Geschwärzt - Antonia Fennek - E-Book

Geschwärzt E-Book

Antonia Fennek

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Beschreibung

Als der bekannte Softwareentwickler Peter Bräuning wegen einer schweren Sexualstraftat in den Maßregelvollzug eingeliefert wird, bekommt die Ärztin Regina Bogner bald Zweifel: Ist der junge Mann tatsächlich zu einer grausamen Tat fähig? Immer wieder beteuert Bräuning seine Unschuld, doch die Beweise sprechen gegen ihn. Ausgerechnet Reginas Tochter Anabel wird zu seiner einzigen Fürsprecherin - und verstrickt sich ohne Reginas Wissen immer mehr in der Grauzone zwischen Recht, Gesetz und Selbstjustiz ...

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Inhalt

Titel

Über dieses Buch

Hamburger Hafen, Spätsommer 2014

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Maßregelvollzug Hamburg, März 2015

Nachwort

Über die Autorin

Impressum

ANTONIA FENNEK

Geschwärzt

Roman

Über dieses Buch

Keine Wahrheit ohne Lüge

Als der bekannte Software-Entwickler Peter Bräuning wegen einer grausamen Sexualstraftat in den Maßregelvollzug eingeliefert wird, kommen der Ärztin Regina Bogner bald Zweifel: Ist der junge Mann tatsächlich zu solch einer schrecklichen Tat fähig? Immer wieder beteuert Bräuning seine Unschuld, doch alle Beweise sprechen gegen ihn. Ausgerechnet Reginas Tochter Anabel, die Peter während ihres Praktikums in der Forensik kennenlernt, wird zu seiner einzigen Fürsprecherin – und verstrickt sich in einem Netz aus Gesetz, Manipulation und Selbstjustiz …

»Ein Thriller, der unter die Haut geht, nichts verschweigt und absolut fesselnd ist!«

LovelyBooks

Hamburger Hafen, Spätsommer 2014

Ob der Kerl ihn belogen hatte? Er hasste es, auf zwielichtige Informanten angewiesen zu sein. Kurz nach Mitternacht, hatte der Mann behauptet. Inzwischen war es fast zwei Uhr morgens. Leise fluchte er vor sich hin. Es wäre nicht die erste Nacht, die er sich umsonst um die Ohren schlug.

Zwar lag die Andromeda wie angekündigt am Kai, aber seit der Frachter am vergangenen Nachmittag festgemacht hatte, war nichts Ungewöhnliches passiert. Die Schauerleute hatten ihn entladen und ihre Schicht danach pünktlich beendet. Die Container standen noch immer am Hafenrand und warteten auf den weiteren Transport. Kein Hinweis auf irgendeine verderbliche Ladung und noch viel weniger auf das, wofür dieses Schiff berüchtigt sein sollte.

Er atmete tief durch. Vielleicht sollte er sich direkt vor Ort einen besseren Eindruck verschaffen.

Lautlos verließ er seinen Beobachtungsplatz in einem der Schuppen und näherte sich der Andromeda.

Er bemühte sich, im Halbschatten der Container zu bleiben und den Flutlichtern auszuweichen. Die Luft war auch jetzt noch vom Lärm des Hafens erfüllt, dem Rattern schwerer Maschinen und dem ewigen Surren der Kräne. Dazwischen riefen sich Männer etwas zu, doch sie waren zu weit entfernt, als dass er ihre Worte verstehen konnte. Nur die Andromeda lag still am Kai, so still und dunkel, als wäre sie gar nicht da. Ein längst vergessenes Totenschiff …

Ich werde schon kindisch, dachte er und schüttelte das unbehagliche Gefühl ab.

Plötzlich hörte er das Brummen eines Automotors. Hastig versteckte er sich zwischen zwei Containern. Sie standen so dicht nebeneinander, dass seine Schultern gegen die Metallwände stießen. Ein dunkelgrauer Kleintransporter parkte eine Autolänge entfernt vor seinem Versteck ein. Stumm verfluchte er seinen Leichtsinn. Hätte er bloß auf seinem Beobachtungsplatz ausgeharrt. Jetzt klemmte er wie eine Ratte in der Falle.

Zwei Männer stiegen aus. Der eine war hellblond, der andere trug eine dunkle Schirmmütze.

»Hier.« Der Blonde wies auf den linken Container.

»Mach schon«, forderte der zweite Mann ungeduldig.

Die Stimme hatte einen starken, kehligen Akzent. War die Muttersprache des Mannes vielleicht Arabisch? Oder doch eher osteuropäisch? Beides würde zu den Informationen passen, die er erhalten hatte.

Das Quietschen des Riegels riss ihn aus seinen Überlegungen. Er spürte das leichte Vibrieren des Metalls an der Schulter, als der Container aufgesperrt wurde. Eine Taschenlampe blinkte auf, leuchtete ins Innere. Er hörte kindliches Schluchzen, dann ein Wimmern. Der Mann mit dem Akzent rief etwas in einer fremden Sprache.

Er verstand die Worte nicht, nur den drohenden Unterton. Das Schluchzen verstummte.

Vorsichtig spähte er aus seinem Versteck, sah, wie mehrere dunkelhäutige Kinder in verschmutzter Kleidung aus dem Container kletterten. Das jüngste war höchstens vier Jahre alt, das älteste vielleicht zehn. Er zählte vier Mädchen und drei Jungen, die zögernd in den Transporter stiegen. Eines der größeren Mädchen hielt einen kleinen Jungen an der Hand, flüsterte ihm etwas zu. Der Junge wischte sich tapfer mit der Hand über die tränennassen Augen.

Auch die Männer hatten die Kinder durchgezählt. Eine weitere scharfe Frage in der unbekannten Sprache.

Das Mädchen, das den Jungen an der Hand hielt, deutete ängstlich in den Container.

»Was hat sie gesagt?«

»Ein Gör ist tot. Verdammt!« Der Mann mit dem Akzent spuckte aus. »Ich hasse es, Leichen verschwinden zu lassen.« Dann stieg er in den Container und kam kurz darauf mit dem toten Kind zurück.

Es war höchstens vier Jahre alt gewesen, die Leichenstarre bereits so vollständig ausgeprägt, dass er es sich wie eine steife Schaufensterpuppe unter den Arm geklemmt hatte. Achtlos warf er es in den Transporter. Eines der Kinder begann zu weinen. Ein scharfes Wort folgte. Stille.

Obwohl er gewusst hatte, was hier vorging, erschreckte ihn die Abgebrühtheit der Männer. Mühsam unterdrückte er ein Würgen, dann rutschte er ein Stück weiter vor, um das Nummernschild des Transporters besser sehen zu können. Ja, da war der Wagen. Ein Mercedes Sprinter. Er zog sein Smartphone hervor, deckte das Display mit der Hand ab, damit der Schein ihn nicht verriet, fixierte das Nummernschild mit der Handykamera und schoss ein Foto. Dabei stieß er mit dem Ellbogen an die Containerwand. Sofort verharrte er in der Bewegung.

»Hast du das gehört?«, fragte der Mann mit dem Akzent.

»Was meinst du?«

»Da war etwas.« Die Taschenlampe wurde wieder eingeschaltet.

Er sah, wie ihr Schein suchend zwischen den Containern umherwanderte. Schnell zog er sich weiter zurück, atmete erleichtert auf, als der Strahl an ihm vorüberglitt, ohne ihn zu berühren.

»Lass uns verschwinden«, mahnte der Blonde.

»Noch nicht. Da ist etwas.«

Sein Herz schlug schneller. Wenn sie ihn erwischten, war alles aus. Er drehte sich um und suchte nach einem Ausweg. Es war nicht leicht, sich durch die Enge zu kämpfen, ohne ein Geräusch zu verursachen, aber es war seine einzige Chance. Möglicherweise konnte er auf der anderen Seite der Container entkommen. Während er floh, rief er seine Kontakte im Smartphone auf und bemühte sich weiterhin, den Lichtschein des Handys abzuschirmen. Immer wieder stieß er mit dem Körper an die Metallwände, die Finger rutschten von den Symbolen des Touchpads. Wo war die Nummer bloß? Ah, da! Sofort schickte er das Foto per MMS.

In diesem Augenblick traf ihn der Strahl der Taschenlampe.

»He, du! Bleib stehen!«

Er hastete schneller durch den Spalt, gleich hätte er es geschafft. Ein Knall, dann ein heftiger Schlag im Rücken, er stürzte zu Boden. Erst in dieser Sekunde begriff er, dass ihn ein Schuss getroffen hatte. Er biss sich auf die Lippen. Noch war der Schmerz erträglich.

»Idiot, mach nicht so einen Lärm!«, hörte er einen der Männer zischen. Dann klappte die Autotür und der Motor startete. Er atmete auf. Hielten sie ihn für tot?

Nein, nur der Blonde war fortgefahren. Der Mann mit dem seltsamen Akzent quetschte sich fluchend zwischen die Container und folgte ihm.

Die Angst verlieh ihm neue Kräfte. Er rappelte sich auf, kam auf der anderen Seite der Container raus. Nach ein paar Metern endete der Ponton. Er hastete auf das dunkle Wasser zu. Einen anderen Weg gab es nicht mehr. Er war so ein Idiot! Warum hatte er nicht einfach in seinem sicheren Versteck abgewartet? Er wählte die Nummer, der er gerade das Bild geschickt hatte.

Verdammt, geh schon ran, dachte er verzweifelt. Gleich hatte der Verfolger ihn erreicht. Wenigstens wagte der nicht, noch einen Schuss abzufeuern. Ob es jemand gehört hatte? Oder war alles im Lärm des Hafens untergegangen?

