1900 Die Traumdeutung; Przybyszewski tastete bereits zuvor in Essays wie Zur Psychologie des Individuums (frühe 1890er Jahre, Berlin) die Zonen des Unbewussten ab. Musik- und Ideenkritik, etwa zu Chopin und Nietzsche, verorten Ästhetik als Erkenntnispraxis.

Zum fin de siècle gehört die okkulte Renaissance: die Theosophische Gesellschaft (gegründet 1875 von Helena P. Blavatsky), Debatten um Spiritismus, sowie die französischen Okkultisten Jules Bois und Stanislas de Guaita. In diesem Klima entstanden seine Satanismus-Essays (Die Synagoge des Satan; Die Entstehung der Satanskirche; Der Kult der Satanskirche), die historische Genealogien des Bösen mit moderner Psychologie kreuzen. Zugleich verweist die dichte Liturgiesprache vieler Erzählungen auf katholische Riten – Begriffe wie Introibo, Totenmesse oder In hac lacrimarum valle stammen aus der Messe und dem Salve Regina. Die Spannung zwischen Dogma, Häresie und Esoterik bildet einen gesamtkünstlerischen Resonanzraum für metaphysische Grenzerfahrungen.

Die polnische Moderne formierte sich um 1898 in Kraków: In der Zeitschrift Życie (1898–1900) wurde unter Artur Górskis Programmartikeln der Name Młoda Polska geprägt; Przybyszewski prägte als Redakteur und Autor Tonfall und Agenda. Mit Stanisław Wyspiański, Jan Kasprowicz und Kazimierz Przerwa-Tetmajer verband ihn eine Ästhetik des Symbolismus, der Dekadenz und des psychischen Extremzustands. Zakopane wurde um 1900 zum Labor künstlerischer Experimente und gesellschaftlicher Skandale; der öffentliche Wirbel um den Kasprowicz-Kreis und die Presseaffären schärften die Wahrnehmung von Erotik, Verrat und kreativer Selbstzerstörung. Die Ermordung Dagny Juels am 5. Juni 1901 in Tiflis verdichtete biographisch jene Todesnähe, die viele Texte atmosphärisch durchzieht.

Poetologisch steht das Gesamtwerk an der Schnittstelle von Naturalismus, Symbolismus und frühem Expressionismus. Verfahren wie innerer Monolog, fragmentierte Komposition und Motivwiederholung formen eine Prosa der Intensitäten. Die nordische Bildwelt – Winterlicht, Meer, helle Nächte – stammt aus skandinavischen Kontakten ebenso wie die drastische Psychologie Strindbergs. Anspielungen auf Edgar Allan Poe und Charles Baudelaire markieren die Genealogie der modernen Horrorschönheit. Viele Stücke existieren in deutscher Erstfassung und polnischer Selbstübersetzung; diese doppelte Zirkulation beeinflusste Rhythmus und Vokabular. Musik dient als Denkfigur: Chopins „sprechende“ Harmonik wird mit nietzscheanischem Pathos verschränkt, wodurch Stil und Argumentation gleichermaßen auf Ekstase, Fall und Wiederkehr zielen.

Politisch wuchs der Autor im preußischen Teilungsgebiet auf; Kulturkampf- und Nationalitätskonflikte prägten Sprachwahl und Themen. Die Jahre des Ersten Weltkriegs (1914–1918) und die polnische Unabhängigkeit 1918 verschoben die literarischen Öffentlichkeiten. Nach 1918 bekleidete Przybyszewski kulturadministrative Funktionen in Großpolen, insbesondere in Poznań und später in Bydgoszcz, und verankerte die Moderne institutionell. Die zweisprachige Publikationspraxis blieb ein Mittel, zwischen polnischer Identitätsfindung und internationaler Avantgarde zu vermitteln. Seine letzten Lebensjahre führten ihn in die Kujawien-Region zurück; er starb am 23. November 1927 in Jaronty bei Inowrocław. Das Spätwerk reflektiert zunehmend die Kollision von metaphysischer Sehnsucht und politischer Ernüchterung.

Rezeption und Nachwirkung oszillieren zwischen Faszination und Skandal. Bereits in den 1890er Jahren stießen die Exzesse des Ich, sexuelle Devianz und Satanismus auf moralische Gegenwehr, zugleich wurden stilistische Innovationen von jüngeren Expressionisten im deutschen Sprachraum registriert. In Polen bestimmte sein Programm der „nackten Seele“ die Frühphase von Młoda Polska; Literatur, Bildende Kunst und Theater reagierten interdisziplinär. Die Nähe zu Munch, die Berliner Netzwerke und die tragische Dagny-Juel-Geschichte speisten den Mythos des „verfluchten“ Künstlers. Seit dem späten 20. Jahrhundert erfährt das Werk im Kontext von Gender-, Religions- und Mediengeschichte neue Lektüren, die es als Labor der Moderne zwischen Ritual, Rausch und Analyse verstehen.

Synopsis (Auswahl)

Inhaltsverzeichnis

Homo sapiens

Porträt eines bohemienhaften Intellektuellen, dessen erotische Obsessionen, Eifersucht und Selbstzerstörung das Milieu der Décadence freilegen.

Über Bord

Psychologischer Roman über einen Mann, der im Sog von Schuld, Rausch und Begierde 'über Bord' gerät; Stationen eines moralischen und sozialen Abstiegs.

Unterwegs

Episodische Sinnsuche eines Rastlosen, der zwischen Städten und Beziehungen treibt und unterwegs seine Identität zu verlieren droht.

Im Malstrom

Abstieg in Obsession und Wahnsinn, gespiegelt in der Bildwelt eines Mahlstroms, der den Helden unwiderstehlich in die Tiefe zieht.

Satans Kinder

Düstere Fallstudien von Außenseitern und Entwurzelten, in denen Erbsünde, Trieb und soziale Verwahrlosung als Signaturen der Moderne erscheinen.

Der Schrei

Expressionistische Eifersuchts- und Angststudie, die das Zerbrechen des Ichs in intensiven Seelenbildern verdichtet.

Erdensöhne

Naturalistisches Sittenbild über Menschen, die von Herkunft, Körperlichkeit und Aberglauben gezeichnet sind; Fatalismus zwischen Trieb und Moral.

Erzählungen – liturgisch‑mystische Prosa (Totenmesse; Vigilien; De profundis; Introibo; In Hac Lacrymarum Valle / In diesem Erdental der Tränen)

Visionäre Innenmonologe an der Schwelle von Tod und Sakrament, in denen Schuld, Sünde und Erlösungssehnsucht in liturgischer Sprache verhandelt werden.

Erzählungen – Liebe und Identität (Epipsychidion; Androgyne)

Erkundungen idealisierter wie zerstörerischer Liebe; Androgynie, Doppelgänger und Spaltung des Selbst als Motive zerrissener Identität.

Erzählungen – Natur- und Grenzerfahrungen (Am Meer – beide Fassungen; Helle Nächte; Sonnenopfer; Himmelfahrt)

Stimmungsdichtungen von Meer, Licht und Ritus, in denen Ekstase, Opfer und Transzendenz die Grenzen des Ichs durchlässig machen.

Zur Psychologie des Individuums

Skizze einer radikalen Psychologie, die Trieb, Unterbewusstes und krankhafte Ausnahmezustände als Motoren von Kunst, Schuld und Genialität beschreibt.

Chopin und Nietzsche

Parallellektüre von Musik und Philosophie der Moderne; stellt Chopins subjektive Beichte dem dionysischen Aufruhr bei Nietzsche gegenüber.

Ola Hansson

Porträt und Verteidigung eines skandinavischen Symbolisten; plädiert für radikalen Individualismus und erotische Wahrhaftigkeit als ästhetisches Programm.

Essays – Satanskirche-Schriften (Die Synagoge des Satan [Die Gnosis des Bösen]; Die Entstehung der Satanskirche; Der Kult der Satanskirche)

Genealogie und Systematik des 'Bösen' von Gnosis und Häresie bis zur modernen 'Satanskirche'; entwickelt Lehre, Institution und Ritus als Gegenreligion der Negation und Befreiung.

Das Werk des Edvard Munch

Programmschrift zur Bildsprache von Angst, Eros und Tod; liest Linien und Farben als psychische Diagramme einer zerrissenen Moderne.

Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays

Hauptinhaltsverzeichnis
Romane:
Homo sapiens
Über Bord
Unterwegs
Im Malstrom
Satans Kinder
Der Schrei
Erdensöhne
Erzählungen:
Totenmesse
Vigilien
De profundis
Epipsychidion
Introibo
Sonnenopfer
Helle Nächte
Am Meer
Androgyne
In diesem Erdental der Tränen
Am Meer
In Hac Lacrymarum Valle
Himmelfahrt
Essays:
Zur Psychologie des Individuums
Chopin und Nietzsche
Ola Hansson
Die Synagoge des Satan (Die Gnosis des Bösen)
Die Entstehung der Satanskirche
Der Kult der Satanskirche
Das Werk des Edvard Munch

Romane

Inhaltsverzeichnis

Homo sapiens

(Romantrilogie)

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Über Bord
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
XIII.
XIV.
XV.
XVII.
XVIII.
Unterwegs
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
XIII.
Im Malstrom
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
XIII.
XIV.
XV.

Über Bord

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung des Verfassers.

Dem BildhauerGustav Vigeland gewidmet

Ich war durch verschiedene Umstände veranlaßt, das, was organisch zusammengehört, in einzelne Stücke zu zerreißen und die drei Teile des »Homo sapiens« einzeln herauszugeben. So kam es, daß der erste Teil zuletzt erscheint, aber es ist selbstverständlich, daß Menschen, die nicht die ehrliche Absicht haben, mich von vornherein mißzuverstehen, die Romanserie »Homo sapiens« jetzt im Zusammenhange noch einmal lesen und nicht einzelne Teile, sondern das Ganze beurteilen werden.

I.

Inhaltsverzeichnis

Falk sprang wütend auf.

Was war es denn?

Er wollte nicht in der Arbeit gestört werden, jetzt grade, wo er sich endlich entschlossen hatte, wieder zu arbeiten.

Gott sei Dank! Kein Freund. Nur ein Postbote.

Er wollte die Karte wegwerfen. Es hat Zeit. Da plötzlich: Mikita!

Es wurde ihm ganz heiß.

Mikita, mein teurer Mikita.

Er überflog die Karte: »Sei morgen Nachmittags zu Hause. Ich bin von Paris zurück.«

So viel hat er wohl schon lange nicht geschrieben, seit er sich vor vielen Jahren den berühmten Aufsatz geleistet hatte.

Falk lachte herzlich auf.

Dieser wunderbare Aufsatz! Daß er damals nicht ausgewiesen wurde ...

Neujahrseindrücke, abgefaßt in Form einer Neujahrsgratulation in den überschwenglichsten Phrasen; jeder Satz zwei Seiten lang.

Und dann. Nein, war das herrlich. Der alte Fränkel ... Wie er schimpfte! Nun, die Geschichte war brenzlich ...

Falk dachte nach, wie er Mikita überredet hatte, eine Apologie zu schreiben, in der ein wunderbarer Kalauer als Grunddominante durchging: Was einem Schiller erlaubt ist, sollte einem Schüler nicht erlaubt sein?

Und dann, am nächsten Tage. Sie schrieben die Apologie die ganze Nacht hindurch, legten sich am frühen Morgen schlafen und schickten zum Fränkel ein Entschuldigungsschreiben.

Falk konnte es noch nicht verstehen, wie so etwas durchgehen konnte.

Diese famose Entschuldigung: Es sei selbstverständlich, daß man in die Schule nicht kommen könne, wenn man die ganze Nacht hindurch an der Apologie gearbeitet habe.

Zwanzig Seiten lang ...

Nun mußte er aber arbeiten.

Er setzte sich wieder hin, aber die Arbeitsstimmung war vorbei. Er suchte sich zu zwingen, fischte ordentlich nach den Gedanken, kaute an dem Federhalter, schrieb auch ein paar Zeilen, die vollkommen banal waren: nein, es ging nicht.

Ein andres Mal hätte er sicherlich eine jener bekannten Grabesstimmungen bekommen, die er im Alkohol ersäufen mußte. Diesmal war er froh.

Er lehnte sich in den Stuhl zurück.

Deutlich sah er die furchtbare Mansarde, in der sie beide das letzte Jahr im Gymnasium gewohnt hatten. In der einen Wand drei Fenster, die nie geöffnet werden durften, weil sonst die Gefahr vorlag, daß die Scheiben rausfliegen könnten. Alle Wände mit Schimmelpilzen über und über bedeckt. Und kalt, daß sich Gott erbarme.

Wie sie einmal am frühen Morgen erwachten und sich erstaunt in dem Zimmer umsahen:

– Merkwürdig frische Luft hier, sagte Mikita.

– Ja, merkwürdig.

Und es war ein Staunen ohne Grenzen über dies seltsame Phänomen.

Ja, nachher wurde es klar. Es war eine Kälte, daß die Vögel erstarrt aus der Luft fielen.

Falk stand auf. Ja, das waren doch seine schönsten Erinnerungen.

Und der lange Kerl, der ihnen immer alle Bücher ausführte, wie hieß er doch nur?

Er konnte sich lange nicht auf den Namen besinnen. Ja endlich: Longinus.

Sonderbarer Mensch.

Falk dachte nach, wie Mikita sich heimlich zu der stets verschlossenen Bude des Longinus Zugang verschafft und ihm ein Buch weggenommen hatte, das er ihm nicht leihen wollte.

Plötzlich an einem Sonntag – ja, es war wohl wieder frische Luft im Zimmer ... Er wachte auf. Seltsame Szenerie: Mikita im Hemde, den Türschlüssel in der Hand, Longinus aufs Höchste empört, zitternd vor Wut.

– Mach die Tür auf! zischte Longinus mit theatralischem Pathos.

– Leg das Buch wieder hin, dann werd ich Dir aufmachen.

Longinus in Heldenpose mit großen Kothurnenschritten hin und her, hin und her.

– Mach die Tür auf! brüllte er heiser.

– Leg das Buch zurück.

Longinus schäumte. Plötzlich kam er an Falk heran.

– Du bist ein feiner, gebildeter Mann. Du kannst doch nicht leiden, daß ich in meinem Rechte nach irgend welcher Richtung hin beeinträchtigt werde.

Ja, Longinus pflegte immer in sehr gewählter und wohlgesetzter Rede zu sprechen.

– Ja, bedaure, Mikita hat den Schlüssel.

Nun schritt Longinus feierlich an Mikitas Bett heran:

– Ich spreche Dir jede Art Bildung ab.

Das war das größte Schimpfwort, das er je ausgesprochen hatte.

– Mach die Tür auf. Ich bin vergewaltigt und überlasse Dir das Buch.

Gott! wie sie gelacht haben. Und es war Sonntag. Sie sollten eigentlich in der Kirche sein. Die Kirche hatten sie immer geschwänzt. Sie waren doch gar zu überzeugungstreue Atheisten.

Aber gefährlich war es. Der fanatische Religionslehrer spionierte in der Kirche herum ...

Ha, ha, ha.

Falk dachte, wie er einmal in der Kirche seiner »Flamme« gegenübersaß – ja, er saß auf dem Katafalke, wollte recht graziös und interessant erscheinen und verharrte die ganze endlose Messe hindurch in einer recht unbequemen Stellung, in der er einmal Byron auf dem Grabe Shelleys abgebildet gesehen hatte.

Gab das einen Skandal!

Nun wollte er sich wieder zur Arbeit aufraffen, aber er konnte die Gedanken nicht sammeln. Das flog und schwirrte alles in seinem Gehirne herum um diese herrliche Zeit.

Er kaute gedankenlos an dem Federhalter und wiederholte: War das eine herrliche Zeit!

Wie sie plötzlich Ibsen entdeckt hatten, wie ihnen »Brand« den Kopf verdrehte.

Alles geben oder Nichts! Ja, nun wurde das ihre Parole.

Und sie suchten die Spelunken der Armen auf und scharten die Proletarierkinder um sich herum.

Wieder sah sich Falk in der Mansarde.

Fünf Uhr Morgens. Ein Gepolter von Holzschuhen auf den Treppen, als ob man eine Kanone nach oben schleppte.

Dann wurde die Türe aufgemacht und nun im Gänsemarsch: ein Junge, ein Mädchen – zwei Jungen – zwei Mädchen, die ganze Stube voll.

Alles am Ofen um den großen Eichentisch herum.

– Mikita, steh auf! Ich bin wahnsinnig müde.

Mikita fluchte.

Er könne nicht aufstehen. Er habe die ganze Nacht an dem lateinischen Aufsatz gearbeitet.

Mit einem Ruck waren sie beide auf, ganz wütend und haßerfüllt gegen einander.

Das Zähneklappern in dieser Kälte!

Und nun: er am Ofen, prustend und fluchend, weil das Holz kein Feuer fangen wollte, Mikita an dem großen Milchkessel, den er mit Spiritus erwärmte.

