Geschichten für schlaflose Nächte, Band 6 - Guy de Maupassant - E-Book

Geschichten für schlaflose Nächte, Band 6 E-Book

Guy de Maupassant

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Beschreibung

Dieser Band enthält die folgenden Novellen des Meisters der Schauerliteratur: Herr Parent Belhommes Vieh Zu verkaufen Die Unbekannte Das Geständnis Die Taufe Unvorsichtigkeit Ein Wahnsinniger Ländliche Gerichtsverhandlung Die Haarnadel Eine Entdeckung Die Schnepfen Auf der Eisenbahn Ça ira Einsamkeit An Bettes Rand Die beiden kleinen Soldaten

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Geschichten für schlaflose Nächte, Band 6

Guy de Maupassant

Inhalt:

Henri René Albert Guy de Maupassant – Biografie und Bibliografie

Herr Parent

Belhommes Vieh

Zu verkaufen

Die Unbekannte

Das Geständnis

Die Taufe

Unvorsichtigkeit

Ein Wahnsinniger

Ländliche Gerichtsverhandlung

Die Haarnadel

Eine Entdeckung

Die Schnepfen

Auf der Eisenbahn

Ça ira

Einsamkeit

An Bettes Rand

Die beiden kleinen Soldaten

Geschichten für schlaflose Nächte, Band 6, G. de Maupassant

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster, Deutschland

ISBN: 9783849624286

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Frontcover: © Thaut Images - Fotolia.com

Henri René Albert Guy de Maupassant – Biografie und Bibliografie

Franz. Romanschriftsteller, geb. 5. Aug. 1850 auf Schloß Miromesnil in der Normandie, gest. 7. Juli 1893 in Paris, begann seine Laufbahn als Ministerialbeamter. Für den angehenden Schriftsteller war Gustave Flaubert, ein Vetter seiner Mutter, gebornen Le Pottevin, ein treuer, unnachsichtiger Berater, der sogleich erkannte, daß in der Novellistik seine Stärke lag. Bekannt wurde M. nicht durch die Gedichte »Des Vers« (1880), sondern erst durch die 1870 in Rouen spielende musterhafte Novelle »Boule de Suif«, das Glanzstück der von Zola und seinen Schülern vereinigten »Soirées de Médan« (1880). Durch Objektivität und scharfe Hervorhebung des charakteristischen Merkmals zeichnete sich M. vor den übrigen Naturalisten, auch vor Zola selbst, aus. Seine Novellen sind im ganzen seinen Romanen überlegen, weil die hastige Produktion von 27 Bänden innerhalb 10 Jahren die planmäßige Arbeit erschwerte. Hervorragend sind immerhin die beklemmend traurige Ehegeschichte »Une Vie« (1883) und der Journalistenroman »Bel-Ami« (1885). Es folgten »Mont-Oriol« (1887), »Pierre et Jean« (1888) und endlich die einen unheilvollen Einfluß Bourgets verratenden sentimentalen Romane »Fort comme la Mort« (1889) und »Notre cœur« (1890). Unter den 20 Novellenbänden ragen besonders hervor: »La Maison Tellier« (1881), »Miss Harriet« (1884), »Monsieur Parent« (1885), »Le Horla« (1887), »L'inutile Beauté« (1890). Die Novelle »Musotte« dramatisierte M. mit J. Normand 1891 mit großem Erfolg. Der direkt für die Bühne geschriebene Zweiakter »La Paix du Ménage« (1893) gelang weniger. M. verfiel, wie sein älterer Bruder und mehrere andre Verwandte, in Wahnsinn, machte in Cannes einen Selbstmordversuch und starb in der Privatanstalt Blanche zu Paris. Eine illustrierte Gesamtausgabe seiner Werke erschien in 27 Bänden 1900–04. Von den zahlreichen Übersetzungen nennen wir die von H. v. Ompteda (»Gesammelte Werke«, Berl. 1898–1903, 20 Bde.). Ein Denkmal wurde ihm 1897 im Parc Monceaux zu Paris gesetzt.Vgl. A. Lumbroso, Souvenirs sur M., sa dernière maladie, sa mort (Par. 1905).

Herr Parent

I

Der kleine Georg kroch auf allen Vieren in der Allee umher und machte Sandhäufchen. Er nahm den Sand mit beiden Händen, baute eine Pyramide, dann pflanzte er auf der Spitze ein Kastanienblatt.

Sein Vater saß auf einem eisernen Stuhl in der Nähe und betrachtete ihn unausgesetzt mit zärtlicher Aufmerksamkeit. In dem großen öffentlichen Garten, der voll Menschen war, sah er nichts als sein Kind.