»Kashka«, meldete sich eine vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Hamburger Hafen. Containerschiff Andromeda«, hauchte er ins Telefon. »Habe dir ein Foto geschickt.«

Noch während er sprach, füllte sich sein Mund mit Blut, und das Atmen fiel ihm immer schwerer. Sein Verfolger hatte ihn fast erreicht. Mit letzter Kraft warf er das Smartphone ins Hafenbecken, ehe alles um ihn herum dunkel wurde …

1

»Ich glaube, sie sind da«, sagte Oberarzt Mark Birkholz und leerte seine Kaffeetasse.

Regina nickte. Auch sie hatte das Klappen der schweren Stationstür gehört, dem mehrere Schritte folgten. Sie seufzte. Zu dumm, dass ihr Kollege Proser sich an diesem Tag krank gemeldet hatte. So blieb ihr nichts anderes übrig, als den Neuzugang selbst aufzunehmen.

Mark erhob sich. »Kommst du, Regina?«

Sie trank ebenfalls noch einen Schluck Kaffee, dann stellte sie die Tasse auf dem Tisch im Sozialraum ab und folgte dem Oberarzt auf den Stationsflur. Wie immer, wenn Neuaufnahmen auf der Aufnahmestation des psychiatrischen Maßregelvollzugs erwartet wurden, war der Flur leer. Die Patienten befanden sich im Einschluss. Nur die drei Pfleger warteten gemeinsam mit den Ärzten im Vorraum der Eins; jener gesicherten Zelle, in der jeder Neuling die ersten Tage verbrachte, bis man ihn besser einschätzen konnte.

Regina erinnerte sich gut daran, wie froh sie gewesen war, dass Dr. Proser die nächste Neuaufnahme übernehmen würde, als sie zum ersten Mal einen Blick in die Akte dieses Patienten geworfen hatte. Peter Bräuning war sein Name, sechsundzwanzig Jahre alt. Gemeinsam mit seinem älteren Bruder betrieb er die Softwarefirma Jubra-Games, die in den vergangenen drei Jahren vom Kleinunternehmen zu einem der Marktführer aufgestiegen war. Eine Bilderbuchkarriere. Aber dann war bekannt geworden, dass Peter Bräuning einen dreizehnjährigen Jungen missbraucht und Hunderte Kinderpornos auf seiner Festplatte gehortet hatte. Der Skandal hatte die Boulevardpresse mehrere Wochen lang beschäftigt.

Noch während sich die Schritte der Eins näherten, überlegte Regina, wie dieser Peter Bräuning wohl aussehen mochte. Das einzige Foto, das sie in der Zeitung gesehen hatte, war ein undeutliches Schwarz-Weiß-Bild gewesen, das ihn beim Verlassen des Gerichtsgebäudes zeigte, das Gesicht hinter einem Aktendeckel verborgen. Sie hatte schon viele Sexualstraftäter aufgenommen. Da gab es die überheblichen Machos, aber auch freundliche, unauffällige Zeitgenossen, denen niemand so etwas jemals zugetraut hätte.

Der Mann, der kurz darauf in Begleitung zweier Justizvollzugsbeamter in die Zelle gebracht wurde, gehörte zweifelsfrei in die zweite Kategorie – der nette Junge von nebenan. Er war schlank, hatte aber kräftige Oberarm- und Schultermuskeln, die sich unter seinem hellblauen Poloshirt abzeichneten. Dazu trug er Jeans und Sneakers. Sein dunkelbraunes Haar war kurz geschnitten und das Gesicht glatt rasiert. Der Blick der hellbraunen Augen wirkte unsicher, beinahe ängstlich, und schien so gar nicht zu seiner Körperhaltung zu passen. Wie ein in die Enge getriebenes Tier. Möglicherweise hätte dieser fahrige Blick sogar ihr Mitleid erregt. Doch sofort musste sie an die Urteilsbegründung denken, die sie ein paar Tage zuvor gelesen hatte. Er hatte den Dreizehnjährigen in sein Auto gelockt, ihn gefesselt und dort missbraucht. Die Indizien waren eindeutig, Spermaspuren des Täters, Haare des Opfers in Bräunings Auto und die eindeutigen Verletzungen des Jungen. Danach hatte er das hilflose Kind in einem Waldstück gefesselt ausgesetzt, wo es mit Unterkühlungen von Passanten gefunden worden war. Der Junge hatte sich trotz des Schocks das Autokennzeichen gemerkt und auch eine sehr genaue Beschreibung des Täters abgeben können, die sofort zu Peter Bräuning geführt hatte. Im weiteren Verlauf der Ermittlungen hatte die Polizei auf seiner Festplatte Kinderpornos gefunden und Zugangscodes zu einschlägigen Tauschbörsen.

Trotz dieser erdrückenden Beweise hatte Bräuning bis zuletzt geleugnet. Regina erinnerte sich noch gut an das psychiatrische Sachverständigengutachten. Der Gutachter war von einer schizoiden Persönlichkeitsstörung mit gehemmt-aggressiven Zügen und einer daraus resultierenden unreifen, sadistisch geprägten Sexualität ausgegangen, die nur im Umgang mit Unterlegenen zum sexuellen Höhepunkt führen könne. Aufgrund dessen sei Bräuning zwar in der Lage gewesen, das Unrecht seiner Tat zu erkennen, habe aber nicht vermocht, entsprechend dieser Einsichtsfähigkeit zu handeln, sodass eine verminderte Schuldfähigkeit vorgelegen hatte. Da dies jederzeit wieder geschehen könne, sei er für die Allgemeinheit gefährlich. Der Gutachter hatte die Unterbringung im psychiatrischen Maßregelvollzug empfohlen. Das Gericht war dieser Empfehlung gefolgt.

In der Mitte der Eins war eine schmale Pritsche am Boden festgeschraubt. Am Kopf- und Fußende befanden sich metallene Ösen, an denen Hand- und Fußschellen befestigt waren. Normalerweise wurden diese Ketten nie gebraucht, es sei denn, ein Patient wurde so unerwartet aggressiv, dass man ihn sofort fixieren musste. Aber selbst dann wurden die Ketten nur vorübergehend genutzt, bis ein übliches Fixierungsbett mit Stoffgurten herbeigeschafft werden konnte.

Regina sah den verunsicherten Blick, mit dem Bräuning die Ketten musterte. Doch er sagte kein Wort. Auch nicht, als einer der begleitenden Justizbeamten ihm die Handschellen abnahm.

»Guten Tag«, begrüßte Mark den Neuzugang. »Mein Name ist Doktor Birkholz. Ich bin hier der Oberarzt.« Er hielt Bräuning die Hand entgegen, der sie zögernd ergriff. »Und das hier ist meine Kollegin Frau Doktor Bogner.« Mark wies auf Regina.

Bräunings Blick schweifte abermals verstohlen zu der Pritsche mit den Ketten.

Mark war seinem Blick gefolgt. »Müssen wir Angst vor Ihnen haben?«, fragte er.

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Bräuning mit so fester Stimme, wie Regina sie ihm aufgrund seines verunsicherten Blicks nicht zugetraut hätte.

»Gut, dann verschwinden die Ketten.« Mark gab zwei Pflegern ein Zeichen, die eisernen Fesseln zu entfernen.

Es war eines der üblichen Rituale – man zeigte dem Neuankömmling Vertrauen, nachdem er vom Anblick der Zelle eingeschüchtert worden war. Klare Grenzen waren in diesem Umfeld das Wichtigste, wenn man sicher arbeiten wollte.

»Rauchen Sie?«, fuhr Mark mit der nächsten üblichen Frage fort.

Die meisten Patienten waren starke Raucher. Eigentlich erinnerte sich Regina nur an einen Mann, der dies von Anfang an verneint hatte. Niklas Rösch … Aber an den wollte sie nicht mehr denken.

»Nein«, antwortete Bräuning.

»Lobenswert«, bemerkte Mark.

Ob er dabei wohl auch an Rösch dachte?

Er ließ sich von einem der Pfleger die Akte mit den Patientendaten geben. »Sie sind also der technische Kopf hinter den Jubra-Games?«, fragte er dann.

»Ja.«

»Haben Sie auch Empire Star entwickelt?«

Regina sah das Erstaunen in Bräunings Miene, bevor er nickte.

»Dann können Sie mir doch bestimmt verraten, wie man bei Level zwölf die Tür zur Schatzkammer öffnen kann, oder?«

Die Verwirrung in Bräunings Blick wuchs. »Wozu wollen Sie das wissen?«

»Ich kenne jemanden, der seit drei Wochen daran scheitert.« Mark lächelte breit.

Regina war sich sicher, dass der Oberarzt die Wahrheit sagte, aber Bräuning starrte ihn an, als rechne er mit irgendeiner Hinterlist. Einen Moment lang war die Stille spürbar, und Regina befürchtete schon, Bräuning würde nichts mehr sagen, aber dann antwortete er doch.

»Sie brauchen dazu das Artefakt der Göttin Kali aus Level sieben«, erklärte er.

»Und dann?«

»Wenn ich Ihnen das auch noch verrate, wird es langweilig. Wollen Sie es wirklich wissen?« Wieder dieser Blick eines Mannes, der nicht einschätzen konnte, ob es wirklich um das Spiel ging oder ob er selbst einer Prüfung unterzogen wurde.

Mark schüttelte den Kopf. »Nein, das wird derjenige schon selbst herausfinden. Vielen Dank für den Tipp.« Der Oberarzt schaute wieder in die Akte. »Sie sind immer gesund gewesen?«

»Ja.«

»Und brauchen keine Medikamente?«

»Nein.«

»Gut. Frau Doktor Bogner kommt nachher noch einmal zu Ihnen, um Sie zu untersuchen. Haben Sie sonst noch Fragen?«

»Nein.«

»Nein?« Mark hob erstaunt die Brauen. »Die meisten Neuzugänge fragen, wie lange sie in diesem Raum bleiben müssen.«

»Wie lange?«, fragte Bräuning.