Allmählich wurden sie weicher gestimmt.

Die Kinder wie junge Raubtiere über die Milch und das Brot her – Mikita, von der Seite, strahlend, glücklich.

Und dann: Kinder hinaus!

Jetzt sahen sie sich regelmäßig freundlich an.

Falk wurde es ganz warm ums Herz.

Er hatte das längst vergessen. Es stak, weiß Gott, ein großer, schöner Inhalt da drin.

Dann, gewöhnlich Scham, weil sie sich auf Sentimentalität – nein, Ästhetik nannten sie es – ertappen ließen, und schließlich Zank.

– Nibelungenlied ist doch eigentlich ein leeres, dummes Gewäsch. Mikita kannte Falks schwache Seiten sehr gut.

Das wollte er selbstverständlich nicht zugeben. Er disputierte mit unglaublichem Eifer und schnitt das Brot zum Frühstück.

Mikita war schlau. Er verwickelte Falk immer in einen Disput und ließ sich das Brot schneiden, weil Falk im Eifer niemals merkte, wie beschwerlich es war.

Und plötzlich: Herrgott, zwei Minuten über voll. Die Bücher zusammengerafft und in eiligstem Galopp in die Schule. Er voran, Mikita hinterdrein, humpelnd. – Ob er das Überbein jetzt kuriert hatte? Nun merkte Falk gewöhnlich, daß er hungrig war, Mikita hatte das ganze Brot aufgegessen – der herrliche Kerl.

Dann ...

Falk stockte.

»Brand« aufs Erotische übertragen. Alles oder Nichts ...

Er stockte wieder.

Er hatte eigentlich Janinas ganze Zukunft zerstört. – Hm, warum sie nur von ihm nicht lassen konnte? Und wie er sie gequält hatte mit den Brandschen Forderungen und der Brandschen Härte.

Ja, er mußte wohl eine Art Hypnose auf sie ausgeübt haben. Wie war es sonst möglich, daß sie von zu Hause weglief und ihm nachreiste?

Unangenehm. Er hatte sie ja niemals geliebt. Er wollte ja nur zusehen, wie sich bei einem Mädchen die Liebe entwickelt. Ja, er wollte eine Biogenese der Liebe schreiben. Kein übler Gedanke für einen achtzehnjährigen Jungen. Nun, er hatte damals Büchner und das »triste cochon« Bourget gelesen.

Er mußte sie doch mal besuchen.

Nein lieber nicht. Wenn sie ihn nur vergessen könnte.

Falk stand auf und ging gedankenvoll auf und ab.

Es ist doch schändlich, sie immer von Neuem zu verführen und dann hinterdrein sich auf einen überlegenen Standpunkt zu stellen und klar zu machen, daß Liebe überwunden werden muß, daß sie ein rudimentäres Gefühl sei, eine Art pathologischen Ausschlags in dem Geistesleben des modernen Menschen.

Ja, darin war er unvergleichlich.

Wenn sie nur ein bißchen froher werden möchte.

Er hörte sie, wie sie ihm auf seine höhnenden Erklärungen antwortete:

– Ich würde Dir nur das eine wünschen, daß Du Dich einmal verliebst ...

Wie naiv sie war. Nein – nein ...

Liebe?! – Hm ...Was war das eigentlich?

Der alte Herr in Königsberg, der hat es durchschaut. Liebe ist doch wohl sicher eine krankhafte Äußerung ... Ja, er mußte es wissen.

Er zündete sich eine Zigarette an und legte sich lang hin aufs Sofa.

Was Mikita jetzt wohl malte?

Es war doch eine unglaubliche Kraft in dem Menschen. Sich so mühsam durchzuringen und nicht einen Strich vom Wege abzulenken.

Jetzt hätte er schon reich werden können, wenn er es wie die Andren machen wollte.

Diese schreckliche Zeit auf der Universität.

– Hast Du zehn Pfennig, Mikita?

Mikita hatte nichts, er hatte den ganzen Morgen alle Sachen durcheinandergeworfen in rastlosem Suchen nach dem 10 Pfennigstück, das sich doch irgendwo verkrochen haben mußte.

– So werden wir hungern.

– Allerdings. Mikita ließ sich in seiner Arbeit nicht stören. Du – übrigens ist das Geld jetzt sehr billig. Der russische Staat hat seine Schulden konvertiert.

– Ja, ja – ich weiß schon.

– Na also! Mikita malte weiter.

Und sie hungerten. Gräßlich!

Falk schüttelte sich.

Halb verrückt war er geworden. – Sonderbar, daß er es nicht ganz wurde. Wie er einmal ganz kraftlos auf der Straße stehen blieb und beinahe überfahren wurde.

Schließlich hatten sie nur eine Hose. Mikita mußte in Unterhosen malen, wenn Falk ins Kolleg ging.

Nun lachte Falk laut auf.

Er erinnerte sich, wie die Mutter den Gutsinspektor mit dem Gelde zu ihm schickte. Sie hatte den Wald verkauft. Dann gingen sie alle drei in eine Kneipe und verblieben da vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hinein. Der Inspektor kroch auf allen Vieren die Treppe hinauf. Mikita zog ihn beständig an einem Bein herunter, bis der Inspektor ihm in seiner Entrüstung einen starken Schlag mit dem Absatz grade auf die Nasenwurzel versetzte.

O Gott! Wie der Inspektor sich übergeben wollte und den Kopf durch die Scheibe hindurchsteckte, weil er das Fenster nicht aufmachen konnte ...

Und nun dachte Falk wieder an seine Hungerperiode und an die Mutter, die doch immer geholfen hatte.

Ihn überkam eine weiche Zärtlichkeit.

Ja, ja, die Mutter, die Mutter ...

Na, Mikita wird schön gehungert haben in Paris.

Die armen Bahnbrecher!

Er lachte höhnisch.

Aber nein! Zum Trotz! Nicht eine Linie nachgeben, lieber verhungern.

Er dachte nach.

Was war es eigentlich? Was hielt ihn aufrecht trotz all der Beschimpfungen, all der Mißerfolge?

Er legte sich wieder hin.

Die große, die herrliche Kunst, die eine neue Welt aufsucht, eine Welt, die hinter der Erscheinung, hinter dem Bewußt-Gedachten, hinter jeder Äußerungsform liegt – eine Welt, so unfaßbar fein, daß die Zusammenhänge sich verwischen und ineinanderfließen – eine Welt in einem Blick, einer Geste ...

Herrlich!

Und die neuen Symbole ... Ja, ja – das neue Wort, die neue Farbe, der neue Stimmungston ...

– Alles dagewesen ...

– Nein, nein, verehrter Herr, nicht Alles. Nicht der Schmerz, der über dem Schmerze steht, nicht die Freude, die zum Schmerze wird, nicht der ganze neue Vorstellungsinhalt, in dem alle Sinne ineinandermünden ... ja, ja ... all die tausend Empfindungswerte, die zwei, drei, höchstens zehn brave Zeitgenossen nachzuempfinden verstehen ... Das alles nicht dagewesen, sonst würde es auch schon die Menge verstehen, die hundert Jahre nötig hat, um einen Gedankenbrocken durchzukauen.

Nun, es war doch am Ende sehr gut, daß man nicht von jedem Preßbuben verstanden wurde, sonst müßte man sich vor sich selbst schämen ...

Er schaute der Rauchwelle nach, die sich in einem feinen Streifen von der Zigarette loslöste und sich in seltsamer Windung nach oben hinaufwand.

So sah er einmal einen Bach gemalt auf einem chinesischen Bilde.

Plötzlich kam ihm vor, als höre er Mikitas Stimme.

Ja, er erinnerte sich, nie wieder hatte er diese unsagbar mystische Stimmung erlebt. Er war damals krank, konnte nicht die Augen aufmachen, das ganze Gesicht war aufgeschwollen.

Mikita pflegte ihn; oh, er verstand mit ihm umzugehen! Tag und Nacht wachte er bei ihm. Und wenn Falk nicht einschlafen konnte, dann las er ihm vor. Ja, er las die Florentinischen Nächte von Heine.

Und Falk hörte ein monotones, weiches Singen – ja, Singen ... halb wie ein Gebet, das immer mehr verebbte, wie die letzten Wellen am Seestrand, wenn sich die See glättet – immer mehr, immer weicher ...

Er schlief ein.

II.

Inhaltsverzeichnis

– Mikita, mein teurer Bruder!

– Ja, ich bin es.

Beide Freunde umarmten sich herzlich.

Falk war sehr aufgeregt.

