Gespalten - Carsten Steiner - E-Book

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Carsten Steiner

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Beschreibung

Der junge Christoph Grimm führt ein trostloses und langweiliges Leben. Da kommt ihm die Mitteilung recht, dass sein Vater ihm neben einer beachtlichen Summe Geldes auch ein Mietshaus in bester Lage überschreibt, samt eigener Luxuswohnung. Die anfängliche Begeisterung weicht jedoch schnell der Erkenntnis, dass sein neues Domizil ein Eigenleben führt. Geräusche, Schatten und ein geheimes Zimmer, von dem aus er Einblicke in das Haus, in die Wohnungen seiner Mieter erhält, die er so gar nicht erhalten will. Jeder Tag bringt neue unangenehme Überraschungen und Geheimnisse und als er schließlich das Haus verlassen will, ist es zu spät...

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Seitenzahl: 368

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Carsten Steiner

Gespalten

© 2018 Carsten Steiner

Autor: Carsten Steiner

Umschlaggestaltung, Illustration: Melissa Steiner, Lucius von Berlepsch

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

978-3-7482-0055-0 (Paperback)

978-3-7482-0056-7 (Hardcover)

978-3-7482-0057-4 (e-Book)

Verlag & Druck: tredition GmbH, Hamburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

„Du schaust umher und siehst nicht, wo du stehst im Üblen,

Nicht, wo du wohnst, und nicht, mit wem du lebst –

'Weißt du, von wem du bist?“

– Sophokles: König Ödipus

15.Dezember

Der Anruf

Der Anruf kam an einem späten Mittwochabend. Ich sah Fernsehen, trank Dosenbier und fragte mich warum die tollen Typen in den Filmen nicht nur die schönsten Frauen abbekamen, sondern obendrein fast immer auch Multimillionäre waren.

Ich ließ das Telefon klingeln.

Niemand rief am späten Mittwochabend an, mich sowieso nicht. Der Anrufer ließ nicht locker.

Nach ewigen Klingeln stolperte ich leicht angetrunken zum Telefon hin.

„Spreche ich mit Herrn Christoph Grimm?“

Eine dunkle, fast furchteinflößende Stimme.

„Wer spricht?“, kam meine Antwort leicht lallend.

„Sind sie Herr Christoph Grimm?“

„Ja“, antwortete ich gedehnt.

„Wir müssen einen Termin machen.“

„Einen Termin?“

„Mein Name ist Schwarz. Notariat Schwarz und Partner.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause, als wartete er auf Beifall.

„Ihr Vater“, fuhr er fort, „hat meine Kanzlei beauftragt, mich mit ihnen in Verbindung zu setzten. Es geht um das Objekt an der Hafenkante.“

„Hafenkante?“

„Das Mehrfamilienhaus ihres Vaters. Hafenkante sieben.“

Er machte eine kurze Pause. „Haben sie eine E-Mail-Adresse für mich? Sie erhalten dann alle notwendigen Unterlagen schon einmal zur Ansicht.“

Ich verstand nichts.

Er schien meine Gedanken zu erraten.

„Kommen sie Morgen ab acht Uhr in der Früh. Bringen sie ihren Personalausweis und vor allem Zeit mit.“

Widerstandslos nannte ich sie ihm. Das Bier zeigte seine Wirkung.

„Danke“, antwortete mir die dunkle Stimme am anderen Ende der Leitung. „Ich werde sie umfassend informieren. Versprochen.“

16.Dezember

Morgens

Ich hasse U-Bahnfahren.

Ich hasse Busfahren.

Aber mein eigener Wagen war bereits seit zwei Jahren abgemeldet, mit fehlte schlicht das Geld für die Haftpflichtversicherung. Mir gegenüber saßen zwei nach undefinierbaren Ausdünstungen riechende Männer unbestimmten Alters, neben mir plapperte eine junge Frau sinnloses Zeug in ihr Handy. Mein Kopf schmerzte, nach dem Notaranruf waren der Inhalt von zwei weiteren Flaschen Bier durch meine Kehle geflossen und heute Morgen stellte ich zu meinem Leidwesen fest, dass es in meiner trostlosen Wohnung nicht einmal eine Alka-Seltzer gab.

