Geschichte erzählen. Strategien der Narrativierung von Vergangenheit im Mittelalter -  - E-Book

Geschichte erzählen. Strategien der Narrativierung von Vergangenheit im Mittelalter E-Book

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Beschreibung

Die Beiträge dieses Bandes gehen auf eine internationale Tagung zurück, die 2017 in Manchester stattgefunden hat. Sie untersuchen die Darstellung von Geschichte in der mittelalterlichen deutschen Literatur auf der Basis von aktuellen erzähltheoretischen Forschungsansätzen. Dabei wird ein breites Spektrum an Texten, Gattungen und Diskursen in den Blick genommen; als Angelpunkt für zahlreiche relevante Fragestellungen erweist sich die im 12. Jahrhundert entstandene ›Kaiserchronik‹. Geleitet von der Erkenntnis, dass Vergangenheit erst im Erzählen zu Geschichte wird, analysieren die Beiträge einschlägige narrative Strategien.

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Seitenzahl: 1088

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Sarah Bowden / Manfred Eikelmann / Stephen Mossman / Michael Stolz

Strategien der Narrativierung von Vergangenheit in der deutschen Literatur des Mittelalters

XXV. Anglo-German Colloquium, Manchester 2017

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

ANGABEN FUER ePUB-IMPRESSUM

 

 

© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

ISBN 978-3-7720-8695-3 (Print)

ISBN 978-3-7720-0122-2 (ePub)

Inhalt

Apocalypsis Johannis-Blockbuch (Ausgabe I, ...VorwortEinleitungDie Kaiserchronik als ParadigmaArbeit am TextI.  Varianz von Fassung AII. Die Fassungen B und CDie Fassung BDie Fassung CDie andere KaiserchronikGeschichtliche Distanz im Episodengerüst der KaiserchronikI. Theoretische GrundlagenII. Das EpisodengerüstIII. Personalisierte ExemplarikRömische Herrscher – ‚Deutsche‘ GegnerI. EinleitungII. Die Erzählung über CaesarIII. Der Tarquinius-AbschnittIV. FazitAnhangI. Die Caesar-‚Vita‘ (Kaiserchronik, V. 209–602): GliederungII. Die Tarquinius-‚Vita‘ (Kaiserchronik, V. 4301–4834): GliederungWahrheit (er)finden?I. Poetik exemplarischen Erzählens in volkssprachiger Geschichtsdichtung – Perspektiven der ForschungII. Lucretia – Marginalisierung im Zeichen historisch-politischer ProgrammatikIII. Jason – habitualisierte Schwäche als narrativer EffektIV. FazitGeschichte als Netz in der Severus-und-Adelger-Erzählung der KaiserchronikStrategien heilsgeschichtlichen Erzählens in der VolksspracheAm Anfang – der KussI Erzählen und EreignisII Voraussagbares ErzählenIII  Unerwartbares ErzählenImaginatio, Anachronismus und HeilsgeschichteI. Anachronistische Züge in der deutschsprachigen BibelepikII. Zwischen Drama und ErzählungIII. FazitLebensgeschichte / HeilsgeschichteI. Johannes der Täufer in den EvangelienII.  Das PassionalIII. Der Saelden HortIV. PerspektivenTraktat, Predigt oder Historia?Prolegomena: Historiographie der Zukunft?I. Der Österreichische BibelübersetzerII. Der ‚Traktat‘ eines Laien: Weichenstellungen im PrologIII.  Beglaubigung durch die StrukturIV. Überzeugungskraft durch AutoritätenV. Verständlichkeit durch ErklärungenVI. Relevanz durch PublikumsnäheVII. Bewegung durch EmotionenVIII.  Die Stoßrichtung des Texts im historischen KontextNarrative Organisation und Konzeptualisierung von GeschichteWir hôrten ie dikke singen von alten dingen.I. FragestellungII. Erwartbares: Poetologische Topoi der GeschichtsschreibungIII.  Die Gemengelage höfischer ErzähltraditionMethodische ZwischenbemerkungIV.  Problemfelder volkssprachiger historiographischer ReflexionIV.1. Wahrheit und LügeIV.2. Die Fülle des MaterialsV. Spuren einer historiographischen PoetikVon Jerusalem nach Maastricht, von Troia nach Rom: Heinrich von Veldeke erzählt GeschichteI. Heinric und Heinrich. ŒuvrekontinuitätenII. Implikationen von Gattungs- und QuellenbezügenIII.  Emplotments und ErzählkerneIII.1. Makronarrative historischen ErzählensIII.2. Mikronarrative historischen ErzählensIV. Bilanz und Ausblick: Ein kohärentes WerkprofilBild und GeschichteI. Die vielfältigen Begründungen des KriegesII. Das neuerrichtete TrojaIII.  Der WunderbaumIV. Bilder von Tod und ErneuerungV. Geschichte in Konrads ErzählenEmotionalisierungsstrategien in Rudolfs von Ems WeltchronikI. EinleitungII. Der Erzähler in Rudolfs von Ems WeltchronikIII. Die intradiegetischen Figuren in Rudolfs von Ems Weltchronik und ihre EmotionenIII.1. AbrahamIII.2. Die Emotionen zorn, vorhte und trûren/jâmerIV. SchlussbetrachtungAnhang: Erzählermanifestationen in Rudolfs von Ems WeltchronikPilatus als Richter des Stephanus?I. Einführung in die ProblematikII.  Die Historizität von Heiligenleben: Der Erzmärtyrer Stephanus als besonderer FallIII. Die historische Einbettung der Stephanus-Figur in Sankt Stephans Leben: zur HandlungsstrukturIV. Figuren-Vernetzungen als Ausdruck von GeschichtsbewusstseinVerschichten von Geschichte(n)I. Kohärentes Erzählen von GeschichteII. Reflexives Übersetzen in den ExcerptaIII.  Verhandeln von ZeitIV. Metachronikalisches Erzählen als StrukturprinzipAnhangBiblische Geschichte für den DruckI. Der Drucker-Autor Albrecht PfisterII. Die Vier Historien – Auswahl und TextzuschnittIII. Das Bildprogramm – Szenisches Erzählen und WiederholungIV. Die Wirkung der Vier HistorienAppendix: Liste der HolzschnitteErzählen von Geschichte als IdentitätsstiftungNarrative Identitätsstiftung in der Geschichtsdichtung der Stadt KölnI.II.III.IV.V.Literarisierung und Komisierung von GeschichteI. Chanson de geste und GeschichteII. Die ‚Karlsreise‘III. Historizität und Demontage im Voyage1. Karl der Große2. Heilsgeschichtlicher Impetus3. Das marginale Liebesthema4. Epischer FormelstilIV.  Fazit‚Dichterheldensage‘ / LiteraturgeschichtsdichtungI. Lyrisch von Dichtern erzählen: Zu den TextenII. Geschichtsdichtung: Der Bezug auf die historische WirklichkeitIII.  Historische Sinnstiftung und gedächtnishafte Prägung: Narrative Schemata und ErinnerungsfigurenIV. Identität? Kulturelles und ästhetisches GedächtnisV. Fazit‚Alternative Fakten‘I. Phänomenevidenz und VerfahrensevidenzII.  Der Vorwurf des RitualmordsIII. Die literarische Modellierung von GeschichteIII.1. Johannes Matthias TiberinusIII.2. Die deutschsprachigen BearbeitungenIV. ResümeeGeschichtsschreibung im historischen KontextThe Hohenstaufen and the Shape of HistoryDa ward Carolus lachen.I.II.III.IV.V.Auf dem Turnierplatz der GeschichteDer Freydal als fragmentarisches WerkNarrativierung von Vergangenheit im FreydalAnhang: Die Zusammenstellungen der Turnierkämpfe MaximiliansEpilogVerzeichnis der Autorinnen und Autoren

Apocalypsis Johannis-Blockbuch (Ausgabe I, 1. Stand), um 1450–52 (Manchester, John Rylands Library, Blockbook 3103)

Vorwort

Vom 6. bis 10. September 2017 fand an der Universität Manchester das 25. Anglo-German Colloquium zum Thema ‚Geschichte erzählen: Strategien der Narrativierung von Vergangenheit in der deutschen Literatur des Mittelalters‘ statt. Die Fachtagung, deren Beiträge in diesem Band vorgelegt werden, hatte sich das Ziel gesetzt, die Darstellung von Geschichte in der deutschen Literatur des Mittelalters zu bilanzieren und neu zu erarbeiten. Geschehen ist dies auf der Basis von Forschungen zur narrativen Modellierung der als wahr geglaubten vergangenen Welt und mit dem Blick auf aktuelle wissenschaftliche Aufgabenfelder. Gegenüber der weit gediehenen Diskussion zur Unterscheidung von fiktionalem und faktualem Erzählen rückt so wie schon die Tagung nun auch dieser Tagungsband Texte, Gattungen und Diskurse in den Blickpunkt, anhand deren sich die für die volkssprachliche Literatur spezifischen Strategien und Verfahren des Erzählens von Vergangenheit diskutieren lassen. Dabei ist die leitende Annahme, dass auch solche Erzählungen sprachlich-literarisch ‚konstruiert‘ sind, die sich nach dem eigenen Anspruch auf faktuale Ereignisse der Vergangenheit beziehen. Unter diesem Vorzeichen schließen die Beiträge zugleich an aktuelle narratologische Forschungen an, indem sie untersuchen, wie Vergangenheit erst im Erzählen zu Geschichte wird und welche komplexen Formen erzählerischer Organisation – von der Auswahl und Anordnung der erzählten Ereignisse über die Gestaltung der diegetischen Zeit und der Erzählstimme bis zum Stiften kollektiver Identität – von Fall zu Fall geschaffen werden.

Bereits 1983 hatte das Anglo-German Colloquium mit einer Tagung zur älteren Debatte über das Geschichtsbewusstsein in der deutschen Literatur des Mittelalters beigetragen.1 Und obwohl sich das Konzept von Geschichte vor dem Hintergrund narratologischer Forschungen in der germanistischen Mediävistik stark weiterentwickelt hat, war es den in Manchester versammelten Teilnehmerinnen und Teilnehmern ein Anliegen, ihr aktuelles Forschungsthema im Wissen um diesen für die Tradition der Colloquien beispielhaften Vorgängerband zu erörtern. Angesichts des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union stand das Colloquium in Manchester zugleich unter wissenschaftspolitischen Vorzeichen. Die intensive Zusammenarbeit auf der Tagung hatte daher nicht zuletzt das Ziel, den in der scientific community unverminderten Willen zur Fortsetzung der internationalen Kooperation wirksam zu signalisieren.