Er lief hin und her, kramte alle möglichen Sachen heraus und fragte unaufhörlich:

– Sag – sag, was willst Du haben? Bier? Schnaps ... Da, wart mal – richtig! Ich habe hier einen herrlichen Tokayer – von der Mutter bekommen – weißt Du, noch von Vaters Zeiten her. Er hat sich auf diese Dinge verstanden.

– So laß doch endlich. Setz Dich doch hin. Laß Dich sehen.

Endlich beruhigte sich Falk.

Sie sahen sich glücklich in die Augen und stießen mit den Gläsern an.

– Großartig! Aber Mensch, siehst Du schlecht aus. Du hast wohl viel geschrieben ... Potz Tausend! Dein letztes Buch – weißt Du, ich kam in eine solche Aufregung ... nein, war das merkwürdig! Ich kaufe mir das Buch, fange an auf der Straße zu lesen, bleibe stehen, das Buch packt mich derart, daß ich es auf der Straße auslesen muß und halb verrückt werde. Du bist doch ein ganzer Kerl!

Falk strahlte.

– Das macht mir große, große Freude. Du hast ja doch immer diese furchtbaren Ansprüche an mich gestellt. Also gefiel es Dir wirklich?

– Na!

Mikita machte mit der Hand einen weiten Kreis in der Luft.

Falk lachte.

– Da hast Du Dir eine neue Bewegung angewöhnt.

– Nun, weißt Du, sprechen kann man doch wirklich nicht mehr. Alle diese unerhört feinen Dinge, die lassen sich nur mit Gesten ausdrücken.

– Ja, Du hast Recht.

– Das ist nämlich die große Linie, verstehst Du, der große Zug, der heiße Unterstrom, das verstehen wenige. So bin ich in Paris zu Einem von den Großen gegangen, weißt Du, dem Oberhaupt der Naturalisten, oder wie sie da heißen ... Er verdient! Na ja, der Pöbel fängt jetzt an, das cinquième élément, das Napoleon in Polen entdeckte – la boue und ein paar Kartoffelstengel darauf zu kaufen. Früher waren es die Pfefferkuchenpuppen des Hoftapeziermeisters Seiner Apostolischen Majestät – Raffael hieß er, nicht wahr? Nun, jetzt sind es die Kartoffelmaler ...

Also ich frage das Oberhaupt, wozu man eigentlich das male, was in der Natur tausendmal besser sei und schließlich doch keine Bedeutung habe.

– Ach was! Bedeutung! Nämlich die Natur, verstehen Sie ...

Ja, ich verstand.

– Die Natur ist Bedeutung.

Aber doch nicht die Kartoffel?

Nun kam der Kartoffelmaler in eine große Begeisterung.

– Ja, grade die Kartoffel, das ist Natur, alles übrige Quatsch! Phantasie? Phantasie? Wissen Sie, Phantasie – lächerlich, Notbehelf!

Beide Freunde lachten herzlich.

Mikita dachte nach.

– Na aber jetzt sollen sie sehen. Herrgott, mein Kopf birst vor lauter Gedanken. Hätt ich tausend Hände, tausend Linien würde ich Dir vorfuchteln, dann würdest Du mich verstehen. Weißt Du, das Sprechen verlernt man nämlich. Ich war bei einem Bildhauer – na weißt Du, Du wirst Skizzen von ihm bei mir sehen ... Ich lag auf dem Bauch vor diesem Menschen. Ich sagte ihm: das ist herrlich! Was? Ich beschrieb ihm die Sache. Ach so, Sie meinen dies! Und nun beschrieb er in der Luft eine unerhört großartige Linie. Der hat es verstanden ... Aber Herrgott, ich rede, daß sich mir der Mund verdreht – wie geht es Dir? Nicht besonders, was?

– Nein, nicht besonders. Er habe viel Qual in der letzten Zeit ausgestanden. Diese tausend feinen Empfindungen, wofür es noch keine Laute gebe, diese tausend Stimmungen, die so momentan in Einem aufsteigen und die man nicht festhalten könne.

Mikita unterbrach ihn heftig.

– Ja, eben, grade dies. Siehst Du, der Bildhauer, der Prachtkerl – weißt Du, was er gesagt hat? Prachtvoll hat er es gesagt:

Sehen Sie, hier sind die fünf Finger, die kann man sehen und betasten – und nun spreizte er die Finger auseinander – aber hier, hier, das zwischen den Fingern, das kann man nicht sehen, kann man nicht betasten, und doch ist das die Hauptsache.

– Ja, ja, das ist die Hauptsache, aber lassen wir die Kunst.

– Du bist wohl ein wenig blasiert?

– Das nicht, aber zu Zeiten werde es doch ein wenig langweilig. Alles Leben nicht unmittelbar genießen zu können, sondern nur immer darauf hin zu leben, wie werde man es gestalten, wie werde man das verwerten können – und wozu eigentlich? Ihm werde schon ganz übel, wenn er daran denke, daß er kaum – fähig sei, Schmerz oder Freude nur als solche zu empfinden ...

– Du mußt einmal lieben.

– Mikita, Du? Das sagst Du?

– Ja, ja. Lieben. Das ist etwas, was nicht ideell wird, das läßt sich nicht mittelbar empfinden. Gibt es Glück, so könnte man in den Himmel springen, ohne zu bedenken, daß man sich dabei die Beine verrenken kann; gibt es Schmerz, so frißt es an Einem so reell, na weißt Du, das kann man nicht wegschreiben, das kann man nicht unter Gesichtspunkte ordnen ...

Mikita lächelte. – Ich bin nämlich verlobt.

– Du?! Verlobt?!

– Ja, und ich bin unerhört glücklich.

Falk konnte aus dem Erstaunen nicht herauskommen.

– Nun, das Wohl Deiner Verlobten!

Sie tranken die Flasche leer.

– Du, Mikita, wir bleiben doch den ganzen Tag zusammen.

– Freilich, selbstverständlich.

– Weißt Du, ich habe ein wunderbares Restaurant entdeckt ...

– Nein, Bruder, wir gehen zu meinem Fräulein.

– Ist sie denn hier?

– Ja, sie ist hier. In vier Wochen sollen wir uns heiraten. Zuerst nur noch eine Ausstellung in München, damit ich die nötigen Gelder habe, eine würdige Hochzeit zu feiern, ja, ein Fest, wie es noch kein Maleratelier gesehen hat.

Falk sträubte sich.

– Er habe sich so gefreut, heute, grade heute mit ihm allein zu sein. Erinnere er sich nicht mehr an die herrlichen heures de confidence mit den endlosen Disputen ...

Aber Mikita bestand hartnäckig auf seinem Vorschlag. Isa sei maßlos auf ihn neugierig. Er habe heilig versprochen, ihr das Wundertier von Falk in natura vorzuführen. – Nein, es ginge nicht mehr, sie mußten zu ihr gehen.

Falk mußte sich fügen.

Unterwegs sprach Mikita beständig von seinem großen Glück und gestikulierte lebhaft.

– Ja, ja, das ist merkwürdig, wie ein solches Gefühl Einen aufwühlen kann. Das Unterste kommt zu Oberst, es ist als ob sich ungeahnte Tiefen aufschließen. Zehn Welten kommen hinein. Und dann, was sich so alles an Fremdem, Unbekanntem regt ... Empfindungen, so unfaßbar, daß sie kaum ein Tausendstel Sekunde im Gehirne aufblitzen. Und doch steht man den ganzen Tag unter dem Einfluß dieses Dinges. Und wie die Natur Einem erscheint! Weißt Du, in der ersten Zeit, als sie sich sträubte – ich lag wie ein Hund vor ihrer Tür, mitten im Winter, in der fabelhaftesten Kälte hab ich die ganze Nacht vor ihrem Zimmer geschlafen – und ich zwang sie. Aber gelitten hab ich! Hast Du einen schreienden Himmel gesehen? Nein! Also weißt Du, ich habe ihn schreien gesehen. Es war, als öffne sich der Himmel zu tausend Mundhöhlen und schrie nun Farbe in die Welt hinaus. Der ganze Himmel eine unendliche Reihe von Streifen; dunkelrot, so ins Schwarze hinüber. Geronnenes Blut ... nein! eine Kotlache, in der sich die Abendröte spiegelt, und dann ein schmutziges Gelb! Häßlich, ekelhaft, aber großartig ... Gott ja, Mensch! Dann das Glück! Ich reckte mich und reckte – hinauf, daß ich an der Sonne meine Zigarette anzünden konnte!

Falk lachte auf.

Mikita, der ihm kaum an die Schultern reichte! Der wunderbare Kerl ...