Auf dem Fenster verkündete ein Aufkleber das ewige Himmelreich, wenn die Sünder nur bereuen würden. Ein Mann, hochgewachsen und mit starrem Gesichtsausdruck, in der Mitte des Waggons stehend, sah zu mir hinüber. Mich beschlich das Gefühl ihn irgendwo bereits einmal gesehen zu haben.

Er war im Gesicht tätowiert, schmale, engsitzende Augen. Kurze, schwarze Haare. Kein sympathischer Eindruck. Woher kannte ich ihn?

Ich warf einen Blick nach draußen, suchte in meinem Hirn nach einer Verbindung zu diesem Mann. Als ich ihn ein zweites Mal in Augenschein nehmen wollte, war er verschwunden.

Im ganzen Wagen war nichts von ihm zu erblicken.

Merkwürdig dachte ich, schob den Vorfall aber auf meine Übermüdung, um ihn sofort zu vergessen.

Vom Bahnhof aus waren es zwanzig Minuten zu Fuß. Die Kanzlei. Ein beeindruckender Bunker, groß, protzig, viel Glas und Stahl.

Dann saß ich vor dem Notar. Ich kam mir vor wie ein Bittsteller.

Als mein Vater seine erste Million machte, von der er rückblickend träumerisch erzählte,

„…es sei die schwerste gewesen…“legte er einen nicht geringen Teil dieses Geldes in einem Haus an. Nein, nicht irgendwo im Grünen, auch keine Stadtvilla, nein, es war gleich ein ganzes Mehrfamilienhaus.

Mitten in der Stadt. Mit Hafenblick. Acht Luxuswohnungen wie der Notar sachlich und nüchtern ausführte. Hohe, garantierte Mieteinnahmen. Und eine neunte Wohnung. Für mich. Eine Sechs-Zimmer Wohnung, rundherum mit einer Dachterrasse und allem erdenklichen Luxus ausgestattet. Es sei der persönliche Wunsch meines Vaters, führte Herr Schwarz aus, notariell gegengezeichnet, mich dort einzuquartieren. Zusätzlich eine nicht unerhebliche Summe Geldes, als Anzahlung wie der Notar trocken bemerkte, auf das spätere Erbe. Der Notar mochte mich nicht. Es war wie auf die Stirn eingemeißelt. Erben, dachte er wohl. Leute, die nichts in ihrem Leben vollbrachten und nur die Hand aufhielten. In solchen Augenblicken nagte es an mir. Da war meine schmucklose Wohnung, der heftige Streit mit meiner Liebsten, die daraufhin sofort ihre Koffer packte. Sie warf mir ungute Dinge vor, Eifersucht und ähnliches und dass keine Frau es mir jemals recht machen könnte. Vor allem aber, nahm sie zwei böse Wörter in den Mund: Muttersöhnchen war das erste, das zweite gleich hinterher geschossen, Versager.

Ich sann über mein Leben nach.

Tatsächlich gab es auf der Habenseite wenig vorzuweisen. Weder genoss ich das Leben, noch zeigte irgendwo eine Treppe den Weg nach oben. Ganz zu schweigen vom Licht am Ende des Tunnels. Aber jetzt? Jetzt war ich reich. Seltsam, dass es im ersten Moment nicht ausreichte, mich aus meiner Lethargie heraus zu reißen.

„Herr Grimm?“ „Ja?“

„Haben sie verstanden? Den Inhalt der Übertragung?“

Ich blickte zu diesem aufgeblasenen Schreibtischtäter hinüber. Typisch für meinen Vater, sich einen solchen Notar, dem man nachts nicht auf der Straße begegnen wollte, massig und groß wie er war, auszusuchen.

„Ja. Ja habe ich.“

„Wirklich?“, hakte der Notar nach.

Ich zuckte mit den Achseln. Was gab es misszuverstehen?

