Schwarzweiß - Antonia Fennek - E-Book

Schwarzweiß E-Book

Antonia Fennek

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Beschreibung

Als der psychisch kranke Mörder Niklas Rösch in den Maßregelvollzug der Hamburger Psychiatrie eingewiesen wird, ändert sich alles im Leben der Ärztin Regina Bogner. Von Anfang an tritt Rösch so auf, als besäße er allein die Kontrolle. Woher kennt er Einzelheiten aus Reginas sorgsam gehüteter Vergangenheit? Und ist der grauenvolle Mord an seiner Nachbarin tatsächlich seine erste Tat? Als Rösch die Flucht aus dem Maßregelvollzug gelingt, schwebt nicht nur Regina in tödlicher Gefahr. Denn ihre Tochter Anabel passt genau in Röschs Beuteschema ...

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Inhalt

Titel

Über dieses Buch

Juba im Südsudan, Sommer 1987

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Unfallkrankenhaus Hamburg Boberg, September 2014

Nachwort

Glossar

Über die Autorin

Die Romane von Antonia Fennek bei LYX

Impressum

ANTONIA FENNEK

Schwarzweiß

Roman

Über dieses Buch

Nach dem abscheulichen Mord an seiner Nachbarin wird Niklas Rösch in den Maßregelvollzug der Hamburger Psychiatrie eingewiesen – und das Leben der Ärztin Regina Bogner ändert sich mit einem Schlag. Rösch tritt auf, als besäße er die alleinige Kontrolle. Zwar zeigt er sich einsichtig, was seine Therapie angeht, doch stets scheint er die Zügel in der Hand zu haben, lenkt alles in seine gewünschte Richtung. Je länger und je intensiver sich Regina mit Rösch auseinandersetzt, desto größere Zweifel bekommt sie an der Diagnose Schizophrenie, die der Gerichtsgutachter dem Mörder bescheinigt hat. Eine viel größere, viel düstere Wahrheit schlummert in ihm – und nur Regina scheint das Ausmaß zu begreifen. Rösch beweist Regina stets aufs Neue, welche Gefahr er in Wirklichkeit darstellt, denn woher sonst kennt er Einzelheiten aus ihrer sorgsam gehüteten Vergangenheit in Afrika? Ehe es die Psychiaterin verhindern kann, verwickelt Rösch sie in ein grausames Psychoduell. Immer deutlicher erkennt Regina, dass er bereits früher auf bestialische Weise getötet hat und dass er weiter morden wird, doch keiner ihrer Kollegen glaubt ihr. Als Rösch schließlich die Flucht aus dem Maßregelvollzug gelingt, schwebt nicht nur Regina in tödlicher Gefahr, sondern auch ihre Tochter: Anabel passt genau in das Beuteschema des Wahnsinnigen …

Juba im Südsudan, Sommer 1987

Er durfte nicht hier sein. Sein Bruder Malek würde ihn totschlagen, wenn er davon erführe. Ängstlich duckte sich der Zehnjährige hinter die schmutzige Theke, aber seine Neugier war größer als sein Fluchtinstinkt. Er wollte es endlich wissen. Stimmten die Geschichten? Er erinnerte sich gut daran, wie Malek beim letzten Mal geprahlt und ihm das blutige Messer gezeigt hatte. Sie hätten dem Mann die Eier abgeschnitten, hatte Malek behauptet. Bis die Mutter ihm verboten hatte, seinem kleinen Bruder derartige Lügenmärchen aufzutischen. Malek hatte geschwiegen, aber irgendetwas in seinem Blick hatte den Jungen verunsichert. Waren es wirklich Lügen? Woher hatte Malek dann das viele Geld?

Nur selten verirrten sich Weiße in dieses verrufene Viertel, und die meisten von ihnen waren abgerissene Kerle, immer auf der Suche nach billigem Fusel, denen man besser aus dem Weg ging. Ganz anders als der junge Mann, auf den Malek heute früh Angelica angesetzt hatte. Der Junge hatte nur zufällig Wind davon bekommen und erfahren, dass Angelica die Opfer immer hierher führte. Seither wartete er. Trotz seiner Angst und Aufregung forderte die Hitze ihren Tribut. Er spürte, wie er müde wurde. Der Deckenventilator surrte, übertönte fast das Klappen der Tür. Sofort war er wieder hellwach. Er schob sich ein Stück weiter vor, um besser sehen zu können. Tatsächlich, es war Angelica, die schöne nachtschwarze Angelica, die jeden Mann zu verzaubern wusste. Unter ihrer roten Bluse blitzte der weiße Spitzen-BH hervor, für den sie berühmt war. Der Weiße folgte ihr mit gierigen Blicken wie ein junger Hund in die Bar, redete auf Englisch auf sie ein. Angelica lachte. Der Junge hätte zu gern verstanden, was der Mann gesagt hatte, aber sein Englisch war zu schlecht. Die Hände des Mannes schoben sich unter Angelicas Bluse, öffneten sie. Der weiße Spitzen-BH hob sich hell von Angelicas dunkler Haut ab. Der Mann sagte noch etwas. Angelica lachte abermals. Ein albernes Lachen, fand der Junge. Warum mussten die Weiber immer so albern lachen, wenn sie einen Mann betörten?

Auf einmal wurde die Tür aufgerissen. Der Weiße ließ von Angelica ab, starrte zur Tür. Hastig schloss Angelica ihre Bluse. Drei Männer traten ein. Der Junge keuchte lautlos in seinem Versteck auf. Der Bruder mit seinen Freunden. In ihren Händen blitzten die Messer. Genauso, wie Malek es behauptet hatte. Auf einmal bedauerte er, hier zu sein. Er war neugierig gewesen, aber wollte er das wirklich sehen? Er machte sich ganz klein hinter der Theke. Als die Schreie begannen, hielt er sich die Ohren zu …

1

»Sind noch Mehrkornbrötchen da?« Regina warf einen langen Blick in die große Schüssel auf dem Frühstückstisch.

»Aber sicher, Frau Doktor.« Egon griff nach einer zweiten Schüssel. »Habe ich extra für dich versteckt.« Mit einem gutmütigen Lächeln hielt der korpulente Pfleger ihr die Brötchen hin.

»Vielen Dank.« Regina griff zu und erwiderte Egons Lächeln. Sie mochte das gemeinsame Frühstück mit den Pflegern und Therapeuten ihrer Station, bevor der Alltag des Maßregelvollzugs begann. Seit drei Jahren arbeitete sie nun in der forensischen Psychiatrie – es war ihre erste Stelle, seit sie nach Hamburg zurückgekehrt war. Im Allgemeinen fühlte sie sich wohl in dieser Umgebung, auch wenn es recht ungewöhnlich war, jeden Morgen von einem Heer psychisch kranker Straftäter freundlich begrüßt zu werden. Mittlerweile hatte ihr Arbeitsleben so etwas wie Normalität angenommen, und sie vergaß die oft grässlichen Verbrechen, die zur Unterbringung der Männer in dieser Einrichtung geführt hatten.

Von draußen hörte sie das Klappern der schweren Schlösser, dann Schritte über den Flur, die sich dem Sozialraum näherten. Auch daran hatte sie sich erst gewöhnen müssen – an riesige Schlüssel, die eher zu mittelalterlichen Kerkerzellen gepasst hätten, auch wenn sie chromglänzend waren. Regina hatte in dem Hochsicherheitstrakt mit kleinen Sicherheitsschlössern gerechnet, nicht mit Ungetümen, die dazu taugten, jemandem den Schädel einzuschlagen. Aber das Schließsystem war alles andere als antiquiert. Es konnte bei Entwendung eines Schlüssels umgehend neu justiert werden, sodass die alten Schlüssel sofort unbrauchbar wurden.