– Nicht wahr? Komische Vorstellung. Ich an die Sonne reichen! Weißt Du, als ich in Paris war, sahen sich die Franzosen nach mir um. Ich hatte nämlich einen Freund, und neben ihm sah ich wie ein Riese aus.

Sie lachten beide.

Mikita drückte ihm warm die Hand.

– Weißt Du, Erik, ich weiß eigentlich nicht, wen ich mehr liebe ... Siehst Du, Liebe zum Weibe, das ist doch etwas Andres, man verlangt etwas, und schließlich, nicht wahr? Man liebt doch auf etwas hin ... Und nun siehst Du die Freundschaft –ja, Du Erik das ist das Unfaßbare, das Feine, das zwischen den Fingern ... Und nun, wenn man so drei Monate ununterbrochen mit einem Weibe zusammen ist ...

Falk unterbrach ihn.

– Du kannst Dir nicht vorstellen, wie ich mich manchmal nach Dir gesehnt habe. Hier unter diesem Schreibergesindel gibt es auch nicht einen Menschen ...

– Kann mirs denken. Nun, jetzt wollen wir die Zeit ausnutzen.

– Ja, wir wollen immer zusammen sein.

Sie kamen an.

– Du Erik, sie ist furchtbar gespannt auf Dich. Mach Dich nur interessant, sonst blamierst Du mich. Sehr interessant, das verstehst Du gut, Du Teufelskerl!

Sie traten ein.

Falk überkam ein Gefühl, als hätte er eine große, glatte Spiegelfläche um sich.

Dann wurde es ihm, als müßte er sich an etwas erinnern, was er schon längst einmal gesehen oder gehört hatte.

– Erik Falk, stellte Mikita vor.

Sie sah ihn an, wurde sehr verlegen, und streckte ihm dann herzlich die Hand entgegen:

– Sie sind es.

Falk wurde lebendig.

– Ja, ich bin es. Ich sehe doch nicht so merkwürdig aus. Sie mußten wohl nach Mikitas Beschreibung ein seltsames Tier erwartet haben?

Sie lächelte.

Falk bemerkte Etwas, wie einen rätselhaften Schleier, durch den dies seltsame Lächeln durchschimmerte.

– Ich war ganz eifersüchtig auf Sie geworden. Mikita hat die ganze Zeit nur über Sie gesprochen. Er ist ja wohl auch nur Ihretwegen nach Berlin gekommen.

Sonderbar! Derselbe Schleier in den Augen. Ein Schimmer wie von einem intensiven Lichte, das sich erst durch schwere Nebel Bahn brechen mußte. Was war es?

Sie setzten sich hin.

Falk sah sie an. Sie ihn auch. Beide lächelten verlegen.

– Mikita hat erzählt, daß Sie immer Cognac haben müssen. Ich habe eine ganze Flasche gekauft, aber er hat sie schon zur Hälfte ausgetrunken ... Wie viel darf ich Ihnen eingießen?

– Gott, genug!

– Ja, ich weiß nicht ... Sie sind doch aus Rußland her, es soll dort Sitte sein, Cognac aus Litergläsern zu trinken.

– Sie glaubt nämlich, erklärte Mikita, daß in Rußland Bären ins Haus kommen, um die Überreste aus den Töpfen zu schlecken.

Sie lachten alle.

Das Gespräch ging hin und her. Mikita sprach fortwährend und fuchtelte dabei mit den Händen.

– Siehst Du, Erik, wir lieben uns nämlich bis zur Verrücktheit ...

Falk bemerkte bei ihr ein verlegenes Lächeln, als glitte ganz leise ein Schamgefühl über ihr Gesicht.

– Du darfst Herrn Falk damit nicht langweilen.

Ein feiner Streifen Unmut huschte über Mikitas Gesicht.

Sie streichelte diskret seine Hand; Mikitas Gesicht hellte sich auf.

Sie weiß mit ihm Bescheid, dachte Falk.

Das Zimmer war in einer sonderbaren, zinnoberroten Beleuchtung. Etwas von einem dicken Rot, wie wenn man feine Rotlagen übereinander schichtete und das Licht sich in ihnen brechen ließe.

War es dies Licht?

Nein, es lag um die Mundwinkel, nein! Feine Streifen um die Augen ... Wieder verschwand es und legte sich in eine zarte Vertiefung in der Kaumuskulatur ... nein, es war unfaßbar.

– Du bist so still, Erik, was fehlt Dir?

– Gott, sind Sie schön!

Falk sprach das absichtlich mit einer solchen Nuance von Unwillkürlichkeit, daß selbst Mikita getäuscht wurde.

– Siehst Du, Isa, der Mann ist offen, nicht wahr?

Seltsamer Mensch! Dies Gesicht ... Isa mußte ihn immer wieder ansehen.

– Was hast Du eigentlich den ganzen Winter gemacht?

Falk raffte sich auf.

– Mit Iltis gebummelt.

– Wer ist Iltis?

– Das ist ein Spitzname für einen großen Mann, erklärte Mikita.

Isa lachte. Das war ein sonderbarer Spitzname.

– Sehen Sie, Fräulein, Iltis ist mir persönlich ein sehr sympathischer Mensch, ein guter Mensch und hält es mit den Jungen. Manchmal werden sie ihm zu toll, dann schleicht er sich still davon ...

– Was ist er denn?

– Er ist Bildhauer. Das ist aber bei ihm furchtbar Nebensache.

Na ja, er interessiert uns nur als Mensch. Und als Mensch wird er von der fixen Idee beherrscht, daß Jemand sich auf seine persönliche Suggestion hin erschießen müsse. Hypnose ist nämlich sein Reitpferd. So kam es, daß wir eine ganze Nacht durchgetrunken hatten. Das verehrte Publikum, das uns für die Priester der Kunst hält ...

– Priester der Kunst! Großartig ... Musentempel und Klio ... Ha, ha, ha. Mikita freute sich ungemein.

– Ja: das Publikum kann sich nicht denken, wie oft das bei den Priestern der Kunst vorkommt. Nach einer solchen Nacht bekommen also die Priester Verlangen nach frischer Luft. Die kleinen Priester fielen unterwegs ab. Nur der große Hierophant ...

– Hierophant! Iltis ein Hierophant!

Mikita schüttelte sich.

– Also der Hierophant und ich gehen zusammen. Plötzlich bleibt Iltis stehen. Ein Mann steht an der Mauer und »starrt in die Höhe«, wie es bei Schubert heißt.

– Mann! sagt Iltis mit einer unglaublichen Vibration in der Stimme.

Aber der Mann rührt sich nicht.

Iltis sprüht förmlich Funken mit seinen Augen.

– Paß auf! Der Mann ist hypnotisiert, flüstert er mir geheimnisvoll zu.

– Mann! Seine Stimme wird drohend und bekommt den Ton einer heiseren Trompete, mit der Jerichos Mauern erschüttert wurden ... Hier hast Du sechs Mark, kauf Dir einen Revolver und schieß Dich tot.

Der Mann streckt die Hand aus.

– Eine vollkommene Hypnose, raunt mir Iltis zu. Er legt mit einer unglaublich großartigen Handbewegung sechs Mark in die offene Hand des Mannes.

Im selben Nu macht der Mann einen Luftsprung:

– Nu brauch ick mir nich totschießen. Hurrah, das Leben!

– Feiger Schurke! brüllt ihm Iltis nach.

Mikita und Fräulein Isa lachten herzlich auf. Falk horchte. Es war da ein Schmelz in dem Lachen – ein ... woran erinnerte ihn das nur?

– Sehen Sie: wär ich ein Kultusminister, würd ich den feigen Schurken als einen wohlbestallten Professor der Psychologie anstellen lassen.

– Verstehen alle Russen so schön zu höhnen?

Sie sah ihn mit großen, herzlichen Augen an.

– Nein, Fräulein, ich bin kein Russe. Ich bin nur an der russischen Grenze geboren. Aber durch die enge Berührung mit den Slaven, die katholische Erziehung und dergleichen schöne Dinge bekommt man vielleicht Etwas in seinen Charakter, das die Deutschen sonst nicht haben. Dann – ja, wissen Sie, man bekommt dort so interessante Eindrücke ...

Falk fing an, mit einer Wärme von seinem Geburtsort zu sprechen, die seltsam von dem leise höhnenden Zug abstach, den er in seiner Stimme hatte.

– Prachtvolle Menschen! Auf ein Hundert können kaum zweie lesen, weil sie Polen sind und in der Schule gezwungen werden, dem süßen Wohllaut einer fremden Sprache zu lauschen.