Längs des ganzen Rundweges, der am Bassin, an der Dreifaltigkeitskirche vorbei um den großen Rasenplatz herumführt, spielten andere Kinder genau so, während die Kindermädchen gleichgültig mit stumpfsinnigem Ausdruck in die Luft blickten oder die Mütter mit einander schwatzten, jedoch ohne auch nur einen Augenblick das Kindervolk aus dem Auge zu lassen.

Ammen schritten paarweise auf und ab mit würdiger Miene, während die langen, farbigen Bänder ihrer Hauben hinter ihnen dreinwehten. Im Arme trugen sie etwas Weißes, in Spitzen Gehülltes, während kleine Mädchen in kurzen Kleidchen, mit nackten Beinen eine Pause im Reifenspiel zu ernsthaften Gesprächen benützten. Der Gartenaufseher lief in seinem grünen Rock mitten durch dieses Kindergewimmel und mußte unausgesetzt Bogen machen, um die Erd-Sandbauten nicht zu zerstören, um auf keine Händchen zu treten, um die ganze Ameisenthätigkeit dieser reizenden, kleinen Menschenkindchen nicht zu beeinträchtigen.

Die Sonne versank eben hinter den Dächern der Rue St. Lazare und warf ihre langen schrägen Strahlen auf diese geputzte, bunte Menge. Golden färbte sie die Kastanienbäume, und die drei Springbrunnen vor dem hohen Portal der Kirche glänzten wie flüssiges Silber.

Herr Parent betrachtete seinen Sohn, der vor ihm im Sande spielte. Mit liebevollem Blick folgte er den geringsten Bewegungen, und schien immerfort mit gespitztem Munde dem kleinen Georg ein Küßchen zuzuschicken.

Aber als er nach der Uhr am Kirchturm blickte, bemerkte er, daß er schon fünf Minuten zu lange geweilt. Sofort stand er auf, nahm den Kleinen beim Arm, schüttelte den Sand aus dessen Kleidchen, wischte ihm die Händchen ab und zog ihn mit sich zur Rue Manche. Er beeilte sich, um nur ja nicht später heimzukommen als seine Frau. Und das kleine Kerlchen, das nicht mitkonnte, trippelte an seiner Seite.

Da nahm ihn der Vater auf den Arm, beschleunigte seinen Schritt noch mehr und keuchte mühsam die ansteigende Straße hinan. Er war ein Mann von etwa vierzig Jahren, schon grau, ein wenig dick, der etwas verlegen auf seinen Schmerbauch blickte.

Vor ein paar Jahren hatte er aus rasender Liebe eine junge Frau geheiratet, die ihn jetzt ganz unter dem Pantoffel hatte und schlecht behandelte. Unausgesetzt schalt sie ihn um alles, was er that, um alles, was er nicht that, warf ihm mit Bitterkeit die geringsten Dinge vor, alle seine kleinen Angewohnheiten, seine einfachen Vergnügungen, seinen Geschmack, sein Aussehen, seine Bewegungen, seine Körperfülle und den sanften Ton seiner Stimme.

Dennoch liebte er sie noch immer. Aber über alles liebte er das Kind, das er von ihr besaß, seinen Georg, der nun drei Jahr alt war, sein größtes Glück und sein einziger Gedanke.

Er war ein kleiner Rentier, hatte keine Beschäftigung und verzehrte seine zwanzigtausend Franken Einkommen. Seine Frau, die ihm keine Mitgift gebracht, war immer empört über die Unthätigkeit ihres Mannes.

Endlich erreichte er sein Haus, setzte das Kind auf der ersten Treppenstufe nieder, wischte sich die Stirn und fing an hinaufzugehen.

Im zweiten Stock klingelte er.

Eine alte Dienerin, die ihn erzogen hatte, eines jener Prachtexemplare von einem Dienstboten, die Tyrannen der Familie werden, öffnete. Er fragte ängstlich:

– Ist die gnädige Frau schon zu Haus?

Das Mädchen zuckte die Achseln:

– Seit wann hat Wohl der gnädige Herr erlebt, daß die gnädige Frau um halb sieben Uhr zurück ist.

Er antwortete fast verlegen:

– Nun, dann ist's gut. Desto besser, dann habe ich Zeit, mich umzuziehen, denn ich bin sehr warm geworden.