»Wir bekommen einen Neuzugang«, hörte sie ihren Kollegen Dr. Proser schon von draußen laut rufen.

»Oh Gott, das Unheil naht!«, stöhnte Egon. Regina schmunzelte. Niemand konnte Dr. Proser leiden. Er war der Einzige außer dem Chefarzt, mit dem sie sich siezte. Anfangs, weil Dr. Proser eine so distinguierte Art an sich hatte und es strikt ablehnte, Vertraulichkeiten, wie er es nannte, mit Kollegen auszutauschen. Nachdem sie ihn kennengelernt hatte, war sie sehr froh darüber. Zu manchen Menschen hielt man tatsächlich besser Distanz.

»Wollen Sie die Akte sehen?« Dr. Proser betrat den Sozialraum und wedelte mit einer braunen Mappe. »Sind auch hübsche Fotos drinnen.«

»Wir sind beim Frühstücken«, bemerkte Egon.

»Sind wir etwa zimperlich?« Dr. Proser zog die Brauen hoch. »Ist Ihr Fall, Frau Bogner.« Er hielt Regina die Mappe hin.

»Legen Sie sie in mein Fach. Ich esse gerade.«

»Haben Sie Angst vor den Fotos? Die sind wirklich nicht sehr appetitlich.«

»Nein, eher dass ich Fettflecken auf der Mappe hinterlasse.« Sie griff nach der Margarine und bestrich ihr Brötchen. »Reicht mir mal jemand die Sülze?«

»Sülze, genau. Das hat er aus seinen Opfern gemacht.«

»Ach, tatsächlich?« Regina nahm eine Scheibe von dem Teller, den Egon ihr hinhielt. »Sinnbildlich oder ist er Metzger?«

Dr. Proser verzog das Gesicht. »Müssen Sie immer so cool sein?«

»Nur, wenn Sie so aufdringlich sind.« Sie legte sich Sülze aufs Brötchen und biss ab.

»Wollen Sie nicht auch was essen?«, fragte Egon. »Oder haben Sie sich’s anders überlegt, nachdem Sie die Fotos gesehen haben?«

»Mir macht das nichts aus.«

»Wenigstens einen Kaffee?« Egon hob die Kanne und hielt sie dem Arzt auffordernd entgegen.

»Ich bin zum Arbeiten hier«, schnaubte der. »Nicht zum Frühstücken.«

»Na schön, dann zeigen Sie die Fotos schon her«, seufzte Egon und stellte die Kaffeekanne wieder auf den Tisch. Sofort ging in Dr. Prosers Gesicht die Sonne auf.

»Hier, sehen Sie sich das mal an!« Er öffnete die Mappe und hielt sie Egon wie einen Werbeprospekt unter die Nase.

Regina fragte sich, wie ein Mann nur so viel Freude daran haben konnte, ekelhafte Tatortfotos herumzureichen. Das letzte Mal hatte sie ihn so zufrieden gesehen, als er die Geschichte von dem Mann herumerzählt hatte, der den Kopf seiner Frau an einer Tankstelle abgegeben hatte. Mit Grausen erinnerte sie sich an seinen geschmacklosen Witz, dass es für die Köpfe von Ehefrauen kein Pfandgeld gebe … Nun ja, man konnte nicht alle seine Kollegen lieben.

»Sehen Sie hier? Da hat er sie am Boden ihrer Küche festgenagelt und ihr eine Flasche ins Genitale gesteckt. Danach hat er ihr den Bauch aufgeschnitten und die Flasche oben wieder rausgeholt. Die Öffnung hat er mit Draht verschlossen. Daran ist sie verblutet. Hier ist auch noch ein Foto von der blutigen Flasche.«

»Perverser Idiot«, murmelte Schwester Irene neben Regina.

»Davon gibt es auf der Station mehr als genug«, raunte Regina zurück.

»Ich meinte nicht den Täter.« Irene seufzte, und Regina konnte sich nur mit Mühe ein Lächeln verbeißen.

»Und hier sieht man den gerichtsmedizinischen Befund.« Dr. Proser hatte inzwischen weitergeblättert. »Die Nägel sind richtig fies durch die Handwurzelknochen getrieben worden. So muss sich Jesus am Kreuz gefühlt haben.«

»Wie wäre es, wenn Sie sich um den Neuzugang kümmern?«, schlug Regina vor. »Sie haben ihn doch schon richtig ins Herz geschlossen.«

»Ich bin aber nicht dran. Das fehlte noch, dass ich Ihre Arbeit mache.«

»Wir können gern tauschen. Soll ich Ihnen dafür den Windelfetischisten abnehmen?«

»Nein.« Dr. Proser zog geräuschvoll die Nase hoch. »Ich bin in der Beziehungsarbeit gerade ein gutes Stück vorangekommen.«

»Wenn man Schnupfen hat, ist das nicht schwierig«, bemerkte Egon so trocken, dass Irene laut losplatzte.

»Hier herrscht entschieden zu wenig Ernsthaftigkeit«, mokierte sich Dr. Proser und schniefte erneut.

»Bitte, bedienen Sie sich!« Regina hielt ihm ein Päckchen Papiertaschentücher entgegen. Dr. Proser zögerte kurz, bevor er eine ablehnende Handbewegung machte und ihr stattdessen die Akte neben den Teller legte.

»Viel Spaß mit Ihrem neuen Fall, Frau Kollegin!«

Zwei Stunden später erschien der Gefangenentransport. Regina wartete gemeinsam mit Mark Birkholz, dem Oberarzt der Aufnahmestation, auf den Neuzugang.

»Der Gutachter sagt, Schizophrenie«, erzählte Mark. »Hast du das Gutachten schon gelesen?«

Regina schüttelte den Kopf. »Es war nicht in der Akte.«

»Dann liegt es wohl noch beim Chef.«

»Oder Proser hat sich die Akte zu schnell geschnappt, als er merkte, dass hübsche Fotos beiliegen.«

»Proser«, stieß Mark seufzend hervor. »Manche Leute sind echt eine Schande für unseren Berufsstand.«

»Soll das etwa Klatsch über einen Kollegen werden? Noch dazu von einem Vorgesetzten?«, neckte Regina ihn.

»Die Feststellung einer Tatsache ist kein Klatsch.« Mark grinste. Anscheinend wollte er noch etwas sagen, aber da hörten sie, wie die schwere Tür zur Station aufgeschlossen wurde.

»Komm, erwarten wir ihn in der Eins.« Mark erhob sich und verließ das Stationszimmer. Regina folgte ihm. Die Eins war der erste Raum, den ein Neuzugang auf der Station betrat. Eine karge Sicherheitszelle hinter einer gepanzerten Doppeltür. Der Boden war gefliest und eine schmale Pritsche in der Mitte des Raums am Boden festgeschraubt. Am Fuß- und Kopfende befanden sich metallene Ösen, an denen stählerne Hand- und Fußschellen befestigt waren. Normalerweise wurden diese Ketten nicht benutzt. Regina war bislang nur einmal Zeugin geworden, wie ein plötzlich randalierender Patient von sechs Pflegern auf der Pritsche festgekettet wurde, bis das richtige Gurtbett mit humanen Stoffgurten herbeigeschafft werden konnte. Aber das wussten die Neuzugänge nicht. Und die abschreckende Wirkung dieser Zelle war nicht zu unterschätzen. Wer noch halbwegs bei Verstand war, begriff sehr schnell, dass er hier besser Wohlverhalten zeigte.

