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In Dechra, einem kleinen Dorf in den Wäldern Talams, lebt Fia. Obwohl sie von ihrer Familie geliebt und in ihr Dorf eingebunden ist, fühlt sie sich schon ihr ganzes Leben lang fehl am Platz. Doch erst als ein Barde nach Dechra kommt, beginnen sich die Nebel über ihrem Dasein zu lichten. Um ihre Wurzeln und sich selbst zu finden, muss Fia alles zurück lassen. Gemeinsam mit dem Barden begibt sie sich auf eine abenteuerliche Reise.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Impressum:
1.Auflage 2024
Anna Forest Dweller
Erdl 25/8, 4861 Schörfling
Herausgeberin, Texte:
Anna Forest Dweller
Coverdesign:
LAB Buchdesign, www.lab-buchdesign.com
Lektorat, Buchsatz:
Stones, Books und Pictures Scatoelfen – Anita E. Dobes
Korrektorat
Corinna Fichtinger
Illustration:
Anja C. Dobes
ISBN: 978375792293
Alle Inhalte des Werkes sind urheberrechtlich geschützt. Verwertung und/oder Vervielfältigung ist ohne Zustimmung der Herausgeberin/Autorin ausdrücklich untersagt und wird rechtlich verfolgt.
Widmung
Für Anita,
auf dass wir weiterhin zusammen groß
träumen!
Geschichten aus Talam -
Wechselbalg
Anna Forest Dweller
PROLOG
Als alles noch schlief, stahl sie sich leise davon. Durch den Nebel schlich sie immer tiefer in den Wald. Die Nässe des Morgentaus setzte sich in ihrem, noch vom Schlaf zerzausten Haar, fest. Lautlos glitten ihre blanken Füße über den Waldboden. Der modrige Geruch von feuchtem Holz stieg ihr in die Nase. Sie liebte diesen Geruch, nichts auf dieser Welt roch besser für sie. Zielsicher bewegte sie sich durch das Unterholz, bis sie bei einer uralten Eiche ankam. Dort ließ sie sich auf das weiche Moos, das zu Füßen des mächtigen Baumes wuchs, nieder. In einigem Abstand suchte sich auch ihr blauer Schatten sein Plätzchen. Zusammen genossen sie den Augenblick und beobachteten wie die Sonne aus dem Dunkel der Nacht hervorbrach. In der Ferne begann der Hahn zu krähen, als Mahnung in ihr richtiges Leben zurückzukehren, das ihr hier an diesem Ort so unwirklich schien.
***
„Geh nicht über die Grenze!“ Ihr ganzes Leben lang hatte sie diesen Satz schon gehört. Warum nur? Warum zog es sie so an, dieses Land hinter dem Wald? Was wartete dort auf sie? Sie kannte die Grenze genau, war an ihr entlang gewandert. Stundenlang, immer wieder. Ihre Hände glitten an der unsichtbaren Wand entlang, eine Wand gezogen durch Worte, Worte denen sie sich nicht zu widersetzen wagte. Was war da draußen so gefährlich? War sie so zerbrechlich? Warum nur sie? Was war mit den anderen? Ihr ganzes Leben lang stellte sie sich diese quälenden Fragen, aber nie kam eine Antwort. Die Glocken rissen sie aus ihren Gedanken und riefen sie zurück in ihre Realität, die zu unwirklich, zu elegant für sie erschien. Noch einmal sah sie über die Grenzen in dieses raue Land, in das ihre Unachtsamkeit viel eher passte. Dieses Land, das ihr so viel realer erschien als ihr eigenes. Diese Welt hinter den Gren- zen wirkte wie sie. Viel weniger magisch, nicht so perfekt, dort könnte sie besser hinpassen – vielleicht.
***
Mit geballter Kraft rammten sie das Tor, doch nichts rührte sich. Die Magie hielt stand. Ein geeinter, lauter, schrecklicher Aufschrei ging durch die Massen, doch die Felsen verschluckten ihn. Nichts verließ ihr Gefängnis, kein einzelner Laut. Sie mochten toben und schreien, doch das Tor ließ sich nicht öffnen, denn nur ihre Gefängniswärter hatten den Schlüssel. Dennoch waren sie nicht ganz hilflos. Ihre Spinnweben glitten durch die Wände und webten ein Netz, in dem sich verdorbene Seelen verstrickten und diese konnten ihn finden – den Schlüssel.
Welt - Talam
Fia – ihres Zeichens schon immer eine Suchende
Wieder einmal hatte Fia nicht viel geschlafen. Als sie erwachte, drangen bereits die ersten Sonnenstrahlen durch ihr Fenster. Sie drehte sich noch einmal um, in der Hoffnung noch ein paar Minuten Schlaf zu bekommen. Jedoch hörte sie das Quietschen der Tür und ein achtjähriges Bündel Leben landete mit einem Satz auf ihrem Bauch.
„Aufstehen, aufstehen, aufgewacht die Sonne lacht!“
Fia schloss die Arme um ihre kleine Schwester.
„Guten Morgen, hast du die anderen schon geweckt?“
„Natürlich du bist doch immer die Letzte.“, kam die prompte Antwort.
„Na was hast du heute geträumt?“, fragte Fia. Das war ihr Ritual, seit Aleen groß genug war, um ihre Träume erzählen zu können.
Sie weckte Fia jeden Morgen, kam zu ihr ins Bett gekrochen und erzählte ihr von den Abenteuern, die sie in der Nacht bestritten hatte. Dass die beiden schon seit einigen Jahren nicht mehr gemeinsam in der Hütte ihrer Eltern wohnten, änderte daran nichts. Das Heim der Novizinnen lag nur zwei Hütten von ihrem Elternhaus entfernt, also lief Aleen jeden Morgen, noch in Schlafkleidung die kurze Strecke, um Fia von ihren Träumen zu berichten.