Ja, man wolle durchaus die polnischen Kinder zu ehrsamen deutschen Bürgern erziehen, und Alles, was ehrsam sei, müsse sich bekanntlich der deutschen Sprache bedienen. Man prügle den Kindern mit einer echt preußischen Energie die wonnesame deutsche Sprache bei und die Fortschritte seien auch ganz eklatant.

– Die Kinder grüßen ja sogar schon mit einem Gruß, der eigentlich »Gelobt sei Jesus Christus« lauten sollte. Aber die gelenkige polnische Zunge weigert sich, solche barbarische Laut-Verbindung wie »Gelobt« auszusprechen, und so wurde der Gruß zu einem »Galopp Jesus Christus, Galopp!« umgewandelt. Warum der liebe Jesus Christus galoppieren soll, können die Kinder freilich nicht begreifen, aber bei einem deutschen Christus ist alles möglich. Der polnische ist ja doch ganz anders, und der polnische Gott versteht ja auch nur polnisch, wie ja auch bekanntlich das Paradies in Polen zu suchen ist.

Es war etwas in seiner Sprache, das sie so seltsam fesselte. Er konnte etwas ganz Triviales sagen, und doch sagte er es mit einer Nuance, einer Betonung ... Mikita sprach zu laut.

– Weißt du, Erik, wie wir noch im Gymnasium waren ... der eine Lehrer hatte eine kolossale Ähnlichkeit mit Iltis ...

Falk horchte halb zu. Während Mikita sprach, sah er sie von Zeit zu Zeit an. Jedesmal begegneten sich ihre Blicke und Beide lächelten.

Dies Gefühl hatte er noch nie empfunden. Es war, als ob sich Etwas in ihm anspannte, sammelte, – er fühlte eine Wärme und eine Energie ... das strömte und goß sich in sein Hirn.

Er hatte sich doch wirklich interessant machen wollen. Ja wirklich. Es war Etwas in ihm, das eine verzweifelte Ähnlichkeit mit Absichten hatte, ja, Absichten, das Weib zu fesseln – sie zu unterhalten ...

Wer war dies Weib?

Wieder sah er hin, sie schien Mikita nicht anzuhören; um die Augen dies seltsame Glühen.

Wie alle die Linien ineinanderflossen hinter dem Schleier.

Er fühlte fast die Lust, etwas von ihrem Gesichte und ihren Augen abzulösen.

Mikita bekam plötzlich mitten in seiner Erzählung einen Ruck.

Er sah flüchtig auf sie hin. Ihre Augen waren auf Falk gerichtet.

Neugierde?... Ja?... Vielleicht nicht ...

Falk merkte Mikitas Unruhe und lachte plötzlich auf:

– Ja, es war merkwürdig. Dieser alte Fränkel – ja, wirklich ein Doppelgänger von Iltis. Weißt Du noch, Mikita, – damals an dem Sonntag. Wir schliefen; ich träumte von dem Chemiker, dem Grieser, der mir damals als ein Geistesriese vorkam. Er hat uns Beide düpiert.

Plötzlich wach ich auf. Jemand klopft an die Türe: Machen Sie auf!

Ich, in meinem verschlafenen Zustand, denke an Grieser. Aber es ist doch nicht Griesers Stimme.

– Wer sind Sie?

– Fränkel.

Ich überhöre Alles und denke nur an Grieser.

– Aber Sie sind doch nicht Grieser?

– Ich bin Fränkel. Machen Sie auf.

– Gott, machen Sie doch keinen Ulk. Sie sind nicht Grieser.

Ich höre nämlich, daß es nicht Griesers Stimme ist, mache trotzdem auf, bin aber so verschlafen, daß ich mich nicht zurechtfinden kann.

– Sie sind doch nicht Grieser?

Plötzlich werd ich wach und taumle erschrocken zurück. Es war wirklich Fränkel. O Gott! Und auf dem Tische lag Strauß' »Leben Jesu« ...

Mikita war nervös, aber alle die Erinnerungen erwärmten ihn wieder.

Es wurde ziemlich spät.

Falk fühlte, daß er nun gehen müsse, aber es war ihm unmöglich, ja physisch unmöglich, sich von ihr zu trennen.

– Du Mikita, wollen wir nicht in das Restaurant »zur grünen Nachtigall« gehen. Das wird Fräulein Isa interessieren.

Mikita schwankte, aber Isa schlug sofort ein.

– Ja, ja; ich möchte es sehr gern.

Sie zogen sich an.

Falk ging voraus.

Isa sollte die Lampe auslöschen.

Isa und Mikita blieben einen Augenblick zurück.

– Ist er nicht wunderbar?

– O, herrlich! Aber – lieben könnt ich ihn nicht. Sie küßte ihn heftig.

Unten setzten sich alle Drei in eine Droschke.

Es war eine helle Märznacht.

Sie fuhren durch den Tiergarten, sprachen kein Wort.

In der Droschke war es sehr eng. Falk saß Isa gegenüber.

Dies Gefühl hatte er nie empfunden. Es war ihm, als ströme ihm unaufhörlich eine Hitze in die Augen, ja, es war als sauge sein Körper ihre ... ihre Wärme in sich ein ... Als strahle sie ein saugendes Verlangen aus, das Etwas in ihm auflöste – zerschmelzen machte.

Sein Atem wurde heiß und kurz.

Was war es?

Er hatte wohl zu viel getrunken.

Aber nein!

Plötzlich begegneten sich ihre Hände.

Falk vergaß, daß Mikita da war. Er verlor auf einen Augenblick die Selbstbeherrschung.

Er zog ihre Hand an seine Lippen und küßte sie mit einer Inbrunst, einer solchen Inbrunst ...

Sie ließ es geschehen.

III.

Inhaltsverzeichnis

In der »grünen Nachtigall« machte Isas Erscheinen großes Aufsehen.

Falk erblickte den alten Iltis, wie er die Augen zukniff und wie sein Gesicht unangenehm grinste.

Selbstverständlich fing nun seine ausschweifende sexuelle Phantasie zu arbeiten an. Darin war er unübertrefflich.

Iltis lief auch gleich an Mikita heran. Gott, sie waren immer so gute Freunde gewesen.

Falk grüßte mit einem nachlässigen Kopfnicken und setzte sich mit Isa etwas abseits.

Er sah wieder um ihre Augen den heißen, verschleierten Glanz.

Ihm schien, als müsse er zusammensinken. War es schwer, sich in der Macht zu haben! Aber er beherrschte sich.

Interessant, daß er zuerst aufhusten mußte, er fühlte sich so sonderbar heiser.

– Ich werde Sie ein wenig mit der Gesellschaft bekannt machen.

Er hustete wieder kurz auf.

– Sehen Sie, der Herr da, der dicke mit den dünnen Beinen, die Sie leider nicht sehen können – und sie sind in der Tat sehenswert – ja der da, der Sie so mit dem unheimlichen, grübelnden Blick anstarrt, als wittre er in Ihnen unheimliche soziale Rätsel – er ist ein Anarchist. Er macht übrigens Verse, wunderbare Verse: Wir sind die Infanterie ... nein – richtig: die roten Husaren der Menschheit. Rote Husaren! Herrliche preußische Phantasie! Der hat den Drill im Leibe ...

Falk lachte heiser auf.

– Ja, er ist Anarchist und Individualist. Ja, sie sind Alle, Alle, so dick und breit sie da sitzen, Individualisten mit jenem eigentümlichen, dicken, deutschen Bieregoismus.

Es klirrte etwas auf dem Boden.

Alle sahen hin.

Falk lachte.

– Sehen Sie, das ist ein interessanter, junger Mann. Er ist Neokatholiker und glaubt an ein Willenszentrum in der Welt, von dem wir nur Willensemanationen sind. Bei ihm speichert sich die Energie in den Fingerspitzen, er muß sie auslösen, um weitere Energieakkumulationen zu verhindern. Er behilft sich damit, daß er Gläser hinwirft.

Der junge, blonde, lockige Mann sah sich triumphierend um. Sein Tun hatte kein sonderliches Aufsehen erregt, und so rief er nach einem neuen Glase.

Iltis besänftigte ihn.

– Aber Kind ...

– Und der, – ja, der links ... hat er nicht ein Gesicht, wie ein verfaulter Apfel?

Mikita kam heran.

– Wir müssen an ihren Tisch kommen, sonst glauben sie, daß wir uns absondern.

Nun wurden Alle Isa vorgestellt.

Falk saß neben Isa. Ihm zur Rechten saß ein Mann, den Falks Freunde den Säugling nannten.

Der Säugling war überströmend freundlich.