Die Herausgeberin und Herausgeber danken der Fritz Thyssen Stiftung dafür, dass sie sowohl die Tagung in Manchester als auch die Drucklegung des Tagungsbandes großzügig unterstützt hat. Die Bereitschaft, eine Tagung außerhalb des deutschsprachigen Raums zu fördern, ist keineswegs selbstverständlich – dafür fühlen wir uns der Stiftung in besonderem Maße verpflichtet. Das John Rylands Research Institute finanzierte den öffentlichen Abendvortrag im Historischen Lesesaal der John Rylands Library. Für die zu jeder Zeit konstruktive Zusammenarbeit bei der Drucklegung des Bandes danken wir gerne dem Francke-Narr-Verlag in Tübingen und namentlich Tillmann Bub, der den Entstehungsprozess stets mit viel Geduld und gutem Rat äußerst kundig begleitet hat.

 

Sarah Bowden

Manfred Eikelmann

Stephen Mossman

Michael Stolz

Einleitung

Geschichte erzählen und Narrativierung von Vergangenheit

Sarah Bowden, Manfred Eikelmann, Stephen Mossman und Michael Stolz

Mit seiner einflussreichen Monographie Metahistory von 1973 rückte der Historiker Hayden White die Geschichtsschreibung konsequent in den Blick der Erzählforschung.1 Er löste damit in der modernen Geschichtswissenschaft eine mitunter vehement geführte Debatte zu den grundlegenden sprachlichen Strukturen und dem Wahrheitsanspruch erzählender Historiographie aus, die bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat. Bewirkt haben die Überlegungen eine neue Offenheit der Geschichtswissenschaft gegenüber literaturwissenschaftlichen Fragestellungen (linguistic turn), auch wenn etwa in der Erzählforschung seit einigen Jahren eine differenzierende und in den grundsätzlichen Fragen kritische Diskussion der poststrukturalen Prämissen Whites zu verzeichnen ist.2 Dieser Band und die ihm vorausgehende Tagung knüpfen an jene Grundsatzdebatte über das Verhältnis von Geschichte und Literatur an, beziehen sich aber zugleich auf zwei weitere, im Folgenden erläuterte Diskussionsfelder, was es ermöglicht, den Problembezug des Themas sachlich wie methodisch zu konkretisieren.

1. Erzählen mit historischem Wahrheitsanspruch: Für den im Band untersuchten Gegenstand ist der in der germanistischen Mediävistik seit Ende der 1970er Jahre grundlegend erweiterte Literaturbegriff zentral.3 Er hat das Fach von der Beschäftigung mit einem bewährten Literaturkanon zur Erschließung neuer Texttraditionen und Gattungen geführt. Exemplarisch für diese Erweiterung des in der zweiten Auflage des Verfasserlexikons dokumentierten Text- und Wissenshorizontes ist die volkssprachliche Geschichtsschreibung des hohen und späten Mittelalters.4 Denn obwohl das Erzählen von Geschichte lange Zeit ein Randphänomen der Forschung war, liegt inzwischen eine ganze Reihe gründlicher Studien zu den Welt-, Landes-, Städte- sowie Ordens- und Hauschroniken des 12. bis 15. Jahrhunderts vor.5 Für die Erforschung des historischen Erzählens ist dies umso wichtiger, als nun komplementär zur intensiv erforschten volkssprachlichen Heldenepik, die ihrerseits als Vorzeitkunde gilt, eine genuin schriftliterarische Tradition der Geschichtserzählung mit hohem Forschungspotential verfügbar ist. Wie diese beiden Gattungen beispielhaft zeigen, ist historisches Erzählen an dem von Fall zu Fall anders begründeten Anspruch erkennbar, auf eine außertextuelle Wirklichkeit zu referieren, die von Einzelnen, einer Gruppe oder Gemeinschaft als faktuale Vergangenheit betrachtet wird. Auch wenn nicht zu bestreiten ist, dass Texte, die Geschichte erzählen, sprachlich-literarisch gestaltet und durchaus auch ‚Konstrukte‘ sind, ist das für sie wesentliche Kennmerkmal doch der von ihnen erhobene Anspruch, historische Wirklichkeit darzustellen, nicht aber eine fiktionale Welt, für die der Bezug auf eine als ‚wahr‘ angenommene Realität außerhalb des Textes gerade kein notwendiges Kriterium ist.6 Das aber heißt: Obwohl frühe mittelhochdeutsche Texte wie das Annolied und die Kaiserchronik nach ihrem eigenen Anspruch Geschichte darstellen, also res gestae erzählen und sich als historia rerum gestarum verstehen, sind sie zugleich Dichtung, die in ihrer literarischen Form wahrgenommen sein will.7 Auch die mittel- und frühneuhochdeutschen Heldenepen und Chroniken „folgen auf Schritt und Tritt Mustern, wie sie in literarischen Fiktionen ausgebildet wurden“, und „dennoch erheben sie den Anspruch, Aussagen über die Vergangenheit zu machen.“8 Im Sinne dieser gegenüber den Thesen Whites differenzierenden Position geht es im Rahmen des vorliegenden Bandes nicht mehr um die Frage, ob Geschichte ‚konstruiert‘ ist, sondern darum, wie die im historischen Erzählen geschaffenen ‚Konstrukte‘ angelegt und gemacht sind und wie das Erzählen von Vergangenheit narrativ organisiert ist.

Aus textheuristischen Gründen ist das Erzählen von Geschichte mit diesem Verständnis zwar auf das breite Spektrum volkssprachlicher Erzählungen mit historiographischem Anspruch bezogen, doch wird es forschungsstrategisch durch die Bevorzugung solcher Gattungen und Einzeltexte spezifiziert, bei denen zu erwarten ist, dass sie im skizzierten Bezugsrahmen eine neue Perspektivierung erfahren können: großepische Gattungstraditionen wie Antikenroman, Artusroman, Bibelepos, Reim- und Prosachronik, Kleinformen wie Exempla und Apophthegmata, nicht zuletzt zentrale Einzelwerke, in denen – wie im Annolied, in Heinrichs von Veldeke Eneasroman oder Konrads von Würzburg Trojanerkrieg – das Erzählen von Geschichte konstitutive Bedeutung erlangt.

2. Anknüpfungspunkte in der Erzählforschung: Prüft man die aktuelle Forschung zur mittelalterlichen deutschsprachigen Erzählliteratur, so fällt auf, dass narratologische Analysen ganz vorwiegend weltlichen Texten, etwa der mittelhochdeutschen Heldenepik, insbesondere jedoch den höfischen Romanen des 12./13. Jahrhunderts gewidmet sind. Alternativ dazu verfolgt der Band das Ziel, diese Text- und Beobachtungsbasis auszuweiten und speziell Erzählungen mit weltreferentiellem, d.h. historischem Wahrheitsanspruch narratologisch zu untersuchen. Das Thema ist dabei so angelegt, dass Fragen der Fiktionalität und Faktualität nicht weiter berührt sind, da sie noch in jüngster Zeit Gegenstand mehrerer einschlägiger Studien und Sammelbände waren.9 Vielmehr werden Fragestellungen der jüngeren Erzählforschung weiterverfolgt, die über die fiktionale Literatur hinausgehen und verstärkt faktuale ‚Wirklichkeitserzählungen‘ in den Blick nehmen. Zentral sind insbesondere zwei bisher erst für im engeren Sinne literarische Texte erprobte Ansätze. Erstens die kulturwissenschaftlich ausgerichtete Erzählforschung, die ‚Kulturen‘ als Netze von Narrativen versteht und Erzählmustern grundlegende Bedeutung für die Produktion von Literatur zuschreibt.10 Zweitens die systematische Beschreibung von Erzählstrategien und Erzählverfahren, wie sie namentlich für den höfischen Roman geleistet wurde.11 Unter dieser doppelten Perspektive geht es um eine Weichenstellung, wie sie Stephen Jaeger im Schlussargument seiner Besprechung von Albrecht Koschorkes Monographie Wahrheit und Erfindung vorgeschlagen hat, indem es gilt, „statt auf das Allgemeine [den] Schwerpunkt auf das […] Singuläre bzw. Besondere des Erzählens [zu] legen“.12 Denn während die Diskussion um die Narrativität von Geschichte und die Unterscheidung von fiktionalem und faktualem Erzählen weit fortgeschritten ist, stellen konkrete und über Einzelanalysen hinausweisende Untersuchungen von Strategien und Verfahren der Narrativierung von Geschichte in volkssprachigen Erzählungen mit historischem Wahrheitsanspruch nach wie vor ein dringendes Forschungsdesiderat dar.

Zurückgegriffen werden kann und soll auf ein methodisches Instrumentarium, das zwar vorwiegend für die Analyse im engeren Sinne literarischer Texte entwickelt wurde, dessen Anwendbarkeit auf Gattungen nicht primär literarischen Erzählens aber noch erst zu diskutieren und dessen Historisierung zu erproben ist. Nimmt man für historisches Erzählen nicht von vornherein einen geringeren Grad narrativer Komplexität an, stellt sich nämlich die Frage nach den Spezifika, die sich aus einer im Wirklichkeitsanspruch gründenden Erzählweise ergeben, grundsätzlich neu. Nachzuspüren ist in diesem Zusammenhang einer Vielzahl von Aspekten: So der Semantisierung und Funktionalisierung literarischer Muster in wechselnden Kontexten, den Möglichkeiten der Besetzung der Erzählstimme und ihrer Darbietung im Verlauf der Narration, den Verfahren der kognitiven Rezeptionslenkung, der Relevanz perspektivischen und perspektivierenden Erzählens, den Gestaltungsprinzipien diegetischer Zeit, den Techniken kollektiver Identitätsbildung, den im Erzählen verhandelten Formen kulturellen Wissens sowie nicht zuletzt der metaisierenden Selbstthematisierung des Erzählens.