Es hörte sich nicht so an, als interessierte es ihn wirklich. Regina hatte viel mehr das Gefühl, er stelle diese Frage nur aus Höflichkeit, weil sie von ihm erwartet wurde.

»Je nachdem, wie gut Sie sich führen, können Sie morgen vermutlich schon am Stationsleben teilnehmen und in ein richtiges Zimmer verlegt werden.«

»Aha.«

Mark stutzte kurz, dann verließ er die Zelle. Regina und die Pfleger folgten ihm.

»Und, was hältst du von ihm?«, fragte Mark, nachdem sie wieder im Sozialraum saßen.

Regina zuckte mit den Schultern und griff nach ihrer Kaffeetasse. Der Kaffee war kalt geworden. Sie goss ihn in den Blumentopf, der in der Mitte des Tischs stand. Mark schüttelte bloß den Kopf.

»Ist guter Dünger«, sagte sie und schenkte sich heißen Kaffee nach. »Was soll ich schon von ihm halten? Einer von den Unscheinbaren, denen niemand zutraut, was hinter ihrer biederen Fassade vorgeht. Gibst du mir mal die Milch?«

Mark reichte sie ihr und bemerkte spitz: »Na, das nenne ich mal einen echten Milchkaffee. Oder nennt man das Milch mit einem Schuss Kaffee?«

Regina ging nicht darauf ein. »Danke. Warum hast du ihn eigentlich nach diesem komischen Spiel gefragt? Hast du damit etwas Besonderes bezweckt?«

»Frederik ist ganz fasziniert von Empire Star. Aber wir hängen beide auf Level zwölf fest.«

»Ach so.« Sie lachte leise vor sich hin. »Klappt es jetzt mit den Wochenenden bei dir?«

Er nickte. »Jutta und ich haben uns endlich geeinigt.«

»Das freut mich.« Regina hatte nur durch Zufall von dem unschönen Sorgerechtsstreit erfahren, als sie gemeinsam mit Mark hinter dem entflohenen Serienmörder Rösch her gewesen war. Sie wusste, dass es ihren Kollegen belastete. Aber sie vertiefte das Thema nicht weiter.

Mark griff erneut zu Bräunings Akte. »An dem wird Proser noch seine Freude haben«, meinte er mit einem vielsagenden Lächeln. »Der Bursche hat bis zuletzt geleugnet und die wildesten Verschwörungstheorien aufgestellt, obwohl die Beweislage eindeutig war.« Er reichte Regina die Akte. »Hier sind noch zwei Fotos des Jungen und seiner Verletzungen.«

»Ich glaube nicht, dass ich die sehen will«, erwiderte Regina. Aber dann nahm sie die Akte doch und betrachtete die Bilder.

Der Junge wies die Spuren zahlreicher Schläge auf. Die Augen waren zugeschwollen, er hatte eine Orbitabodenfraktur links erlitten, und das Nasenbein war zertrümmert. Auf dem zweiten Foto waren Strangulationsmarken am Hals des Kindes zu erkennen.

»Widerwärtig!«, zischte Regina und warf die Akte auf den Tisch.

Mark nickte. »Hätte man ihm gar nicht zugetraut, wenn man ihn so sieht, nicht wahr? Der muss wirklich mit aller Macht auf den Jungen eingeprügelt haben. Zwei Operationen waren nötig, um den Gesichtsschädel wieder herzustellen. Von den drei Zentimeter langen Einrissen im Analbereich wollen wir gar nicht erst reden.«

Eine Weile herrschte Schweigen.

Mark schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein. »Ich frage mich immer wieder, ob diese Typen irgendwo in ihrem Hirn noch eine Ahnung davon haben, was sie ihren Opfern damit antun.«

»Ich bin jedenfalls froh, dass ich ihn nicht therapieren muss«, gestand Regina. »Aber ob Proser der Richtige ist …«

»Vielleicht ist er mit seiner direkten Art gerade der Richtige, um den Kerl aus der Reserve zu locken«, sagte Mark schulterzuckend.

»Direkte Art? Du meinst, ein unsensibles Trampeltier ohne jede Empathie könnte jemals der richtige Therapeut sein? Klingt eher nach einer sadistischen Gegenübertragung.«

»Noch kannst du es dir überlegen, Regina. Willst du Bräuning übernehmen?«

»Nein, danke«, wehrte sie sofort ab. »Ich habe derzeit genügend um die Ohren. Da kann ich so einen nicht auch noch gebrauchen.« Sie erhob sich. »Du findest mich auf meiner Station.«

Er seufzte. »Ich wünschte, das würdest du auch mal von dieser Station sagen.«

»Hier bin ich immer nur Gast.« Sie zwinkerte ihm zu, dann verließ sie den Raum.

Die Wohnstation, die Regina hauptsächlich betreute, lag im Erdgeschoss. Dort herrschte eine ganz andere Atmosphäre als auf der Aufnahme. Die Patienten waren, ebenso wie das Pflegepersonal, bereits seit Jahren hier. Man hatte sich arrangiert, und zu problematischen Zwischenfällen kam es selten.

Pfleger Egon Liebig saß im Sozialraum, vor sich eine Tasse Kaffee und die aufgeschlagene BILD. Egon vermittelte den Eindruck unerschütterlicher Ruhe, und Regina wusste, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Er war stets hellwach, wenn irgendetwas in der Luft lag.

»Hier alles ruhig?«, fragte sie, während sie sich zu ihm an den Tisch setzte.

»Klar, Frau Doktor.« Er schob die Zeitung beiseite. »Willst du einen Kaffee?«

»Nein, danke, ich hatte gerade zwei Tassen auf der Aufnahme. Hat Proser sich schon gemeldet, ob er noch länger krank ist?«

»Nö, bei mir nicht.«

»Okay, wenn hier alles in Ordnung ist, gehe ich jetzt diktieren.« Sie stand wieder auf und ging durch die Glastür in den Vorraum der Station, von dem die Arztzimmer abgingen. Egon murmelte etwas, das wie »Viel Spaß« klang, dann wandte er sich wieder seiner Zeitung zu.

Am frühen Nachmittag konnte sie auf drei diktierte Stellungnahmen und vier Therapiepläne zurückblicken. Das war mehr, als ihr Kollege Proser in einer Woche schaffte.

Proser … Bei dem Gedanken an ihn seufzte sie auf. Durch seine Krankheit musste sie nun noch diesen Bräuning aufnehmen. Besser, sie brachte es hinter sich.

Sie holte ihren Kittel aus dem Schrank, in dessen Tasche Stethoskop und Reflexhammer steckten, dann ging sie auf die Aufnahme. Doch bevor sie sich die Tür zur Eins von einem der Pfleger öffnen ließ, schaute sie durch die kleine Klappe. Bräuning hatte sich auf der unbequemen Pritsche ausgestreckt, die Hände unter dem Kopf verschränkt, und starrte durch das Fenster in den Himmel. Die untere Hälfte des Fensters bestand aus Milchglas, sodass niemand vom Hof der anderen Stationen in die Eins schauen konnte. Die obere Hälfte erlaubte eine Aussicht auf die Dächer und die Wolken.

Als Bräuning das Geräusch der Tür hörte, schreckte er hoch.

Da war er wieder, dieser gehetzte Blick. Regina zögerte. Irgendetwas an diesem Blick kam ihr bekannt vor. Sie brauchte eine Weile, bis ihr einfiel, wo sie diesen Ausdruck zum ersten Mal gesehen hatte. Das war in Afrika gewesen, im Sudan. In den Tagen, bevor ihr Mann ums Leben gekommen war. Es war der Blick von Menschen, die nicht mehr zur Ruhe kamen, die um Leib und Leben fürchteten.

Auf einmal fühlte sie sich unbehaglich. Warum musterte er sie, als erwarte er irgendetwas Schreckliches? Bei seiner Aufnahme hatte er verunsichert gewirkt, aber das hatte sie auf die Situation geschoben. Was hatte sich verändert? Eigentlich nur die Tatsache, dass sie ihren Kittel übergezogen hatte. Sie wusste, dass manche Menschen eine irrationale Angst entwickelten, wenn sie einen Arzt im weißen Kittel vor sich sahen. Ob er dazugehörte?

»Ich komme wegen der Untersuchung«, sagte sie.

Er erhob sich. Der Pfleger blieb im Türrahmen stehen. Bräuning fixierte ihn kurz, dann wandte er sich wieder Regina zu.

»Soll ich mich ausziehen?«, fragte er.

Sie nickte.

Rasch zog er das Poloshirt über den Kopf, warf es achtlos auf die Pritsche, anschließend zog er die Hose aus und legte sie daneben. »Die Socken auch?«, wollte er wissen.

Sie nickte abermals, und er streifte sie von den Füßen.

Bräuning war in ausgezeichneter körperlicher Verfassung. Keinerlei Operationsnarben, Herztöne rein, gute Lungenfunktion, alle Reflexe funktionierten, wie sie sollten.

»Treiben Sie Sport, Herr Bräuning?«

»Nicht mehr. Kann ich mich wieder anziehen?«

Sie nickte, und er griff nach der Hose.

»Welchen Sport haben Sie betrieben?«

»Kanurennsport«, antwortete er, während er die Jeans zuknöpfte und den Reißverschluss hochzog. »Ich war recht erfolgreich. Einmal bin ich bei den Landesmeisterschaften Dritter geworden. Aber seit die Aufträge für die Firma anstiegen …« Er brach ab, ganz so, als hätte er schon zu viel von sich preisgegeben. »Ich hatte keine Zeit mehr«, schloss er knapp. Er nahm das Shirt und streifte es über.

Regina fiel auf, wie sorgsam er den Kragen glatt zog. Sein Äußeres schien ihm trotz allem wichtig zu sein.