„Heute Nacht habe ich mich in einen Mauersegler verwandelt und bin über die Berge bis ans Meer geflogen. Dort habe ich mich an den Klippen ausgeruht. Als ich genug gerastet hatte, bin ich raus aufs Meer geflogen und habe dort etwas Seltsames entdeckt. Eigenartige Wesen! Ihre Schup- pen haben in der Sonne wundervoll geglitzert. Ich bin zu ihnen geflogen um mit ihnen zu reden, aber dann bin ich leider aufgewacht. Was glaubst du hat das zu bedeuten?“
Fia lächelte. „Ich glaube, dass dir Vater zu viele Geschich- ten erzählt, die sich in deine Träume schleichen. Aber ich finde auch, dass es nach einem schönen Traum klingt.“
Das sagte Fia immer zu Aleen, welche danach jedes Mal fragte: „Und was hast du geträumt?“
Fias Antwort war immer die Gleiche: „Nichts.“
Fia träumte nicht. Niemals! Nicht im Schlaf. Wenn sie wach war, hatte sie genug Träume. Träume von fremden Orten, fantastischen Wesen und davon ihre wahre Bestimm- ung zu finden.
Aleen stupste Fia an und holte sie zurück aus ihrer Ge- dankenwelt. „Komm steh auf, Vater hat Frühstück gemacht und meinte du sollst vor der Arbeit noch rüberkommen.“
Sie schnappte sich Fias Decke und lief damit davon. Fia seufzte, doch ihre kleine Schwester hatte recht. Es wurde langsam wirklich Zeit aufzustehen. Feis greine, das Sonnen- und gleichzeitig erste Erntefest des Jahres, nahte und sie hatten noch einiges vorzubereiten. Moira erwartete sie bald in ihrer Hütte zu sehen, um sich gemeinsam ans Werk zu machen.
„Ich zieh mich an und komme gleich nach. Wehe du lässt mir keinen Speck übrig!“, rief sie ihrer kleinen Schwester nach.
Ein kleines Stück ihrer Bettdecke war noch in der Tür zu sehen.
„Tja kommt darauf an, wie schnell du bist. Speck ist immer knapp und ich hab Hunger. Beeil dich, sonst bleibt für dich nur mehr trockenes Brot übrig.“, kicherte Aleen.
„Moment! Bevor du verschwindest bringst du gefälligst meine Bettdecke wieder zurück!“
Langsam tauchte im Türrahmen ein blonder Lockenkopf auf. Das Mädchen tapste breit grinsend herein, während sie die Bettdecke am Boden hinter sich her schleifte.
‚Na toll, jetzt kann ich später zum Fluss um sie zu waschen‘, dachte Fia.
Aleen schien das nicht zu kümmern.
„Ich weiß ja nicht was du machst, aber ich geh jetzt Speck essen.“, sagte Aleen frech und lief aus der Hütte.
Auch wenn Fia müde von ihrem nächtlichen Ausflug in den Wald war, stand sie nun doch auf, schlüpfte in ihr schlichtes dunkelblaues Kleid und band sich ihren Leder- gürtel um. Sie schnappte sich ihre Waschschüssel, um sich frisches Wasser aus dem Bach zu holen. Als sie aus ihrem Zimmer trat, öffnete sich auch die Tür gegenüber. Heraus trat Moiras zweite Novizin. Als sie Fia sah, begann sie breit zu grinsen.
„Guten Morgen Fia! Ich bin gerade auf dem Weg zum Speicher um Äpfel und Haferflocken für das Frühstück zu holen. Soll ich dir etwas mitnehmen?“
„Vielen Dank Evanna, das ist nett von dir, aber ich werde heute bei meiner Familie frühstücken. Wir sehen uns danach bei Moira.“
„Ist gut, komm nicht zu spät.“, mahnte Evanna.
„Ich doch nicht.“, entgegnete Fia mit einem Augenzwin- kern und wollte gerade aus der Tür, als ihr Evanna nachrief: „Was ist mit Schuhen Fia?“
Diese winkte ab: „Wer braucht schon Schuhe.“
Evanna seufzte: „Was rede ich.“
Evanna blickte an Fia hinunter. Ihr Blick blieb an dem zerschlissenen, schmutzigen Saum des Kleides hängen.
„Mein Angebot steht noch, ich könnte dir eine schwarze Borte um den Saum nähen, dann würde man den Dreck nicht so sehen.“
Mit einem, „Bis späätter!“, huschte Fia durch die Tür und machte sich auf den Weg zu dem kleinen Bächlein. Die Sonne brannte vom Himmel und trieb Fia schon zu dieser frühen Stunde den Schweiß auf die Stirn. Mit der vollen Wasch- schüssel kehrte sie in ihre Kammer zurück. Sie wusch sich und machte sich dann auf den Weg zur Hütte ihrer Familie.
Als sie die Tür öffnete, stieg ihr der Geruch von dampf- endem Haferbrei, frischem Brot und Speck in die Nase, um sie willkommen zu heißen. Sie trat ein und blickte auf den reichlich gedeckten Tisch. Ihr Vater hatte viele Talente, aber eines seiner Größten war es aus den einfachsten Zutaten die leckersten Gerichte zu kochen. Dies lag wohl daran, dass er sehr gut in der Kräuterkunde bewandert war und wusste, wo er die leckersten Kräuter in der Natur fand, um seine Speisen zu verfeinern. Mit ihnen wurden selbst die einfachsten Speisen zu einem Gedicht.
Doch von einfach konnte an diesem Morgen nicht die Rede sein. Ihre Hühner hatten fleißig Eier gelegt und zur Ver- lobung ihrer Schwester Nia hatten sie ein ordentliches Stück Speck geschenkt bekommen.