Zur Einlösung dieses Forschungsdesiderats will der Band dadurch beitragen, dass er sein Thema zunächst exemplarisch in historischen Fallstudien zur Kaiserchronik und zur Heilsgeschichte angeht und danach systematisch nach den Strategien der Narrativierung von Vergangenheit fragt. Am Anfang steht der Beitrag der Cambridger Mediävisten Mark Chinca, Helen Hunter und Christopher Young, die ein mehrjähriges Projekt in britisch-deutscher Zusammenarbeit zur Neuedition der Kaiserchronik durchgeführt haben.13 In ihrem Beitrag bewerten sie die reiche Überlieferung der vor 1150 verfassten Kaiserchronik auf dem aktuellen Stand der Forschung neu und demonstrieren am Beispiel der Tarquinius- und Lucretia-Viten, dass gegenüber dem ‚alten‘ Text (A, um 1150) die zwei späteren Fassungen der Dichtung (B um 1200, C nach 1250) als Neubearbeitungen und literaturgeschichtlich als eigenständige Werke zu gelten haben. Durch die Konzentration auf die im Vergleich der drei Fassungen unterschiedlichen narrativen Techniken, mit denen die ‚Autoren‘ am Text der Kaiserchronik arbeiten, bietet der Beitrag einen überlieferungs- und textgeschichtlichen Einstieg in den ersten Themenblock, der sich der Kaiserchronik als Paradigma widmet.

Die Kaiserchronik ist ein frühes volkssprachliches Beispiel für die Überformung laikalen Geschichtswissens durch Konzepte und Praktiken der lateinisch-gelehrten Historiographie sowie durch biblische Modelle von Weltgeschichte (Weltreichelehre, Typologie). Allerdings sucht die Forschung nach wie vor nach einem einzigen narratologischen und epistemischen Deutungsschlüssel, der es erlaubt, das heterogene Text-, Erzähl- und Wissenskonglomerat der Chronik aufzuschließen.14 Zwei Beiträge setzen bei diesem grundsätzlichen Problem an und entwickeln neue Lösungen: Jan-Dirk Müller (München) geht von Textpassagen aus, die sich – so wie die Darstellung der Welt vor Caesar und die biblische Daniel-Prophezeiung – dem chronologischen und geschichtstheologischen Gesamtkonzept der Kaiserchronik entziehen. Es gelingt ihm, das Zeitkonzept der Episoden herauszuarbeiten und eine ‚ältere‘ Schicht des Erzählens von Geschichte freizulegen, die Ereignisse der Vergangenheit nicht chronologisch und faktenbeschreibend, sondern – anders als gelehrte Geschichtsschreibung – in ihrer Bedeutsamkeit darstellt.15 Unter anderen methodisch-theoretischen Prämissen skizziert Christoph Pretzer (Oxford) alternativ eine Interpretation, wonach das Erzählen in der Kaiserchronik ihren Erfolg nicht aus einem in sich kohärenten Erzählplan, sondern aus einer pluralen Vielfalt der Erzählansätze gewinnt. Deren dominanter Gestaltungsfaktor seien die Einzelepisoden und exemplarische Erzählweisen, obwohl auch gelehrte Verfahren eine Rolle spielen.

Hier schließen drei Analysen an, die sich speziell mit der narrativen Organisation der Kaiserchronik auseinandersetzen. Elke Brüggen (Bonn) analysiert die Ebene der Figurenzeichnung und fragt in nuancierter Analyse, mit welchen Effekten die Gegner des römischen Reichs in der Caesar-, Tarquinius- und Severus-Vita dargestellt werden. Narrativierung von Geschichte, so ihr Ergebnis, arbeitet mit unterschiedlichen Verfahren, zu denen die Dynamisierung des Erzählplots, die Strukturierung der Figurenbeziehungen, doch auch intra- und intertextuelle Verknüpfungen und das Kombinieren von Erzählmustern gehören. Silvia Reuvekamp (Münster) erörtert die Bedeutung topisch-exemplarischer Wirklichkeitskonstruktion in den Figurenhandlungen der Kaiserchronik und in Konrads Trojanerkrieg. In Auseinandersetzung mit jüngeren Forschungsansätzen zeigt sie am Beispiel der Lucretia-Erzählung zunächst die Unterschiede zwischen antiker und christlicher Geschichtskonzeption, um dann differenzierend zu klären, inwiefern sich die Figurengestaltung der Lucretia in der Kaiserchronik und des Jason im Trojanerkrieg zu einer Geschichtsdarstellung noch in den Grenzen einer exemplarischen Sinnbildung bewegt, einer Darstellungsweise, die mit seriellen Wiederholungen arbeitet und die Aufmerksamkeit auf die Bedingungen des Erzählens selbst lenkt. Bettina Bildhauer (St Andrews) behandelt die metanarrativen Passagen in der Kaiserchronik und rückt insbesondere die textile Netz- und Webmetaphorik in den Blick, wie sie in der viel diskutierten Severus- und Adelger-Episode16 mit der Binnenerzählung vom gegessenen Hirschherzen zu fassen ist. Ihre anregende Interpretation gilt dem in der Tierfabel angelegten poetologischen Modell für die Rezeption der Erzählung und damit das Verstehen von Geschichte.

Nach der Konzentration auf die Kaiserchronik befassen sich zwei Beiträge mit heilsgeschichtlichen Narrativen, indem sie das Erzählen von Geschichte zunächst unter dem Aspekt der Zeitlichkeit betrachten. Christina Lechtermann (Frankfurt am Main) untersucht narrative Inszenierungsformen von Zeit und Ereignis in der Erlösung, einer heilsgeschichtlichen Dichtung aus dem 14. Jahrhundert. Dabei geht es ihr um einen aus einer Bibelstelle in den Psalmen (Ps. 84,11) entwickelten ‚Streit der Töchter Gottes‘ über die (Un-)Erlösbarkeit der Menschheit nach dem Sündenfall, der mit jeweils wechselnden Positionen zwischen der personifizierten Barmherzigkeit, Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden ausgetragen wird. Der Versöhnungskuss von Gerechtigkeit und Frieden, der den Streit beendet, steht am Anfang der Erzählung. Von dieser besonderen Konturierung her erhellt der Beitrag die narrative Organisation von Vorher-Nachher-Verhältnissen und Wiederholungen, doch auch das Verhältnis von Allegorie, Offenbarung und Verkündigung. Im Rahmen der Begriffstrias ‚imaginatio, Anachronismus und Heilsgeschichte‘ untersuchen Mary Boyle (Oxford) und Annette Volfing (Oxford) anachronistische Verfahren der literarischen Vergegenwärtigung von Heilsgeschichte. Das zentrale Ergebnis ihrer Analyse ist, dass so unterschiedliche Textsorten wie mystische Prosa, geistliches Spiel und Bibelepik eigene Strategien verfolgen, um die lineare Struktur geschichtlicher Zeit zugunsten der Präsenz religiöser Erfahrung aufzuheben.

Die anschließenden Beiträge widmen sich dem biographischen und typologischen Erzählen im biblischen und heilsgeschichtlichen Kontext. Rabea Kohnen (Wien) fragt nach den in der Bibel erzählten Lebensgeschichten, für die es bezeichnend sei, dass sie durch ein übergeordnetes Verständnis von Geschichtlichkeit und Heilsgeschichte verbunden sind. Am Beispiel Johannes des Täufers, einer durch ihre Konkurrenz zu Jesus ambivalente Gestalt, analysiert sie so am Beispiel der volkssprachigen Evangelien-Bearbeitungen im Passional und in der Saelden hort die Doppelheit von biographischem und heilsgeschichtlichem Erzählen. Gerade für das Verständnis von Heilsgeschichte erweist sich der Ansatz als lohnend, da sich zeigt, wie komplex biographisches und geschichtlich-theologisches Erzählen zusammenspielen, um religiöses Heil als überzeitliche Wahrheit zu erzählen. Cora Dietl (Gießen) analysiert den Prosatraktat Vom Antichrist des Österreichischen Bibelübersetzers als hybride Kombination verschiedener Schreibmodi und damit als Konstrukt heilsgeschichtlichen Wissens. Wie sich nämlich beispielhaft für mittelalterliches Erzählen von Geschichte zeigt, vertritt der Text mit seinem narrativen und zuweilen pseudo-historiographischen Darstellungsmodus einen gegen gelehrte Methoden gerichteten Laienstandpunkt, der gerade in den Beglaubigungsstrategien hervortritt.

Im Blick auf den Sachverhalt, dass im heilsgeschichtlichen Denken der Christen die von Gott erschaffene Welt einen absoluten Anfang und mit dem Jüngsten Gericht ein vorbestimmtes Ende hat, gehen weiteren Beiträge der Frage nach, welche Narrative und Denkformen sich im Kontext dieses Geschichtsverständnisses, sei es weltlicher, sei es in geistlicher Literatur, aufspüren lassen. Sandra Linden (Tübingen) erkundet die in den Prologen volkssprachlicher Geschichtsdichtung greifbaren Vorstellungen, wie historisches Erzählen gestaltet sein soll. Der Ansatz erweist sich als aufschlussreich, da sowohl große Geschichtswerke wie Jans Enikels Weltchronik und Ottokars Österreichische Reimchronik als auch kleinere Erzählungen wie das Annolied poetologische Erörterungen bieten. Nicht zufällig mündet die Analyse in wichtige Fragen: Operiert historisches Erzählen mit anderen Vermittlungs- und Wissensmodellen als fiktionales Erzählen? Welche Begründungsstrategien beglaubigen dieses Erzählen? Greift es auf eigene Autor-Werk-Konzepte zurück, um sich von fiktionalem Erzählen abzugrenzen? In gewisser Nähe zu diesem Fragenbündel erörtert Mathias Herweg (Karlsruhe) die These, das epische Œuvre Heinrichs von Veldeke erhalte seine Kohärenz nicht durch den neuen Stil des höfischen Erzählens, sondern dadurch, dass Veldeke Geschichte als narratives Projekt volkssprachlicher Literatur etabliert. Für die Begründung dieser höchst produktiven These vergleicht er den hagiographischen Sente Servas und den höfischen Eneasroman und zeichnet auf narratologischer Ebene schlüssig nach, wie beide Erzählungen ihre durch biblische Narrative geprägten Episoden in die Reichs- und Heilsgeschichte einfügen.