Die Dienerin blickte ihn mit etwas erregtem und verächtlichem Mitleid an. Sie brummte:

– Ah, das sehe ich schon, daß der gnädige Herr ganz naß ist. Der gnädige Herr ist gelaufen, vielleicht hat er den Kleinen auch noch geschleppt und das alles nur um auf die gnädige Frau bis halb achte zu warten. Jetzt soll mir aber keiner mehr damit kommen, daß ich zur richtigen Zeit angerichtet haben muß! Nee, nee! Ich richte eben um achte an und wenn die Herrschaften dann warten müssen, meinetwegen, der Braten darf nicht verbrennen.

Herr Parent that, als hörte er nichts und brummte:

– 's ist gut, 's ist gut. Georg müssen die Hände gewaschen werden, weil er im Sande gespielt hat. Ich werde mich umziehen. Sag nur dem Stubenmädchen, sie soll den Kleinen ordentlich rein machen.

Dann trat er in sein Zimmer, und sobald er dort war, schob er den Riegel vor, um allein zu sein, allein, ganz allein.

Er war jetzt so daran gewöhnt, schlecht behandelt und herumgeschubst zu werden, daß er sich nur sicher fühlte hinter Schloß und Riegel. Er wagte es nicht einmal, sich mit seinen eigenen Gedanken zu beschäftigen, wenn er sich nicht gegen Blicke und Unterstellungen im abgeschlossenen Zimmer in Sicherheit fühlte.

Er hatte sich, ehe er andere Wäsche anzog, auf einen Stuhl niedergelassen und überlegte sich, daß Julie anfing, eine neue Gefahr für sein Haus zu werden. Sie haßte seine Frau, das war ganz augenscheinlich, und vor allen Dingen haßte sie seinen Freund Paul Limousin, der – was selten vorkommt – der intimste, beste Freund des Ehepaares geblieben war, nachdem er sein unzertrennlicher Freund während der Junggesellenzeit gewesen.

Limousin diente sozusagen als Puffer zwischen Henriette und ihm und schützte ihn sogar mit Eifer und Erfolg gegen unverdiente Vorwürfe, gegen häusliche Szenen, gegen das ganze tägliche Elend seines Daseins.

Aber nun erlaubte sich Julie schon seit einem halben Jahr unausgesetzt Bemerkungen und böswillige Urteile über ihre Herrin. Immerfort sagte sie etwas über sie, und oft wiederholte sie zwanzig Mal am Tage:

– Wenn ich der gnädige Herr wäre, würde ich mich nicht so an der Nase rumführen lassen. Na, meinetwegen – ener macht's so – eener so!

Eines Tages war sie sogar unverschämt gegen Henriette gewesen, die sich damit begnügt hatte, abends gegen ihren Mann zu äußern:

– Ich will Dir nur eins sagen: wenn das Frauenzimmer nur einmal wieder unverschämt wird, so setze ich sie vor die Thür.

Und trotzdem war es, als ob sie, die sonst nichts fürchtete, vor der Alten Furcht empfände. Parent meinte, diese Nachsicht entstamme einer Achtung für die alte Dienerin, die ihn erzogen und seiner Mutter die Augen zugedrückt hatte.

Aber nun wurde es zu toll, so konnte das nicht mehr lange weitergehen, und mit Entsetzen überlegte er sich, was nun eigentlich werden sollte. Was sollte er thun? Julie fortschicken, erschien ihm eine so bedenkliche Maßregel, daß er gar nicht daran zu denken wagte; ihr aber recht geben gegen seine Frau, war ebenso wenig möglich, und es konnte eigentlich kaum mehr ein Monat vergehen, daß die Lage einfach unhaltbar werden mußte.

So saß er da, ließ die Arme herabhängen und suchte vergeblich nach irgend einem Mittel zur Versöhnung. Er fand nichts. Da brummte er vor sich hin:

– Ach, wenn ich Georg nicht hätte! Ohne ihn wäre ich doch zu unglücklich!

Dann kam ihm der Gedanke, Limousin um Rat zu fragen. Dabei blieb er. Aber bald fiel ihm ein, daß jener wegen seiner Feindschaft mit der alten Dienerin ihm raten würde, ihr zu kündigen. Und wieder versank er in Ängste und Unschlüssigkeit.

Es schlug sieben Uhr. Er fuhr in die Höhe. Sieben Uhr? Und er hatte sich noch nicht umgezogen! Da kleidete er sich schnell mit fliegender Hast aus, wusch sich, legte ein frisches Hemd an, so eilig, als ob ihn jemand zu, irgend etwas außerordentlich Wichtigem erwartete.