„Guten Morgen Vater!“
Dieser drehte sich zu ihr um: „Guten Morgen, mein Herz! Schön, dass du auch zum Frühstück kommst.“
Fia deutete auf den Speck: „War der nicht für die Hochzeit gedacht?“
Keylam zuckte mit den Schultern: „Ja schon, aber ein kleines Stück müssen wir doch vorkosten und dafür ist der heutige Tag genauso gut wie jeder andere.“
Fia schüttelte den Kopf und schnappte sich das letzte Stück Speck, bevor Aleen danach greifen konnte. Diese ver- zog leicht schmollend den Mund, doch Fia achtete nicht darauf. „Wo sind Mutter und Nia?“, fragte sie.
„Die sind keine solchen Langschläfer wie du.“, neckte sie ihr Vater.
„Mutter hackt draußen Holz und Nia ist schon im Dorf. Solltest du dich nicht auch langsam auf den Weg machen? Die alte Moira ist zwar geduldig, aber du solltest ihre Ner- ven nicht zu sehr strapazieren.“
„Tu ich doch gar nicht. Moira und ich verstehen uns bestens. Ihr sind schnöde Dinge wie Pünktlichkeit nicht so wichtig.“, konterte Fia.
Ihr Vater lachte: „Na los mach dich auf den Weg.“
Schnell aß Fia die letzten Löffel Haferbrei aus ihrer Schüssel und schnappte sich beim Aufstehen noch eine Scheibe Brot. Mit einem: „Schon gut, schon gut ich bin ja schon weg.“, schlüpfte sie zur Tür hinaus.
Auf dem Weg zu der alten Neach hing sie ihren Gedanken nach. Sie hatte es gut getroffen, denn auch wenn alle anderen Moira eigensinnig und merkwürdig fanden, mochte Fia sie. Vielleicht weil sie sich in ihrer Gegenwart weniger seltsam und fehl am Platz fühlte.
Ihr Weg führte sie durch das ganze Dorf. Die meisten Bewohner waren bereits auf den Beinen und gingen ge- schäftig ihren Aufgaben nach. Sie hörte den Gesang der Waschweiber, den der Wind vom Brunnen herüber trug, begleitet vom mächtigen Hammerschlag des Schmieds.
Da die Sonne schien, wurden die Spinnräder nach draußen gebracht, um im Sonnenschein die Räder zu drehen. Am Vorplatz des Dorfes wurde trainiert. Zur Übung klirrten die Schwerter aufeinander und die Pfeile surrten durch die Luft, Richtung aufgestellter Zielscheiben. Alles wirkte wie ein perfekt eingespieltes Uhrwerk. Doch so gern Fia die Men- schen, ihre Sippe und das Leben hier mochte, schien sie nir- gends richtig hineinzupassen. Ein ständiges Gefühl der Un- ruhe durchdrang ihr Inneres und das Leben hier im Dorf schien ihr zu klein zu sein.
Die meisten hier nahmen allerdings kaum Notiz von ihr, wofür sie dankbar war. Seit sie bei Moira in Diensten stand, hatte das offene Getuschel über sie aufgehört. Zumindest ihr gegenüber. Die Aufgaben der Neach, wie Moira eine war und Fia eine werden würde, waren Heilung, Zeremonien und die Verbindung zu den Triaden – den Gottheiten Talams. Dies brachte ihnen hohes Ansehen ein, weshalb sie niemand verärgern wollte.
Fias Mutter jedoch war noch immer dem Getratsche der Waschweiber ausgesetzt. Auch nach über dreißig Jahren waren sie es nicht leid sich das Maul darüber zu zerreißen, warum Fia so anders aussah.
Viele wilde Theorien kursierten, mit wem Glenna das Bett geteilt haben sollte.
„Fiiaaa! Träumst du? Ich habe dich schon mehrmals ge- rufen!“, winkte ihre Schwester Nia. Diese sah aus, wie ein älteres Ebenbild von Aleen.
Dass sie und Fia Schwestern waren, würde man auf den ersten Blick nie erraten. Auch nicht auf den Zweiten und auch auf keinen Anderen. Sie unterschieden sich wie Tag und Nacht, wobei sofort klar war, wer von ihnen den Tag und wer die Nacht darstellte. Nia strahlte wie die Sonne selbst. Fia war dunkel wie die Nacht. Seit Nia verlobt war, leuchtete sie noch mehr. Sie fügte sich nun perfekt in das Wagenrad des Lebens ein. Sie würde heiraten und ihren Platz im Dorf einnehmen. Genau so, wie sie es wollte. Nia hatte ihren Platz im Leben nie suchen müssen, sie hatte ihn von Geburt an. Immer war sie absolut zufrieden gewesen, wo sie war. Und Fia? Wo war ihr Platz? Bei Moira lernen und eines Tages ihren Platz als Neach und schrullige Alte einnehmen? Mehr würde es hier für sie wahrscheinlich nicht geben. Was nicht schlecht war, aber es fühlte sich nicht wie ihr Leben an. Fia schämte sich für diese Gedanken. Es war eine große Ehre zur Neach ausgebildet und in die alten Mysterien eingeweiht zu werden. Sie kam sich undankbar vor. Wie ein ungezogenes Kind, das mit dem ganzen Spielzeug das es hatte nicht zufrieden war und immer mehr wollte.
Sie war aber kein Kind, schon lange nicht mehr. Es wurde Zeit, ihren Platz einzunehmen und nicht kindischen Träumereien nachzuhängen. Träumereien von ..., Ja wovon denn überhaupt? Von einem anderen Leben, einem anderen Platz? Aber wo sollte das sein? Sie mochte ihre Aufgaben, liebte ihre Familie und trotzdem fand sie nie in den Schlaf, fühlte sich nie leicht, wollte immer mehr, immer wo anders sein. Wo dieser andere Ort sein sollte, wusste sie nicht.