Almut Schneider (Göttingen) wirft die Frage auf, in welcher Weise Konrads von Würzburg Trojanerkrieg das Denkmuster der Typologie dem historischen Erzählen als narratives Verfahren unterlegt ist. In einer klug aufgebauten Lektüre, die der Beschreibung des künstlichen Vogelbaums am Hof des Priamos gilt (Trojanerkrieg, v. 17560–17613), kann sie zeigen, wie die Beschreibung antike Deutungsmuster christlich umbesetzt wird. Dabei erweist sich die Typologie als Ordnungsmuster wie Strategie kunstvollen Vergegenwärtigens historischer Ereignisse. Nine Miedema (Saarbrücken) untersucht Verfahren und Strategien der Innenwelt-Darstellung in Rudolfs von Ems Weltchronik und zeigt auf breiter Materialbasis, inwieweit Gedankenreden und Soliloquien nicht nur der Vermittlung faktualen historischen Wissens dienen, sondern eine emotionale Aneignung der erzählten Weltgeschichte ermöglichen. Komplementär bietet Henrike Manuwald (Göttingen) eine subtile Interpretation der geschichtlichen Verortung einer Heiligenvita. Ihr Beispiel ist das Sankt Stephans Leben Hawichs des Kellners, eine Vita, die wegen des spezifischen Umgangs mit der Historizität des Stephanus-Lebens näheres Hinsehen verdient.17 Die Erzählung verarbeitet historische Ereignisse in enger Vernetzung mit der politischen Geschichte, so dass sich der Fokus des Erzählten auf die Einführung einer christlichen Rechtsordnung verschiebt.

Die Narrativierungsstrategien eines in der Forschung bisher kaum wahrgenommenen Werkes aus frühhumanistischen Kreisen, der Excerpta chronicarum des Johannes Platterberger und Dietrich Truchseß, erhellt Linus Ubl (Oxford). Er zeigt, wie der ‚Konstruktcharakter‘ der Geschichte auf mehreren Ebenen konsequent transparent gehalten wird – und schon im Titel des Werkes (Excerpta chronicarum statt etwa Liber chronicon) explizit angelegt ist –, um Geschichte als konstruierte und reflektierte Verknüpfung von Vergangenheitspartikeln zu präsentieren. Auch die Zeitlichkeit wird zum Gegenstand reflexiver Betrachtungen, wenn Unstimmigkeiten zwischen unterschiedlichen Quellentexten beobachtet und erörtert werden. Ein Beispiel von anderem Zuschnitt stellt Henrike Lähnemann (Oxford) in ihrem Beitrag zur 1462 beim Bamberger Drucker Albrecht Pfister gedruckten Kompilation der alttestamentlichen Joseph-, Daniel-, Judith- und Esther-Bücher vor. Da die in Manchester beheimatete John Rylands Library eine der größten Sammlungen von Pfister-Drucken weltweit beherbergt, hat der Beitrag einen willkommenen Bezug zum Tagungsort. Die Überlegungen machen deutlich, wie wichtig es ist, die für Drucke und ihren Wahrheitsanspruch zentrale Bezeichnung der historia auf das implizite Geschichtskonzept zu befragen.

Die erzählerische Formierung der Selbstwahrnehmung und Identität von Gruppen und Gemeinschaften stellen weiterführend gleich mehrere Beiträge zur Diskussion.18 Gerhard Wolf (Bayreuth) fragt nach Formen und Funktionen narrativer Identitätsstiftung in deutschsprachigen Reimchroniken und zieht in einem weiten zeitlichen Panorama dafür das Annolied, die Kaiserchronik sowie Gottfried Hagens Reimchronik der Stadt Köln heran. Wie der Beitrag überzeugend herausarbeitet, entwerfen die Chronisten selten nur ein einziges Identitätsangebot – sie gestalten stattdessen zumeist mehrere verschiedene Formen politischer, sozialer, religiöser oder ästhetischer Selbstwahrnehmung. Ricarda Bauschke (Düsseldorf) behandelt einen wenig bekannten französischen Text, Le voyage de Charlemagne à Jerusalem, der mit der Karlsepik allerdings eine in der deutschen Literatur überlieferte Gattungstradition aufgreift. In einer eng am Text durchgeführten Analyse des Werkes beleuchtet sie präzise die Interferenzen zwischen parodistischem Erzählmodus einerseits und historischem Erzählen andrerseits.

An die Diskussion zum identitätsstiftenden Geschichte-Erzählen knüpft Cordula Kropik (Basel) an, indem sie am Beispiel spätmittelalterlicher Sängererzählungen die Interferenz von Helden- und Dichtersage verfolgt. Dabei begnügt sie sich mit Recht nicht mit dem herkömmlichen Verständnis, wonach die Dichtungen eine anachronistische Tradition der deutschen Literatur ‚erfinden‘. Stattdessen erweist sich die narrativ hergestellte Konstruktion einer kulturellen Identität volkssprachlicher Dichter als eine Form von ‚ästhetischem Gedächtnis‘. Julia Frick (Zürich) konzentriert sich auf ein aspektreiches Fallbeispiel aus dem späten Mittelalter, den Trienter Judenprozess, der als zeitgenössisches Ereignis im 15. Jahrhundert literarisch verarbeitet und im Druck verbreitet wurde. In eingehenden Vergleichen der lateinischen und volkssprachigen Textzeugnisse arbeitet sie die hochgradig parteiliche Narrativierung des Prozesses heraus und weist so die narrativ-diskursiven Muster nach, die den Umgang mit den historischen Fakten prägen.

Grundmuster des historischen Erzählens werden im abschließenden Themenblock aus geschichtswissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Perspektive kritisch hinterfragt. Aus der differenzierten Perspektive des Historikers fragt Len Scales nach Kennzeichen des ‚staufischen Zeitalters‘ und führt – ausgehend von Beobachtungen zur Stuttgarter Ausstellung Die Zeit der Staufer im Jahre 1977 – in souveräner Weise vor, dass mittelalterliche Zeitgenossen eine als ‚staufisch‘ wahrgenommene dynastische, politische, künstlerische oder literarische Tradition nicht kannten. Der Beitrag, der auf einen öffentlichen Abendvortrag im Historischen Lesesaal der John Rylands Library zurückgeht, verdeutlicht überzeugend, unter welchen speziellen Umständen die Vorstellung eines ‚staufischen Zeitalters‘ überhaupt aufgekommen ist.

Abgerundet wird der Band durch zwei Fallstudien zu den römisch-deutschen Herrschern des Spätmittelalters. Anne Simon (London) geht es mit Blick auf die geschichtliche Rolle Karls IV. um die Chronistik und Memorial-Architektur in der Reichsstadt Nürnberg vom späten 14. bis frühen 16. Jahrhundert. In der Stadtchronik Sigmund Meisterlins wie auch der Weltchronik Hartmann Schedels lassen sich exemplarisch an die imperiale Macht angelehnte Strategien reichsstädtischer Selbstlegitimierung – Gründungsnarrative ebenso wie Erzählungen von der Promulgation der Goldenen Bulle (1356) und der Überführung der Reichskleinodien (1424) – beobachten. Eine Entsprechung finden diese Strategien in der baulichen Inszenierung des Schönen Brunnens als Erinnerungsort von Herrschaft und in dem Ritual des Männleinlaufens, das an die Huldigung Karls IV. durch die deutschen Kurfürsten erinnert. Stefan Matter (Fribourg) erläutert anhand eines aus 203 Zeichnungen bestehenden Konvoluts in Washington DC die Entstehungsumstände von Kaiser Maximilians Freydal; bisher als Nachzeichnungen verkannt, erweisen sich die Washingtoner Illustrationen tatsächlich als Vorarbeiten und gewähren einen Einblick in die literarisch-künstlerische Aufarbeitung der Karriere Maximilians als Ritter. Dabei wird der Fokus nicht auf die narrativen Erzählung jener Karriere gerichtet – es fehlen alle Angaben zu den ‚historischen‘ Umständen der Turnierkämpfe –, sondern allein auf die Kleidung des Kaisers und auf den Ausgang der Kämpfe gegen die mit Namen versehenen, jedoch nicht individuell gestalteten Gegner. Die Geschichtskonzeption des Freydal lässt damit historisch verbürgte Vorstellungen der Prachtentfaltung und Majestät Maximilians erkennen.

Den wissenschaftlichen Ertrag des Tagungsbandes resümiert Almut Suerbaum (Oxford) in einem prägnanten Fazit. Die zentralen Ergebnisse der Tagung lassen sich in drei Punkten zusammenfassen. Erstens haben die Beiträge zur Kaiserchronik die Faszination des frühen Hochmittelalters in Erinnerung gerufen, doch zugleich auch die Pole markiert, zwischen denen sich das Erzählen von Geschichte erfassen lässt: Auf der einen Seite ist nicht Chronologie, sondern ‚Bedeutsamkeit‘ die zentrale Kategorie für das volkssprachliche Geschichte-Erzählen; auf der anderen Seite hat sich gezeigt, welche Bedeutung gerade Formen von Serialität und Wiederholung haben. Zweitens hat eine Reihe der Beiträge demonstriert, dass Geschichte an Ordnungsstrategien gebunden ist, die es erlauben, aus der unbegrenzten Fülle des Materials auszuwählen und das Ausgewählte zu ordnen, was immer auch die Reflexion über Zeit und Zeitlichkeit in der Geschichte verlangt. Die Auseinandersetzung mit dem Mittelalter lehrt also, dass unsere heutigen Konzeptionen von Zeit der Historisierung bedürfen. Drittens haben die Beiträge entschieden einem differenzierteren Blick auf den Status der Volkssprache und volkssprachlichen Literatur zugearbeitet. Deutlich wurde, wie man über den oftmals vagen Begriff des Hybriden hinauskommt, indem man das Zusammenspiel unterschiedlicher Erzähltraditionen präzise beobachtet und beschreibt. Volkssprachliches historisches Erzählen versteht sich einerseits als Fortsetzung der gelehrten Tradition, etwa wenn es sich explizit auf lateinische Quellen beruft. Andererseits gibt es nicht wenige Fälle, in den sich Texte als expliziter Neubeginn verstehen, an volkssprachige Traditionen anschließen, ihre Distanz zu anderen Traditionen markieren und sich auf weltliche wie geistliche Gründerfiguren berufen, um die eigene Tradition zu rechtfertigen oder erst selbst zu stiften.

