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Die hier versammelten Beiträge des XXXV. Romanistischen Kolloquiums widmen sich aktuellen Fragestellungen zum Thema ,Geschlecht und Sprache' unter besonderer Berücksichtigung der Diskussion in unterschiedlichen Gebieten der Romania. Dabei wird auch der gesellschaftspolitischen und interdisziplinären Dimension des Themas Rechnung getragen. Nach einer kritischen Präsentation aktueller Debatten und Forschungsfelder der Genderlinguistik und Queeren Linguistik befassen sich drei Beiträge aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit Leitfäden zur sprachlichen Gleichbehandlung der Geschlechter. In fünf weiteren Artikeln wird die Geschlechterreferenz in der italienischen und französischen Pressesprache sowie in galicischen Urkunden des Spätmittelalters untersucht, bevor abschließend der Zusammenhang zwischen Genderdiskursen und Ideologien in unterschiedlichen Kontexten thematisiert wird.
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Seitenzahl: 587
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Lidia Becker / Julia Kuhn / Christina Ossenkop / Claudia Polzin-Haumann / Elton Prifti (Hrsg.)
Geschlecht und Sprache in der Romania: Stand und Perspektiven
DOI: https://www.doi.org/10.24053/9783823395843
© 2022 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]
2750-0810
ISBN 978-3-8233-8584-4 (Print)
ISBN 978-3-8233-0458-6 (ePub)
Das XXXV. Romanistische Kolloquium, das im Wintersemester 2020/2021 aufgrund der Coronapandemie als öffentliche Online-Ringvorlesung von der WWU Münster aus organisiert wurde, griff mit Geschlecht und Sprache in der Romania: Stand und Perspektiven zum zweiten Mal in der Geschichte des Kolloquiums das Thema einer vergangenen Tagung wieder auf. Bereits 1994 waren im Rahmen des X. Romanistischen Kolloquiums relevante Beschreibungsansätze und Fragestellungen diskutiert worden, die sich am Beispiel unterschiedlicher romanischer Sprachen mit der Wechselbeziehung zwischen Genus und Sexus in Sprachsystem und Sprachgebrauch befassten (cf. Dahmen et al. 1997). Seitdem hat sich der sprachwissenschaftliche Blick auf die Kategorie ‚Geschlecht‘ zunehmend weiterentwickelt. Der Fokus liegt mittlerweile nicht mehr ausschließlich auf der Wechselbeziehung zwischen dem grammatischen und dem biologischen Geschlecht, sondern auch und vor allem auf der Beziehung zwischen Sprache und soziokulturellen Geschlechterrollen sowie Geschlechtsidentitäten (Gender), die als Teil eines umfassenden Konzeptes der soziokulturellen Vielfalt (Diversity) betrachtet werden. Standen in den 1990er Jahren, zumindest mit Bezug auf die Romania, noch die Referenz auf Frauen und die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Sprachgebrauch von Männern und Frauen im Mittelpunkt linguistischer Forschung, so rückt aktuell immer stärker die Überwindung einer strikten Zweigeschlechtlichkeit in Sprachgebrauch und Sprachsystem in den Fokus, womit auch gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung getragen wird. Darüber hinaus hat auch die diskursive Ebene immer stärker an Relevanz gewonnen.