Manchmal wünschte sie sich, sie wäre mehr wie ihre Schwestern.
Nia, die so rein, strahlend und perfekt war, dass es einer großen Anstrengung bedurfte, nicht neidisch auf sie zu sein. Ihr schien alles zuzufliegen. Als würde sie immer genau das bekommen, was sie wollte. Nein, existierte für sie scheinbar nicht. Und dann war da natürlich die kleine Aleen. Die personalisierte Sonne! Mit der Wildheit des Windes wirbelte sie Staub auf, wo auch immer sie auftauchte.
Fia selbst war die Nacht, mit ihrer blassen Haut, den schulterlangen kohlrabenschwarzen lockigen Haaren, in den- en sich immer Blätter und Äste verfingen, den spitz zulauf- enden Ohren und den tiefblauen Augen. Ihre kleine stämm- ige Gestalt wurde oft übersehen, wenn sie sich lautlos und grazil durch die Menge bewegte. Nur manchmal hörte man das Scheppern ihrer Holzanhänger, die rundherum an ihrem Gürtel hingen. Dennoch war sie gleichfalls wunderschön auf eine mysteriöse undurchdringliche Weise. Sie wirkte ständig, als wäre sie der Welt etwas entrückt. Das Dorf schien für sie zu klein zu sein, als wäre ihr richtiger Platz irgendwo anders.
Aber sie hatte nur dieses Leben. Wohin sollte sie gehen? An welche Person konnte sie sich mit ihren verworrenen Gedanken wenden? Schluss damit! Sie würde ihr Leben leben, so gut sie es eben vermochte, und versuchen, hier ihren Platz zu finden, irgendwie. Und da war es wieder, dieses Gefühl undankbar zu sein. Mit den Gedanken in den Wolken spielte sie mit ihrem Holzanhänger um den Hals.
„Fia?“, fragend blickte Nia sie an. Sie wartete noch immer auf eine Reaktion ihrer Schwester.
„Oh tut mir leid, ich bin wohl noch nicht ganz wach.“, antwortete diese verlegen.
„Ach schon gut, das kennen wir ja.“, neckte Nia sie und sprach weiter, „Wie hat dir das Frühstück geschmeckt? Der Speck war köstlich nicht? Das wird ein Festmahl bei der Hochzeit!“.
Sie klatschte vor Freude in die Hände. Es war schön ihre Schwester so aufgeregt zu sehen.
„Es wird sicher ein wundervoller Tag.“, nickte Fia.
Nias Grinsen wurde noch breiter: „Das hoffe ich! Danke, dass du die Zeremonie abhältst!“
„Sehr gerne, aber damit ich das kann, muss ich jetzt weiter zu Moira um von ihr zu lernen. Bis bald meine Liebe.“
Mit diesen Worten nahm Fia ihre Schwester in den Arm, dann gingen beide ihrer Wege. Als Fia bei der Behausung ihrer Meisterin ankam, stand die Tür weit offen. Wie fast immer. Niemals war das Heim einer Neach einem Hilfe- suchenden verschlossen.
„Du kommst spät.“, hörte Fia Moira sagen, als sie noch nicht einmal die Schwelle übertreten hatte. Die Alte hatte ihr den Rücken zugedreht und sortierte gerade die Kerzen in ihrem Schrank.
„Ich weiß, entschuldigt.“
„Entschuldige dich nicht, mach es besser.“ Sie drehte sich um und sah Fia mit gerunzelten Augenbrauen an. „Das beginnt damit, dass du zurück nach Hause gehst und dir deine Robe anziehst.“
Fia nickte und ging zurück in das Heim der Novizinnen um ihr blaues, schon in Mitleidenschaft gezogenes, Leinen- kleid gegen die feine blasslila Robe der Novizinnen auszu- tauschen. Schuhe zog sie trotzdem keine an.
***
Nach einem langen Arbeitstag saß Fia vor ihrer Hütte. In einer Hand hielt sie eine Schüssel mit dampfendem Linsen- eintopf. Die Tür hinter ihr knarrte. Evanna trat heraus und ließ sich neben ihr nieder.
„Darf ich mich zu dir setzen?“
„Natürlich. Ich habe dich heute bei Moira gar nicht gesehen.“
„Sie hat mich nach Merina auf den Markt geschickt um frische Ähren und Mais für das Ritual zu Feis greine zu besorgen. Als ich wieder zurück war habe ich noch Nebeltanz versorgt und dann hatte ich frei.“
Fia staunte nicht schlecht: „Was! Moira hat dich tat- sächlich Nebeltanz reiten lassen? Sie lässt doch sonst nie- manden an ihr Lieblingspferd ran.“
„Vielleicht liegt das daran, dass ich heute morgen pünktlich war.“
„Ja, ja, schon gut, ich hab den Hinweis verstanden. Du hast recht, du bist viel zuverlässiger als ich. Sie sollte dich bei der Zeremonie den Kreis ziehen lassen.“
„Tja das sollte sie. Nur leider bekommst du die Verbind- ung zu den Triaden viel besser hin als ich.“
„Zu den Triaden schon ... zu anderen Dingen nicht.“
Fia blickte zu Boden. Evanna legte die Hand auf ihr Knie.
„Ach Fia. Feis shinnisreil ist doch erst in ein paar Monaten und du machst dir jetzt schon Gedanken darüber?“
„Ich möchte doch nur einmal die Gegenwart meiner Ahnen spüren, wie alle anderen auch.“
„Das versteh ich ja, aber konzentriere dich erst einmal auf das Hier und Jetzt. In ein paar Tagen steht die Zeremonie zu Feis greine bevor, konzentriere dich darauf. Immerhin darfst du den Kreis ziehen. Ich darf nur Feder und Pergament verteilen.“
„Und die Schnüre! Vergiss die Schnüre nicht!