Falk wurde er plötzlich widerlich. Er wußte, daß der Mann ihn haßte.

– Haben Sie das Gedichtbuch gelesen? Der Säugling nannte einen Namen, der gerade aufkam und sehr en vogue war.

– Ja, darin geblättert.

Falk fühlte instinktiv, daß Isa ihm zuhörte. – Er verspürte ein heftiges, inneres Beben.

– Finden Sie es nicht entzückend?

– Durchaus nicht. Nein, er finde das Buch ganz dumm.

Falk versuchte das dumme Zittern zu neutralisieren.

– Ganz, ganz dumm. Wozu schreibe man diese inhaltleeren Gedichtchen? Um den Frühling zu besingen? Der habe wahrhaftig mehr als genug von der ewigen Singerei. Man schäme sich ja schon, das Wort Frühling bloß auszusprechen ...

Mikita sah Falk erstaunt an. Er war nicht gewöhnt, Falk in diesen Kreisen so sprechen zu hören.

– Diese ganze Stimmungsmalerei sei so flach, so nichtssagend ... Diese Stimmungen habe jeder Bauernjunge, jede Bauerndirne, wenn in ihr der träge Stoffwechsel des Winters einem schnelleren Verbrennungsprozesse weiche ... Wären es noch Stimmungen, die auch nur ein Quentchen von dem Furchtbaren, Rätselhaften, an dem der Mensch übervoll sei, offenbarten; wären es Stimmungen, die doch wenigstens, so belanglos sie auch sonst sein mögen, etwas von dem nackten Seelenleben, ja – etwas von der unbekannten Seele geben ... Aber alle diese Dinge, die eine höher stehende Gattung Mensch überhaupt nicht mehr erlebe, weil – weil sich das Gefühl dagegen sträube, sich in dieser Frühlingssängerei zu bewegen ...

Falk stotterte und wurde verwirrt. Es kam ihm vor, als stünde er auf einer Rednertribüne, tausend Zuhörer um ihn herum. Dann wurde er immer dumm und sprach nur banales Zeug. Der Säugling wollte ihn unterbrechen. Aber Falk mußte ausreden.

– Sehen Sie, alle diese Gefühle können Wert haben für Jünglinge und Backfische, weil sie sozusagen das Substrat der Zuchtwahlsempfindungen sind ...

– Aber lieber Falk – der Säugling benutzte eine momentane Pause, in der Falk seine Gedanken zu konzentrieren suchte – Sie verkennen völlig das Wesen der Kunst.

Kunst kommt von können ...

Er sprach den Satz bedeutungsvoll aus.

– Das Können allein entscheidet über den Wert eines Kunstwerkes. Die Gedichte sind rhythmisch vollendet, sie haben Fluß und Gesang ...

– Und sind ein leeres Strohdreschen, unterbrach ihn Falk.

– Dein Wohl! Iltis trank Falk freundlich zu. Mit Falk konnte es nicht richtig sein. So eifrig und so zittrig hatte er ihn noch nie gesehen.

Falk erholte sich ein wenig.

– Nein, lieber Herr. Nicht die Form, nicht der Rhythmus entscheidet über die Kunst. Das hatte einstmals Bedeutung, als der Mensch sich erst künstlerische Formen schaffen mußte, ja – mußte, aus einem inneren Trieb, der durch tausend Ursachen bedingt war. Damals hatte der Rhythmus als solcher Bedeutung, denn in ihm drückte sich das rhythmische Zusammenwirken der Muskeln aus ... in der Zeit, als der Rhythmus geboren wurde, war er eine Offenbarung, eine große Tat ... Heute hat er nur eine atavistische Bedeutung – heute ist er eine leere, abgestorbene Formel.

Wissen Sie, zu diesen Gedichten war überhaupt nichts mehr nötig als ein vererbtes Formgefühl ... Ich leugne nicht die Bedeutung des Rhythmus für den ganzen künstlerischen Effekt, aber es muß doch in einem Gedicht etwas drin sein ...

Wieder trank Iltis Falk zu. Es fing an, ihn zu langweilen.

– Nein, nein! Nicht der abgedroschene Inhalt von Frühling und Liebe und Weib ... Nein, ich will nicht diese lächerlichen Eiapopeiasänger ...

Falk sprach heftig und eindringlich.

Isa hörte nicht auf das, was er sprach. Sie sah nur den Mann mit dem feinen schmalen Gesicht und der glühenden Leidenschaft in den tiefen Augen.

– Was ich will? Was Ich will? Leben will ich haben, das Leben mit seinen furchtbaren Untiefen, mit seinen schauerlichen Abgründen ... Die Kunst ist für mich der tiefste Instinkt des Lebens, der heilige Weg zur Zukunft des Lebens, zur Ewigkeit des Lebens, und deswegen will ich große zeugende Gedanken haben, die eine neue Zuchtwahl vorbereiten, einer neuen Welt, einer neuen Weltanschauung zur Geburt verhelfen ...

Die Kunst soll mir nicht im Rhythmus, im Fluß, im Gesang bestehen, sie soll mir der Wille werden, der neue Welten, neue Menschen aus dem Nichts ruft ...

Nein, nein, lieber Herr, wir haben eine große, ideenzeugende Kunst nötig, sonst hat sie überhaupt keine Bedeutung ...

Falk kam plötzlich zur Besinnung. Herrgott, was sprach er denn nur? Wollte er ein Programm in die Welt ausschreien. Er ertappte sich, daß er zusah, welchen Eindruck er auf Isa mit seinen Reden machte.

Das war doch zu knabenhaft!

– Diese Art Kunst, die Sie loben, kann wohl Bedeutung haben für die Tiere ... Sie wissen, daß die Vögel zum Beispiel mit dem Rhythmus, dem Fluß des Trillers und dergleichen mehr die Weibchen anlocken, das können unsere Dichter nicht – nein, sicher nicht. Selbst auf die Backfische macht das keinen Eindruck mehr.

Iltis lächelte listig und zwinkerte mit den Augen.

Falk trank ihm zu. Er war mit sich unzufrieden, aber er fühlte ihre Augen, und er sah sie an, so tief, so ... bis in das Herz hinein ... Das war sicher lyrisch gedacht, aber wieder stieg ihm die Hitze in sein Hirn.

Der Säugling wurde nervös.

– Ich bin wirklich neugierig, was Sie als Kunst gelten lassen?

– Haben Sie Rops gesehen? Ja? Sehen Sie, das ist Kunst. Kann man überhaupt mehr vom Leben sagen?

– Selbstverständlich.

– Ja – nach oberflächlicher Schätzung selbstverständlich ... Selbstverständlich für den, dem Alles selbstverständlich ist. – Ja, selbstverständlich für Strauß und Vogt und Büchner, und ... und ... Aber das Furchtbare, das Grausige, der große Geschlechtskampf und der ewige Geschlechtshaß ... ist das selbstverständlich? Ist das nicht ein unheimliches Mysterium? Ist das nicht etwa das, was ewig zeugt, Leben schafft und Leben zerstört. Ist das nicht etwa das, was unsere Handlungsmotive bildet, mögen sie noch so harmlos dem bewußten Gehirn erscheinen ...

Falk stockte, dann sprach er immer heftiger.

– Sehen Sie, was uns nötig ist, das ist das Gehirn, für das nichts selbstverständlich ist, das Gehirn, das Scheu und Angst und Ehrfurcht vor dem Selbstverständlichsten hat; das ist das Gehirn, in dem der Verknotungspunkt frei wurde – ja, der heilige Verknotungspunkt aller Sinne, in dem Linie zum Ton wird, ein großes Erlebnis zu einer Geste, und tausend Menschen ineinanderwogen, in dem es eine ununterbrochene Skala gibt vom Tone bis zum Worte und zur Farbe ohne die jetzt bestehenden Grenzen ...

Wieder besann sich Falk auf sich und er lächelte still ...

– Nein, nein! Bleibt mir weg mit eurer lächerlichen Bewußtseinslogik und euren atavistischen Zuchtwahlsmittelchen ...

Isa mußte ihn beständig ansehen. Sein dichtes Haar war ihm in die Stirne gefallen und seine Augen waren weit und tief ... Das hätte sie nie vermutet, daß er so schön, – so dämonisch schön werden konnte ...

– Der Herr Falk scheint bei den Theosophen in die Lehre gegangen zu sein.

Der Anarchist sprach gedehnt und bedeutungsvoll mit einem plötzlichen Augenaufschlag.

Falk lächelte.

– Nein, verehrter Herr, durchaus nicht. Aber sehen Sie nur zu: Sie sind doch ein großer und jedenfalls, so weit die deutsche Zunge reicht, unerhört bedeutungsvoller Dichter ...