»Das klingt interessant. Sind Sie im Einer gefahren?«

Er nickte, sagte aber nichts weiter.

»Bis wann waren Sie aktiv?«

»Ich habe vor zwei Jahren damit aufgehört.«

»Und seither?«

»Manchmal bin ich mit dem Kanu und dem Zelt im Sommer für ein paar Tage unterwegs gewesen.«

»Allein?«

»Was soll diese Frage?«

Sie sah, wie er sich verspannte. »Nichts weiter«, beschwichtigte sie. »Warum ärgert Sie diese Frage?«

»Wollen Sie als Nächstes wissen, ob ich da unterwegs war, um harmlose Kinder zu fangen und zu missbrauchen?«, zischte er. »Nein, war ich nicht.« Zornig funkelte er sie an. »Und wenn Sie wissen wollen, warum ich allein unterwegs war: Meine damalige Freundin hatte keinen Spaß am Kanuwandern. Wir haben es einmal versucht, danach haben wir einen Kompromiss geschlossen. Ich bin drei Tage in jedem Urlaub allein unterwegs gewesen, danach haben wir dann meistens an irgendeinem Badeort stinknormalen Strandurlaub gemacht.«

»Das klingt nach einem fairen Kompromiss.«

Bräuning erwiderte nichts darauf, und Regina überlegte, ob sie noch etwas sagen sollte, doch dann schickte sie sich zum Gehen an.

»Sie finden diesen Kompromiss wirklich fair?«, fragte er, kurz bevor sie die Zelle verließ.

Sie drehte sich um. »Ja.«

Ein wehmütiges Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen. »Der Gutachter meinte, es sei ein Zeichen für eine gestörte Paarbeziehung und sexuelle Defizite. Er glaubte, ich würde auf diese Weise nach anderen Wegen suchen, meine Männlichkeit auszuleben, da ich mich meiner Freundin unterlegen fühlte. Ist das so, Frau Doktor? Ist jede Paarbeziehung gestört, die Kompromisse schließt?«

»Nein«, entgegnete Regina. »Sie haben Ihr Gutachten also gelesen?«

»Selbstverständlich.«

»Ich habe es auch gelesen. Ihre Freundin hat Sie wegen eines anderen verlassen.«

»Ist jeder Mann, der von seiner Freundin verlassen wird, ein perverser Kinderschänder?«

»Nein, nur diejenigen, deren Spermaspuren man in den Körperöffnungen von schwer misshandelten Kindern findet.«

Im selben Moment, in dem sie die Worte ausgesprochen hatte, bedauerte Regina sie. Es war nicht professionell, einen Patienten unter dem Eindruck grauenhafter Fotos derart mundtot zu machen. Vor allem nicht, wenn er gerade anfing, sich zu öffnen.

»So war es nicht«, sagte Bräuning leise.

»Wie war es dann?«

»Ganz anders.«

»Wollen Sie es mir erzählen?«

Er lachte bitter auf. »Wozu? Sie haben das Gutachten doch gelesen. Es steht auf den Seiten sieben bis elf. Unter der Überschrift ›Eigene Angaben des Probanden‹.«

»Ich habe es nur überflogen«, gestand sie.

»Das scheint in Ihrer Berufsgruppe so üblich zu sein. Alles wird nur überflogen, wenn die Meinung bereits feststeht.« Er streckte sich wieder auf der Pritsche aus und starrte aus dem Fenster in den Himmel, ohne Regina weiter zu beachten.

Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie noch etwas sagen sollte, doch dann verließ sie die Zelle schweigend.

2

Das Gespräch mit Bräuning ging Regina nicht aus dem Kopf. Immer wieder musste sie an ihn denken, an den verunsicherten Blick und den unterschwelligen Zorn. In all die Überlegungen mischte sich die Erinnerung an die grauenhaften Fotos des schwer misshandelten Jungen. Es kam selten vor, dass Regina einen Fall im Geist mit nach Hause nahm. Normalerweise war sie in der Lage, beim Verlassen der Klinik umgehend abzuschalten und alles hinter sich zu lassen. Aber in den letzten Wochen hatte sich viel in ihrem Leben verändert. Sie hatte eine liebgewonnene Freundin verloren, und ihre Tochter Anabel stritt viel häufiger mit ihr als früher. Seit Anabel im Monat zuvor achtzehn geworden war, ließ sie sich überhaupt nichts mehr sagen.

»Ich bin erwachsen«, pflegte sie zu erwidern. »Was ich mache, geht dich nichts an. Dich kümmert ja auch nicht, was ich von deinem Job halte!«

Der Hieb saß jedes Mal aufs Neue. Anabel war wütend auf sie, weil sie weiterhin gern im psychiatrischen Maßregelvollzug arbeitete.

Als Regina an diesem Abend nach Hause kam, hörte sie laute afrikanische Musik aus Anabels Zimmer.

»Ich bin zu Hause!«, rief sie mit lauter Stimme durch die geschlossene Tür. Sie rechnete nicht damit, dass Anabel antworten würde, umso überraschter war sie, als die Musik abgestellt wurde und Anabel aus dem Zimmer kam.

»Da ist wieder einer von diesen Briefen gekommen«, sagte sie und wies auf die Kommode.

Regina wusste sofort, um welche Art von Brief es sich handelte. Die Eltern von Anabels Ex-Freund Michael hatten die Klinik verklagt, und als ehemalige Therapeutin des Mörders Niklas Rösch war sie immer wieder zu neuen Stellungnahmen seitens der Rechtsabteilung der Klinik aufgefordert worden.

Regina warf den Rucksack in eine Ecke des Flurs und hängte ihre Jacke an die Garderobe. Dann nahm sie den Umschlag und riss ihn auf.

Zum Glück wurde diesmal keine neue Stellungnahme gefordert. Der Brief diente einfach nur der Kenntnisnahme. Die Rechtsabteilung hatte aus ihrem letzten Bericht eine wasserdichte Stellungnahme gemacht, die nun an den Anwalt von Michaels Eltern gehen würde.

Sie seufzte. Sie hatte angenommen, ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern zu haben. Anabel und Michael waren länger als ein Jahr zusammen gewesen, und Regina hatte geglaubt, dass seine Eltern auch Anabel in ihr Herz geschlossen hätten. Aber all das war vergessen. Sie sahen nur ihren Sohn, der durch den Verlust der rechten Hand eine lebenslange Behinderung zu tragen hatte. Was Anabel in der Gewalt des Serienmörders über Stunden erlitten hatte, scherte sie nicht. Vielleicht blendeten sie es auch einfach nur aus, weil Anabel keine sichtbaren Schäden davongetragen hatte.

Letztlich war es Regina gleichgültig, ob Michaels Eltern mit ihrer Schmerzensgeldforderung von fünfhunderttausend Euro durchkommen würden oder nicht. So, wie sie die Zivilgerichte kannte, würde es auf einen jahrelangen Nervenkrieg hinauslaufen, und vielleicht würde man sich in ein paar Jahren auf einen fünfstelligen Betrag einigen. Sie selbst hatte darauf verzichtet, etwas Ähnliches für Anabel zu versuchen. Geld war nicht alles. Manchmal war es wichtiger, sich mit seiner Vergangenheit auszusöhnen und vorwärts zu blicken, anstatt im ewigen Leiden zu verharren.

»Und?« Anabel hatte ihr über die Schulter gesehen. »Musst du wieder was schreiben?«

Regina schüttelte den Kopf.

»Warum arbeitest du dort eigentlich noch? Es gibt doch genügend Jobs für Ärzte. Warum musst du unbedingt bei diesen irren Mördern bleiben?«

»Darüber haben wir doch schon zur Genüge gesprochen.« Regina atmete tief durch. »Es sind nicht alle so.«

»Nein, aber die im Maßregelvollzug. Wer da ist, hat immer etwas Grässliches getan. Haben wir nicht schon genug davon gesehen? Kannst du nicht lieber Leuten helfen, die deine Hilfe auch verdienen?«

»Glaub mir, Anabel, ich kann dort Menschen helfen, die meine Hilfe verdienen.«

»Ach ja?« Anabel verschränkte die Arme vor der Brust. »Glaubst du wirklich, man kann gemeingefährliche Irre therapieren?«

»Nein, aber ich kann zumindest versuchen, die Welt vor ihnen zu schützen, indem ich meinen Teil dazu beitrage, dass sie nur dann entlassen werden, wenn sie keine Gefahr mehr darstellen«, widersprach Regina.

»Hat ja auch so wahnsinnig gut geklappt bei Rösch.« Anabel schnaubte und verzog den Mund.

Ein untrügliches Zeichen dafür, dass es besser war, das Thema zu wechseln. Zumindest vorerst.

»Hast du schon einen Termin für die Fahrprüfung?«, fragte Regina deshalb.

Ihre Tochter nickte. »Übernächsten Dienstag.«

Sie hatte gehofft, dass Anabel noch etwas sagen würde, aber das Mädchen schwieg.

»Ich hätte da eine Idee«, sagte Regina schließlich, als das Schweigen bleiern wurde.

»So?« Eine tiefe Falte bildete sich auf Anabels Stirn und erinnerte Regina an deren Großmutter Akeesha, die als weise, unnachgiebige Frau von ihrem Stamm geschätzt wurde.

Für einen Moment schweiften Reginas Gedanken zurück in den Sudan, in die Tage, ehe Blut und Tod alles überrollt hatten. Sie erinnerte sich daran, wie Anabel fasziniert an den Lippen der Großmutter gehangen hatte, die sie in den alten Ahnenkult eingeweiht hatte. Vermutlich hatte ihre Tochter dort einen Teil jener Stärke erworben, die ihr später geholfen hatte, alle Unbilden des Lebens zu überstehen und sogar einem Serienmörder wie Rösch erfolgreich die Stirn zu bieten.