Mit Geschlecht und Sprache: Stand und Perspektiven wird ein Thema in den Mittelpunkt des Romanistischen Kolloquiums gestellt, das nicht nur in der Linguistik, sondern aufgrund seiner gesellschaftspolitischen Dimension in unterschiedlichen Fachkreisen und auch interdisziplinär diskutiert wird und darüber hinaus eine hohe gesellschaftliche Sichtbarkeit genießt. In Deutschland hat das im November 2017 verkündete Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Einführung eines dritten positiven Geschlechtseintrags im Personenstandsrecht (cf. BVerfG 2017) sicherlich maßgeblich dazu beigetragen, dass zunehmend Formulierungen in der offiziellen und öffentlichen Kommunikation verwendet werden, die die Intention verfolgen, alle Geschlechter einzubeziehen, wofür Bezeichnungen wie geschlechter- bzw. gendergerechter, -sensibler, -neutraler oder inklusiver Sprachgebrauch verwendet werden. Was unter der jeweiligen Bezeichnung zu verstehen ist und wie das dahinterstehende Konzept sprachlich umgesetzt werden kann, wird u. a. in den Medien öffentlichkeitswirksam diskutiert. Erinnert sei an die Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit einem Referentenentwurf zum Sanierungs- und Insolvenzrecht vom Oktober 2020, der weitgehend im generischen Femininum verfasst war, oder an die im November 2021 an Ministerien und Bundesgerichte gerichtete Empfehlung der damaligen Bundesjustiz- und Familienministerin, Sonderzeichen wie den Stern oder den Unterstrich in der offiziellen Kommunikation zu vermeiden und stattdessen auf neutrale Formulierungen oder Beidnennungen zu rekurrieren (cf. Zimmermann 2021). Ähnliches lässt sich auch in der Romania beobachten: Genannt seien u. a. der 2021 veröffentlichte Runderlass des französischen Erziehungsministers zum Gebrauch nichtdiskriminierender Formulierungen in Schriftstücken der Verwaltung sowie im Unterricht (cf. MENJS 2021), die Aufnahme des nichtbinären Personalpronomens iel in den Dico en ligne Le Robert (cf. Bimbenet 2021) oder die Stellungnahme der Real Academia Española (2020) zu einer Anfrage der Vizepräsidentin der spanischen Regierung hinsichtlich der Notwendigkeit, den Text der Verfassung durch nichtdiskriminierende Formulierungen zu modifizieren.
Die hier versammelten Beiträge des XXXV. Romanistischen Kolloquiums widmen sich aktuellen Fragestellungen und Forschungsansätzen zum Thema ‚Geschlecht und Sprache‘ unter besonderer Berücksichtigung der Diskussion in unterschiedlichen Gebieten der Romania, wobei die Perspektive zu Beginn interdisziplinär erweitert wird. Thematisch gliedert sich der Band in vier Teile: In den ersten beiden Beiträgen werden aktuelle Debatten und Forschungsfelder der Genderlinguistik und Queeren Linguistik aufgezeigt und diskutiert. Es schließen sich drei Beiträge an, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit Leitfäden zur sprachlichen Gleichbehandlung der Geschlechter befassen: erstens ausgehend von der Textsorte selbst, zweitens ausgehend von ihrer Funktion innerhalb der Institution Kirche und drittens mit Bezug auf das Dolomitenladinische. Fünf weitere Beiträge sind der Untersuchung der Geschlechterreferenz in der italienischen und (aktuellen oder historischen) französischen Pressesprache sowie in galicischen Urkunden des Spätmittelalters gewidmet. Den Abschluss des Bandes bilden zwei Beiträge, in denen der Zusammenhang zwischen Genderdiskursen und Ideologien untersucht wird.
Susanne Günthner gibt zu Beginn einen Überblick über die Debatte um eine gendergerechte deutsche Sprache und setzt dabei den Schwerpunkt auf aktuelle Tendenzen innerhalb der deutschen Diskussion, die sie sowohl aus linguistischer Perspektive als auch aus dem Blickwinkel der Öffentlichkeit beleuchtet. Dabei geht sie u. a. den Fragen nach, ob und inwiefern Androzentrismus und Binarität als im System der deutschen Sprache ‚eingeschrieben‘ angesehen werden können und wie die Beziehung von Sprache, Kognition und Wirklichkeitskonstruktion zu charakterisieren ist. Auch stellt sie die Referenzproblematik des ‚generischen Maskulinums‘ dar und diskutiert verschiedene Realisierungsmöglichkeiten gendergerechter und -neutraler Alternativen im Deutschen.