»Wenigstens kein Kinderschänder«, hörte Regina einen der beiden Pfleger sagen, die sie begleiteten. Das begriff sie nie – das Aufwiegen der unterschiedlichen Taten, das manche Mitarbeiter betrieben. Konnte es wirklich etwas Schlimmeres geben, als eine Frau auf diese Weise zu Tode zu foltern? Sie hatte sich die Bilder angesehen, nachdem Proser verschwunden war. Und obwohl sie bereits viel Schreckliches in ihrem Leben gesehen hatte, war dies eines der Verbrechen, die es ohne Mühe in die Top Ten ihrer persönlichen Horrorliste schafften. Ohne es zu wollen, stellte sie sich den Täter vor. Wie mochte er aussehen? Ein grobschlächtiger Kerl, dem man die Abartigkeit auf hundert Meter Entfernung ansah? Oder doch eher der charmante Nachbar? Immerhin war es seine Nachbarin gewesen, die er auf diese Weise zerfleischt hatte. Sie hatte ihn vermutlich sogar selbst in die Wohnung gelassen, denn die Polizei hatte keine Spuren von Gewalt am Türrahmen gefunden.

Regina hatte in ihrem bisherigen Leben gelernt, dass man den Menschen immer nur vor den Kopf blicken konnte. Eine hübsche Fassade bedeutete nichts. Ebenso wenig wie eine hässliche … Einen Moment lang schweiften ihre Gedanken zurück. Zurück in eine andere Welt, eine Zeit, die lange vorbei war. Er war vermutlich einer der hässlichsten Männer, die sie jemals gesehen hatte. Aber ein Mann mit einem goldenen Herzen … Hastig schüttelte sie den Gedanken ab, denn die Schritte näherten sich der Zelle.

Er war verdammt gewöhnlich. Zu gewöhnlich. So wie die meisten von ihnen. Regina warf einen kurzen Blick auf das Stammblatt. Niklas Rösch, geboren am 23. Juli 1966. Sogar der Name war gewöhnlich. Rösch sah etwas jünger aus, als er war, hatte kurzes dunkelblondes Haar, ein glatt rasiertes Gesicht und – das einzig Bemerkenswerte – strahlend blaue Augen. Ein so intensives Blau hatte Regina noch niemals in den Augen eines Menschen wahrgenommen. Er bemerkte, wie sie ihn musterte, und hielt ihrem Blick mit erstaunlicher Offenheit stand. Eine Schizophrenie hatte der Gutachter diagnostiziert. Regina kannte die Blicke Schizophrener. Starr und durchdringend. Doch dieser Blick war anders. Sie konnte den Grund nicht genau benennen, aber ganz spontan zweifelte sie an der Diagnose.

Einer der Vollzugsbeamten, die Rösch begleiteten, zog einen Schlüssel aus der Hosentasche und nahm ihm die Handschellen ab.

»Guten Tag«, begrüßte Mark den Neuzugang. »Mein Name ist Doktor Birkholz. Ich bin der Oberarzt dieser Station, und dies ist meine Kollegin Frau Doktor Bogner.« Er wies auf Regina und machte eine kurze Pause. Rösch sagte kein Wort, warf nur einen kurzen Blick auf die Pritsche mit den eisernen Fesseln.

»Müssen wir Angst vor Ihnen haben?«, fragte Mark, der Röschs Blick gefolgt war. »Oder können wir uns wie zivilisierte Menschen begegnen? Dann werden die Ketten verschwinden.«

»Das müssen Sie selbst entscheiden«, entgegnete Rösch. Der Hauch eines Lächelns umspielte seine Mundwinkel. Meinte er es spöttisch, oder sollte es gewinnend sein? Regina entschied sich für Spott.

»Nein, das liegt bei Ihnen«, widersprach Mark. »Also?«

Zwei der Pfleger standen neben der Pritsche und warteten auf das Zeichen, die Ketten entfernen zu dürfen.

»Ich werde Ihnen nichts tun.« Röschs Lächeln vertiefte sich, und jetzt war es ganz offensichtlich Spott. So verhielt sich kein Schizophrener, da war Regina sich ganz sicher. Zu dumm, dass sie das Gutachten noch nicht gelesen hatte! Der Sachverständige hatte gewiss gute Gründe für seine diagnostische Einschätzung, und der erste Eindruck konnte täuschen.

Mark gab den Pflegern einen Wink, und die Ketten verschwanden.

»Gut, dann wäre das geklärt. Rauchen Sie?«

»Wieso? Wollen Sie mir eine Zigarette anbieten?«

»Nein, ich wollte Sie nur darauf hinweisen, dass in diesem Raum Rauchen verboten ist. Also?«

»Wenn das Rauchen ohnehin verboten ist, warum fragen Sie dann?«

Regina sah, wie sich Marks Hände zu Fäusten ballten.

»Weil es Rauchern im Allgemeinen schwerfällt, auf Zigaretten zu verzichten. Wenn Sie kooperativ sind, dürfen Sie einmal in der Stunde unter Aufsicht eine Zigarette rauchen, solange Sie in dieser Zelle …«

»Rauchen ist ungesund«, unterbrach Rösch ihn. »Ich lebe sehr gesund. Ich hoffe, hier gibt es vegetarische Kost.«

»Ja.«

»Sehr gut, ich möchte nicht, dass um meinetwillen Tiere sterben müssen.«

Er will uns provozieren, durchzuckte es Regina, als sie bemerkte, wie Mark hörbar Luft holte. Aber warum? Die meisten Neuzugänge taten alles, um möglichst unauffällig zu wirken. Viele behaupteten sogar, unschuldig zu sein. Dann gab es auch diejenigen, die es mit Drohungen versuchten. Aber ein Mensch wie Rösch war Regina noch nie begegnet. Auch wenn sie Proser nicht leiden konnte, in einem hatte er recht: Dies war ein interessanter Fall. Nicht wegen der grauenhaften Bilder, sondern wegen der Geschichte dahinter.

»Vegetarische Kost ist kein Problem«, erwiderte Mark mit aufgesetzter Gelassenheit. »Haben Sie irgendeine chronische Erkrankung, für die Sie bestimmte Medikamente benötigen?«

»Nein.«

»Haben Sie sonst noch Fragen?«

»Wie lange muss ich in dieser ansprechenden Räumlichkeit verweilen?« Rösch ließ den Blick durch den kahlen Raum schweifen.

»So lange, bis wir uns sicher sind, dass Sie im Stationsalltag keinen Ärger machen.«

»Und wann sind Sie sich da sicher?«

»Zeigen Sie Wohlverhalten, dann können wir morgen über eine Verlegung in ein normales Zimmer sprechen.«

Rösch nickte. Er wirkte gelangweilt.

»Frau Doktor Bogner wird im Laufe des Tages noch auf Sie zukommen, um die Aufnahmeuntersuchung durchzuführen.«

»Ich freu mich drauf.« Ein böses Lächeln huschte über Röschs Gesicht, während er Regina abschätzig musterte. Sie hielt seinem Blick stand. Suchte unwillkürlich nach der typischen Starre in den Augen Schizophrener. Doch wieder entdeckte sie nur die Unergründlichkeit seines überlegenen Blickes. War es eine Maske? Um die eigene Angst vor dieser Situation zu überspielen? Auch das hatte sie schon erlebt. Männer, die anfangs überlegen und cool auftraten, nur um nach einigen Tagen oder Wochen zusammenzubrechen. Wenn sie begriffen, dass sie womöglich ihr ganzes Leben hinter diesen Mauern verbringen mussten.