Ich bin reich, dachte ich. Das viele Geld würde mir guttun. Meinen Job hinschmeißen, ausspannen, irgendwann etwas Neues anfangen. Die Mieten sinnvoll anlegen, und von meiner Luxusterrasse hinunter auf den Hafen schauen. Womöglich nicht alleine.

Allein, ich fühlte mich unwohl. Ich ertrug nur mit Mühe seine langsamen und leisen vorgetragenen Ausführungen.

Schließlich beendete er seine Rede.

Ich nickte ihm zu.

Schwarz versprach alles in die Wege zu leiten. Er händigte mir Schlüssel, schriftliche Unterlagen und einen Briefumschlag aus.

„Dieser Brief“, sagte der Notar in langsamen, geduldigen Worten, so als ob er vermutete, dass ich ihm intellektuell nicht folgen konnte, „dieser Brief enthält Instruktionen ihres Vaters. Bezüglich ihrer eigenen Wohnung. In die sie morgen einziehen können.“

„Morgen?“

„Morgen“, bekräftigte der Notar, ohne sich auf eine weitere Diskussion einzulassen.

Schwarz fuhr fort, mich mit sorgfältig gewählten gesprochenen Worten über die weiteren Inhalte des väterlichen Willens zu informieren. Ich trank die mir angebotene Tasse Kaffee serviert von einer ältlichen Sekretärin, deren ganzes Gesicht hinter einer mächtigen Brille verborgen schien. Grau war sie, grau wie das ganze Büro. Auch der Notar erschien mir wie in kaltes Licht getaucht. Grauer Anzug, lichtes, farbloses Haar. Nicht nur der der ganze Vorgang, das Büro, die Personen hier, erschienen mir bizarr.

Vor allem, wo war mein Vater? Warum überließ er die Übertragung einem wildfremden Menschen. Ich stand ohne jede Information da, ohne jede Vorbereitung.

Für einen Moment holte ich die Bilder aus meinem Gedächtnis. Das volle blonde Haar, stahlblaue Augen und ein beachtlicher Bauch. Ein dröhnendes Lachen und eine Pranke, mit der mein Vater mir zu Unzeiten stets auf meine schmalen Schultern hieb.

Was ihn bewogen mag, mir dieses Haus zu überschreiben, entzog sich meiner Kenntnis, doch im ersten Moment war ich ihm dankbar. Diese Dankbarkeit ging an diesem Dezembermorgen so weit, dass ich ihm großmütig seine Abwesenheit verzieh.

Der Notar war fertig. Die Unterlagen verpackt, das Schlüsselbund in meiner Tasche. Ich erhob mich.

Mein Gegenüber räusperte sich. Fragend sah ich zu ihm hinüber.

„Eine letzte Sache, Herr Grimm.“

Er fischte aus einer offenen Schublade ein kleines Blatt Papier hervor. Nein, kein einfaches Stück Papier. Ein Foto. Ein alter Mann. Zerfurcht, wie von der Zeit und Rost zerfressen.

„Wer ist das?“

Jetzt war es für den Notar fragend zu mir zu hinüber zu sehen.

„Ihr Vater“, kam es mit fester Stimme zurück.

Ich lachte kurz auf.

„Ich habe meinen Vater über ein Jahr nicht mehr gesehen, aber das ist gewiss nicht mein Vater.“

„Sehen sie genau hin“, forderte der Notar mit fester Stimme, mich aus seinen tiefliegenden Augen taxierend.

Nochmal nahm ich das Foto in Augenschein.

Nichts.

„Ihr Vater bat mich ihnen mitzuteilen, dass er derzeit keine Fragen, bezüglich Aufenthaltsortes, persönliche Verhältnisse und weiterer Zukunftspläne beantworten würde. Deswegen bat er mich, ihnen das Foto auszuhändigen. Er sagte, sie würden sich ihre eigenen Gedanken machen.“

Ganz plötzlich sah ich ihn. Seine Augen. Immer noch stahlblau. So gar nicht zum Foto passend. Aber den Kampf gegen die unerbittliche, fortschreitende Zeit, hatte der Sieger, der Überflieger, mein Vater endgültig verloren. Wahrscheinlich war er krank, der Grund für seine Abwesenheit.