»Wenn du möchtest, könnte ich dafür sorgen, dass du in der Klinik in den Herbstferien ein Praktikum machen kannst. Du bist jetzt volljährig, da spräche nichts dagegen, dass du im Maßregelvollzug eingesetzt wirst.«

»Ich soll was?«, brüllte Anabel. »Bei den perversen Irren ein Praktikum machen? Sonst noch was?«

»Schon gut.« Beschwichtigend hob Regina die Hände. »Du hast recht, das war eine dumme Idee. Du bist traumatisiert.«

»Traumatisiert! Würdest du bitte aufhören, mich mit deinen blöden Psychosprüchen in irgendeine deiner blöden Schubladen einzusortieren?«

»Ich wollte nur einen Weg finden, dir zu zeigen, was meine Arbeit eigentlich bedeutet.«

»Klar, ich gehe an Mamas Kittelzipfel zu den irren Mördern. Ganz toll.«

»Schon gut, vergiss es einfach. Du hast recht, das war eine blöde Idee«, wiederholte Regina noch einmal nachdrücklich. Ihr Nachgeben beruhigte Anabel etwas.

»Warum hast du denn überhaupt gedacht, dass mir das gefallen würde?«, fragte sie nach einer kurzen Schweigepause.

»Ich weiß auch nicht. Vielleicht, weil die Wirklichkeit ganz anders ist als die Fantasie.« Noch während sie sprach, war sie ins Wohnzimmer gegangen. Dort ließ sie sich aufs Sofa fallen.

Anabel setzte sich zu ihr, zog die Beine an, sodass sie im Schneidersitz auf dem Polster saß, und griff nach dem großen Kissen mit dem Zebramuster. Eine unbewusste Schutzgeste. Vermutlich ahnte sie gar nicht, wie leicht manche ihrer Gesten zu durchschauen waren.

»Und wie sieht die Wirklichkeit aus?«, fragte sie deutlich versöhnlicher.

»Der größte Teil der Patienten ist nicht wie Rösch. Viele Patienten leiden unter Psychosen.«

»Und? Willst du mir jetzt wieder den Vortrag über das Botenstoffungleichgewicht halten? Dass es nur einiger Tabletten bedarf und alles wäre wieder gut?«

Regina schüttelte den Kopf. »Nein, gut ist danach gar nichts. Aber viele Täter schämen sich später für das, was sie im Wahn getan haben.«

»Rösch machte nicht den Eindruck.«

»Er hatte eine Persönlichkeitsstörung. Da helfen keine Pillen.«

»Und was habe ich davon, wenn ich mir das in natura ansehe?« Anabels verschränkte Arme lösten sich, und die Falte zwischen ihren Augen verschwand.

Ein sicheres Zeichen, dass sie den Vorschlag ernsthaft in Erwägung zog.

»Ich bin mir sicher, dass es dir helfen könnte, zu verstehen, warum ich dort arbeite. Vielleicht, weil ich hoffe, dass du den Moment miterleben könntest, den ich immer den Moment des Erwachens nenne.«

»Des Erwachens?« Da war sie wieder, die kritische Stirnfalte.

Regina nickte. »Es gibt nichts Beeindruckenderes als den Augenblick, in dem ein Mensch erkennt, dass alles, was er zuvor erlebt hat, nur Ausdruck einer Erkrankung war. Wenn er langsam begreift, was er getan hat. Wenn die Reue kommt. Als ich das zum ersten Mal erlebt habe, wusste ich, dass keine Strafe schlimmer sein kann als die eigene Reue und der eigene Wunsch, etwas ungeschehen zu machen. Vielleicht bekommst du sogar Mitleid mit dem Täter, weil das, was er getan hat, aus seinem Erleben heraus folgerichtig war. Er nun aber erkennen muss, dass alles falsch war, nur eine Illusion.«

»Vielleicht möchte ich das ja gar nicht verstehen.«

Anabels scharfe Antwort ließ Regina zurückzucken. Damit hatte sie nicht gerechnet. Warum war es so verdammt schwer, das in Worte zu fassen, was wirklich in ihr vorging? Anabel einen echten Einblick in ihre Gefühlswelt zu geben und damit die Kommunikation zwischen ihnen zu erleichtern?

Vielleicht, weil ich mich so lange dagegen gesperrt habe, dachte sie bei sich. Weil ich gar nicht wollte, dass sie erahnt, was in mir vorgeht. Weil ich all meine Stärke brauchte, um unser Überleben zu sichern.

Wie gern hätte sie all das laut ausgesprochen. Doch sie konnte es nicht. Irgendetwas in ihr hielt sie zurück, ganz so, als wären die Gefühle in ihrem Herzen eingesperrt, um nur ja nicht den Weg zu ihrem Mund zu finden. Damit sie niemals wieder irgendwem die eigene Verletzlichkeit zeigen konnte.

»Das steht dir selbstverständlich frei«, sagte sie stattdessen und ärgerte sich bereits, als diese nichtssagenden Worte ihren Mund verlassen hatten. Ja, nichtssagende Worte, in denen sie die Verantwortung, die sie selbst hätte tragen müssen, ihrer Tochter zuschob.

»Du wirst dir also keine andere Arbeit suchen?« Herausfordernd sah Anabel sie an.

Obwohl Regina sich dafür schämte, dass sie Anabel nicht das vermitteln konnte, was ihr am Herzen lag, hielt sie dem Blick dennoch stand.

»Im Moment sehe ich keine Veranlassung dazu.« Kaum war ihr dieser Satz über die Lippen gekommen, schämte sie sich dafür. Es klang so, als würde sie ihren Job über Anabels Gefühle stellen. Doch für die Wahrheit fand sie nicht die richtigen Worte. Sie brauchte ihren Job nicht wegen des Geldes, sondern wegen der Kollegen und dem Gefühl, eine Ersatzfamilie gefunden zu haben. Seit Florences Tod hatte sie kaum noch soziale Kontakte, fühlte sich innerlich leer und ausgebrannt. Ihre Arbeit war ein Ort, der ihr Kraft und Stärke gab. Wie gern hätte sie ihrer Tochter die Wahrheit gesagt, doch ihre Angst war zu groß, dass Anabel es nicht verstehen und sich noch mehr von ihr entfremden würde.

Wann hatte sie gelernt, diese Fassade bis zum Äußersten aufrechtzuerhalten? In den Tagen des Terrors, als Thenga gestorben war? Nein, damals hatte sie es bereits beherrscht. Der Ursprung lag viel tiefer. So tief, dass sie selbst nicht daran rühren mochte.

»Angenommen, ich würde dort ein Praktikum machen …«

Anabels Stimme riss sie aus ihren düsteren Überlegungen.

»… und Argumente finden, die dafür sprechen, dort nicht mehr zu arbeiten, würdest du dann auf mich hören?«

»Wenn sie überzeugend sind.«

»Also abgemacht!« Anabel hielt Regina die rechte Hand entgegen. »Ich bin bereit, ein Praktikum zu machen, wenn du bereit bist, auf mich zu hören, sofern ich die besseren Argumente sammeln kann.«

Regina schlug ein. Auch wenn sie sich auf einmal fragte, was der Chefarzt wohl zu ihrem Anliegen sagen würde. Es war nicht üblich, Praktikanten im Maßregelvollzug zuzulassen. Allerdings fühlte sie sich zurzeit in einer guten Verhandlungsposition, immerhin hatte sie Löhner die Stellungnahmen für Michaels Eltern abgenommen. Sie würde es schon schaffen, ihn zu überreden.

3

Es war eine verdammt unbequeme Nacht. Die Pritsche war schmal und hart wie eine Untersuchungsliege, besaß nur eine kleine Schaumgummiunterfütterung und einen Kunstlederbezug. Darüber täuschte das Bettlaken genauso wenig hinweg wie die Bettdecke und das Kopfkissen, die er am Abend erhalten hatte. Er wagte kaum, sich umzudrehen, aus Furcht, von der Liege zu rollen. Und als wenn das noch nicht schlimm genug gewesen wäre – es gab nicht einmal eine Toilette. Nur eine Urinflasche.

Anfangs hatte er noch geglaubt, dass ihm inzwischen alles gleichgültig war. Noch mehr konnten sie ihm nicht nehmen. Aber langsam begriff er, dass es immer noch eine Stufe tiefer ins eigene Elend ging.

In den ersten Tagen nach seiner Verhaftung hatte er seine Umwelt wie durch Watte wahrgenommen. Vergeblich hatte er gehofft, aufzuwachen und den Albtraum abzuschütteln. Endlose Verhöre, immer wieder wurde er nach diesem Jungen befragt. Nach Vadim. Wo er ihn kennengelernt und wie er ihn in sein Auto gelockt habe. Nach den Einzelheiten des Delikts. Er selbst hatte sich einer demütigenden rechtsmedizinischen Untersuchung unterziehen müssen. Dann hatten sie ihn wieder befragt. Immer wieder hatte er betont, dass er es nicht gewesen war.

»Und wie kommen dann die Kinderpornos auf Ihren PC? Oder die Zugangscodes zu den Tauschbörsen?«

Er hatte nur den Kopf geschüttelt, gesagt, dass er es nicht wüsste. Auch wenn es ihm selbst wie die dümmste Ausrede der Welt vorgekommen war.

Dann war da dieser Gutachter gewesen. Zunächst hatte der Mann ganz vernünftig mit ihm gesprochen. Er hatte ihm offen geantwortet. Von seiner Vergangenheit erzählt. Hatte sich auch bei den seltsamsten Fragen nichts gedacht. Es war ja alles nur ein Missverständnis, hatte er sich immer wieder gesagt. Wenn er gut mitarbeitete, dann würde sich alles aufklären.