Sie nahm sich vor, das Gutachten in Ruhe zu studieren, bevor sie sich weiter mit Rösch befasste.

2

Regina hatte sich mit einem Becher Kaffee und dem Gutachten in ihr Büro zurückgezogen.

Auszug aus der Akte der Staatsanwaltschaft begann sie zu lesen.

Herrn R. wird vorgeworfen, am 21.02.2014 gegen 7.15 Uhr an der Tür des 27-jährigen Tatopfers Akosua Nkrumah, seiner Nachbarin, geklingelt zu haben, sich gewaltsam Zutritt zu der Wohnung verschafft zu haben und Akosua N. unvermittelt niedergeschlagen zu haben (Blatt 7 der Akte). Alsdann habe er ihre Hände mit sieben Zentimeter langen Nägeln aus dem Baumarkt, die er ebenso wie einen Hammer bereits mit sich geführt hatte, an den Bohlen der Küchendiele festgenagelt. Die Schreie des Opfers erstickte er, indem er ihr den Spüllappen in den Mund stopfte (Blatt 9 der Akte, Foto 1 des Anhangs). Anschließend habe er die Kleidung des wehrlosen Opfers mit einem Fleischermesser zerschnitten und ihr eine gläserne Weinflasche unter heftiger Gewaltanwendung in die Vagina eingeführt. Hierbei kam es zu massiven Gewebezerreißungen und Einrissen der Scheidenwand von bis zu zehn Zentimetern Länge. Durch den Flaschenhals wurde der Gebärmutterhals perforiert (Blatt 10 der Akte, Fotos 2 bis 4) und massive Blutungen wurden ausgelöst. Der Beschuldigte habe daraufhin erneut zum Fleischermesser gegriffen und dem Opfer eine tiefe, längs verlaufende Schnittverletzung vom Nabel bis zum Brustbein zugefügt. Hierbei kam es zur mehrfachen Verletzung des Dünndarms. Der Beschuldigte habe dann in die laut gerichtsmedizinischem Befund lebensgefährliche Wunde gegriffen und die Flasche, die er dem Opfer zuvor in die Vagina gestoßen hatte, von oben aus der Wunde gezogen (Blatt 12 der Akte, Foto 5). Daraufhin habe er die Wunde des noch immer lebenden Opfers mit 70 Zentimetern verzinktem Eisendraht der Stärke 0,22 verschlossen, indem er das Nähen einer Wunde imitierte.

Weiter geht aus den Akten der Staatsanwaltschaft hervor (Blatt 13 und 14, Vermerk über Festnahme), dass Herr R. sich widerstandslos festnehmen ließ, nachdem eine weitere Nachbarin aufgrund der erstickten Schreie des Opfers die Polizei gerufen hatte. Auf Fragen der Beamten antwortete er nicht.

Eine nachfolgende Untersuchung der Blutalkoholkonzentration durch das Institut für Rechtsmedizin ergab 0,0 Promille zum Tatzeitpunkt (Blatt 52).

Herr R. ist in der Vergangenheit niemals strafrechtlich in Erscheinung getreten.

Regina trank einen Schluck Kaffee, um den Ekel hinunterzuspülen. Die nüchterne Beschreibung der Gräueltat war beinahe schlimmer als die Fotos. Sie blätterte weiter zur Biografie.

Herr R. gibt an, am 23. Juli 1966 in Hamburg geboren zu sein. Er habe keine Geschwister. Die Mutter sei Hausfrau gewesen, der 1985 verstorbene Vater Bauunternehmer. Allerdings habe der Vater sich durch Alkohol zugrunde gerichtet. Immerhin habe sein Vater der Mutter eine anständige Witwenrente hinterlassen, sodass er sein Studium der Ingenieurswissenschaften erfolgreich habe beenden können. Er habe in diesem Beruf immer gearbeitet, sei von 1995 bis 2013 im Ausland tätig gewesen, aktuell bei der Hamburger Firma Wiesener. Näheren Fragen zu seinen Auslandstätigkeiten weicht der Proband aus. Aus der Akte der Staatsanwaltschaft (Blatt 67) geht hervor, dass der Beschuldigte über viele Jahre bei verschiedenen Firmen vorwiegend in Afrika (Kenia, Namibia, Sudan) als Ingenieur tätig war.

In Afrika? Beinahe hätte Regina ihre Kaffeetasse fallen gelassen. Er war in Afrika gewesen? Ob es ein Zufall war, dass Röschs Opfer eine Schwarze war? Dieser Tatsache hatte sie zunächst keine Bedeutung beigemessen, ja, sie hatte es auf den Bildern nicht einmal richtig wahrgenommen. Sie hatte nur ein grausam verstümmeltes Opfer gesehen.

Zu seiner Krankengeschichte befragt, berichtet Herr R., dass er bislang niemals in psychiatrischer Behandlung war. Er sei immer gesund gewesen.

Immer gesund gewesen, soso … Regina trank noch einen Schluck Kaffee.

Zu den ihm aktuell vorgeworfenen Straftatbeständen berichtet Herr R., dass er dazu nichts sagen werde. Gott wisse schon, warum er es getan habe. Auf die Frage, ob er gläubig sei, wiederholt er mit einem Lächeln, Gott wisse alles. Ob er die Stimme Gottes in seinem Kopf höre? Ja, er höre Gottes Stimme in seinem Kopf. Er sei auserwählt, im Namen Gottes zu handeln. Es sei eine gerechte Tat gewesen.

Noch während sie las, schüttelte Regina den Kopf. Wie konnte ein Gutachter eine solche Suggestivfrage stellen? Sie warf einen Blick auf seinen Namen. Dr. Heideler, ein niedergelassener Psychiater, der früher jahrelang im Maßregelvollzug gearbeitet hatte. Kein Anfänger. Dann blätterte sie weiter bis zum psychopathologischen Befund.

Herr R. präsentierte sich in sehr gepflegtem Erscheinungsbild. Die gestellten Fragen beantwortete er knapp, oftmals verweigerte er die Antworten. Herr R. war in allen Qualitäten vollständig orientiert. Der formale Gedankengang war geordnet, ebenso die Denkinhalte. Zum Zeitpunkt der Exploration lag kein paranoid-halluzinatorisches Erleben vor, allerdings erschien die Stimmung leicht parathym und dem Ernst der Situation nicht angemessen. So zeigte sich im Gespräch keinerlei Besorgnis oder Betroffenheit hinsichtlich des ihm zur Last gelegten Deliktes. Zeitweilig lachte der Patient an unpassender Stelle.

Parathym, genau, das könnte passen. Dieses verdammte spöttische Lächeln, mit dem er sie und Mark provoziert hatte. Aber reichte das allein für die Diagnose einer Schizophrenie aus? Gewiss, er hatte von Stimmen gesprochen, von Gott, der in seiner Seele sprach. Aber war das wirklich so? Oder hatte ihn erst die Suggestivfrage des Gutachters auf diese Idee gebracht? Sie überflog rasch die abschließende Beurteilung.

In diagnostischer Hinsicht lassen sich die erhobenen Befunde am ehesten unter der Diagnose einer paranoiden Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis (ICD-10: F20.0) zusammenfassen.