Die Tagung in Manchester hatte es sich zum Ziel gesetzt, die Darstellung von Geschichte in der deutschen Literatur des Mittelalters auf der Basis von Forschungen zur narrativen Modellierung der als wahr geglaubten vergangenen Welt zu bilanzieren und mit dem Blick auf aktuelle wissenschaftliche Aufgabenfelder neu zu erarbeiten. Diese ambitionierte Zielsetzung können naturgemäß auch die Beiträge des Tagungsbandes nicht in jeder Hinsicht einlösen, doch fördern sie, so ist zu hoffen, das Potential des Themas exemplarisch zutage. Daraus dürfte der Impuls resultieren, künftig verstärkt an narratologische Forschungen anzuschließen, wenn es zu verstehen gilt, wie Geschichte aus dem Erzählen von Vergangenheit hervorgeht.

Die Kaiserchronik als Paradigma

Arbeit am Text

Die drei Fassungen der Kaiserchronik in der Überlieferung am Beispiel von Tarquinius und Lucretia

Mark Chinca, Helen Hunter und Christopher Young

Kaum ein anderes Werk des deutschen Mittelalters eignet sich für eine Untersuchung der Narrativierungsstrategien von Erzähltexten so wie die um 1150 vermutlich in Regensburg verfasste Kaiserchronik, die bereits im neunzehnten Jahrhundert als wichtiges Zeugnis der frühmittelhochdeutschen Literatur galt, allerdings zeitweise durch eine Privilegierung der kurz darauffolgenden Blütezeit ins Abseits geriet, und erst im letzten Jahrzehnt wieder intensiver in den Fokus der Forschung gelangt ist.1 Mit ihren knapp 17.000 Versen, die Legende und Sage mit eigener moralischer Pointierung zusammenflechten, schildert sie in einer Abfolge von 55 Herrschern die Geschichte des römisch-deutschen Reichs von Cäsar bis Konrad III. und stellt somit ein außerordentliches Monument der Literaturgeschichte dar. Sie ist die erste volkssprachliche Chronik Europas in Reimpaarversen, das erste Großwerk der frühmittelhochdeutschen Periode überhaupt, und enthält u.a. die erste ausformulierte Lebensgeschichte Karls des Großen in deutscher Sprache.2 Wer also erschließen möchte, was ein Laienpublikum des 12. Jahrhunderts über die Frühgeschichte des Heiligen Römischen Reiches wusste oder hörte, begegnet in diesem Text einer Vielzahl von Spuren und Belegen.

Dem Werk war offenbar ein großer Erfolg beschieden. Binnen hundert Jahren nach seiner Entstehung wurde es bekanntlich zweimal überarbeitet: zunächst um 1200, als der höfische Roman sich entfaltete und auf seinen Höhepunkt zuging; und nochmals 50 Jahre später, zu einer Zeit, als der Weltchronistik eine immer bedeutendere Rolle zukam. Diese jüngeren Fassungen (B und C genannt) wurden wohl in Unkenntnis voneinander unternommen und sind als völlig unabhängige Bearbeitungen zu verstehen. Dass es beiden Bearbeitern in erster Linie um eine formale ‚Modernisierung‘ des alten Textes ging, d.h. um reine Reime und metrischen Ausgleich, die den als altertümlich und nicht mehr zeitgemäß empfundenen frühmhd. Text der inzwischen etablierten poetischen Norm des paargereimten Vierhebers anpassen sollte, gilt längst als Gemeingut der Forschung. Die C-Fassung erhielt außerdem einen neuen Prolog und wurde durch zwei Fortsetzungen ausgeweitet (die sogenannte ‚bairische‘ und die sogenannte ‚schwäbische‘), die jeweils die Ereignisse aus der deutschen Reichsgeschichte bis zum Jahr 1250 erzählen und den Bericht bis zum Jahr 1278 weiterführen.

Die Beliebtheit des Werkes lässt sich auch an dem beträchtlichen Umfang seiner Überlieferung ablesen. Alle drei Fassungen wurden nämlich lang, breit und – signifikanterweise – parallel tradiert: Die A-Fassung mit 19 hochdt. Textzeugen vom 12. bis zum späten 15. Jahrhundert, die B-Fassung mit 15 Textzeugen vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, und die C-Fassung mit 11 Zeugen vom 13. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert; eine weitere Handschrift überliefert eine Mischfassung von A und C.3 Von diesen insgesamt 46 Überlieferungsträgern enthalten drei noch den vollständigen Text von A, zwei den von B in vollem Umfang (ein dritter Zeuge ist defekt), vier den kompletten Text von C (ebenfalls auch mit einem bedeutenden aber defekten Zeugen); der Text der AC-Mischfassung bricht in der Karlsepisode ab. Am Ende des 16. Jahrhunderts kam noch eine frühneuzeitliche Umarbeitung der C-Fassung hinzu. Die nicht-fragmentarischen Überlieferungszeugen deuten auf die Anschlussfähigkeit des Werkes hin: Während C (mit Ausnahme der Mischfassung) nur alleine vorkommt, treten A und B auch in Sammelhandschriften auf, etwa in Verbund mit anderen Texten frühmhd. Literatur oder mit dem höfischen Roman und der Heldenepik. Zum Kontext dieser gewaltigen Tradierung gehören außerdem die lateinische Übersetzung eines kurzen Abschnittes sowie zwei Prosabearbeitungen des 13. Jahrhunderts, die sich in Kombination mit der Sächsischen Weltchronik und dem Schwabenspiegel einer umfangreichen Verbreitung erfreuten, und eine dreimal in Verbindung mit ersterer erhalten gebliebene niederdeutsche Fassung.4 Alles im allem lässt sich nachdrücklich bestätigen, was Eberhard Nellmann vor mehr als dreißig Jahren behauptete: „[K]ein anderer Text des 12. Jahrhunderts war derart erfolgreich.“5

Die Erforschung dieses literarhistorisch sowie überlieferungsgeschichtlich bedeutenden Werkes ist allerdings erschwert durch die 1892 von Edward Schröder vorgelegte kritische Ausgabe, die die Rekonstruktion der A-Fassung in ihrer ursprünglichen Gestalt auf der Grundlage der Vorauer Hs. anstrebte, die spätere Bearbeitungen jedoch stiefmütterlich behandelte und bis auf vereinzelte Angaben im Apparat gänzlich aussparte.6 Schröders Ausgabe und die damit verbundene Verfestigung der A-Fassung in der Literaturgeschichte haben die Entwicklung der Forschung maßgeblich geprägt und eindeutig beschränkt. Denn wie Kurt Gärtner vor geraumer Zeit feststellte: „Die Bearbeitungen B und C sind […] neue Werke. Auch wenn die Veränderungen des alten Textes nicht immer so weit gehen wie in der Strickerschen Bearbeitung des Rolandsliedes, eines von Form und Stil her der Kaiserchronik verwandten Werkes, so verdienen die Fassungen B und C ebenso wie Strickers Karl eigene Ausgaben, allerdings am besten in einer Synopse zusammen mit der ursprünglichen Fassung A. […] Die Fassungen B und C der Kaiserchronik gehören zu den Editionsdesideraten der Versepik des 13. Jahrhunderts.“7

Mit der Vorbereitung einer synoptischen Ausgabe aller drei Fassungen als Teil eines durch den britischen Arts and Humanities Research Council geförderten und in Cambridge, Marburg und Heidelberg durchgeführten Großprojektes soll dieser Wunsch jetzt endlich in Erfüllung gehen.8 Vorausgesehen ist eine Edition der drei mhd. Versfassungen der Chronik mit Einleitung, Stellenkommentar und kritischem Apparat. Als Leithandschriften sollen jeweils die Vorauer Handschrift (A), die Wiener Handschrift ÖNB Cod. 2779 (B), und eine zweite Wiener Handschrift ÖNB Cod. 2685 (C) dienen. Ein zweites, eng damit verbundenes Ziel des Projekts – Kaiserchronik digital – ist bereits abgeschlossen9 und öffnet der Forschungscommunity die gesamte Kaiserchronik-Überlieferung in digitalisierter Form im Rahmen einer Online-Präsentation. Jede Handschrift und jedes Fragment wird von einer recherchierbaren Transkription begleitet in einer Konstellation, die es den Nutzern erlaubt, entweder die Handschriften oder die Transkriptionen aufzurufen und in verschiedenen Kombinationen parallel zu lesen.10

Diese komplementär konfigurierten Ausgaben haben eigene Stärken und Schwerpunkte. Jene stellt die synoptische Vielfalt des Werkes zum ersten Mal in gut lesbarer Form dar, während diese multiple Vergleiche ermöglicht und feinste Unterschiede der Textvarianz dokumentiert, die in einem traditionellen Apparat sonst verlorengingen. Zusammen dienen beide Editionen dazu, neue Fragestellungen sowie innovative Zugänge zu einem der bedeutendsten Werke des deutschen Mittelalters zu eröffnen. Einige dieser Fragen werden im Folgenden am Beispiel der Tarquinius-Episode erläutert. Der Aufsatz soll konkret und exemplarisch zeigen, wie im deutschen Mittelalter eine Geschichte erzählt, umerzählt und weiter tradiert wurde. In einem ersten Schritt fokussiert er die Varianz der A-Fassung und in einem zweiten den Text der drei Fassungen. Aus Platzgründen kann die Analyse nur diese einzelne Episode behandeln und muss die Frage nach einer möglichen globalen Kohärenzstiftung des Werkes ausklammern, die die Forschung in letzter Zeit beschäftigt hat.11