Evanna fing an zu lachen. „Natürlich nicht, es gibt keine größere Ehre als die Schnüre zu verteilen.“
Fia legte nun ihrerseits die Hand auf Evannas Knie: „Moira hat dir heute eine der größten Ehren zuteil werden lassen die es gibt. Wenn die Ura bemerkt hätten wer du bist, hätte dies das ganze Dorf gefährden können. Immerhin haben sie Neachs und deren alte Rituale verboten. Auf ihre Ausübung steht nichts geringeres als die Todesstrafe.“
„Ja, aber es kümmert keinen was in so einem abgelegenen Dorf mitten im Wald passiert. Hier gibt es weder Reich- tümer noch Macht zu holen. Ein guter Platz um eine Burg zu errichten ist es auch nicht. Die Ura haben wahrscheinlich nicht einmal eine Ahnung, dass es uns gibt.“
„Bei den Triaden, möge dies so bleiben!“
***
Im Abendlicht der Spätsommersonne fanden sich alle Dorfbewohner in einem Kreis zusammen, um den Triaden für die erste Ernte zu danken.
Die alte Neach hatte ihre traditionelle violette Robe für das Ritual gegen ein gelbes Kleid getauscht, das mit der Sonne um die Wette strahlte.
Im Westen bildeten Fia und Evanna mit ihren Stäben ein Tor. Der sanfte Geruch reinigender Kräuter stieg aus der Schale, die zwischen ihnen stand. Nacheinander traten alle
Teilnehmenden über die Räucherschale und durch das Tor in den heiligen Kreis. Moira betrat den Kreis als Letzte.
Sie durchschritt ihn im Sonnenlauf bis in den Osten. Eine Hand nach oben, eine nach unten gerichtet, ließ sie die Energie durch sich fließen. Als dies getan war, trat sie an ihren Platz im Kreis.
Evanna und Fia lösten das Tor auf und fanden sich nun ebenfalls im Kreis ein. Moira schritt ins Zentrum und sprach: „Wir sind hier zusammengekommen, um die Triaden zu ehren und uns für alles zu bedanken, was sie uns gegeben haben.“
Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: „Bandia, Deu und Ainsley ihr Triaden, möget ihr uns euren Segen geben für unser Ritual! Ihr vergessenen Wesen, die von uns Menschen verdrängt wurden, verzeiht uns und gebt uns euren Segen! Mächte dieses Ortes gebt uns euren Segen! Fia ziehe nun den Kreis zu unserem Schutze.“
Fia trat aus der Reihe. Im Sonnenlauf schritt sie Richtung Osten. Mit ihrem selbstgeschnitzten Zauberstab zeichnete sie Schutzsymbole in die Luft. Von ihrem Herzen ausgehend breitete sich eine Wärme aus, die über ihren Arm in den Stab und über diesen in die Luft strömte. Den Stab erhoben, schritt sie an den Leuten vorbei und zog so einen schütz- enden Kreis um alle. Als sie wieder im Osten angekommen war, löste sie die Energie von ihrem Zauberstab, sodass der Schutzkreis erhalten blieb.
Dankend verbeugte sie sich und nahm wieder ihren Platz ein. Moira nickte ihr anerkennend zu, bevor sie zu sprechen begann: „Nun sind wir behütet und beschützt. Lasst uns auch den Segen der Himmelsrichtungen erbitten und sie in unseren Kreis rufen.“
Sie wandte sich an jede Himmelsrichtung, um die Element- te anzurufen, wie die Menschen es schon seit jeher getan hat- ten. Auch wenn die Ura, die neuen Herren, in den Städten die alten Rituale verdrängten, waren diese hier, in dem kleinen Dörfchen im Wald, vor ihren Augen versteckt und noch allgegenwärtig.
Zuerst rief die Neach die Himmelswächter des Ostens an: „Mit dem Segen des Adlers der Morgenröte und der Kraft des Elementes Luft rufen wir die Hüter des Ostens an.“
Dann ging sie weiter in den Süden: „Mit dem Segen des Drachens, der einst den Himmel Talams bewohnte und der Kraft des Elementes Feuer rufen wir die Hüter des Südens an.“
Im Westen angekommen sprach sie: „Mit dem Segen des Delfins des Meeres der Weisheit, das uns umgibt und der Kraft des Elementes Wasser rufen wir die Hüter des West- ens an.“
Die letzte Station war der Norden: „Mit dem Segen des Rabens der Unterwelt und der Kraft des Elementes Erde rufen wir die Hüter des Nordens an.“
Zurück in der Mitte des Kreises entzündete sie das dort aufgebaute Lagerfeuer. Im Schein des Feuers erhob sie ihre Hände gen Himmel.
Alle im Kreis sprachen im Chor: „Seid willkommen, seid bereit!“
„Nun zur Sonne der wir in diesen Zeiten huldigen. Sie ließ die Früchte auf den Feldern reifen und gedeihen. Es ist Zeit für die erste Ernte, den ersten Schnitt. Doch nicht nur auf dem Felde, auch wir sollten erste Schnitte setzten. Ihr be- kommt nun Feder, Pergament und ein Stück Schnur.
Schreibt auf was ihr nicht mehr bei euch tragen wollt und bindet es an euren Körper.“
Mit diesen Worten nahm Moira eine Trommel in die Hand.
Dumpfes rhythmisches Dröhnen wurde laut und begleitete Evanna beim Aushändigen der Utensilien. Die Pergamente wurden beschrieben und umgebunden, währenddessen wurd- en die Trommelklänge leiser und leiser, bis sie schließlich ganz verstummten.