Um mit Sicherheit von einer Schizophrenie ausgehen zu können, muss mindestens eines der vier Hauptkriterien derICD-10 erfüllt sein. Bei Herrn R. werden zwei Hauptkriterien erfüllt:

1) kommentierende oder dialogische Stimmen, die über die Patienten reden, oder andere Stimmen – im Fall des Patienten die Stimme Gottes

2) anhaltender, kulturell unangemessener, bizarrer Wahn, wie der, das Wetter kontrollieren zu können oder mit Außerirdischen in Verbindung zu stehen – im Fall des Patienten der Wahn, mit Gott in Kontakt zu stehen

Na wunderbar, dachte Regina. Das ist wirklich ein bisschen dürftig, vor allem, wenn man ihm vorher selbst noch den Wink gibt.

Vermutlich hat die Rückkehr nach Deutschland nach langjährigem beruflichen Auslandsaufenthalt dazu geführt, dass die latente, womöglich bereits seit Jahren schlummernde Schizophrenie ausbrach und sich in einem plötzlichen Gewaltexzess gegen die afrikanische Nachbarin entlud.

Gut, es könnte so gewesen sein. Es kam häufiger vor, dass emotionaler Stress zum Ausbruch einer bis dahin latenten Schizophrenie führte. Bemerkenswert war nur, dass diese Erkrankung bislang niemandem aufgefallen war. Er schien bei seiner Arbeit keine Fehlzeiten gehabt zu haben, galt als zuverlässig und kompetent. War der Mord wirklich die Erstmanifestation? Regina dachte an die Erkrankten zurück, die sie kannte. Die meisten waren bereits Wochen vor Ausbruch der Erkrankung durch Unpünktlichkeit und Denkstörungen auffällig geworden. Viele verloren deshalb ihren Arbeitsplatz. Aber derartige Gewaltexzesse waren eine seltene Ausnahme.

Sie klappte die Akte zu. Es brachte nichts, sich weiteren Spekulationen hinzugeben. Sie musste sich selbst ein Bild verschaffen und Rösch untersuchen.

Bevor sie ihr Büro verließ, überprüfte sie den Sitz ihres Sicherheitspiepers. Jeder Mitarbeiter des Maßregelvollzugs trug solch ein kleines Gerät am Körper. Im Notfall konnte ein Knopf gedrückt und Alarm ausgelöst werden. Vermutlich gab es in ganz Hamburg keinen sichereren Arbeitsplatz. Bei dem Gedanken daran lächelte Regina in sich hinein. Wie sehr sich ihr Leben doch verändert hatte, seit sie dem Sudan den Rücken gekehrt hatte!

Einer der Pfleger begleitete sie und blieb vor der Tür stehen, während sie mit Rösch in der Eins sprach. Für die Untersuchung hatte sie ihren weißen Kittel angezogen, der sonst im Schrank ihres Büros hing und in dessen Taschen ihr Reflexhammer und das Stethoskop steckten.

Rösch hatte sich lang auf der unbequemen Pritsche ausgestreckt. Bei ihrem Eintreten richtete er sich auf und empfing sie in sitzender Haltung. Die schmale Pritsche war so hoch, dass seine Füße den Boden nicht berührten, obwohl er bestimmt eins achtzig groß war.

»Frau Doktor Bogner, wie schön!« Wieder dieses spöttische Lächeln. »Kommen Sie, um mich zu untersuchen?«

»Ihr Scharfsinn ist bewundernswert«, entfuhr es Regina, und sofort ärgerte sie sich. Es war nicht professionell, auf Provokationen mit Ironie zu reagieren. Aber dieser Mann schaffte es irgendwie, sie zu reizen. Bei den meisten Patienten konnte sie im täglichen Umgang ausblenden, aus welchen Gründen sie hier waren. Manche von ihnen konnten durchaus nett sein, vor allem wenn die Behandlung anschlug und die Kranken sich ihrer Taten bewusst wurden. Sie hatte es schon einige Male erlebt, dass jemand von Reue geplagt in schwere Depressionen verfallen war. Bei Rösch war es anders. Diese Überlegenheit, diese verdammte Selbstsicherheit, die er ausstrahlte, machten sie wütend. Oder ob das tatsächlich Ausdruck seines Wahns war? Lebte er in der Gewissheit, von höheren Mächten beschützt zu werden?

»Soll ich mich ausziehen?«, fragte er mit Blick auf das Stethoskop, das aus ihrer Kitteltasche heraushing.

»Die Unterhose können Sie anbehalten.«

»Dann wird das aber keine sorgfältige Untersuchung.« Schon wieder dieses Grinsen.

»Das überlassen Sie mir. Das ist mein Job.«

»Ich dachte, Sie sind eher für den Kopf zuständig.« Er zog sein T-Shirt aus, warf es achtlos auf die Pritsche. Dann stand er auf, öffnete den Gürtel der Jeans und ließ sie einfach zu Boden fallen. Darunter kamen hellblaue Boxershorts zum Vorschein.

»Vom Rest verstehe ich auch etwas«, erwiderte Regina ungerührt.

»Ganz sicher. Sie sind ja eine Frau Doktor.«

Einen Moment lang bedauerte Regina es, dass sie ihr Stethoskop vor Gebrauch nicht in den Eisschrank gelegt hatte. Ihr Blick fiel auf eine lange Narbe, die sich oberhalb des Nabels quer über Röschs Leib zog. Sie musste schon viele Jahre alt sein, war fast verblasst. An manchen Stellen waren jedoch noch kleine Pigmentveränderungen zu sehen, die von den Nadelstichen zeugten, mit denen die Wunde einst genäht worden war.

»Woher stammt die Narbe?«, fragte sie.

»Ein Verkehrsunfall.«

»Wie lange liegt der zurück?«

Er hob die Schultern. »Mehr als zwanzig Jahre. Ist das wichtig?«

»Wenn Sie damit keine Beschwerden mehr haben, nicht.«

»Keine Beschwerden.« Wieder dieses Lächeln. War das wirklich Spott? Oder begriff er einfach nicht, wie sein Verhalten auf sie wirkte? War es einfach nur ein läppisches Grinsen, in das sie zu viel hineininterpretiert hatte? Aber dafür erschien ihr der Mann zu kontrolliert. Er blieb ihr ein Rätsel.

Sie nahm das Stethoskop. Röschs Herztöne waren rein, und auch die Lunge zeugte von einem gesunden Mann von Ende vierzig.

»Legen Sie sich bitte hin!«, verlangte sie. Er folgte der Aufforderung ohne Widerspruch.

»Kommt jetzt das Hämmerchen zum Einsatz?« Natürlich grinste er bei dieser Frage wieder. Regina überhörte die Bemerkung und klopfte die Reflexe ab. Alles bestens.

»Das war’s. Sie können sich wieder anziehen.«

»So schnell? Und was ist mit meinem Kopf?«

»Dafür gibt es Pillen.«

»Tatsächlich?«

»Sind Sie bereit, Medikamente einzunehmen?« Sie sah ihm mit ernstem Blick in die Augen, rechnete schon mit einer Ablehnung.

»Kommt darauf an. Zeigen Sie mir vorher den Beipackzettel?«

»Selbstverständlich.«

»Und glauben Sie, dass es hilft?«

»Glauben Sie, dass Sie krank sind?«

Rösch lachte. »Eine solche Frage aus Ihrem Mund, Frau Doktor? Was glauben Sie? Bin ich krank?«

»Nun, wenn Sie gesund wären, wären Sie nicht hier, sondern im Knast.«

Rösch streifte sich das T-Shirt über und zog die Hose wieder an. Während er den Gürtel schloss, sah er Regina unverwandt in die Augen.