I. Varianz von Fassung A

Ausführliche Studien zur Varianz der drei Fassungen sind in Vorbereitung und folgen in nächster Zeit, so dass wir uns hier auf die bedeutendsten Aspekte der bekannten A-Fassung beschränken.1 Bei der Arbeit an beiden Ausgaben hat sich die A-Fassung immer wieder als ein dynamischer, von Beginn an für Retextualisierungsversuche offener Text gezeigt.2 Text- und überlieferungsgeschichtlich wesentlich ist, dass man an der Überlieferung von A genau dieselben formalen Tendenzen zur Besserung von Reim und Metrum beobachten kann, die für die Fassungen B und C so prägend sind. Wie eingangs erwähnt, wird von der Forschung immer wieder zu Recht behauptet, dass die Redaktionen B und C den alten Text von A modernisieren, und zwar auf eine Weise, die dem durch die höfische Epik bedingten Formwandel Rechnung trägt: Unreine Reime und Assonanzen werden beseitigt; die Toleranz der frühmhd. Dichtkunst gegenüber metrisch langen Versen mit bis zu sieben Hebungen und einer in rhythmischer Hinsicht sehr freien Taktfüllung (Takte – und auch Auftakte – mit drei und sogar mehr Silben sind in der Fassung A keine Seltenheit) wird eingeschränkt: In den Fassungen B und C wird der Vierheber mit geregeltem Wechsel von Hebung und Senkung zur angestrebten – wenn auch nicht immer vollkommen verwirklichten – metrischen Norm. Aus der Überlieferung der A-Fassung geht aber sehr deutlich hervor, dass es offensichtlich möglich war, den in formaler Hinsicht altertümlich wirkenden frühmhd. Text zu aktualisieren, ohne am Versbestand drastische Änderungen vorzunehmen. Dies war Schröder wohl bekannt, wie in folgendem Satz deutlich zum Ausdruck kommt: „Die hss. 2 und 4 [nach unseren Siglen: M und H] haben die gleiche tendenz, den vers von überflüssigem zu entlasten und mit bequemen mitteln einen reinen reim zu schaffen (2 freilich weit mehr als 4); sie treffen daher massenhaft in auslassungen und gelegentlich auch einmal in einer naheliegenden reimbesserung zusammen“.3 Dem Editor des neunzehnten Jahrhunderts, der sich zum Ziel gesetzt hatte, den Archetypus der A-Fassung möglichst getreu zu rekonstruieren, war diese Tatsache allerdings uninteressant.4 Seine Gleichgültigkeit hat sie der Forschung auch dauerhaft verschleiert.

Als Beispiel für die metrische Modernisierung des A-Textes nehmen wir folgende Zeilen aus der Tarquinius-Episode.5 Der Kontext ist folgender: Die Römer, die vor Viterbo lagern, um sich für die heimtückische Behandlung ihres Freundes Conlatinus zu rächen, unterhalten sich in einer Kampfpause. Bevor Conlatinus voller Selbstbewusstsein behauptet, die beste Frau in Rom zu haben, und mit verhängnisvollen Konsequenzen mit Tarquinius darüber eine Wette schließt, geht es allgemein um verschiedene höfische Themen:

 

V. 4423–25

A1

an den selben stunden

 

redeten si von sconen rossen unde von guoten hunden,

 

si redeten von vederspil,

 

[…]

H

an den selben stunden

 

redeten sie von rossen unt guten hunden,

 

si redeten von vedirspil,

 

[…]

M

an den selben stunden

 

von rossen si reden begunden,

 

von hunden unt von vederspil.

a2

an den selben stunden

 

reten si von schœnen rossen unt von guoten hunden.

 

si reten ouch von vederspil.

Der zweite Vers (V. 4424) hat sieben Hebungen in A1 (rédeten sí von scónen róssen únde von gúoten húnden; wenn man nach dem Heuslerschen System zählt, und die weibliche Kadenz als zweihebig auffasst, sind es sogar acht Hebungen), aber nur fünf (bzw. sechs) im Text von H, der das Adjektiv schœne getilgt und die Präpositionalphrasen von einem einzigen von abhängig gemacht hat (rédeten sí von róssen unt gúten húnden). Das Fragment a2 weist eine andere Lösung auf. Die Interpunktion und Rechtschreibung – Reimpunkt hinter rossen; die unmittelbar darauffolgende Konjunktion un(t) bzw. un(de) groß geschrieben – legen nahe, dass der Schreiber den metrisch sehr langen V. 4424 als zwei kürzere Verse von je vier (bzw. fünf) und drei (bzw. vier) Hebungen aufgefasst hat, obwohl diese Spaltung des Verses den Reim zerstört: Das Substantiv rossen steht verwaist da. Die Münchener Handschrift kürzt die zweite der beiden Präpositionalphrasen (von guoten hunden) und bringt sie in dem nächsten Vers unter, in dem durch die Tilgung von si redeten Platz geschaffen worden ist; V. 4424 bekommt an die Stelle der guoten hunde ein neues Reimwort begunden. Das metrische Ergebnis ist ein Dreiheber (bzw. Vierheber); die Änderungen erzielen darüber hinaus ein höheres Maß an syntaktischer Integration, da die Präpositionalphrasen in den beiden Versen 4424 und 4425 jetzt einer einzigen Verbalphrase reden begunden unterstellt sind: von róssen si réden begúnden, | von húnden únt von véderspíl.

Die Münchener Handschrift verdient besonderes Interesse, weil sie einen Text überliefert, der die für die frühmhd. Dichtung charakteristischen Halb- und unreinen Reime durch reine Reime substituiert. Manchmal wird die Verbesserung durch einfachen Ersatz eines Reimworts herbeigeführt, z.B. in den Versen 4661–62. (Kontext: Die Frau von König Tarquinius erfährt von seiner Wette mit Conlatinus und will, dass der König ihre Ehre wiederherstellt; sonst werde sie nie wieder glücklich sein.)

V. 4661–62

A1Ha15a11

[…]

 

ode si gewunne niemer guot gemute.

 

der kunic ir antworte [antwurte, H].

 

 

M

[…]

 

oder si gewunne nimmer guten mut.

 

der chunich ir antwurt tut.

Alle Handschriften außer M haben den unreinen Reim (ge)mute / -muote : (ant)worte / -wurte. M dagegen hat einen reinen Reim, obwohl dieser die Einheitlichkeit der narrativen Zeitdarstellung empfindlich stört: Das periphrastische antwurt tut ist Präsens und rückt den Dialog zwischen Königin und König, über den der Erzähler sonst nur im Präteritum berichtet, für einen Augenblick in die unmittelbare Gegenwart (vgl. V. 4658: Si tet im manichvalt man; V. 4667: Diu chünigin begund wainen).

Bei einigen Reimbesserungen von M lässt sich eine ambitioniertere Retextualisierungsstrategie erkennen, die weit über den einfachen Ersatz eines Reimwortes durch ein anderes oder besseres hinausgeht. Als Beispiel dafür sei das Reimpaar V. 4361f. angeführt. Der Handlungskontext ist folgender: Die Herren von Trier wollen ihren Erzfeind Conlatinus ermorden lassen; es gelingt ihm, gerade noch mit seinem Leben zu entfliehen.

 

V. 4361f.

A1

[…]

 

daz man in da scolte erslahen.

 

wi kume er dannen entran.

H

[…]

 

daz man in da solde habe irslagen.

 

wie kume er dannen intran.

M

[…]

 

daz man in solt han erslagen,

 

da von ist gut zesagen.

 

wi chaum er dan entran.

 

di red sull wir heben an.

A1H haben den Halb- bzw. unreinen Reim (er)slahen / -slân / ‑slagen : (ent)ran. Der Text, wie er in M überliefert ist, hat einen völlig neuen Vers (Da von ist gut zu sagen), der sich auf das Partizip erslagen reimt; durch die Hinzufügung dieses Verses wäre die originale Assonanz entran verwaist worden, wenn man nicht einen weiteren Vers hinzugedichtet hätte, der sich darauf reimt: Di red sull wir heben an. Mit anderen Worten, aus einem einzigen Verspaar mit Halbreim hat der Schreiber von M (oder der Vorlage von M) zwei Reimpaare je mit Vollreim gebildet; in narratologischer Hinsicht tragen die Plusverse mit ihren sehr formelhaften – man möchte fast sagen: mit ihren banalen – Aussagen zu einer stärkeren Profilierung der Erzählerrolle bei.

Die hier skizzierten Beispiele veranschaulichen, wie sich innerhalb der Fassungen noch viel im Fluß befand. Dass die mittelalterlichen Schreiber über mehrere Jahrhunderte ihre Vorlage so intensiv bearbeiteten, stellt uns vor die erneute Aufgabe, ihre Arbeit an allen drei Redaktionen zu schätzen und verstehen. Deutlicher als in der geplanten Druckausgabe tritt u.a. diese modernisierende Dynamik der A-Fassung sowie zahlreiche Änderungen der B- und C-Fassungen in der digitalen Präsentation hervor.6 Mithilfe der leicht handhabbaren Heidelberger Lichtpultfunktion werden zukünftige Forscher nicht nur die drei Hauptfassungen vergleichen, sondern nach Wunsch etwa mehrere Handschriften einer einzelnen Fassung oder gar ein spätes Zeugnis der A-Fassung neben eines der C-Fassung legen und im vollsten metrischen Detail analysieren können.

II.Die Fassungen B und C

Bekanntlich verändern die B- und C-Fassungen am Inhalt und Zeitgerüst der alten Chronik überraschend wenig. Weder verschwinden Charaktere aus dem Erzählablauf noch treten neue hinzu. Abgesehen von den zwei Fortsetzungen und dem neuen Prolog der C-Fassung werden keine weiteren Herrscher interpoliert oder hinzugefügt, obwohl es an auszufüllenden Lücken in der Herrscherreihe der alten Chronik keineswegs mangelt. Selbst die eklatantesten Abweichungen von der historischen Reihenfolge – der römische König Tarquinius Superbus tritt als Nachfolger Neros auf – werden nicht berichtigt; fiktive Herrscher, wie etwa Narcissus, werden aus dem Bericht nicht beseitigt.