Dann trat er in den Salon und fühlte sich ganz erleichtert, daß ihm nichts mehr passieren könnte.

Er warf einen Blick in die Zeitung, sah auf die Straße hinab, und setzte sich dann wieder auf das Sofa; da öffnete sich eine Thür und sein Sohn kam herein, gereinigt, gekämmt, lächelnd. Parent schloß ihn in die Arme und küßte ihn leidenschaftlich, zuerst auf das Haar, dann auf die Augen, dann auf die Wangen, auf den Mund und auf die Hände. Er hob ihn in die Luft, beinahe bis zur Decke. Dann aber setzte er sich, weil die Anstrengung, ihn müde gemacht, und ließ Georg auf seinen Knieen reiten.

Das Kind war glückselig, lachte, zappelte mit den Armen, kreischte vor Vergnügen; und auch der Vater lachte und schrie vor innerer Befriedigung, daß sein dicker Bauch wackelte; und die Geschichte machte ihm beinahe noch mehr Spaß als dem Kinde. Er liebte es mit seinem ganzen Herzen, ein still ergebener schwacher zermürbter Mensch! Seine Liebesbeweise äußerten sich oft närrisch und stürmisch, als ob er all die heimliche verschämt-verborgene Zärtlichkeit ausströmen lassen wollte, die er nicht einmal in den ersten Stunden seiner Ehe mit dieser leidenschaftslosen gleichgültigen Frau hatte zeigen und von sich geben dürfen.

Julie erschien auf der Schwelle mit bleichem Gesicht und glänzenden Augen und kündete, mit von Verzweiflung zitternder Stimme an:

– Gnädiger Herr, es ist halb acht.

Parent blickte unruhig und ergeben auf die Uhr und murmelte:

– Ja allerdings, es ist halb acht.

– Ja, mein Essen ist nun fertig.

Da er das Gewitter kommen sah, so versuchte er sie zu beschwichtigen:

– Aber, hast Du mir denn nicht gesagt, als ich nach Hause kam, daß Du um acht Uhr anrichten wolltest?

– Um achte? Das glauben Sie wohl selbst nicht; Sie wollen doch das Kind nicht jetzt um achte essen lassen. Das sagt man so, jawohl, das ist so'ne Redensart. Aber der Magen des Kindes würde das nicht vertragen. Um achte essen! Ja, wenn's bloß nach seiner Mutter ginge, die kümmert sich den Deubel um das Kind. Allerdings – na – von der Mutter wollen wir lieber gar nicht weiter reden. Ist das nicht 'n Jammer, so' ne Mutter!

Parent zitterte, aber er fühlte, daß er mit einem Gewaltwort die drohende Szene abschneiden mußte und sagte:

– Julie, ich verbiete Dir, in diesem Tone von Deiner Herrin zu reden, hörst Du! Und ich bitte Dich, das in Zukunft nicht zu vergessen.

Die alte Dienerin war derartig erschrocken, daß sie sich auf dem Absatz herumdrehte und hinauslief, wahrend sie die Thür so heftig zuschmiß, daß alle Krystallprismen am Kronleuchter klingelten. Ein paar Sekunden hindurch war es, als töne in dem schweigenden Salon ganz leises, unbestimmtes Glockengebimmel.

Georg war zuerst erstaunt, dann klatschte er vor Vergnügen in die Hände, blies die Backen auf und machte laut mit aller Kraft seiner Lungen:

– Bum! um das Zuschlagen der Thüre nachzuahmen.

Nun erzählte ihm der Vater Geschichten. Aber da er dabei immer an andere Dinge dachte, so verlor er fortwährend den Faden, und der Kleine, der seine Geschichte nicht mehr verstand, riß erstaunt die Augen auf.

Parent ließ keinen Blick von der Wanduhr. Es war ihm, als sähe er den Zeiger gehen. Er hätte die Zeit anhalten mögen bis zur Rückkehr seiner Frau. Er verdachte es Henriette weiter nicht, daß sie sich verspätete, aber er hatte Angst, Angst vor ihr und Julie, und Angst vor all dem, was da passieren konnte. Noch zehn Minuten – und eine nicht wieder gut zu machende Katastrophe konnte eintreten, Auseinandersetzungen und sogar Thätlichkeiten, an die er nicht einmal zu denken wagte. Schon der Gedanke an diesen Streit, dieses Schreien, die Schimpfworte, die wie Kugeln durch die Luft sausen würden, an die beiden Frauen, die sich einander gegenüber stehen, sich anblicken und allerlei Verletzendes an den Kopf werfen würden, ließ sein Herz schlagen und ihm die Kehle eintrocknen wie bei einem Spaziergange in der Sonnenhitze, machte ihn schlapp, weich wie einen Waschlappen, daß er nicht einmal mehr die Kraft besaß, sein Kind aufzuheben und es auf den Knieen reiten zu lassen.