„Nun schließt die Augen. Stellt euch einen Spiegel vor. Schaut euch darin an, mit all den Dingen die an euch hängen. Nehmt sie an, nehmt euch an. Seht, dass ihr auch mit eurem Ballast ganz seid, damit ihr ihn letztendlich loslassen und abstreifen könnt.“
Ein paar Minuten verstrichen.
„Öffnet eure Augen.“ Mit diesen Worten hielt Moira ihre Handsichel hoch. „Mit dieser Sichel schneidet ab was euch beschwert. Werft es ins Feuer, auf das es sich transformieren kann!“
Sie trat nacheinander vor jede einzelne Person im Kreis und übergab diesen die Sichel mit den Worten: „Nimm die Sichel, doch gib acht und setzte deine Schnitte mit Bedacht.“
Schnitte wurden gesetzt. Altes wurde dem Feuer über- geben.
Als Opfergaben warf Moira nun Ähren und Mais in die Flammen und lächelte zufrieden.
„Für heute ist unser Werk getan. Lasst das nieder- brennende Feuer, Flammen in unseren Herzen entzünden!“
Moira schritt die Himmelsrichtungen in entgegengesetzt- er Richtung ab, um die Kräfte zu entlassen.
Sie begann im Norden: „Im Namen des Rabens der Unter- welt und der Kraft des Elementes Erde danken wir den Hütern des Nordens für ihr Beisein in unserem Ritual. Zieht von dannen, wohlgesonnen und in Frieden.“
Weiter ging es im Westen: „Im Namen des Delfins des Meeres der Weisheit, das uns umgibt und der Kraft des Elementes Wasser, danken wir den Hütern des Westens für ihr Beisein in unserem Ritual. Zieht von dannen, wohlge- sonnen und in Frieden.“
Als Nächstes war der Süden an der Reihe: „Im Namen des Drachens der Vulkaninsel und der Kraft des Elementes Feuer danken wir den Hütern des Südens für ihr Beisein in unserem Ritual. Zieht von dannen, wohlgesonnen und in Frieden.“
Zum Schluss gelangte sie in den Osten: „Mit dem Segen des Adlers der Morgenröte und der Kraft des Elementes Luft danken wir den Hütern des Ostens für ihr Beisein in unserem Ritual. Zieht von dannen, wohlgesonnen und in Frieden.“
Nun war es an Fia den Schutzkreis wieder aufzulösen. Sie hob erneut den Zauberstab und schritt den Kreis gegen den Sonnenlauf ab. Wieder im Osten angekommen, malte sie erneut Zeichen in die Luft und die Energie, die sich wie ein schützender Mantel um den Kreis gelegt hatte, löste sich auf.
Moira begann daraufhin erneut zu sprechen: „Ich danke Bandia, Deu und Ainsley. Ich danke den vergessenen Wesen und den Mächten dieses Ortes. Zieht von dannen, wohl- gesonnen und in Frieden.“
An die Anwesenden gewandt sagte sie: „Dieses Ritual ist hiermit beendet. Zieht auch ihr von dannen wohlgesonnen und in Frieden.“
***
Kurz vor der abendlichen Dämmerung saß Fia vor ihrer Hütte. Ihr Fuß wippte hin und her. Ihre Finger trommelten auf den Boden. Ihr Herz schlug schneller. Um ihrer inneren Unruhe Herr zu werden, tat sie das, was sie immer tat. Sie zog sich in den Wald zurück. Unter ihrem Lieblingsbaum machte sie es sich gemütlich. Neben sich entdeckte sie einen Ast am Boden. Sie griff nach ihrem Gürtel, zog ihr Messer heraus, schnappte sich den Ast und begann zu schnitzen. Plötzlich schaute eine blaue Nase aus dem Gebüsch. „Hallo Bartiris, na kleiner Freund, bist du auch wieder da?“
Der Blaufuchs kam aus dem Gebüsch und ließ sich neben ihr nieder. Schon seit Jahren begleitete sie der kleine Gefährte auf ihren Streifzügen durch den Wald. Nie kam er mit ins Dorf, aber wann immer sie im Wald umherstreifte, war er in ihrer Nähe. Auf einmal spitzte er die Ohren und versteckte sich hinter Fia. Erst dann hörte sie Äste knacken und Evanna trat heraus. Fia war erstaunt „Was machst du hier?“
„Mir ging viel durch den Kopf. Ich weiß, dass es dir oft ähnlich geht. Nach all den letzten Jahren hat jetzt die Neugier gesiegt. Ich wollte wissen wohin du gehst, wenn du dich aus dem Dorf schleichst.“
„Das hast du mitbekommen?“
„Natürlich. Fia, wir wohnen zusammen, arbeiten zusammen, da bekomme ich so einiges mit.“
Leise Klänge drangen plötzlich an das Ohr der beiden Frauen und unterbrachen das Gespräch.
„Was ist das?“, flüsterte Evanna.
„Ich weiß es nicht, lass uns nachsehen, es kommt von der Lichtung.“, erwiderte Fia.
Leise schlichen die beiden gefolgt vom Fuchs durch das Unterholz. Im Licht der untergehenden Sonne sahen sie fast durchsichtige Gestalten, in weißen Kleidern mit Laternen in den Händen, die in den letzten Strahlen der Sonne sangen und tanzten. Mit großen Augen und offenen Mündern be- obachteten die beiden das Schauspiel. In dem Moment, als es völlig dunkel wurde, lösten sich die Wesen in Luft auf.
„Was war das? Hast du das schon mal gesehen?“, fragte Evanna Fia.