Es schließt sich ein Beitrag von Martin Stegu mit Überlegungen zu einer allgemeinen, angewandten und romanistischen Queeren Linguistik an. Dabei geht er von den Fragen aus, ob sich Queere Linguistik auf ein bestimmtes Forschungsobjekt richtet oder ob sie als methodischer Ansatz, als eigene Disziplin oder als Subdisziplin innerhalb der Wissenschaft und speziell der Linguistik zu betrachten ist. Zur näheren Bestimmung von Rolle, Status, Funktionen und Aufgabenfeldern der Queeren Linguistik dienen die theoriebezogene Erläuterung des Begriffs queer, die wissenschaftliche Verortung der Queer Studies sowie die Auseinandersetzung mit der Konstruktion von ‚Identität‘ im queeren Kontext.
Die Textsorte der Leitfäden für geschlechtergerechte/inklusive Sprache steht im Mittelpunkt des Beitrags von Daniel Elmiger. Auf der Basis einer selbst angelegten Leitfadensammlung, die zum Zeitpunkt der Abfassung des Beitrags 1.654 Referenzwerke zu über 40 Sprachen umfasste, legt der Verfasser ausführlich dar, welche Kriterien er der Auswahl und Abgrenzung einzelner Leitfäden für die Aufnahme in die Sammlung zugrunde legt. Anhand einer Analyse der in der Sammlung vertretenen Leitfäden für Spanisch, Französisch, Katalanisch/Valencianisch und Italienisch zeigt er einzelsprachlich und sprachvergleichend Tendenzen auf, die widerspiegeln, wie viele Leitfäden von 1980 bis 2021 für die vier genannten Sprachen(paare) veröffentlicht wurden und mithilfe welcher Attribuierungen der in den Leitfäden herangezogene Gegenstand im zeitlichen Verlauf bezeichnet wurde.
Kristina Bedijs nimmt in ihrem Artikel eine länder- und sprachenvergleichende Bestandsaufnahme zum Gebrauch gendersensibler Sprache in der evangelischen Kirche vor. Zunächst geht sie auf die Bedeutung von Gleichstellung und deren enge Verbindung zu gendersensibler Sprache innerhalb der Institution Kirche ein. Daran anknüpfend untersucht sie die Bemühungen um Gleichstellung und einen gendersensiblen Sprachgebrauch im spirituellen, juristischen und administrativen Bereich der deutschen, französischen und schweizerischen evangelischen Kirche.
Ruth Videsott setzt sich in ihrem Beitrag mit der sprachlichen Gleichbehandlung in der Minderheitensprache Dolomitenladinisch auseinander und fokussiert, mit Vergleich zum Deutschen und Italienischen, die Bildung und den Gebrauch von Berufsbezeichnungen in den drei Varietäten Gadertalisch, Grödnerisch und Fassanisch. Nach der detaillierten Betrachtung der Bildung von Berufsbezeichnungen aus morphologischer Perspektive führt sie auf der Grundlage von Zeitungsartikeln der ladinischen Wochenzeitung La Usc di Ladins von 2019 und 2020 sowie journalistischer Texte des Corpus general dl ladin eine exemplarische Korpusanalyse zu drei Bezeichnungen aus den Bereichen Politik, Recht und Handwerk durch. Ziel der Untersuchung ist es, Aussagen zum Gebrauch und zur Akzeptabilität der Bezeichnungen in den drei ladinischen Varietäten abzuleiten.
Im ersten von vier Beiträgen, die sich mit geschlechtergerechtem Sprachgebrauch in der Presse befassen, nimmt Antje Lobin eine aktuelle Bestandsaufnahme italienischer Personenbezeichnungen vor. Am Beispiel einer Fallstudie zur Darstellung der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Artikeln der Tageszeitungen La Repubblica und Corriere della Sera von 2019 vergleicht sie die aktuellen Formen der Personendarstellung mit den Ergebnissen einer früheren Studie von Burr (in: Dahmen et al. 1997). Der Fokus der Untersuchung liegt auf ausgewählten Personenbezeichnungen zur Referenz auf Ursula von der Leyen, auf verschiedenen Realisierungsmöglichkeiten bei der Bezeichnung mit Eigennamen sowie auf weiteren Be- und Zuschreibungen zur Repräsentation der EU-Kommissionspräsidentin.