Es schlug acht Uhr. Die Thür ging auf und Julie erschien. Sie sah nicht mehr wütend aus, sondern hatte einen Ausdruck von bösartiger, kalter Entschlossenheit, der noch gefährlicher schien.

– Gnädiger Herr, – sprach sie, – ich habe Ihrer Frau Mutter bis zu ihrem Tode gedient. Ich habe auch Sie von ihrer Geburt ab bis heute gepflegt, und ich glaube, daß man sagen kann, ich bin eine treue Dienerin Ihrer Familie.

Sie erwartete eine Antwort.

Parent stotterte:

– Nu ja, meine gute Julie.

– Sie wissen sehr wohl, daß ich niemals etwas aus Geldinteresse gethan habe, sondern nur aus Interesse für Sie, daß ich Sie nie betrogen und nie belogen habe, daß Sie niemals Grund gehabt haben, mir einen Vorwurf zu machen.

– Nu ja, meine gute Julie.

– Nun, gnädiger Herr, das kann nicht mehr so weiter gehen. Bis jetzt habe ich aus Freundschaft für Sie nichts gesagt und habe Sie in Ihrer Ahnungslosigkeit gelassen, aber das ist zu toll, man lacht ja über Sie im ganzen Stadtviertel. Jetzt können Sie machen, was Sie wollen, alle Welt weiß es und ich muß es Ihnen mal sagen, obgleich es mir nicht gerade angenehm ist, zu klatschen. Wenn die gnädige Frau so nach Hause kommt, wann's ihr paßt, so macht sie böse Geschichten.

Er blieb erschrocken stehen und begriff nicht. Er konnte nur stottern:

– Willst Du ruhig sein, Du weißt, daß ich Dir verboten habe ...

Aber sie schnitt ihm mit unwiderstehlicher Entschlossenheit das Wort ab:

– Nein, gnädiger Herr, jetzt muß ich Ihnen Alles sagen: schon seit langer Zeit hat die gnädige Frau mit Limousin ein Verhältnis. Ich habe zwanzig Mal mindestens beobachtet, wie sie sich hinter der Thüre küßten, O, wissen Sie, wenn Herr Limousin reich gewesen wäre, dann hätte die gnädige Frau sicher nicht Herrn Parent geheiratet. Der gnädige Herr soll sich bloß mal erinnern, wie das mit der Heirat überhaupt war und dann würde er die ganze Geschichte verstehen.

Aschfahl war Parent aufgestanden und stammelte:

– Willst Du schweigen! Willst Du schweigen! oder ...

Sie fuhr fort:

– Nein, ich werde Alles sagen. Die gnädige Frau hat den gnädigen Herrn mit einer bestimmten Absicht geheiratet. Sie hat ihn betrogen vom ersten Tage ab. Die zwei haben das zusammen ausgemacht, das ist nun mal so, man braucht nur 'n bißchen nachzudenken, um das einzusehen. Und nicht genug damit, daß sie den gnädigen Herrn geheiratet hatte, den sie gar nicht liebt, hat sie ihm das Leben sauer gemacht, so sauer, daß mir hätte das Herz brechen können, mir, die ich all das mit angesehen habe.

Mit geballter Faust schritt er auf sie los und rief.

– Schweig! Willst Du schweigen!

Denn er wußte nicht was er antworten sollte.

Aber die alte Dienerin wich nicht von der Stelle. Sie schien zu allem bereit.

Der kleine Georg war zuerst erstaunt, dann erschrocken über den Ton der erregten Stimmen. Endlich fing er laut an zu brüllen, indem er hinter seinem Vater mit verzerrtem Gesicht und offenem Munde stehen blieb.

Das Geschrei seines Sohnes brachte Parent zur Verzweiflung, flößte ihm Mut ein und Wut zugleich. Er stürzte sich auf Julie mit erhobenen Armen, als wollte er sie schlagen, und rief:

– Du elendes Frauenzimmer, Du wirst noch den Kleinen ganz verrückt machen!

Er war nahe daran, sie zu berühren, als sie ihm ins Gesicht warf:

– Der gnädige Herr kann mich schlagen, wenn er will, mich, die ihn großgezogen hat, das ändert nichts daran, daß ihn die gnädige Frau betrügt und daß der Kleine nicht sein Kind ist.