Diese schüttelte den Kopf und erwiderte: „Nein noch nie. Ich nehme an sie gehören zu den vergessenen Wesen, von denen wir erst in unserem letzten Ausbildungsjahr lernen.“
Bartiris lag mit geschlossenen Augen neben ihnen und schien nicht verwundert. Evanna blickte zu dem kleinen Kerl hinab. „Wie hast du eigentlich das geschafft?“
„Was geschafft?“, fragte Fia verwirrt.
„Dass der Fuchs so nahe an dich herankommt.“
„Das ist schon lange her, vor ungefähr zehn Jahren denke ich. Es war kein schöner Tag. Man hatte mich mal wieder als Bastard beschimpft und ich konnte einfach nicht nach Hause. Meine Eltern hätten gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Ich wollte nicht, dass es Ärger gibt, aber sie hätten sich nur aufgeregt und Streit mit den anderen Dorfbewohnern an- gefangen. Es wurde doch schon so viel über uns getuschelt. Noch mehr auffallen wäre für mich furchtbar gewesen. Also bin ich wie so oft zuvor in den Wald. Dort habe ich mich weinend unter einen Baum gesetzt. Auf einmal war da ein Rascheln im Gebüsch. Als ich genauer hinsah, bemerkte ich Augen. Vor Schreck stieß ich einen leisen Schrei aus. Ein Ruck ging durch den ganzen Busch. In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass sich das, was auch immer sich an jener Stelle verbarg, gerade selbst ziemlich erschreckt hatte. Lachen überkam mich. Ich sagte Richtung Busch, dass alles gut sei und wer auch immer sich dort versteckt, ruhig herauskommen könne. Als hätte er verstanden was ich sagte, wagte sich der Kleine dann heraus und musterte mich lange. Schließlich legte er sich zu mir. Ich begann ihn vorsichtig zu streicheln. Offensichtlich genoss er es. Leise fing ich an mit ihm zu sprechen: ‚Na mein kleiner Freund, traust du dich endlich dich mir vorzustellen? Ich bin Fia. Hmmm du brauchst auch einen Namen.‘ Die Farbe seines Felles erinnerte mich an meine Lieblingsblumen und so hab ich zu ihm gesagt: ‚Bartiris. Ich werde dich Bartiris nennen.‘ Als würde er zustimmen hob der Kleine seinen Kopf, stupste gegen meine Hand und legte sich wieder hin. Das deutete ich als Zustimmung. Seitdem sind wir Freunde. Oft wenn ich im Wald bin, kommt er auch. Er hat mich die ganzen Jahre nicht verlassen.“
Als hätte Bartiris bemerkt, dass sie über ihn sprachen, hob er den Kopf, legte ihn schief und spitzte seine Ohren.
Evanna schmolz dahin: „Er ist richtig süß! Bartiris passt gut zu ihm.“
„Finde ich auch, aber meistens nenne ich ihn nur Batty.“
Evanna kniete sich zu dem kleinen Fuchs hinunter. „Schön dich kennen zu lernen Batty.“, mit diesen Worten streckte sie ihm die Hand hin. Er schnüffelte daran und versteckte sich dann wieder hinter Fia.
Diese tätschelte ihm den Kopf: „Schon in Ordnung Kleiner, das ist Evanna, sie ist eine Freundin. Du musst nicht immer so viel Angst haben.“
Evanna hob den Kopf und sah sich um.
„Wie sollen wir jetzt im Dunkeln zurückfinden?“
„Keine Sorge, ich war schon oft im Dunkeln hier unter- wegs, ich kenne den Weg.“, erwiderte Fia beruhigend.
***
Das Sonnenrad drehte sich weiter und die Wochen zogen vorbei wie ein Schwarm Vögel. Die Blätter wurden bunt, die Ernte war eingebracht, der Erntedank gesprochen.
Die Zeitqualität von Feis shinnisreil, dem Ahnenfest war überall deutlich spürbar. Alle liebten dieses Fest, an dem sie ihre verstorbenen Liebsten wieder an ihrer Seite hatten und die Ahnen sie stärkten. Die Energie, die Weisheit, das Wissen vieler Generationen stand in dieser Zeit zur Verfügung und vereinigte sich mit der jetzigen Generation. Diese Vereinigung gab es nur einmal im Jahr und sie gehörte ihnen allen. Den Lebenden und den Toten.
Fia stand dem Fest etwas zwiegespalten gegenüber. Sie mochte alle Kreisfeste und so auch Feis shinnisreil, aber immer wenn sie mit ihrer Familie an diesem Tag an ihrem Gedenkstein stand und alle den Tränen nahe waren, weil sie die Gegenwart ihrer Ahnen spürten, empfand sie nichts.
Nein, nichts stimmte nicht ganz. Sie fühlte die Magie und den Zauber, der diesem Fest innewohnte. Die Energien und Qualitäten der einzelnen Feste und Zeitqualitäten nahm sie immer sehr gut wahr.
Das war auch eine der Fähigkeiten, die für sie als an- gehende Neach wichtig war. Jedoch schien sie das Band zu ihren Ahnen nicht zu finden, was sie sehr verunsicherte. Allerdings hatte sie die Hoffnung, nachdem ihre Ausbildung wieder ein Jahr fortgeschritten war, dieses Mal die Ver- bindung, die ihr bisher gefehlt hatte, zu finden.
Fia sortierte abwesend das Räucherwerk.
„Meine schönste Kerze für deine Gedanken.“ Moira war neben Fia getreten.