Darauf hätte ich gleichkommen können.

Ich ließ meinen Blick über das Gesicht des Notars gleiten. Es war ausdruckslos und starr. So als versuchte er ein Geheimnis vor mir zu verbergen. Oder war da mehr? Vielleicht Angst. Nackte Angst vor etwas Unaussprechlichen. Panik. Ich bemerkte am Haaransatz Schweißtropfen. Ich mochte diesen Mann nicht. Seine ausgesprochene, distanzierte Art flößte mir am Anfang des Termins Respekt ein. Nach einer halben Stunde Vortrag, blieb von seiner Souveränität kaum etwas übrig. Entsprechend erleichtert schien er mir, da ich mich erhob und mich verabschiedete.

Schwarz brachte mich noch zur Bürotür und versprach für Rückfragen erreichbar zu bleiben.

Schwafler dachte ich. Und ein Gedanke manifestierte sich: Was stimmt hier nicht?

Vor der Bürotür stand ich einen Augenblick auf dem Gehsteig und blickte verwirrt an meinem Handgelenk hinunter.

Eine Armbanduhr, kurz blinkend im schwachen Sonnenlicht. Schwer mit einem großen Ziffernblatt. Ein Stunden-, ein Minuten- und ein Sekundenzeiger. Der kleine Sekundenanzeiger lief schnell seine Runden, so wie für einen Sekundenzeiger vorgesehen.

Fasziniert sah ich auf den Zeitmesser. Wie war er an mein Handgelenk gekommen? Lag die Uhr bei den Unterlagen für mein Haus und dann im Gedanken angelegt? Doch mehr noch erregtes etwas anderes meine Aufmerksamkeit. Der Sekundenzeiger. Ganz richtig, der Sekundenzeiger. Er lief rückwärts. Und nach jedem Umlauf rückte der Minutenzeiger zurück. Weshalb lief die Uhr rückwärts? War es eben noch zehn nach, sprang der Minutenzeiger auf neun, der Sekundenzeiger nahm unverdrossen die nächste Runde in die falsche Richtung in Angriff.

Ich blickte nach oben. Im ersten Stock bewegten sich die Vorhänge. Für einen Moment sah ich den Notar, wie er zu mir hinuntersah. Hinter ihm bemerkte ich einen Schatten, doch im nächsten Moment blendete mich die tiefstehende Sonne, dann verschwand das Bild.

Am Abend gab es teuren schottischen Whiskey, garniert mit Essen aus der Pommesbude. Was solls. Ich besaß Geld. Mehr als ich je verdient, mehr als ich je erhofft.

Trotzdem gab es unbeantwortete Fragen. Nur, dass ich diese Fragen nicht in Worte pressen konnte, sich mir entwanden, sobald ich glaubte einen Ansatzpunkt gefunden zu haben. Ich war müde. Ich wollte die Gedanken morgen zu Ende führen, heute den letzten Abend in meiner schmuddeligen Wohnung verbringen.

Morgen würde ich in mein neues Reich einziehen.

Ich lag in meinem Bett und starrte hinauf. Eine schmutzige, verfärbte Deckenkonstruktion.

Mir war jeder Riss, jeder Fetzen Tapete bekannt. Fast wie ein guter Kamerad, schien mich das lange schon ausgeblichene Stück Papier anzulächeln, mich den Schlaf hinüber zu begleiten.

Meine Eltern

Bevor ich mit meiner Geschichte beginne, möchte ich Ihnen von meinen Eltern erzählen.

Da war meine Mutter. Ursula Klein war so deutsch, dass einem schlecht werden konnte. Sie trug ihr blondes Haar, wie einst des Führers Eva und träumte von der Weltherrschaft und guten deutschen Tugenden. Ihr Vater war vor Stalingrad in russische Gefangenschaft geraten und kam erst 1955 mit den zehntausend Heimkehrern zu seiner Frau zurück. Zu diesem Zeitpunkt war Karl-Adolf Klein bereits kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag, seine Frau Ursula mit dreiunddreißig Jahren noch im besten Alter ein Kind zu empfangen.