Da blieb er wie angewurzelt stehen, die Arme fielen ihm schlaff herab und er war so erschrocken, daß er überhaupt von nichts mehr etwas verstand.

Sie fügte noch hinzu:

– Man braucht ja bloß den Kleinen anzusehen, um zu wissen, wer der Vater ist! Das Kind ist das reine Abbild von Herrn Limousin, man braucht bloß seine Augen und seine Stirn zu sehen! Das fühlt ja der Blinde mit dem Stocke.

Aber er hatte sie bei den Schultern gepackt und schüttelte sie mit aller Kraft, während er sie anherrschte:

– Schlange! Schlange! 'raus, alte giftige Schlange! Mach, daß Du 'rauskommst, oder ich schlage Dich tot! Hinaus! Hinaus!

Und mit verzweifelter Anstrengung stieß er sie in das Nebenzimmer. Sie fiel über den gedeckten Eßtisch, dessen Gläser umstürzten und zerbrachen. Sie richtete sich wieder auf, lief um den Tisch herum, damit er zwischen ihren Herrn und sie käme, und während er sie verfolgte, um sie zum zweiten Mal zu packen, warf sie ihm noch die Worte ins Gesicht:

– Der gnädige Herr braucht nur auszugehen heute abend nach Tisch, und dann plötzlich nach Haus zu kommen! Dann werden der Herr schon sehen! Dann werden der Herr schon sehen, ob ich gelogen habe. Der gnädige Herr soll's nur mal versuchen, der Herr werden schon sehen!

Sie hatte sich zur Küchenthür geflüchtet und lief davon, er hinter ihr her, die Hintertreppe hinauf bis zum Mädchenzimmer, wo sie sich eingeschlossen hatte. Er donnerte an die Thür:

– Du wirst sofort mein Haus verlassen!

Sie antwortete hinter der Thür:

– Der gnädige Herr kann sich darauf verlassen, in einer Stunde bin ich weg.

Langsam, sich dabei am Geländer haltend, um nicht zu fallen, ging er hinunter in den Salon, wo Georg an der Erde saß und heulte.

Parent ließ sich in einen Stuhl fallen und blickte das Kind ganz verstört an. Er wußte nicht mehr wo er war, alles drehte sich um ihn, als sei er toll geworden, als ob er einen Schlag auf den Kopf bekommen hatte. Er entsann sich kaum der fürchterlichen Dinge, die ihm eben die alte Dienerin gesagt.

Endlich beruhigte sich allmählich sein Gehirn, seine Gedanken klärten sich, und die gräßliche Entdeckung begann in seinem Herzen ihr Werk zu thun.

Julie hatte so offen, so entschieden, mit solcher Bestimmtheit und Ehrlichkeit gesprochen, daß er an der Wahrheit nicht zweifelte. Aber er meinte immer noch, sie könnte sich geirrt haben, sie könnte durch ihre Anhänglichkeit an ihn blind geworden sein, der Haß gegen Henriette könnte ihre Urteilskraft getrübt haben. Aber wie er versuchte, sich zu beruhigen, erinnerte er sich an tausend Kleinigkeiten: Worte seiner Frau, Blicke Limousin's, eine Menge von gleichgültigen, kaum wahrgenommenen Dingen, einmal ein später Ausgang, gleichzeitige Abwesenheit. Sogar die unbedeutendsten Bewegungen der beiden, die aber doch sonderbar gewesen waren, an denen er nichts hatte finden können, fielen ihm ein und nahmen nun plötzlich für ihn eine außerordentliche Wichtigkeit an. All das verdichtete sich dahin, daß er meinte, ein Einverständnis zwischen den beiden müsse bestehen. Er erinnerte sich plötzlich alles dessen, was seit seiner Verlobung geschehen. Alles kam ihm wieder zu Sinn und nun sah sein armes, von Zweifeln hin und hergeworfenes Hirn, alles das, was vielleicht nur einen Verdacht hätte abgeben können, schon als Gewißheit.

Er durchflog in Gedanken die fünf Jahre seiner Ehe, klammerte sich an jede Kleinigkeit, suchte alles Monat um Monat Tag um Tag, wieder zu finden, und alles, was ihn hätte beunruhigen können, fand er auch wieder und es traf ihn ins Herz wie ein Dolchstich.

An Georg dachte er nicht mehr. Das Kind saß jetzt still auf dem Teppich. Aber da man sich mit ihm nicht mehr beschäftigte, fing es wieder an zu weinen.