»Groß ist der Unterschied nicht«, sagte er. »Zum Knast, meine ich.«

»Nun, falls Sie geglaubt haben, der psychiatrische Maßregelvollzug sei wie die Allgemeinpsychiatrie, haben Sie sich geirrt. Hier herrschen die gleichen Regeln wie im Knast, der gleiche Sicherheitsstandard. Vielleicht ist sogar alles ein bisschen strenger.« Noch während sie redete, ärgerte sie sich über sich selbst. Warum um alles in der Welt konnte sie nicht einfach stoisch den Mund halten und den Typen reden lassen? Warum reagierte sie nur so allergisch auf ihn? Und nicht nur sie. Auch Mark hatte ungewöhnlich gereizt auf ihn reagiert, obwohl der Oberarzt sonst die Ruhe selbst war. Sie hatte noch nie zuvor beobachtet, dass Mark vor Ärger die Fäuste geballt hätte.

»Natürlich«, bestätigte Rösch. »Haben Sie Angst vor mir?«

»Ich habe keinen Grund dazu«, erwiderte Regina.

»Sind Sie sicher?«

»Ganz sicher. Der Pfleger wird Ihnen den Beipackzettel für die Tabletten bringen. Und morgen unterhalten wir uns weiter.«

»Ich freue mich darauf, Frau Doktor.«

Reginas Faust ballte sich in der Kitteltasche.

3

Als Regina an diesem Abend nach Hause kam, hörte sie aus dem Wohnzimmer das Lachen ihrer siebzehnjährigen Tochter. Anscheinend hatte Anabel Besuch. Regina zog die Schuhe aus, hängte ihre Jacke im Flur auf, warf den Rucksack in die Ecke und ging ins Wohnzimmer, um zu sehen, wer der Gast war.

»Florence!«, rief sie erfreut. »Ich dachte, du bist noch in Ghana.«

»Nein, schon seit gestern wieder zurück.« Die Afrikanerin zeigte beim Lächeln ihre makellosen Zähne. »Mit neuen Waren und neuen Geschichten.«

»Neue Geschichten, soso.« Regina lächelte. Florence Aminata war seit drei Jahren ihre beste Freundin. Eine Frau mit einem goldenen Herzen und einer unermüdlichen Zunge. Sie hatten sich kennengelernt, als Regina mit Anabel aus dem Sudan zurückgekehrt war. Anfangs hatte Regina Sorge gehabt, ob Anabel sich in Hamburg wohlfühlen würde. Dank Florence hatte sich das Mädchen jedoch rasch eingewöhnt und war Stammkundin in deren Afroshop. Aus ganz praktischen Gründen, denn Anabel hatte die dunkle Hautfarbe ihres Vaters geerbt, und das stellte sie beim Kauf von Kosmetika in Deutschland vor ungeahnte Schwierigkeiten. Aber Florence führte in ihrem Shop eine Menge afrikanischer Make-ups und Puder, die für Anabels kaffeebraune Haut geeignet waren.

Bei der Erinnerung daran seufzte Regina. Sie hatte Afrika nur ungern den Rücken gekehrt, aber es war nicht anders möglich gewesen.

»Sag, stimmt es, was man sich so erzählt?« Florence sah Regina neugierig an. Regina setzte sich zu Anabel aufs Sofa.

»Was meinst du?«

»Dass der Mörder von Akosua Nkrumah bei euch gelandet ist.«

Regina horchte auf. Florence hatte das Opfer gekannt? Wieso hatte sie nie etwas davon erzählt? Regina selbst konnte sich an die Berichterstattung über den grausigen Mordfall in den Medien kaum noch erinnern.

»Falls es so wäre, habe ich Schweigepflicht«, wich sie aus. »Du kanntest sie?«

»Nein, aber heute früh, als ich den Laden öffnete, hat mir Shelly erzählt, dass sie den Schwager von Akosuas Bruder kennt. Und der hätte ihr das erzählt. Akosuas Bruder meint, der Kerl hätte verdammtes Glück, dass er weggesperrt ist, sonst würde er mit ihm das Gleiche machen, was er mit seiner Schwester gemacht hat.«

Regina seufzte. Die Community war besser vernetzt, als sie vermutet hatte. So gut, dass sie ihre Arbeit an diesem Abend nicht einmal zu Hause vergessen konnte.

»Und was hat er mit Akosua gemacht?«, fragte Anabel neugierig.

»Das willst du gar nicht wissen«, erwiderte Regina.

»Doch, will ich.«

Regina sah Florence an. »Hat dir der Buschfunk das auch verraten?«

»Er soll ihr den Bauch aufgeschlitzt haben«, sagte Florence ausweichend.

»Und warum hat er das getan?«, fragte Anabel erstaunlich gelassen. »Wollte er einfach mal sehen, wie eine Frau von innen aussieht?« Regina seufzte kaum hörbar. Sie hatte keine Ahnung, ob Anabel wirklich an dem Fall interessiert war oder ob sie einfach nur cool wirken wollte, um die Mutter zu beeindrucken. Wollte sie ihr zeigen, dass sie alles ertragen konnte? Dass ihr die Erinnerungen an damals nichts mehr ausmachten?

Ach was!, wischte Regina den Gedanken weg. Ich sollte damit aufhören, zu viel in Anabels Worte hineinzuinterpretieren.

Doch ihr schlechtes Gewissen konnte sie nicht abschalten. Anabel hatte in ihrem jungen Leben mehr gesehen, als für ein Kind ihres damaligen Alters gut war.

»Weil er verrückt ist«, erklärte Florence. Regina war froh, dass ihre Freundin sie der Antwort enthob. Zumindest so lange, bis Florence fortfuhr. »Das kann deine Mutter dir bestimmt viel besser erklären. Sag mal, Regina, warum musst du eigentlich immer mit solchen Typen arbeiten?«

»Ihr tut ja so, als wüsstet ihr ganz genau, wer gerade bei mir zu Gast ist.«

»Steht doch in der Zeitung«, meinte Florence. »Er wurde vorgestern verurteilt und soll in die Psychiatrie überstellt werden.«

»In den Maßregelvollzug«, verbesserte Regina. Sie hasste es, wenn die forensische Psychiatrie in der Presse stets mit der Allgemeinpsychiatrie gleichgestellt wurde. Wie oft hatte sie schon zu erklären versucht, dass es unter psychisch Kranken nicht mehr Straftäter gab als unter Gesunden. Aber die Bevölkerung schien lieber an die gemeingefährlichen Irren glauben zu wollen. Und Typen wie Rösch passten natürlich genau ins Beuteschema der Presse.

Glücklicherweise war das Thema um den Mord an Akosua damit erledigt. Florence beschränkte sich darauf, Geschichten von ihren Verwandten in Ghana zu erzählen und eine Ledertasche aus hellbraunem Leder auf den Tisch zu stellen, die einen eigentümlichen Geruch verströmte. Den Geruch von afrikanischem Leder.

»Hier, die habe ich dir mitgebracht, Regina. Anabel hat auch so eine Tasche bekommen.«

»Vielen Dank.« Regina nahm das Stück in die Hand, betrachtete kurz die Muster, die in das Leder gepunzt waren, öffnete die Schnalle und blickte hinein. Der Geruch des Leders war wirklich durchdringend. Beinahe schon unangenehm.