Ein Mensch lachte plötzlich laut auf, sicher mit einer boshaften Absicht.

Der Anarchist sah ihn wütend an, wurde rot im Gesichte und schrie Falk zu:

– Ich verbitte mir jegliches Anulken.

Falk wurde ungemein ernst.

– Sehen Sie, das war sehr würdig gesprochen. Aber leider verfehlt. Es war mein höflichster Ernst. Ich habe nicht damit gemeint, daß ich Sie dafür ansehe, aber sicher doch die Andren.

Der Anarchist kochte, er sah Isas Augen, die ihn mit unverkennbarem Spott ansahen.

– Mein Herr, Sie gehen zu weit!

– Nein, durchaus nicht. Sie vermuten bei mir beleidigende Absichten, die ich nicht habe. Im Übrigen haben Sie auch für mich etwas geschaffen, ein Bild von einer solchen ... ich möchte das Antithesengröße nennen ... Ja, ich meine die roten Husaren der Menschheit. –

Wieder lachte derselbe Herr, aber diesmal so deutlich, daß es Falk peinlich wurde.

– Aber kommen wir zum Resultat. Wenn Sie dichten, nicht wahr, ist das nicht ein seltsamer, mystischer und meinetwegen auch theosophischer Moment, weil für Sie alles Seltsame Theosophie zu sein scheint. Sie haben doch wohl von Fakiren gehört, die sich künstlich in eine somnambule Ekstase versetzen, in der sie Monate lang lebendig begraben liegen können. Ich habe selbst in Marseille einen Fakir gesehen, der sich im Zustande dieser Ekstase Wunden beibrachte, ohne eine Spur von Blutung. Sehen Sie nun, wenn Sie dichten, ist es derselbe Zustand somnambuler Ekstase, der allerdings nicht künstlich hervorgerufen werden kann. In einem Momente fließt Ihr ganzes Leben auf einen Punkt zusammen. Sie sehen nichts, Sie hören nichts, Sie arbeiten unbewußt, Sie brauchen nicht zu überlegen, es kommt im Schlafe ... Und nun sagen Sie, ist das nicht mystisch? Können Sie das mit Logik erklären? Können Sie Einem klar machen, warum Sie der bedeutungsvolle Dichter sind und er nicht?...

Alle schwiegen betroffen. Falk hatte es doch zu weit getrieben.

Der Anarchist erhob sich und ging.

Iltis hatte nichts davon begriffen. Nein, nein, sein Gehirn war zu groß für diese metaphysischen Spielereien. Aber er verstand, daß Falk den Anderen abgekanzelt hatte, und trank ihm wohlwollend zu ...

– Reichen Sie mir die Hand.

Der junge Mann, der vorhin die Gläser auf die Erde zu werfen geruhte, stand auf, pathetisch gespreizt und streckte die Hand weit vor.

Falk reichte ihm lächelnd die Hand.

Isa schwieg. Sie fühlte sich so glücklich. Dies Glücksgefühl hatte sie schon lange, lange nicht gehabt.

Falk war ein herrlicher Mensch. Ja, er war ihr schönstes Erlebnis.

Sie wurde plötzlich unruhig.

– Du bist so schweigsam? Mikita kam an sie heran.

– Ich bin glücklich. Sie drückte ihm leise die Hand.

– Bist Du nicht müde?

– Nein, gar nicht!

– Aber wir wollen gehen, nicht wahr?

Etwas hielt sie mit aller Macht zurück. Sie möchte um jeden Preis noch bleiben. Aber sie las in seinen Augen eine stumme Bitte.

– Ja, wir wollen gehen. Es klang fremd, beinahe abweisend.

Sie erhob sich.

– Wollt Ihr wirklich gehen? So bleibt doch noch ein Weilchen hier. Falk hätte sie mit Gewalt zurückhalten mögen.

Aber Mikita konnte unmöglich länger bleiben; er müsse Isa nach Hause begleiten.

Als sie weggehen wollten, sprang Iltis auf.

– Also Du, Mikita, vergiß nicht ...

– Ja richtig! Mikita hatte es ganz vergessen, daß er mit Isa zu einer Abendgesellschaft bei Iltis eingeladen war.

– Ja, er werde sicher kommen. Ob Isa auch mit wolle, das wisse er nicht ...

Isa wollte herzlich gerne mitkommen.

– Und Du, Falk? Du kommst doch selbstverständlich? Iltis klopfte Falk wohlwollend auf die Schultern.

– Gewiß.

Isa drehte sich plötzlich nach Falk um und reichte ihm noch einmal die Hand.

– Sie kommen doch recht bald zu mir?

Falk kam es vor, als risse der Schleier um ihre Augen auseinander; eine Glut quoll hervor und ringelte sich heiß um die Lider.

– Ihr Zimmer ist ja meine Heimat.

Mikita wurde unruhig; er schüttelte besonders kräftig Falks Hand, und sie gingen.

– Die haben Eile! Iltis zwinkerte lüstern mit den Augen.

Falk wurde plötzlich sehr gereizt. Er hatte Mühe, ein Wort zurückzuhalten, das Iltis sicher nicht geschmeichelt hätte.

Er setzte sich aber wieder hin und sah sich um.

Es wurde Alles so öde um ihn, und er fühlte sich so einsam ...

Er war auch sehr unzufrieden mit sich selbst. Er kam sich ein wenig lächerlich und knabenhaft vor. Er wollte doch wirklich krampfhaft einen Eindruck auf Isa machen. Zweifellos ... Und alles, was er gesagt hatte, kam ihm so dumm vor ... So viele große und gespreizte Worte ... Er hätte das Alles doch sicher viel feiner sagen können ... Aber er zitterte ja ordentlich, als er sprach.

Er wurde im Ernste wütend.

Dieser dumme Säugling, wie scheußlich er an dem Glase lutschte ... Widerlich! Eigentlich wurde ihm plötzlich alles widerlich in der berühmten »Nachtigall« – Alles.

Nein! Wozu sollte er noch länger sitzen? Er mußte frische Luft haben. Er fühlte einen Drang zu gehen und zu gehen, endlos, alle Straßen entlang ... Sich etwas klar machen. Es war da drin Etwas, das aufgelöst werden mußte, Etwas ... ja etwas Neues, Fremdes ...

Er zahlte und ging.

IV.

Inhaltsverzeichnis

Als Falk auf die Straße kam, wurde er sehr unruhig.

Er fing an schnell zu gehen. Vielleicht geht es nach einer physischen Ermattung vorüber.

Und es war, als peitsche ihn etwas immer schneller vorwärts, daß er fast zu laufen begann.

Es wurde aber noch schlimmer.

Er fühlte deutlich, wie sich eine Welle von Unruhe tiefer und tiefer in seinen Körper hineinringelte; er fühlte Etwas, das schneller und schneller in ihm kreiste und in jede Pore, jeden Nerv sich mit wachsender Wut drängte.

Was war das?

Er stutzte plötzlich.

Kam es wieder? Gefahr?!

Er blieb stehen.

Es mußte doch wohl ein tierischer Urinstinkt in ihm sein, die uralte Warnstimme einer fremden Seele.

Er bekam einen heftigen Ruck.

Fliehen, ja – fliehen, schrie es in ihm. Und er sah sich plötzlich als vierzehnjährigen Jungen hoch oben im vierten Stock. Zwei Fenster auf den Hof hinaus. Unten ein ewiges Klopfen der Böttchergesellen.

Er mußte ein großes Pensum auswendig lernen, sonst erwartete ihn eine strenge Strafe.

Und er saß und lernte, lernte, daß ihm die heißen Tränen wie Erbsen die Backen herunterrollten.

Aber sein Gehirn war dumpf. Kaum hatte er einen Vers auswendig gelernt, vergaß er den andern.

Und draußen, ja draußen vor den Festungsmauern spielten seine Kameraden, und Jahns war selbstverständlich dabei, Jahns, den er so liebte.

Und der Tag ging zu Ende. Er stürzte sich auf die Knie, eine namenlose Angst hatte ihn befallen, er flehte den heiligen Geist um die Gnade der Erleuchtung an.

Aber nichts, nichts konnte er behalten.

Ihm schwindelte vor Angst. Er mußte. Er mußte. Und er schlug mit den Fäusten auf seinen Kopf; er wiederholte jedes Wort hundertmal; aber es half nichts.

Und er wußte keinen Ausweg. Da plötzlich, ganz urplötzlich: nun wußte ers. Er mußte fliehen, weit, weit weg zu der Mutter ...