Der Vater ging auf den Jungen zu, nahm ihn auf den Arm und bedeckte ihn mit Küssen. Sein Kind blieb ihm doch wenigstens! Da war ihm das Übrige einerlei. Er hielt es in den Armen, drückte es an sich, preßte den Mund auf sein blondes Haar und stammelte erleichtert und getröstet:

– Georg, mein kleiner Georg! Mein lieber, kleiner Georg!

Aber plötzlich dachte er an das, was Julie gesagt. Sie hatte doch gemeint, der Knabe wäre Limousin's Kind. Aber das war unmöglich. Nein, das konnte er nicht glauben, nicht einen Augenblick, das war eine jener gemeinen Niederträchtigkeiten, die in solchen Bedienten-Seelen schlummern. Und er wiederholte:

– Georg, mein lieber Georg!

Der Bengel schwieg, als er geliebkost ward.

Parent fühlte die Wärme des kleinen Körpers durch den Stoff hindurch. Sie erfüllte ihn mit Liebe, Mut und Freudigkeit. Die süße Körperwärme des Kindes schmeichelte sich in ihn hinein, gab ihm Kraft und erhob ihn wieder. Da bog er das kleine Köpfchen ein wenig von sich ab, um es liebevoll zu betrachten. Er besah den Knaben mit leuchtenden Augen, versank ganz in seinen Anblick, wahrend er immer wiederholte:

– O mein kleiner, mein kleiner Georg!

Plötzlich dachte er:

– Und wenn er doch Limousin ähnlich sähe?

Da durchzuckte ihn etwas ganz Seltsames, Fürchterliches. Ein heftiges schneidendes Kältegefühl lief ihm über den Leib, als ob plötzlich seine Knochen zu Eis erstarrten.

O, wenn er Limousin ähnlich sähe!

Und nun blickte er immerfort Georg an, der jetzt lachte. Er sah ihm erschrocken, starr in die Augen, und suchte in dieser Stirn, in der Nase, im Munde, in den Wangen, ob er nicht etwas von der Stirn, der Nase, dem Munde und den Wangen Limousin's wieder fände.

Die Gedanken fingen an ihm zu schwinden, als würde er verrückt, und unter seinem Blick schien sich das Antlitz des Kindes zu verändern, nahm seltsame Gestalt an und wunderliche Ähnlichkeit.

Julie hatte zu ihm gesagt: »das fühlt der Blinde mit dem Stocke.« Es mußte also eine Ähnlichkeit sein, die nicht zu leugnen war. Aber wo? Die Stirn? Ja, vielleicht. Und doch hatte Limousin eine schmälere Stirn. Dann also der Mund? Aber Limousin trug einen Vollbart. Wie sollte man zwischen dem rundligen Kinn des Kindes und dem behaarten des Mannes eine Ähnlichkeit finden?

Parent dachte:

– Ich kanns nicht erkennen, kanns nicht mehr erkennen. Ich bin zu sehr befangen. Jetzt wärs mir überhaupt nicht möglich, so was festzustellen. Ich muß warten. Ich muß ihn mir mal morgen früh wieder ansehen. Dann überlegte er sich:

– Aber wenn er mir nun ähnlich sähe? Dann wäre ich ja gerettet! Gerettet!

Und mit ein paar großen Schritten eilte er durch den Salon, um im Spiegel des Kindes Züge mit den seinen, zu vergleichen.

Er hielt Georg auf dem Arm, daß ihre Wangen sich an einander schmiegten, und nun sprach er ganz laut, so groß war seine Erregung:

– Ja ... wir haben dieselbe Nase ... dieselbe Nase ... vielleicht ... sicher ist es nicht ... und denselben Blick aber nein ... er hat ja blaue Augen ... ja dann ... o mein Gott ... mein Gott ... ich werde verrückt ... ich kann nicht mehr sehen ... ich bin verrückt.

Er floh vom Spiegel bis zum andern Ende des Salons, ließ sich in einen Stuhl fallen, setzte den Kleinen auf einen anderen daneben und fing an zu weinen. Er schluchzte laut, und Georg war so erschrocken, seinen Vater stöhnen zn hören, daß er plötzlich auch anfing zu heulen.

Da klang die Glocke an der Entreethür. Parent sprang auf, als ob ihn eine Kugel getroffen hätte, indem er sich sagte:

– Da ist sie. Was soll ich nun thun?

Und er lief in sein Zimmer, um Zeit zu gewinnen, sich wenigstens die Augen abzuwischen. Aber nach ein paar Sekunden fuhr er zusammen: wieder klang die Glocke. Dann erinnerte er sich, daß doch Julie fortgegangen ohne daß das Stubenmädchen etwas davon wußte. So machte also niemand auf. Was sollte er thun? Er ging hin.