Friederike Endemann nimmt ebenfalls die 2019 erfolgte Ernennung Ursula von der Leyens zur EU-Kommissionspräsidentin zum Anlass, die sprachliche Darstellung der Politikerin in den französischen nationalen Tageszeitungen Le Monde und Le Figaro zu analysieren und zu vergleichen. Hierzu zieht sie Empfehlungen einschlägiger französischer Leitfäden für geschlechtergerechte/inklusive Sprache sowie Ergebnisse vorheriger Untersuchungen zur Darstellung von Politikerinnen in der französischen Presse heran. Daran anknüpfend werden Fragen nach dem Gebrauch von Feminina sowie nach dem Vorkommen lexikalischer und/oder syntaktischer Asymmetrien bei der Referenz auf Ursula von der Leyen untersucht.
Auch Julia Burkhardt befasst sich in ihrem Artikel mit nichtsexistischem Sprachgebrauch in der französischen Presse. Dafür greift sie die französische Diskussion um die Bildung und den Gebrauch von Feminina auf und stellt Empfehlungen einschlägiger französischer Leitfäden hierzu dar. Nach einer Synthese verschiedener Untersuchungen zur Geschlechterreferenz in der französischen Presse nimmt sie schließlich eine quantitative Analyse von vier exemplarisch ausgewählten Berufs- und Funktionsbezeichnungen aus Artikeln der auflagenstärksten französischen Tageszeitungen der Jahre 2011, 2016 und 2019 vor, um aktuelle Tendenzen beim Gebrauch femininer Berufs- und Funktionsbezeichnungen aufzuzeigen.
Georgia Veldre-Gerner fokussiert in ihrem Beitrag die Bezeichnungen doctoresse und médecin und untersucht die Entwicklung ihres Gebrauchs zur Referenz auf Frauen in der französischen Presse zwischen 1870 und 1930 anhand des Pressekorpus RetroNews. Dabei geht sie der Frage nach, inwiefern bestimmte kollokative Tendenzen, Verwendungskontexte und Habitualisierungen von Feminina in den französischen Pressetexten auszumachen sind. Hierzu wird die Wortgeschichte der genannten Formen unter Einbezug der Empfehlungen des französischen Feminisierungsleitfadens von 1999 sowie von Definitionen einschlägiger französischer Wörterbücher nachgezeichnet und mit Beispielen aus der französischen Presse versehen. Exemplarisch wird die Darstellung von Madeleine Brès (1842–1921), der ersten Ärztin Frankreichs, analysiert.
Genderspezifische Variation in der spätmittelalterlichen galicischen Anthroponymik steht im Zentrum des Beitrags von Paula Bouzas. Ausgehend von vorliegenden Untersuchungen zu mittelalterlichen romanischen und speziell galicischen Urkunden, in denen genderspezifische Unterschiede bei der Namengebung festgestellt wurden, geht die Verfasserin nach einer kurzen Einführung in das spätmittelalterliche galicische Personennamensystem am Beispiel von vier Urkundensammlungen des 15. Jahrhunderts der Frage nach, ob und wenn ja, welche genderspezifische Variation im Hinblick auf die Benennung von Männern und Frauen in spätmittelalterlichen galicischen Urkunden zu finden ist. Hierzu werden in der Analyse Kettenstrukturtypen sowie Beinamenkategorien näher betrachtet.