„Als ob Ihr die jemals hergeben würdet.“
„Wohl eher nicht.“, schmunzelte die Alte, bevor sie weiter sprach: „Fia zu Feis shinnisreil wird Evanna den Schutzkreis ziehen. Für dich habe ich eine andere Aufgabe. Ich möchte, dass du dieses Jahr die Gaben für die vergessenen Wesen in den Wald bringst.“
Fias Augen wurden groß. „Das ist eine große Ehre, die Ihr mir zukommen lasst.“
Moira nickte. „Du bist begabt Fia, begabter als die meist- en. Deine Verbindung zu den Triaden ist sehr stark. Nur manchmal fehlt es dir an Ernsthaftigkeit. Doch der Mensch wächst mit seinen Aufgaben. Ich vertraue darauf, dass du dieser gerecht wirst.“
„Ihr könnt euch auf mich verlassen.“
Sie wollte gehen, drehte sie sich jedoch nochmals zu Moira um. „Darf ich Euch noch eine Frage stellen?“
„Natürlich, du darfst mir immer Fragen stellen, ob ich antworte ist eine andere Geschichte.“
„Wenn meine Verbindung zu den Triaden so stark ist, warum finde ich dann bei den Gedenksteinen keine Ver- bindung zu meinen Ahnen?“
„Solche Verbindungen lassen sich nicht erzwingen, hab nur Geduld.“
***
Der Abend von Feis shinnisreil war angebrochen. Der Vollmond stand hoch am Himmel. Die Schleier waren dünn wie Papier, hinter dem Schatten spielten. Sie spielten und kratzten daran. Nur ein bisschen mehr Druck, ein bisschen mehr Verlangen und es würde reißen. In dieser einen Nacht konnten die Schatten der Ahnen durch den Riss hindurch- treten und Teil dieser Welt sein. Und diese Welt sollte da- rauf vorbereitet sein. Die Ahnen wurden geehrt und einmal mehr am gedeckten Tisch willkommen geheißen.
Alle Familien des Dorfes fanden sich im Gedenksteinkreis, am Rande von Dechra gelegen, für das Ritual ein.
Die Gabenträger brachten Speis und Trank in die Mitte des Kreises. Es wurde still, als die Neach den Kreis betrat. Das Gesicht hatte sie so weiß bemalt wie ihre Haare. Die Augen schwarz umrandet wie ihr Kleid. Auf ihrem Kopf thronten Hörner, um die Verbindung zu den Ahnen zu stärk- en. Sie betrat den Kreis im Westen. Sie durchschritt ihn bis zum Osten und grüßte ihn, wie es schon viele vor ihr getan hatten und auch noch viele nach ihr tun würden.
Als sie den Kreis fertig umschritten hatte, trat sie in die Mitte und begann zu sprechen: „Ihr Triaden, ihr vergessenen Wesen aus Talam, ihr Geister dieses Ortes, ihr Ahnen! Seid mit uns in diesem Kreis, segnet uns und unser Heim. Kehrt für einen Tag zurück in unsere Mitte und gebt uns euren Segen für dieses Ritual und unser Leben. Lasst uns beginnen! Evanna bitte zieh den Kreis.“
Voller Freude beobachtete Fia, wie Evanna voller Stolz mit größter Ernsthaftigkeit den Kreis zog. Ja sie war so weit! Natürlich war sie es, sonst hätte Moira ihr nicht die Verant- wortung überlassen.
Nachdem Evanna den Kreis gezogen hatte, rief Moira die Himmelsrichtungen an.
Beim Norden angekommen hatte sie alle Himmelsricht- ungen abgeschritten und kam nun zum eigentlichen Ritual. Moira ging ins Zentrum des Kreises und entzündete den Holzstapel, der dort aufgetürmt war.
Als das Feuer lichterloh brannte, begann sie zu sprechen: „Gehet nun zu eurem Familienstein.“
Alle taten wie geheißen.
„Nun gebt beide Hände auf euren Stein, schließt eure Aug- en und spürt! Spürt und ruft eure Ahnen, mit all eurer Liebe, mit all eurem Sein, mit all eurer Dankbarkeit. Dankbarkeit für diejenigen die vorangeschritten sind. Dankbarkeit für deren Weisheit und deren Schutz.“, rief die Neach.
Sogleich veränderte sich die Luft um sie herum und be- gann zu schwirren. Zwischen den Steinen flatterten die Energien der Lebenden und der Toten. Die Neach stimmte ein Lied an:
„Wir sind eure Seelen,
Wir sind euer Glanz,
Was wir haben, habt ihr für uns gebaut.
Ihr seid hinter unserem Spiegelbild,
Ihr seid der Wegweiser und unser Sternenbild.
Wir achten euch, ehren euer Geschenk.
In Gedanken geht ihr den Weg mit uns.
Darum kommt heute in unseren Kreis,
Der Stein ist der Anker der euch den Weg zurück zeigt,
So folgt ihm für diese eine Nacht,
Damit wir zusammensitzen in trauter Zweisamkeit.
Einmal im Jahr bis auch wir vergessen sind,
Dann wird es Zeit zurückzukommen.
Doch bis es soweit ist,
Lasst uns einmal im Jahr zusammen speisen und uns spüren.
Lasst uns nun zusammen die Gläser erheben und sie rufen,
Die die uns vorausgegangen sind.“
Nun stimmten alle mit ein und sangen zusammen immer wieder:
„Wir sind eure Seelen,
Wir sind euer Glanz,
Was wir haben, habt ihr für uns gebaut
Ihr seid hinter unserem Spiegelbild,
Ihr seid der Wegweiser und unser Sternenbild.“
Wie in einem Kanon immer wieder:
„Wir sind eure Seelen,
Wir sind euer Glanz,
Was wir haben, habt ihr für uns gebaut.
Ihr seid hinter unserem Spiegelbild,
Ihr seid der Wegweiser und unser Sternenbild.“
Aus den vielen verschiedenen Stimmen wurde eine Gewaltige.
Aus dem Gesang eine Beschwörung.