Und plötzlich fühlte er sich tapfer zu allem entschlossen, zum Kampfe bereit. Die furchtbare Entdeckung hatte ihn in wenigen Augenblicken reifer gemacht. Und dann wollte er jetzt Alles wissen, er wollte es mit zaghafter Wut und der Beharrlichkeit eines sonst gutmütigen Menschen der zur Verzweiflung gebracht ist.

Und doch zitterte er davor. War es Furcht? Ja, vielleicht hatte er noch Furcht vor ihr. Der Mut besteht ja doch so oft nur aus einer bis zum äußersten gebrachten Feigheit. Hinter der Thür, zu der er mit eiligen Schritten gestürmt, blieb er nun stehen, um zu lauschen. Sein Herz klopfte laut. Er hörte nichts, als das starke dumpfe Pochen in seiner Brust und die schrille Stimme Georg's der im Salon fortwährend schrie.

Plötzlich fuhr er zusammen unter dem Ton der Glocke, die wiederum über seinem Kopfe klang. Dann nahm er die Klinke in die Hand und atemlos mit wankenden Knieen machte er auf.

Seine Frau und Limousin standen vor ihm auf der Treppe.

Sie fagte mit erstaunter Miene, aus der ein wenig Erregung klang:

– Jetzt machst gar Du auf? Wo ist denn Julie?

Die Kehle war ihm wie zusammengeschnürt. Er atmete heftiger und gab sich Mühe zu antworten, brachte aber kein Wort heraus.

Sie fing wieder an:

– Bist Du denn stumm geworden? Ich fragte, wo Julie ist?

Da stotterte er:

– Sie ist – sie ist fort.

Seine Frau fing an wütend zu werden:

– Was, fort? Wohin denn? Warum?

Allmählich gewann er seine Gelassenheit zurück und nun stieg in ihm ein wütender Haß auf gegen diese unverschämte Frau, die da vor ihm stand:

– Ja fort ist sie, ganz fort, ich habe sie fortgeschickt.

– Du hast sie fortgeschickt? Julie? Du bist wohl verrückt!

– Ja, ich habe sie fortgeschickt, weil sie unverschämt war und weil sie – weil sie das Kind schlecht behandelt hat.

– Julie?

– Ja, Julie.

– Wieso ist sie denn unverschämt gewesen?

– Deinetwegen!

– Meinetwegen?

– Ja, weil ihr Mittagessen angebrannt war und Du nicht nach Hause kamst. Sie hat gesagt – sie hat Dinge gesagt, die Dir nicht zur Ehre gereichen und die ich nicht anhören durfte, nicht anhören konnte.

– Was für Dinge?

– Das brauche ich nicht zu wiederholen.

– Ich wills wissen!

– Sie hat gesagt, daß es ein Unglück wäre für einen Mann wie mich, so eine Frau wie Dich, geheiratet zu haben! Eine Frau die unpünktlich ist, unordentlich, sich um nichts kümmert, nicht um den Haushalt, die eine schlechte Mutter ist und eine schlechte Gattin dazu.

Die junge Frau war in den Vorsaal getreten, und Limousin, der kein Wort sprach, folgte ihr. Sie schloß schnell die Thür, warf ihren Mantel auf einen Stuhl und ging stammelnd auf ihren Mann los:

– Du sagst – Du sagst, daß ich – –

Er war sehr bleich, sehr ruhig und antwortete:

– Liebe Freundin, ich sage gar nichts, ich wiederhole Dir nur, was Julie gesagt hat, und das hast Du hören wollen. Und ich bitte zu bemerken, daß ich sie gerade wegen dieser Redensarten 'rausgeschmissen habe.

Es zuckte ihr in den Fingern, ihm den Bart auszurupfen und ihm die Nägel ins Gesicht zu schlagen. In seinem Ton, in seiner Stimme, in seinem Benehmen fühlte sie die Empörung, die in ihm zitterte, obgleich sie nichts antworten konnte. So suchte sie denn zum Angriff überzugehen durch irgend ein verletzendes Wort:

– Haft Du gegessen? – fragte sie.

– Nein, ich habe gewartet.

Ungeduldig zuckte sie die Achseln:

– Das ist einfach albern, nach halb achte noch zu warten. Du hättst Dir wohl denken können, daß ich eine Abhaltung gehabt habe, daß ich Besorgungen zu machen hatte und Geschäfte.