»Sind Sie schon einmal morgens aufgewacht und konnten sich nicht mehr an den Abend zuvor erinnern?«, hatte der Gutachter ihn gefragt. Er hatte verneint. Er hatte noch nie einen Filmriss gehabt, jedenfalls nicht vor dieser verfluchten Nacht … Nicht mal mit sechzehn, als er zum ersten Mal mit seinen Freunden zwei Flaschen Wodka geleert hatte. Die beiden anderen behaupteten später, dass sie sich an nichts mehr erinnern konnten, aber er hatte das für eine Ausrede gehalten. Vermutlich war es seinen Freunden einfach nur peinlich gewesen, dass sie nackt in den Zierteich im Garten einer Mitschülerin gesprungen waren.

Er wischte die alte Erinnerung fort. All das war lange vorbei und vollkommen unwichtig. Hatte er jedenfalls geglaubt. Er hätte den Mund halten sollen, als der Gutachter mit ihm gesprochen hatte, aber er hatte auch diese Episode erwähnt.

»Sind Sie auch nackt in den Teich gesprungen?«, hatte der Psychiater gefragt.

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil das bescheuert war.«

Der Mann hatte vielsagend genickt und ein paar Notizen gemacht. Inzwischen fragte er sich, ob der Gutachter ihn für normaler gehalten hätte, wenn er auch in den Teich gesprungen wäre. Oder ob es nur das Bild bestätigt hätte, das er sich längst von ihm gemacht hatte.

In der U-Haft hatte er sich von den anderen Häftlingen ferngehalten. Einmal hatte ihm jemand Prügel angedroht, denn es war bekannt geworden, wer er war und warum er einsaß. Danach hatte er seine Zelle kaum noch verlassen. Er hatte sich in die Welt der Bücher geflüchtet und gehofft, dass nach der Verhandlung alles vorüber wäre. Wenn man erkannte, dass es nicht so gewesen sein konnte.

Doch es war nicht vorbeigegangen. Am Tag vor der Verhandlung hatte sein Anwalt ihm das psychiatrische Gutachten ausgehändigt. Mit todernster Miene. Das hatte ihn zunächst nicht beunruhigt. Sein Anwalt war ein Mann, der so gut wie niemals lächelte, dafür aber den Ruf hatte, jeden raushauen zu können. Jeden außer ihn. Die erste Hälfte des Gutachtens war noch in Ordnung. Aber dann las er, welche Schlussfolgerungen der Gutachter aus seinen Aussagen gezogen hatte. Jede einzelne Aussage war gegen ihn verwendet worden. In den Augen des Psychiaters war er ein schwer gestörter Mann, der mit der eigenen Unsicherheit zu kämpfen hatte, von seiner Freundin verlassen worden und sich seiner eigenen Sexualität nicht bewusst war. Hinweise auf die pädophile Neigung hätte es schon immer gegeben, behauptete der Gutachter. Selbst die Tatsache, dass er ein erfolgreicher Spieleentwickler war, wurde ihm negativ ausgelegt. Es mangle ihm am erwachsenen Ernst, er habe sein Informatikstudium abgebrochen und wollte sich immer in der Welt der Kinder zu Hause fühlen. Deshalb habe er die Spiele zu seinem Leben gemacht.

Als er das las, hätte er das Gutachten am liebsten zerfetzt und in die Ecke geworfen. Wusste dieser verdammte Scheißkerl überhaupt, wie viel harte Arbeit in der Entwicklung der richtigen Software steckte? Wenn einer ein Kind geblieben war, dann sein Bruder Julius. Der hatte immer die besten Ideen für ein Spiel. Seine eigene Aufgabe hingegen bestand darin, die Ideen in ein brauchbares Programm umzusetzen. Zum Glück hatte er dem Gutachter nicht erzählt, dass er auch in der Hacker-Szene unterwegs gewesen war. Nichts Kriminelles, er hatte es wie ein Spiel betrieben, niemals jemandem ernsthaft geschadet, sondern seinen Spaß daran gehabt, an alle möglichen Informationen zu kommen, ohne sie jemals zu brauchen, geschweige denn zu verraten. Ganz kurz hatte er überlegt, es zu offenbaren, sozusagen als Beweis seiner Unschuld. Jemand mit seinen Fähigkeiten wäre doch niemals so leichtsinnig gewesen, irgendwelche Kinderpornos völlig ungeschützt auf seiner Festplatte zu lagern. Aber dann hatte er lieber den Mund gehalten. Je weniger man darüber wusste, umso besser.

Genützt hatte es ihm nichts. Er saß trotzdem hier, in einer winzigen Zelle für gemeingefährliche Irre.

Langsam richtete er sich auf der Pritsche auf. Seine Hände glitten über die metallenen Ösen, an denen am Morgen noch die eisernen Ketten befestigt gewesen waren. Wie im Gruselfilm. Er hatte nicht gewusst, dass es so etwas in Deutschland wirklich gab. Die Zellenwände waren weiß gestrichen, an einigen Stellen allerdings dunkel verschmutzt. Er wollte lieber nicht wissen, was das war. Vor dem Fenster befanden sich Gitter, dahinter eine zweigeteilte Scheibe, deren untere Hälfte aus Milchglas bestand. Durch die obere Hälfte fiel auch in der Nacht noch helles Licht. Das ganze Gebäude schien von außen mit Flutlichtern beleuchtet zu sein, damit niemand im Schutz der Dunkelheit entkommen konnte.

Er fragte sich, wie es weitergehen sollte. Er sei vermindert schuldfähig, hatte es in der Urteilsbegründung geheißen. Man hatte ihn zu acht Jahren Haft und Unterbringung im Maßregelvollzug verurteilt. Sein Anwalt hatte ihm erklärt, was das bedeutete. Wäre er in Haft gekommen, hätte er bei guter Führung mit einer Entlassung nach zwei Dritteln der Haft rechnen können. Aber im Maßregelvollzug gab es keinen festgelegten Entlassungstermin. Hier würde man ihn erst entlassen, wenn man sich sicher war, dass er keine Gefahr mehr für die Allgemeinheit darstellte. Und das konnte bei einem schwerwiegenden Delikt wie dem seinen deutlich länger als acht Jahre dauern.

»Sehen Sie zu, dass Sie therapeutische Fortschritte machen. Dann sind sie vielleicht in sechs Jahren wieder draußen«, hatte sein Anwalt zum Abschied erklärt.

»Was für therapeutische Fortschritte? Sie wissen doch, dass es nicht so war!«

Der Mann hatte nur den Kopf geschüttelt, und da hatte er begriffen, dass selbst sein Anwalt von seiner Schuld überzeugt war.

Und Julius? Sein Bruder hatte bis zum Schluss zu ihm gestanden, ihm immer wieder versichert, dass er an seine Unschuld glaube. Auch jetzt noch. Ob es überhaupt stimmte? Oder hatte auch Julius ihn längst aufgegeben und ihn nur mit einer barmherzigen Lüge trösten wollen? Zu gut erinnerte er sich an diesen verächtlichen Blick, mit dem Julius’ Frau Claudia ihn bedacht hatte. Ganz so, als wäre er eine Kakerlake. Und in diesem Moment, mitten in der Nacht in dieser Zelle, kam er sich auch ein bisschen so vor.

4

»Wieder gesund?« Regina musterte ihren Kollegen Dr. Proser aufmerksam, während sie gemeinsam am Tisch im Sozialraum der Wohnstation saßen. In ihren Augen sah er wie das blühende Leben aus, und sie war sich ziemlich sicher, dass er sich tags zuvor nur krank gemeldet hatte, um der Aufnahme des prominenten Kinderschänders zu entgehen.

»Noch ein bisschen rau im Hals«, erwiderte er betont gleichmütig und hustete demonstrativ.

Regina unterdrückte den Impuls, genervt die Augen zu verdrehen. »Ich habe Bräuning gestern für Sie aufgenommen. Scheint ein interessanter Fall zu sein.«

»Ganz sicher. Ein perverser Nerd, der jahrelang Kinderpornos auf seiner Festplatte sammelt und schließlich das Gesehene in die Tat umsetzt.« Proser seufzte. »Diese Typen sind doch allesamt unheilbar. Ich frage mich, was man da von uns erwartet. Einsperren, Schlüssel abziehen und danach im Klo runterspülen, das genügt.«

»Schlechte Idee«, widersprach Regina.

»Wieso?«

»Verstopfungsgefahr. Haben Sie schon mal erlebt, wie es ist, wenn die Scheiße aus einer Kloschüssel überläuft?«

Proser verzog angewidert das Gesicht. »Sehr witzig.«

»Warum haben Sie eigentlich in der Forensik angefangen, wenn Sie derart negativ an die Sache herangehen?«, fragte sie nun deutlich ernster.

»Es gibt einen Unterschied zwischen gesundem Realismus, so wie ich ihn pflege, und negativistischem Denken. Das finden Sie eher bei unseren persönlichkeitsgestörten Patienten.«

»Bräuning hat von Anfang an behauptet, er wäre unschuldig«, warf sie ein.

»Das tun doch fast alle.« Proser schnaubte. »Unsere Aufgabe ist es, sie mit der eigenen Schuld zu konfrontieren und dazu zu bringen, ihre dunkelsten Seiten zu akzeptieren. Nur dann kann es eine Besserung geben.«

»Und Sie meinen, das funktioniert?«

»Ich arbeite hier seit elf Jahren. Ich weiß es.«

Regina verkniff sich, ihn zu fragen, warum er dann nicht längst Oberarzt war. »Wissen Sie«, sagte sie stattdessen, »Bräunings Leugnen im Prozess warf in mir die rein hypothetische Frage auf, ob es tatsächlich möglich sein könnte, dass ein Unschuldiger hier landet. Und ich habe mich gefragt, ob ihm in dem Fall irgendwer glauben würde.«

»Wollen Sie im Ernst behaupten, dieser Bräuning sei unschuldig?«

Regina schüttelte den Kopf. »Nein, die Beweise sind in diesem Fall eindeutig und unwiderlegbar. Es war nur ein Gedankenspiel. Was würde wohl in so einem Menschen vorgehen? Gestern noch ein unbescholtener Bürger, heute ein geisteskranker Verbrecher? Wie viel glauben wir unseren Patienten eigentlich noch?«

»Wir sind nicht dazu da, jeden Unsinn zu glauben. Wäre ja auch noch schöner. Der größte Teil der Patienten lebt in einer surrealen Wahnwelt, und der Rest besteht aus pathologischen Lügnern.« Proser schniefte auf seine unnachahmliche Art.