»Sieh dir die Schnörkel in den Mustern genauer an!«, forderte Florence Regina mit leuchtenden Augen auf. Sie tat es. Die Schnörkel waren Buchstaben. Regina stand dort zwischen Blütenranken.

Oh Gott, wie kitschig! durchzuckte es Regina.

»Das ist toll, nicht wahr? Bei mir steht Anabel.« Anabel hob ihre Tasche mit leuchtenden Augen vom Boden auf und stellte sie neben die ihrer Mutter.

»Ja, das ist wirklich toll«, wiederholte Regina hastig und ärgerte sich, dass sie nicht erfreuter wirken konnte. Aber sie wusste genau, dass sie diese streng riechende Tasche niemals benutzen würde. Nun ja, Florence’ gute Absicht zählte, und Anabel schien im Gegensatz zu ihr mit dem Geschenk wirklich glücklich zu sein.

»Vielen Dank, Florence!«, rief sie mit übertriebener Begeisterung. »Du machst dir jedes Mal so viele Gedanken, was du uns Schönes mitbringen kannst.«

»Wie heißt es in Deutschland so schön?« Florence zeigte wieder ihr breites Lächeln. Die gespielte Freude hatte also ihren Zweck erfüllt. »Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft.«

Sie sprachen an diesem Abend noch über einiges, auch darüber, dass Anabel die bevorstehenden Sommerferien gern mit ihrem Freund Michael in Südfrankreich verbringen wollte.

»Seine Eltern besitzen dort seit ein paar Monaten ein Ferienhaus«, erzählte sie aufgeregt. »Und sie haben nichts dagegen, wenn Michael und ich dort die Ferien mit ihnen verbringen. Außerdem kann ich mein Französisch verbessern. Du erlaubst es doch, oder?« Ein Dackel hätte nicht treuherziger blicken können als Anabel.

»Seine Eltern fahren mit?«

»Natürlich«, bestätigte Anabel. »Obwohl wir auch allein fahren könnten. Michael hat letzte Woche seinen Führerschein gemacht.«

»Und wie ich seine Eltern kenne, sofort ein eigenes Auto bekommen?«

»Nein, er arbeitet noch dran.« Anabel lächelte.

»Von mir aus gern«, antwortete Regina. Sie kannte Michael und seine Eltern seit einem Jahr. Fast so lange, wie Anabel und der Anwaltssohn ein Paar waren. Das erste Treffen zwischen den Eltern war etwas unterkühlt gewesen. Anabels Hautfarbe hatte Michaels Eltern zunächst mit Skepsis erfüllt. Vermutlich fürchteten sie wollhaarige Enkelkinder, hatte Regina damals mit leichter Bitterkeit gedacht. Doch die Vorurteile waren verflogen, nachdem man sich besser kennengelernt hatte. Michaels Eltern waren durchaus aufgeschlossen, und Anabel gelang es ohnehin recht schnell, Menschen für sich zu gewinnen. Inzwischen gehörte sie fast zu Michaels Familie. Und gegen einen Urlaub in Südfrankreich war nichts einzuwenden. Es würde tatsächlich Anabels Sprachtalent zugutekommen, eine weitere Sprache zu perfektionieren. Neben Deutsch hatte sie schon in früher Kindheit Englisch und Arabisch gelernt, die beiden Amtssprachen des Sudans. Und von ihrem Vater die Sprache der Dinka. Ihr Vater … Es tat immer noch weh, an ihn zu denken.

»Mum?« Anabel berührte ihre Mutter am Arm. »Woran denkst du?«

»Nichts weiter. Ich dachte nur mit leichter Wehmut daran, dass mein kleines Mädchen erwachsen wird und zum ersten Mal ohne mich für lange Zeit verreisen wird.«

Anabel lachte. »Aber du musst nicht befürchten, dass ich dich vergessen werde. Es sind nur knapp sechs Wochen.«

»Manchmal können sechs Wochen länger sein als ein ganzes Leben«, erwiderte Regina. Als Anabel sie verwundert ansah, winkte sie ab.

»Das war nur so dahergesagt. Ich freue mich sehr, dass Michaels Eltern euch diese Ferien ermöglichen.«

4

»Was hast du gestern mit dem Mann angestellt?« Mark musterte Regina mit gespieltem Erstaunen, während sie vor den Patientenkurven saßen, um alles für die bevorstehende Chefarztvisite vorzubereiten.

»Mit welchem Mann?«

»Mit wem wohl? Mit Rösch. Er ist bereit, Medikamente zu nehmen. Ohne jedes Wenn und Aber. Ich habe ihm gleich zwei Milligramm Risperidon aufgeschrieben.«

»Dann hat er den Beipackzettel gelesen?«

»Keine Ahnung. Er sagte nur, er sei einverstanden. Damit hätte ich nicht gerechnet. Gestern hatte ich noch den Eindruck, ein Arschloch vor mir zu haben.«

»Ich wusste gar nicht, dass Risperidon auch gegen Arschlöcher hilft.«

»Wollen wir eine Studie darüber in Auftrag geben?« Er grinste sie breit an. »Einen Doppel-Blind-Versuch? Zehn Arschlöcher kriegen Risperidon und zehn Arschlöcher ein Placebo.«

»Nur wenn Proser auch auf der Probandenliste steht.« Regina erwiderte Marks Grinsen.

»Nein, den sparen wir uns auf und warten, ob es wirklich hilft.«

»Der Chefarzt kommt!«, hörten sie einen der Pfleger rufen. Kurz darauf war das Schließen der schweren Stationstür zu hören und stramme Schritte, die sich zielstrebig dem Stationszimmer näherten.

»Guten Morgen.« Dr. Löhner, der Chefarzt des Maßregelvollzugs, betrat den Raum. Er war ein hochgewachsener Mann, Hanseat durch und durch, der nur knapp die Zwei-Meter-Marke unterschritt. Wie immer trug er einen dunkelblauen Anzug, ein blütenweißes Hemd und eine königsblaue Krawatte. Seine schwarzen Schuhe waren makellos geputzt und glänzten. Mit eleganter Bewegung zog er sich einen Stuhl heran und nahm am Tisch Platz. Einer der Pfleger schenkte ihm eine Tasse Kaffee ein.

»Ist auch Zucker da?«, fragte der Chef. Der Pfleger nickte und reichte ihm die Zuckerdose. Dr. Löhner schaufelte sich drei Teelöffel in den Kaffee und rührte ihn dann genüsslich um. Regina fragte sich jedes Mal, ob der Zuckergehalt irgendwann so hoch wäre, dass der Löffel nach dem Umrühren gerade stehen blieb.

»Der Neue zuerst?«, fragte Mark. Löhner nickte.

Mark fasste kurz die Aufnahmeuntersuchung und die wichtigsten Daten zusammen.

»Ich habe ihm Risperidon angesetzt«, schloss er den Bericht.

»Sehr gut«, lobte Löhner. »Ja, das ist ein wirklich interessanter Fall. Jahrelanger Auslandsaufenthalt, latente Schizophrenie, und irgendetwas hat sie bei seiner Rückkehr ausgelöst.« Er schlürfte seinen Kaffee, schien ihn regelrecht zu kauen, als nähme er an einer Weinprobe teil.

»Interessant und ungewöhnlich«, bemerkte Regina. »Eigentlich passt ein solches Tatszenario eher zu einem Menschen mit einer sadistischen Persönlichkeitsstörung.«

»Nun, in diesem Fall ist die Diagnose glücklicherweise klar.« Löhner kaute einen weiteren Schluck Kaffee. Regina glaubte fast, die Zuckerkörnchen zwischen seinen Zähnen knirschen zu hören.