Weder der B- noch der C-Redaktor versuchen, historische Ungenauigkeiten oder Abweichungen der A-Fassung von den im Mittelalter bekannten antiken Quellen zu berichtigen. In der hier zu behandelnden Episode wird z.B. Lucretia nach wie vor von König Tarquinius vergewaltigt, und nicht, wie Livius und Ovid berichten, von seinem Sohn Tarquinius Sextus; der Ehemann von Lucretia bleibt noch ein Verbannter aus Trier, obwohl er den antiken Quellen zufolge aus der mittelitalienischen Stadt Collatia stammte. Der Umstand, dass keiner der beiden Redaktoren diese Fiktionen oder Fehler zu beheben versuchte, hat jedoch nicht unbedingt zu bedeuten, dass man an die faktuale Wahrheit der Geschichte, wie sie vom Verfasser der A-Redaktion erzählt wurde, naiv geglaubt hat: Es ist durchaus möglich, dass die Bearbeiter und ihr Publikum solche und ähnliche Lizenzen für das gehalten hatten, was sie tatsächlich sind, und dass man die Verbindlichkeit eines chronikalischen Berichts an anderen Kriterien gemessen hat als dem der faktischen Wahrheit. Möglicherweise kam es den Bearbeitern und ihrem Publikum in erster Linie auf den moralischen oder exemplarischen Gehalt des Erzählten an, d.h. man beurteilte die ‚Wahrheit der Geschichte‘ vielleicht nicht danach, ob faktengetreu erzählt wird, sondern danach, ob die zum Besten gegebene historia als magistra vitae dient, ob sie also über den Lauf der Welt und über die Folgen menschlichen Handelns auf zuverlässige und verbindliche Weise informiert.1

Aus dem weitgehenden Fehlen einschneidender inhaltlicher Eingriffe lässt sich aber auf keinen Fall folgern, der hinter den Retextualisierungsversuchen stehende Formulierungs- und Gestaltungswille gehe in Änderungen rein formaler Art auf (den Bearbeitern von B und C geht es ja keineswegs nur um die Glättung des Metrums und die Vervollkommnung der Reimkunst). Vielmehr zeigt der durch die Vorarbeiten zu der neuen Edition möglich gewordene und durch die Online-Präsentation der kompletten Überlieferung jetzt schon verifizierbare Vergleich aller drei Fassungen, dass beide Bearbeiter eine Reihe von Textänderungen vornehmen, die die Darstellung, Perspektivierung und Semantisierung der Geschichte neu kalibrieren. Es geht hier, wie eben erwähnt, nicht um Änderungen auf der Ebene der sogenannten histoire – d.h. der Ebene der erzählten Ereignisse und Figuren und deren Verknüpfung und Interagieren in einem Plot –, sondern um solche auf der Ebene des discours – d.h. der sprachlichen Vermittlung der Ereignisse durch den Erzähler.2

Im Folgenden bemühen wir uns anhand der Tarquinius-Episode um ein facettenreicheres und differenzierteres Bild der Bearbeitungstendenzen der B- und C-Fassungen, als man es bisher in den einschlägigen Literaturgeschichten und Handbüchern lesen kann.3 Bei einem narrativisch komplexen, auf heterogenen Quellen beruhenden Werk wie der Kaiserchronik kann die Analyse einer einzelnen Episode zwar keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen, da jede Geschichte ihrer eigenen Studie bedarf. Nichtsdestotrotz glauben wir, dass bei aller späteren Verfeinerung und Relativierung die hier präsentierten Ergebnisse wichtige neue Erkenntnisse für ein Verständnis der Bearbeiter und deren Arbeitstendenzen liefern.

Die Fassung B

Da der B-Redaktor den Text von A allgemein gekürzt hat, wie wohl bekannt, soll es nicht überraschen, dass seine Version der Tarquinius-Episode dreißig Verse weniger als das Original umfasst. Allerdings fällt beim genaueren Vergleich der Fassungen auf, dass der B-Redaktor seine Vorlage nicht nur gekürzt, sondern auch durch eigene Zusätze erweitert hat. Manchmal sind beide Tendenzen in ein und derselben Passage wirksam.

Als Conlatinus, aus Viterbo geflüchtet, sich vor dem Senat beklagt, der den Kriegszug gegen die Stadt beschließt, heißt es z.B:1

A 4368–76

Duo der helt vil balt

floh ze Rome in die stat,

duo claget er den altherren,

wi iz im ergangen ware.

 

 

 

 

 

 

si luten ir scellen:

duo samenten sih die snellen.

si sprachen alle dar zuo,

wi iz Piternære ie getorsten tuon?

si redeten daz iz groz laster wære,

daz iz ie dehaimme Romære gescæhe.

B

do der held lussam

hin wider ze Rom cham,

do begund er sein not sagen

den senatorn und chlagen,

und sein groz swær,

daz er chaum entrunnen wære

von den herren ze Bittern:

die heten in erslagen gern;

daz wær Trierer rat.

daz dauht Romer missetat.

si leuten di schellen:

do samten sich di snellen.

hervart si swuoren,

ze Bittern si vuoren.

An der synoptischen Gegenüberstellung der Passagen in A und B kann man sofort erkennen, dass die Änderungen von B sich alle auf die indirekte Rede beziehen. In der A-Fassung wird der Inhalt von Conlatinus’ Klage äußerst knapp zusammengefasst: do claget er […] wie iz im ergangen ware. Der Grund dafür ist, dass die Tatsachen, über die Conlatinus Bericht erstattet, zwar den Senatoren neu, dem Zuhörer oder Leser der Chronik dagegen bereits bekannt sind: Die dieser Passage unmittelbar vorausgehenden Verse enthalten einen ausführlichen Bericht des Erzählers über den Plan der Trierer, ihren Erzfeind Conlatinus in Viterbo ermorden zu lassen, und auch darüber, wie Conlatinus gerade noch mit seinem Leben davon gekommen war. Aus Rücksicht auf das Publikum verzichtet der Verfasser von A also auf eine Wiederholung der Begebenheiten. Der Bearbeiter von B nimmt dagegen keine Rücksicht auf das Informationsbedürfnis – besser gesagt: auf die Langeweile – seines Publikums, denn in einer beträchtlich erweiterten Wiedergabe von Conlatinus’ Rede lässt er die Verschwörung und die knappe Flucht zum zweiten Mal ausführlich erzählen. Allerdings kürzt er die verbalen Reaktionen der Römer; es heißt nur lapidar: daz dauht Romer missetat (,die Römer hielten es für eine Schandtat‘) und: hervart si swuoren (,sie verpflichteten sich zum Kriegszug‘). Durch diese Kürzung wird ein besonderer Aspekt des A-Textes gedämpft: Die Empörung der Römer über die Provokation, die der Verfasser des A-Textes in indirekter Rede darstellt (,Woher nehmen sich die Viterber die Freiheit?‘; ,Dass so etwas einem Römer passiert, ist ja unerhört!‘), ist nunmehr lediglich als Implikat der Behauptung daz dauht Romer missetat vorhanden. Der Verlust dieses Aspekts wird jedoch durch die Einführung einer neuen Perspektive auf die erzählten Ereignisse kompensiert: Conlatinus erscheint jetzt nicht nur als tapferer Krieger, der die Römer durch seine Waffentaten – also: handelnd – für sich zu gewinnen weiß; seine Rede vor dem Senat weist ihn auch als wirksamen Orator aus, der es versteht, die Römer durch die Überzeugungskraft seiner Worte für seine Sache zu gewinnen.

Tatsächlich besteht ein hoher Anteil der Erweiterungen von B in direkten oder indirekten Reden, die Conlatinus und auch seiner Ehefrau Lukretia in den Mund gelegt werden. Als Conlatinus z.B. die Römer im Kampf gegen die Viterber führt, ergreift er die Fahne und hält in B – das ist der Unterschied – eine Ansprache, mit der er die Römer ermutigt (trœsten) und zum Kampf auffordert (manen):

A 4403–04

Collatinus nam Romare van,

er cherte an den burchgraben.

B

der Trierer Collatinus,

daz puoch sagt uns alsus,

nam Romer vanen,

er begund si trœsten und manen.

Als Conlatinus behauptet, seine Frau sei die beste, drückt er sich in B ausführlicher aus als in A:

A 4441–46

Duo sprah der ellende man,

der von Triere dar kom:

‘sam mir min lip!

ih han daz aller frumigiste wip

di der ie dehain man

uf romisker erde gewan’.

B

do sprach der ellende man

 

von Trier: ‘sam mir mein leip!

ich hans allr beste weip

die mein ougen ie gesach.

ich weiz wol daz mir nie geschach

von ir reht leide.

dez swer ich tausent aide,

daz nie weip enwart,

si ist von einer reiner art,

daz weiz ich wol ane wan’.

Diese Ergänzung ist besonders signifikant, weil sie aus einer Prahlerei (,ich habe die allerbeste Frau, die es in Rom je gegeben hat!‘) eine Liebeserklärung macht (,ich habe die allerbeste Frau, die mein Auge je gesehen hat‘). Conlatinus wird als getreuer Ehemann dargestellt, und seine Frau steht ihm an Vorbildlichkeit in nichts nach, wie aus seiner Rede hervorgeht. In diesem Zusammenhang verdient die Passage, in der Lukretia in die Erzählung eingeführt wird, unser Interesse. Der B-Redaktor tilgt den Hinweis auf Ovid und stellt stattdessen Lukretias von Gott gegebene sinne heraus:

A 4337–46

diu hiez Lucretia:

si stat in Ovidio gescriben da.

do wart im daz wip

rehte also der lip.

duo minnet ouh in diu frowe

mit aller slahte triwen,

mit zuhten unde mit guote,

mit aller deumuote

minnete si den helt palt.

si heten grozer wunne gewalt.

B

deu hiez Lucretia:

also stet geschriben da.

do er genam daz wip,

si ward im liep sam der leip.

ouch begunde in die vrowe minnen

mit allen irn sinnen.

si waz vil deumüet

und phlak vil grozzer güet.

da mit zierte si ir leben.

die sinne het ir got geben.