»Ich dachte, Sie wären nur im Hals rau.« Regina griff nach dem Päckchen mit Papiertaschentüchern, das auf dem Tisch lag, und hielt es ihm entgegen.

Mit einer angewiderten Handbewegung lehnte Proser ab.

»Dann eben nicht.« Sie legte das Päckchen wieder hin. »Ich habe jetzt leider keine Zeit mehr, ich habe einen Termin beim Chefarzt.« Sie erhob sich.

»Geht es noch um Rösch?«, fragte Proser.

Sie sah die unverhohlene Neugier in seinem Blick. »Nein.«

»Sondern?«, bohrte er weiter.

»Wenn es spruchreif ist, werden Sie es früh genug erfahren.« Bevor sie ging, schenkte sie ihm das gleiche scheinheilige Lächeln, das er selbst so oft auf den Lippen trug.

Das Büro des Chefarztes befand sich in einem eigenen Trakt, den Patienten niemals betraten. Hier gab es nur Büroräume und Besprechungszimmer sowie eine Teeküche, in der ein Kaffeeautomat für jeden kostenlos zur Verfügung stand. Bevor Regina an Löhners Tür klopfte, holte sie sich eine Tasse Cappuccino.

Löhner erwartete sie bereits. Das erkannte sie daran, dass er die zahlreichen Akten, die überall in seinem Zimmer verstreut lagen, notdürftig von dem runden Tisch in der Mitte des Zimmers geräumt hatte.

»Also, worum geht es?«, fragte der Chefarzt, nachdem Regina sich zu ihm an den Tisch gesetzt hatte.

Sie stellte die Kaffeetasse behutsam ab und erzählte ihm von ihrem Vorhaben. Noch während sie sprach, konnte sie beobachten, wie sich seine Miene veränderte, er die hanseatische Gelassenheit verlor, um schließlich, als sie geendet hatte, lautstark auszurufen: »Das ist doch nicht Ihr Ernst!«

Beinahe wäre Regina vor Überraschung zusammengezuckt, doch sie wahrte die Fassung und hielt Löhners Blick ungerührt stand. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass er jemals die Stimme erhoben hatte. Normalerweise kleidete er seinen Unmut in verbale Spitzen. Allerdings hatte er in der Vergangenheit wiederholt erfahren müssen, dass Regina sich davon keineswegs beeindrucken ließ.

»Es ist mein Ernst«, wiederholte sie nachdrücklich. »Ich möchte, dass meine Tochter Anabel in den Herbstferien ein Praktikum im Maßregelvollzug macht.«

»Wir sind nicht der geeignete Ort für Schüler!«

»Meine Tochter ist volljährig.«

»Sie ist ein traumatisiertes Opfer! Sie hat hier nichts verloren!«

»Sie wäre niemals ein traumatisiertes Opfer geworden, wenn Sie von Anfang an auf mich gehört hätten, Herr Löhner.« Ihre Stimme blieb ruhig, dennoch schien der Tonfall den Chefarzt zu beunruhigen. Regina sah, wie Löhner zusammenzuckte. »Ich habe Ihnen bislang sehr erfolgreich mit meinen Stellungnahmen den Rücken freigehalten«, fuhr sie fort. »Ich habe alle Reporter abgewimmelt, die Interviews von meiner Tochter wollten. Sie hätte dafür durchaus fünfstellige Summen bekommen können. Viel Geld für ein junges Mädchen, das im kommenden Jahr ein Studium beginnen wird.« Sie holte tief Luft. »Es ging uns allerdings nie ums Geld, Herr Löhner. Mir geht es darum, dass meine Tochter auf ihre eigene Art Heilung findet und sich mit meinem Job aussöhnt. Sie soll erkennen, dass Menschen wie Rösch die Ausnahme sind. Und dass unsere Arbeit hier sinnvoll ist. Wenn Anabel weiter in ihrem Zorn auf unsere Klinik und meine Arbeit verharrt, kann ich irgendwann nicht mehr dafür garantieren, dass sie nicht doch das lukrative Angebot der Presse annimmt.«

»Soll das eine Drohung sein?«

Regina schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Ich wollte Ihnen nur meine Motive erklären. Ich denke, ein Praktikum könnte die Situation entschärfen und meiner Tochter dabei helfen, das Erlebte zu überwinden.«

»Und wenn ich Nein sage?«

»Dann sagen Sie eben Nein.«

»Aber Sie werden sich dann an die Presse wenden?«

»Nein. Allerdings habe ich keine Handhabe, es meiner Tochter zu untersagen. Sie steht nicht unter Schweigepflicht, und sie ist mittlerweile volljährig.«

»Das sagten Sie bereits«, knurrte Löhner.

Regina sah, wie es in ihm arbeitete. Auch wenn sie ihm versichert hatte, dass sie ihm nicht drohen wollte, so hatte sie es doch getan. Jeder Chefarzt scheute die Presse. Ganz besonders Löhner …

»Also gut«, sagte er. »Zwei Wochen. Auf Ihre Verantwortung!«

»Verantwortung ist unteilbar, Herr Löhner.« Sie lächelte. »Sie sind der Chefarzt, nicht ich.«

Er sog die Luft ein und stieß sie dann mit einem Schnauben aus. »Sie bewegen sich auf einem sehr schmalen Grat.«

»Ich weiß«, erwiderte sie. »Ich habe jahrelang auf einem sehr schmalen Grat gelebt. Ich bin da zu Hause.«

Kurz nachdem sie Löhners Zustimmung hatte, suchte sie Mark auf. Sie fand den Oberarzt auf der Aufnahmestation. Er war dabei, Bräunings Akte durchzugehen.

»Hast du einen Moment Zeit?«, fragte sie ihn, während sie sich neben ihn an den Tisch setzte.

»Sofort«, erwiderte er und machte eine letzte Eintragung.

Regina warf einen kurzen Blick darauf. »Du gibst Bräuning ein Einzelzimmer?«

Es war üblich, dass Neuankömmlinge zunächst in ein Mehrbettzimmer kamen. Ein Einzelzimmer war eine Vergünstigung, die sie sich durch angepasstes Verhalten verdienen mussten.

»Es ist das einzig freie Zimmer, und von den Übrigen hätte es keiner verdient. Die sind noch zu …«, er zögerte kurz mit der Wortwahl, »… unbeherrscht. Es wäre das falsche Zeichen.«

»Für Bräuning nicht?«

»Du weißt doch, wie das mit diesen Pädophilen ist. Die sind meistens total pflegeleicht, wenn sie erst mal die Regeln verstanden haben. Ich glaube nicht, dass er uns Ärger machen wird.«

Regina nickte. »Hättest du ihm auch das Einzelzimmer gegeben, wenn er nicht einer der bekanntesten deutschen Spielesoftwareentwickler wäre?«

»Was soll das heißen?« Erstaunt musterte er sie. »Natürlich hätte ich es ihm auch dann gegeben.«

»Ja, ich weiß das. Aber die anderen Patienten werden es nicht so sehen.«

»Die anderen Patienten haben meine Entscheidungen nicht zu kümmern. Hinter diesen Mauern herrscht keine Demokratie.«

»Sprach König Mark der Erste.« Regina grinste.

»Falsch, Löhner ist der König.«

»Und du?«

»Großwesir?«

»Dann wäre Löhner nicht der König, sondern der Kalif.«

»Ach so.«

»Und was bin ich, wenn du der Großwesir bist?«

»Keine Ahnung, so gut kenne ich mich in der orientalischen Hierarchie nicht aus.« Er reichte die Kurve mit der Eintragung an einen Pfleger weiter, damit dieser die Verlegung in die Wege leiten konnte. »Wollen wir gegen zwölf essen gehen?«, fragte er dann.

»Soll ich Proser auch dazu holen?«

»Untersteh dich!«

»Wie Herr Wesir wünschen«, erwiderte sie mit einem Lächeln, blieb aber neben ihm sitzen.

»Wolltest du noch etwas besprechen?«

»So ist es.«

»Was?«

»Das würde ich lieber unter vier Augen mit dir bereden.«

»Dann lass uns in mein Büro gehen.«

Marks Büro sah genauso unordentlich aus wie das des Chefarztes, vielleicht sogar noch chaotischer, weil er nicht auf Besuch vorbereitet war. Die Akten lagen überall auf dem Schreibtisch, dazwischen handschriftliche Notizen. Nur die PC-Tastatur war frei. Selbst auf dem kleinen runden Tisch, der in der Mitte seines Büros stand, stapelten sich Aktenberge. Allerdings waren es keine Patientendaten, sondern Gerichtsakten, denn Mark war nebenher auch als Gerichtsgutachter tätig.

Bei ihrem Eintreten hob er den Aktenstapel vom kleinen Tisch auf das Sideboard. Ihr fiel die neue Kaffeemaschine auf.

»Du bist auf einen Kapselautomaten umgestiegen?«, fragte sie.

»Ja. Möchtest du einen Kaffee probieren?«

»Wenn du so nett fragst. Hast du auch Milch da?«

»Ich hol gleich welche.«

Er schaltete die Maschine an und holte aus der Teeküche eine Milchtüte.