»Der Mann ist schizophren und glaubt, die Stimme Gottes habe ihm sein Handeln befohlen«, fuhr Löhner fort, nachdem er geschluckt hatte. »Gut, dass er sich so bereitwillig einer medikamentösen Therapie unterzieht.«

»Irgendetwas an ihm kam mir gestern seltsam vor«, warf Regina vorsichtig ein.

»So?« Löhner zog die rechte Augenbraue hoch. »Was kam Ihnen denn seltsam vor?«

»Er hatte nicht die typische Aura eines Schizophrenen.«

»Die Aura gehört in den Bereich der Esoterik oder fernöstlicher Religionen. Nicht in den Bereich, mit dem wir uns hier zu befassen haben. Für uns zählen nur Fakten. Fakten, die sich mit der ICD-10 kodieren lassen.«

»Dennoch spielt das Gefühl eine wichtige Rolle«, widersprach Regina. »Übertragung und Gegenübertragung sind unser Handwerkszeug. Mehr als die Listen eines Diagnoseleitwerks.« Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Mark die Augen verdrehte. Er hasste es, wenn sie mit dem Chef Grundsatzdiskussionen führte.

»Wenn Sie sich der Psychoanalyse verschreiben wollen, vielleicht. Aber nicht, wenn es um Fakten geht. Der Mann hat eine Schizophrenie, das Gutachten ist eindeutig.«

»Wir können darüber weiter diskutieren, sobald wir ihn in der Visite gesehen haben«, fuhr Mark schnell dazwischen. »Dann geht es weiter mit Herrn Bolling, der hat gestern …«

Die Vorbesprechung zog sich über zwei Stunden hin. Löhner hatte die Angewohnheit, jede einzelne Medikation zu überprüfen und sich über jedes Milligramm Rechenschaft ablegen zu lassen. Auch das war eine Eigenheit, die Regina noch nirgends sonst erlebt hatte. Gewöhnlich delegierten Chefärzte alles an die Oberärzte und die wiederum einen Großteil an die Stationsärzte. Aber Mark musste Löhner wie ein Berufsanfänger Rede und Antwort stehen. Und er war viel zu gutmütig, um ihm auf die gleiche Art wie Regina Paroli zu bieten. Vielleicht auch nur zu gleichgültig, weil er wusste, dass es ohnehin nichts brachte.

Als sie endlich aufstanden, um die Visite zu beginnen, spürte Regina, wie ihre Kniegelenke knackten. Ich werde langsam alt, dachte sie bei sich. Obwohl vierundvierzig eigentlich noch kein Alter war.

Während der Visite hatten die Patienten sich in ihren Zimmern aufzuhalten und auf die Ankunft des Chefarztes und seines Gefolges zu warten. Löhner schritt machtvoll voraus, fuhr sich einmal kurz mit der Hand über die hellblonden Haare, eine Geste, die der Visite stets vorausging.

Als Erstes suchten sie die Eins auf. Die Pfleger schlossen die beiden gesicherten Türen auf, und Löhner trat ein, dicht gefolgt von Mark und Regina.

Rösch hatte am Abend ein Kissen und eine Bettdecke erhalten, sodass die schmale Pritsche jetzt tatsächlich an ein Bett erinnerte, auch wenn es verdammt unbequem sein musste, darauf zu schlafen. Die Decke und das Kissen waren ordentlich zusammengelegt. Rösch saß auf dem Rand der Pritsche und stand auf, als der Chefarzt eintrat.

»Herr Rösch?« Löhner hielt ihm die Hand hin. Rösch ergriff sie.

»So ist es. Und Sie sind?«

»Doktor Löhner, der Chefarzt.«

Rösch ließ die Hand los. »Wissen Sie, dass es drei Arten von Chefs gibt?«, fragte er. Natürlich wieder mit diesem Lächeln, das Regina nach wie vor nicht zu deuten wusste.

»Es gibt die Chefs, die ihre Autorität aus ihrem Auftreten ziehen. Man kann sie meist nicht an der Kleidung von ihren Untergebenen unterscheiden, aber das ist auch nicht nötig. Ein Blick genügt.« Er hielt kurz inne. Niemand sagte etwas. »Dann«, fuhr er fort, »gibt es die jovialen Chefs, die sich kleiden, als wären sie aus der Mülltonne gesprungen, oder die selbst gestrickte Pullis tragen. Die erkennt man auch auf den ersten Blick, denn bei einem Untergebenen ließe niemand diesen Stil durchgehen.« Wieder eine Pause. Wieder Schweigen. Regina beobachtete während der ganzen Zeit das Gesicht des Chefarztes. Die Maske saß perfekt.

»Sie hingegen – Sie gehören zur dritten Kategorie. Die eigene Unsicherheit wird hinter einem Anzug versteckt. Niemand spräche einem Anzugträger mit blütenweißem Hemd und Krawatte die Autorität ab, nicht wahr?«

Einen Moment lang zuckten Löhners Wangenmuskeln, als beiße er die Zähne hart aufeinander.

»Sehr interessant«, sagte er schließlich.

»Nicht wahr?« Röschs Lächeln verbreiterte sich. »Kennen Sie den Spruch: Zieh einem Neger einen Anzug an, und er wird stolz wie ein ganzer Stamm nackte Neger?«

Irgendwo war ein Glucksen zu hören. Es war einer der beiden Pfleger.

»Ah ja, ich erinnere mich, Sie waren in Afrika. Haben Sie dort Ihre Erfahrungen gesammelt?«, fragte Löhner ungerührt.

»Stolpern Sie etwa gar nicht über meine politisch unkorrekte Bezeichnung unserer maximalpigmentierten Mitbürger?« Rösch musterte Löhner mit lauerndem Blick.

»Interessant. Sehr interessant«, erwiderte der Chefarzt mit unbewegter Miene, um sofort das Thema zu wechseln. »Wie ich hörte, nehmen Sie Risperidon. Das ist eine gute Entscheidung.«

»Wenn Sie meinen, dass es hilft.«

Allmählich fragte sich Regina, ob Rösch von diesem albernen Grinsen nicht bald einen Krampf im Mund bekam.

»Da bin ich mir ganz sicher«, erklärte der Chefarzt. »Auf Wiedersehen.« Sie verließen die Zelle.

»Nun?«, fragte Regina, nachdem sie wieder draußen waren und die Pfleger die beiden Sicherheitstüren geschlossen hatten. »Was halten Sie von ihm?«

»Eindeutig schizophren.«

»Aber er hat doch keinerlei typische Symptome gezeigt. Woran machen Sie Ihre Meinung fest?«

»Glauben Sie, ein Gesunder würde sich so auf der Chefarztvisite präsentieren?«

»Die Alternative ist nicht gesund versus krank. Die Frage lautet vielmehr, ob es tatsächlich eine Schizophrenie ist«, widersprach Regina. »Sein Verhalten könnte ebenso gut zu einer Persönlichkeitsstörung passen.«

Löhner zog die rechte Augenbraue hoch und musterte Regina, als wäre er ein Lehrer und sie das vorlaute Kind.

»Die Kriterien sind eindeutig. Wollen Sie nach einem so kurzen Eindruck das Gutachten eines erfahrenen Kollegen in Zweifel ziehen?«

»Nein, ich wollte es nur diskutieren, denn …«