Mit sinne meint der Erzähler die Demut und die Güte, die Lukretias Charaker bestimmen; diese Tugenden legt sie wie ihr Ehemann nicht nur handelnd, durch vorbildliches Verhalten, sondern auch redend an den Tag. Dies sieht man deutlich an der Ansprache, die Lukretia gegen Ende der Episode vor ihren Verwandten auf dem Festmahl hält:

A 4767–68

 

B

si sprach: ‘nu vernemt freund alle

wie eu daz gevalle:

vil offenlichen sagete si Romæren allen

wi iz ir mit dem kunige was ergangen.

ich wil eu offenleichen verjehen

was mir laides ist geschehen.

ein vil groz missetat:

der chünich mich behuoret hat.

daz schult ir vernemen rehte.

vor der naht næhte,

do ich mich legen wolte

und vil gern slaffen solte,

mein leut warnt mir entwichen,

der chünich der cham geslichen.

dehein mich vervie:

des chuniges wille an mir ergie.

daz lat eu allen leit sein,

freund und lieben mag mein!’

In narratologischer Hinsicht handelt es sich um eine Situation, die Conlatinus’ Klage vor dem Senat sehr ähnelt: Eine bereits erzählte Ereignisabfolge wird erneut wiederholt, diesmal aber von einem innertextlichen oder intradiegetischen Erzähler vor einer textinternen Zuhörerschaft. In dieser Situation verfahren der jeweilige Autor bzw. Redaktor genauso wie vorher. Der Autor der A-Fassung erspart seinem Publikum die Wiederholung des ganzen Hergangs, indem er den Inhalt von Lukretias Ansprache knapp referiert (die Ähnlichkeit zu Conlatinus reicht bis in die verwendete Formulierung si sagete […] wie iz ir ergangen was); der B-Redaktor lässt dagegen die Ereignisse noch einmal ausführlich erzählen, in diesem Fall mit einer langen fingierten direkten Rede, die Lukretia in den Mund gelegt wird. Diese sermocinatio hat jedoch eine andere Funktion als die indirekte Rede des Conlatinus: Während es dem Bearbeiter dort darum ging, Conlatinus als wirksamen politischen Redner zu charakterisieren, kommt es ihm hier darauf an, das Pathos der Szene zu steigern, in der Lukretia, in ihrer Rolle als Verkörperung ehelicher Tugend und Treue, Selbstmord begeht.

Damit sind wir bei der wohl signifikantesten Neuakzentuierung der Erzählung durch den B-Redaktor angelangt, und zwar die Einführung von Tarquinius und Conlatinus:

A 4301–09

Daz buch kundet uns sus:

daz riche besaz duo Tarquinius.

der was der ubermutigest man

der ie von muter in dise werlt bekom.

B

Daz buoch sagt uns alsus:

daz reich besaz Tarquinus.

er waz der übermüetigest man

den ie dehein muoter gewan.

des engalt er vil schiere.

Ain furste was bi den ziten ze Triere,

der gewan michel liebe

ze Tarquinio dem kunige.

iz erginc in baiden ubele.

er was ain riter vil gemait,

[…]

ein vürste chom von Triere,

 

 

 

der was ein ritter gemait,

[…]

In der A-Fassung fängt die Episode mit beiden männlichen Protagonisten und dem Motiv ihrer Freundschaft an; die Darstellung dieser Ausgangskonstellation geschieht im Zeichen der Prolepsis iz erginc in baiden ubele. Der B-Redaktor ersetzt diese Vorausdeutung durch eine andere: des engalt er vil schiere. Diese Prolepsis bezieht sich bezeichnenderweise nicht auf beide Männer, sondern auf Tarquinius; sie wird außerdem um einige Verse vorgezogen, so dass sie unmittelbar nach dem Hinweis auf den exzessiven übermuot des Königs steht; durch die Hinzufügung der Konjunktion des (,deswegen‘) wird die Prolepsis außerdem mit dem Motiv der königlichen superbia kausal verknüpft: Tarquinius wird ein böses Ende nehmen, weil er so hochmütig ist. Was die A-Fassung als Geschichte einer Männerfreundschaft mit tragischem Ausgang präsentiert, wird in B zu einem Exemplum des vor dem Fall kommenden Hochmuts umstilisiert.

Die moralisatio wird zum Schluss der Episode in einem Erzählerkommentar unterstrichen, der keinen Zweifel daran lässt, dass die Umakzentuierung der Geschichte eine vom B-Redaktor bewusst eingesetzte Strategie ist. In der A-Fassung beklagt Conlatinus in einem Selbstgespräch das Leid, das ihm der König angetan hat, bevor er diesen ersticht; der B-Redaktor streicht die Rede, um unmittelbar zur Darstellung der Tat überzugehen; und dort, wo die A-Fassung die Reaktion von den Anhängern des Königs in den Fokus bringt, spricht die B-Fassung das Urteil des Erzählers aus: wie wol sein leip dez wert waz! (,Wie wohl [der König] den Tod verdient hat!‘)

A 4808–24

also des Conlatinus gewar wart,

er nam geburlich gewant,

er straich nah im in daz lant.

also er den kunic rehte ersach,

B

do leit Collatinus

an sich schnœdes gewant

und straich im nah untz ern vant.

also schier so er in an sach,

daz wart er wider sich selbem sprah:

‘owe mir mines liben wibes!

owe dir dines libes!

swaz min ze rate sule werden,

du muost ie dar umbe ersterben’.

daz ros nam er mit den sporn,

vil harte rach er sinen zorn.

mit grimme huop er sih dar.

des enwart niemen gewar

 

unz er durh in stach

daz er niemer mer wart ersprach.

Der kunic viel nider tot,

di sine heten alle michel not.

den herren er ze tod erstach

daz er tot viel an daz graz.

wie wol sein leip dez wert waz!

Zusammenfassend lässt sich Folgendes sagen: Der Redaktor der Fassung B bemüht sich offensichtlich, das exemplarische Potenzial der Tarquiniusepisode herauszuarbeiten; dabei handelt es sich sowohl um das Herausstreichen der positiven Exemplarität von Conlatinus und Lukretia, die als Beispiele für die Tugend in den verschiedenen Bereichen von Krieg, Politik, und Ehegemeinschaft zu gelten haben, als auch um die Betonung der negativen Vorbildlichkeit des Tarquinius, der als Exemplum eines durch Hochmut zu Fall gebrachten Herrschers präsentiert wird. Dem Redaktor gelingt es zwar nicht immer ganz, diese exemplarische Linie konsequent durchzuhalten – wie unten weiter ausgeführt, gibt es Stellen, in denen der Redaktor Conlatinus Charakterzüge zu unterstellen scheint, die seiner Vorbildlichkeit eher abträglich sind –, aber die Richtung ist deutlich.

Eines steht jedoch außer Frage: Der genaue Textvergleich soll die Forschung dazu veranlassen, ihre in Ermangelung einer synoptischen Ausgabe notgedrungen auf sehr kleinen Stichproben basierenden negativen Werturteile über die Kompetenz des B-Redaktors neu zu überdenken. Im Hinblick auf die Tarquiniusepisode scheint z.B. Jürgen Wolfs Charakterisierung der Fassung B als „inhaltlich nur dürftig verknüpfte[r] Flickenteppich“ eher problematisch zu sein; seiner Auffassung von den Prioritäten des B-Redaktors können wir uns auch nicht anschließen: „Augenscheinlich galt ihm der Sinngehalt des Textes und dessen Aussagewert als zweitrangig. Bestimmendes Moment waren reine Reime und die mediale Ästhetik, also das schouwen.“2 Unsere Untersuchungen zur Tarquiniusepisode legen nahe, dass der Bearbeiter offenbar ein sehr starkes Interesse an dem Sinngehalt und Aussagewert der Geschichte haben musste.

Die Fassung C

Die folgenden Textpassagen können exemplarisch zeigen, dass die Fassung C den alten A-Text auf eine ganz andere Weise und mit völlig anderen Konsequenzen als die Fassung B bearbeitet.

Conlatinus macht es sich zur Gewohnheit, nach Viterbo zu reiten; seine Feinde erfahren davon:

A 4355–58

B

C

 

[…]

 

Ze aller iungest nam erz im ze ainer

emzechait,

gnuog und vil gemait.

er nam im deu emzichait:

daz er dikke ze Biterne rait,

daz iz im harte begunde lieben.

Collatinus dar vil oft rait

durch sein chürtzweil;

dar sint wol viertzig meil.

daz vercherten dar nah schier

diche er ze Biterne rait.

es begunde im ser lieben da.

daz fraiscten di herren von Triere

[…]

die herren da von Triere

[…]

daz vraischten die von Trier sa

[…]

Man sieht, dass die Bearbeiter von B und C unabhängig voneinander den vokalischen Halbreim lieben : Triere beseitigt haben; um dies zu erreichen hat jedoch der B-Redaktor viel radikaler eingegriffen als C. Dieser wendet eine sehr einfache Lösung an, indem er die Adverbien dâ und sâ hinzufügt; dagegen löst der B-Redaktor das vorhergehende Reimpaar auf, und zwar so, dass rait sich nicht mehr auf emzechait reimt (das Substantiv wird getilgt), sondern auf das vorausgehende Adjektiv gemait, das die Damen von Viterbo qualifiziert; der Redaktor fährt dann mit einem neuen Reimpaar fort, das eine zusätzliche Perspektive in die Erzählung einführt. Mit dem Hinweis auf die räumliche Entfernung (wol viertzig meil), die Conlatinus regelmäßig zurücklegt, wird sowohl die Attraktivität von Viterbo als Reiseziel als auch die Stärke von Conlatinus’ Gewohnheit unterstrichen. (Um auf die oben aufgeworfene Frage nach der Konsequenz, mit welcher die B-Fassung das Exemplarische herausstellt, zurückzukommen: An dieser Stelle scheint Conlatinus eine Verhaltensweise unterstellt zu werden, die an das Obsessive grenzt und daher dem sonst so vorbildlichen Protagonisten als charakterliche Schwäche ausgelegt werden kann.) Das darauffolgende Reimpaar mit dem reinen Reim schier : Triere (wohl haben wir mit Apokope von schiere in der mundartlich oberdeutschen Leithandschrift B1 zu rechnen) bringt einen weiteren neuen Aspekt in die Erzählung hinein, und zwar den der narrativen Prolepsis: Der Wechsel des Verbs – anstelle von