Die letzten zwei Beiträge des Bandes widmen sich der Untersuchung von Genderdiskursen und damit verbundenen Ideologien. Zunächst analysiert Judith Visser, wie im französischen und spanischen Links- und Rechtspopulismus Themen wie Gendergerechtigkeit, Genderbewusstheit und gendergerechte Sprache behandelt werden. Gegenstand der Untersuchung sind die Programme ausgewählter Parteien zur Europawahl 2019: für Frankreich La France insoumise (links) und Rassemblement National (rechts), für Spanien (Unidos/Unidas) Podemos (links) und VOX (rechts). Auf der Grundlage der Parteiprogramme erforscht Visser u. a., ob die Parteien Gendergerechtigkeit und gendergerechte Sprache thematisieren und mit welchen sprachlichen Mitteln sie ggfs. gendergerechte Sprache anwenden. Für eine Vertiefung der parteispezifischen Analyse werden weitere Texte (Twitternachrichten, Wahlplakate, Homepages der Parteien u. Ä.) hinzugezogen.
Der Band schließt mit einem Beitrag von Dinah Leschzyk zur Rhetorik im anti-queeren und anti-feministischen Diskurs Brasiliens unter besonderer Berücksichtigung des Begriffs ‚Genderideologie‘. Der Terminus ideologia de gênero ist seit 2011 im brasilianischen Anti-Gender-Diskurs verankert und wird u. a. von dem brasilianischen Präsidenten Jair Messias Bolsonaro und seinen Söhnen Carlos, Eduardo und Flávio politisch instrumentalisiert. Anhand von Blogposts der Familie Bolsonaro und Tweets von Jair Bolsonaro und seinen drei Söhnen aus den Jahren 2015 bis 2021 analysiert Leschzyk die Gebrauchsweisen des Begriffs. Hierzu untersucht sie u. a. Kollokationen, Konnotationen und Implikationen und deckt so (politische) Ziele und Strategien auf, die hinter der Begriffsverwendung stehen.
Wir hoffen, mit dem vorliegenden Sammelband aus romanistischer Perspektive zu einer kritischen Auseinandersetzung mit aktuellen Fragestellungen und Forschungsansätzen zum Thema ‚Geschlecht und Sprache‘ anzuregen. Als Herausgabeteam haben wir uns bewusst dafür entschieden, den einzelnen Beiträgerinnen und Beiträgern keine Vorgaben im Hinblick auf die Verwendung eines nichtdiskriminierenden Sprachgebrauchs zu machen, um die Ausdrucksvielfalt in diesem sensiblen Bereich nicht einzuschränken.
Wir bedanken uns bei Friederike Endemann für ihre tatkräftige Unterstützung bei der Erstellung der Druckvorlage sowie bei Kathrin Heyng (Narr Francke Attempto Verlag) für die Betreuung der vorliegenden Publikation.
Lidia Becker
Julia Kuhn
Christina Ossenkop
Claudia Polzin-Haumann
Elton Prifti
Allgemeine, angewandte und romanistische Überlegungen
Résumé
Cette contribution a pour but de donner un premier aperçu du domaine de recherche encore relativement jeune qu’est la ,linguistique queer‘. Une linguistique que l’on peut qualifier de ,queer‘ renvoie-t-elle à un objet de recherche spécifique, s’agit-il d’une approche méthodologique particulière, d’une discipline ou d’une sous-discipline à part entière? Avant d’examiner ces questions, on traitera à la fois du terme queer et de la théorie/des études queer (Queer Studies) en général. Par la suite, nous nous concentrerons sur les questions de recherche que la linguistique queer se pose normalement et nous nous demanderons quels seraient les domaines de recherche auxquels elle pourrait ou devrait encore s’intéresser. Son orientation anti-normative serait-elle également transférable à d’autres domaines que le genre et les identités sexuelles? Quel rôle l’identité et les discussions actuelles sur les politiques de l’identité jouent-elles pour la linguistique queer? La notion de la construction socio-discursive signifie-t-elle que l’on ne peut ou ne doit plus se référer à une réalité prédiscursive? Enfin, nous aborderons le rôle de l’application – quel rôle peut et doit jouer la linguistique appliquée queer? – ainsi que la question de savoir de quelle manière les approches linguistiques queer peuvent également être intégrées dans la recherche en études romanes.