»Nimmst du wieder eine Milch mit etwas Kaffee?« Er grinste Regina breit an.

»Bei den kleinen Mengen, die diese Maschinen so produzieren, braucht man viel Milch, um die Tasse vollzukriegen«, erwiderte sie. Doch dann wurde sie ernst und erzählte ihm von Anabels geplantem Praktikum.

»Hältst du das für eine gute Idee?« Er runzelte die Stirn.

»Ja.« Sie trank einen Schluck Kaffee. »Man muss sich seinen Ängsten stellen, um Frieden zu finden. Und hier könnte sie es in einem sicheren Umfeld tun.«

Er räusperte sich, sagte aber nichts.

Regina kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er mindestens einen Einwand hatte. Vermutlich sogar ein Dutzend. »Nun zier dich nicht so«, forderte sie. »Sag schon, was du dagegenhast.«

»Nichts.«

»Lügner!«

Er seufzte. »Du hast doch schon alles geklärt. Was soll ich also noch sagen? Wenn du glaubst, dass es deiner Tochter guttut, mach es.«

»Aber?«, bohrte sie nach. »Was befürchtest du?«

Er zog die Schultern hoch. »Ich weiß es nicht. Du kennst deine Tochter besser als ich. Es ist nur so ein Gefühl …«

»Was für ein Gefühl?«

Einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle er zu einer längeren Rede ansetzen, doch dann zuckte er nur erneut mit den Schultern. »Vergiss es einfach. Deine Tochter hat in ihrem jungen Leben vermutlich mehr überstanden, als ich in meinem ganzen Dasein erleben werde. Und du kennst sie. Wenn du es für richtig hältst, dann tu es.«

Obwohl er ihr recht gegeben hatte, fühlte sich Regina unwohl. Früher hatte er sich oft Streitgespräche mit ihr geliefert und auf seiner Meinung beharrt. Inzwischen gab er viel zu schnell nach. Waren das noch immer die Folgen von Röschs Flucht? Oder teilte er tatsächlich ihre Sicht der Dinge? Sie war sich bei Mark nie so ganz sicher.

»Dann kann ich also auf deine Unterstützung zählen?«

»Das wusstest du doch schon, ehe du zu mir gekommen bist.«

Sie lächelte. Ja, sie hatte es gewusst, aber sie hatte geglaubt, ein wenig mehr argumentieren zu müssen.

5

Peter Bräuning zuckte zusammen, als es an seiner Zimmertür klopfte. Vor etwa einer Stunde hatten sie ihn in diesen Raum verlegt. Auf den ersten Blick ein scheinbar normales Klinikzimmer, wären da nicht die vergitterten Fenster gewesen und der unzerstörbare Waschraum, dessen Toilette und Waschbecken aus Edelstahl waren. Ganz so wie auf einer Autobahnraststätte. Nur würde seine Rast hier wesentlich länger dauern.

Bei diesem albernen Gedanken musste er sich beherrschen, nicht in hysterisches Gelächter auszubrechen.

Ehe er den Besucher hereinbitten konnte, wurde die Tür bereits geöffnet und ein Mann in Jeans und weißem Rollkragenpullover trat ein. An dem Pullover hing ein Namensschild. Dr. Proser, Arzt, stand darauf.

Peter legte das Disney-Taschenbuch, in dem er bis dahin geblättert hatte, auf den Tisch und erhob sich von seinem Stuhl.

»Guten Morgen«, sagte der Arzt. »Mein Name ist Doktor Proser. Ich bin Ihr behandelnder Arzt und Therapeut.« Er hielt ihm die Hand entgegen.

Peter ergriff sie, zögerte aber mit der Antwort. Was sollte er sagen? Die üblichen Floskeln wie »Angenehm, Bräuning« oder »Ich bin erfreut, Sie kennenzulernen« kamen ihm vollkommen fehl am Platz vor.

»Guten Morgen«, wiederholte er deshalb Prosers Gruß, auch wenn es bereits auf Mittag zuging. »Meinen Namen kennen Sie ja.«

Proser nickte. »Ich denke, wir beide sollten uns heute einmal in Ruhe unterhalten, damit wir uns noch besser kennenlernen, Herr Bräuning. Wir werden schließlich eine ganze Weile miteinander arbeiten müssen, nicht wahr?« Der Arzt schniefte.

Peter konnte nicht umhin, Proser eingehend zu betrachten. Er war glatt rasiert, sein braunes Haar lichtete sich bereits über der Stirn, obwohl er vermutlich noch keine vierzig war. Kleine Narben an den Wangen bezeugten, dass Proser als Jugendlicher unter heftiger Akne gelitten hatte. Er trug eine unauffällige, randlose Brille, die in ihrer Unscheinbarkeit auf einen umso höheren Preis schließen ließ.

Auch Proser hatte ihn gemustert, doch sein Blick war auf dem Disney-Taschenbuch haften geblieben.

»Sie lesen Micky Maus?«

»Nein, Donald Duck.«

Proser setzte sich auf den zweiten Stuhl, der am Tisch stand. »Wollen Sie sich nicht auch wieder setzen, Herr Bräuning?«

Peter folgte der Aufforderung, auch wenn es ihm seltsam vorkam, dass jemand ihm in seinem eigenen Zimmer einen Platz anbot. Allerdings war es irgendwie auch passend. Hier war sein Schlafplatz, aber es war nicht sein Zuhause. Es war ein Gefängnis, verborgen in einer Klinik für geisteskranke Kriminelle.

»Was mögen Sie an Donald?«, fragte der Arzt, während er das Taschenbuch in die Hand nahm und darin blätterte.

Peter zögerte. Sollte das der Versuch eines zwanglosen Gesprächs sein, oder stand er schon wieder auf dem Prüfstand? Seit den Erlebnissen mit dem Gutachter hatte er das Vertrauen in die Ärzte verloren.

»Seine Abenteuer sind nicht so vorhersehbar wie die von Micky«, sagte er schließlich. »Micky Maus gewinnt immer, bei Donald ist das Ende offen.«

»Meistens verliert Donald, nicht wahr? Er ist ein Pechvogel.«

»Wie man es nimmt«, erwiderte Peter. »Kennen Sie viele Donald-Geschichten?«

»Ich habe sie als Junge gelesen.«

»Jetzt nicht mehr?«

»Nein. Ich bin erwachsen.« Proser legte das Taschenbuch auf den Tisch. »Aber Sie lesen diese Bücher noch immer gern?«

Es sollte wohl neutral klingen, aber Peter spürte sofort die Abfälligkeit dieser Bemerkung und wusste, dass er Proser nicht ausstehen konnte.

»Soll ich Ihnen ein Geheimnis verraten?«, fragte er deshalb und beugte sich verschwörerisch vor.

Der Arzt sah ihn aufmerksam an.

»Ich lese sogar Asterix«, flüsterte Peter mit todernster Miene.

»Interessant.« Proser lehnte sich zurück, äußerlich entspannt, aber Peter hatte den Eindruck, dass der Arzt den ursprünglichen Abstand zwischen ihnen wiederherstellen wollte.

Also lehnte er sich ebenfalls zurück, worauf sich Proser wieder ein Stück vorbeugte.

»Was lesen Sie denn lieber, Herr Bräuning? Donald oder Asterix?«

»Soll das jetzt wirklich ein Gespräch über Comics werden?«

»Wenn es Ihnen wichtig ist, warum denn nicht?«

»Glauben Sie ernsthaft, mir wären in meiner Situation Gespräche über Comics wichtig?«

»Worüber möchten Sie dann sprechen?« Proser lächelte.

Vermutlich sollte es ein gutmütiges Lächeln sein, aber Peter hatte das Gefühl, sein Gegenüber würde ihn auslachen. Auf einmal kam er sich wieder genauso klein, hilflos und gedemütigt vor wie in den Tagen nach seiner Festnahme.

»Ich nehme an, Sie haben mein Urteil und das Gutachten gelesen?«, fragte er.

»Selbstverständlich. Ich bin Ihr behandelnder Arzt.«

»Dann lassen Sie uns offen reden. Sie kennen meine Aussagen. Aber Sie glauben mir nicht, weil ich ein verurteilter Straftäter bin, richtig?«

Für einen Moment blitzte Überraschung in den Augen des Arztes auf. Mit einer solch direkten Ansage hatte er nicht gerechnet.

»Sie möchten mir damit also sagen, dass Sie unschuldig sind?«

»Ja.«

»Wir sind noch nicht so weit, um über das Delikt zu sprechen«, sagte Proser geduldig. »Sie sind dazu noch nicht bereit.«

»Ich habe kein Delikt begangen!«, betonte Peter nachdrücklich. »Ich wurde reingelegt.«

»Von der großen Unbekannten, ich habe es gelesen. Wie ich schon sagte, Sie sind noch nicht bereit, über Ihr Delikt zu sprechen.« Wieder ein Lächeln.

Peter ballte die Hände zu Fäusten.

Proser sah es. »Würden Sie mich gern schlagen?«, fragte er.

Peter löste die Fäuste. »Das wollen Sie mir wohl gern unterstellen.«

»Ich unterstelle Ihnen gar nichts. Aber vielleicht sollten wir lieber bei den Comics bleiben. Sie mögen also auch Asterix. Was schätzen Sie an dem kleinen Gallier?«

»Glauben Sie, dass uns dieses Gespräch weiterbringt?«

»Warum weichen Sie mir aus, Herr Bräuning?«

»Sie möchten also wissen, was ich an Asterix schätze?« Es kostete ihn viel Kraft, die Stimme ruhig klingen zu lassen. »Die Comics funktionieren auf zwei Ebenen. Zum einen ist da die Action, die Kinder und schlichte Gemüter anspricht, zum anderen die kleinen Anspielungen auf unsere Gesellschaft und die Politik, die für Erwachsene bestimmt sind.«