Abstract
This contribution is intended to provide a first insight into the still relatively young research field of ,Queer Linguistics‘. Does a linguistics labelled as ,queer‘ refer to a specific research object, is it a specific methodological approach, a discipline or sub-discipline in its own right? Before we turn to these questions, however, we want to deal with both the term queer and Queer Theory or Queer Studies. After that, we will focus on what Queer Linguistics in general is or could or should be concerned with. Would its anti-normative orientation be transferable to fields other than gender and sexual identity issues? What role do identity and the current identity-political discussions play for Queer Linguistics? Does social-discursive construction mean that a prediscursive reality can or should no longer be referred to at all? Finally, we are interested in the application aspect – what role can and should queer applied linguistics play? – as well as the question in which way queer linguistic approaches can also be integrated into Romance Studies.
Keywords: queer, Queer Studies, Queere Linguistik, Queere Angewandte Linguistik, Queere romanistische Linguistik
Die folgenden Überlegungen sollen einen ersten Einblick in das noch relativ junge Forschungsfeld der ,Queeren Linguistik‘ geben. Selbst im Fall etablierter Forschungsbereiche herrscht oft weder intern noch extern totale Übereinstimmung, welchen disziplinären Status sie haben oder für welche Forschungsfragen sie mit welchen Methoden zuständig sind oder sein sollten. Man denke hier z. B. nur an die immer wieder neu versuchten Definitionen von ,Angewandter Linguistik‘ (cf. Stegu 2011). Im Fall neu entstehender Forschungsansätze, die sich in vielen Fällen auch in sich neu bildenden communities ausbreiten und weiterentwickeln, ist die Situation noch um vieles unklarer oder zumindest komplexer. Bezeichnet sich eine Linguistik nur deshalb als ‚queer‘, weil sie sich auf ein bestimmtes, als ‚queer‘ identifiziertes Forschungsgebiet bezieht, oder handelt es sich um einen bestimmten methodischen Ansatz, um eine eigene Disziplin oder Subdisziplin?
Bevor wir uns jedoch diesen Fragen zuwenden, wollen wir uns sowohl mit dem Begriff queer als auch mit Queer Theory bzw. Queer Studies auseinandersetzen. Danach soll es vor allem darum gehen, womit sich Queere Linguistik im Allgemeinen befasst bzw. noch befassen könnte oder sollte. Dabei interessiert uns auch der Anwendungsaspekt (also: Queere Angewandte Linguistik1) sowie die Frage, in welcher Weise queerlinguistische Aspekte auch in die Romanistik einfließen könnten.2
Das englische Wort queer, das übrigens mit dem deutschen Wort quer verwandt ist, bedeutete ursprünglich ‘sonderbar’ und wurde ab dem letzten Jahrhundert auch immer mehr für ‘homosexuell’ verwendet (cf. Etymonline 2001–2021, s. v. queer), dies aber nicht mit neutraler Konnotation, sondern pejorativ und mit einem semantischen Fokus auf ‘tuntig, weibisch’. Ähnlich wie im Fall des deutschen Wortes schwul kam es dann innerhalb der gay & lesbian community und von dieser ausgehend zu einer neutralisierenden, ja positiven Umdeutung (cf. Rauchut 2008, 40–42), wobei sich queer u. a. als Oberbegriff für gay & lesbian anbot. Queer wird inzwischen als calque auch in vielen anderen Sprachen verwendet – wobei hier aber nur die neueren Bedeutungsvarianten übernommen wurden und der ursprünglich negative Bedeutungsaspekt vielen gar nicht bewusst ist. Bei einer semantischen Analyse des Wortes queer müsste daher klar zwischen primär englischsprachigen und anderssprachigen Kontexten unterschieden werden.
Neben der bereits erwähnten Verwendung als Oberbegriff für gay & lesbian bzw. LGBTIQA* (Lesbian/Gay/Bisexual/Trans*/Inter*/Queer/Agender usw.; cf. Scheller-Bolz 2017) wird queer