Karl-Adolf versprach seiner frisch angetrauten vor seiner Reise nach Stalingrad, die nur unerheblich um einige Arbeitsjahre wegen in Sibirien verlängert wurde, viele Kinder. Sozusagen einen ganzen Sack voller Kinder. Diesen ganzen Sack forderte Anneliese nun im wahrsten Sinne des Wortes ein.

Zumindest eines wollte sie. Endlich sollte das lange ersehnte Kind ihr Leben bereichern. So kam es zu Hildegards Zeugung und trotz Unverständnis in der Verwandtschaft und der Nachbarschaft ob des älteren, vom Krieg gezeichneten Vaters, gebar Ursula Klein ein gesundes und munteres Töchterchen, das fortan auf den Namen Hildegard hörte.

Karl-Adolf Klein sollte das freudige Ereignis nur kurz überleben. Er, der in den Jahren zuvor die touristischen Reize sibirischer GULAG-Lager erkundete, war mit den neuen Verkehrsverhältnissen im Nachkriegsdeutschland, mit hupenden Pkws und lärmenden Lastkraftwagen einfach nicht vertraut und geriet durch eigene Unachtsamkeit im wahrsten Sinne des Wortes unter die Räder.

So wurde Hildegard von ihrer Mutter recht einseitig erzogen. Denn Großmutter Ursula kannte neben Männern nur ein Thema: Geld.

Geld war immer ein Thema und Mutter Klein trichterte ihrer Tochter stets ein, dass Geld sowie materieller Besitz in den verschiedensten Formen, das wichtigste Gut im Leben einer Frau darstelle. Und wenn eine Frau über solch materielle Vorzüge nicht verfügte, galt es die eigenen, sprich die weiblichen, körperlichen Vorzüge zum Erwerb von Geld, viel Geld, einzusetzen.

Sprach die Frau Mama. Denn da sie selbst nur über wenige materielle Besitztümer verfügte, war sie auf der steten Suche nach Möglichkeiten der Vermögensvermehrung. Sie traf sich mit Damen, mit denen anständige Frauen nicht verkehrten. Dabei entdeckte Ursula Klein für sich eine berufliche Zukunft, in der sie nur eines nicht sein durfte: Zimperlich.

Und Ursula war alles, nur nicht zimperlich. Von Zurückhaltung ganz zu schweigen. Es gab genügend Männer, gerade solche denen es finanziell gut und besser in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwunges ging, jene mit einer fetten schwarzen Zahl auf dem Konto. Männer einer bestimmten Art, die eine harte weibliche Hand an ihrem Körper wollten und gleichzeitig die verbale Erniedrigung schätzten.

Meine Großmutter ihrerseits schätzte die gute Bezahlung.

Die kleine Hildegard hörte die prägenden Geräusche am Tag, in der Nacht und überhaupt zu jeder Zeit. Praktisch gesagt, sie wurde damit bestens auf ihr späteres Leben vorbereitet.

Und sie vergaß nie die allabendlichen Vorträge über Geld, Männer und anderen Luxus, die sich in ihrem Gehirn manifestierten. Zielgerichtet suchte sie sich als großes Mädchen einen reichen Mann. Was soll ich sagen, sie wurde schnell fündig.

Norbert.

Ein ungehobelter Knochen, schon in frühen Jahren mit einer gewissen Körperfülle gesegnet, aber durch familiäre Beziehungen vermögend und damit ansehnlich.

Norbert verliebte sich Hals über Kopf in die blonde Hildegard. Den Abkömmling eines Spekulanten traf sie das erste Mal in einem Krankenhaus. Dort lag er mit seinem gereizten Blinddarm. Hildegard war Krankenschwester, denn ihre Mutter war der Meinung in einem Krankenhaus würde sie am ehesten einen vermögenden Gatten in Person eines Oberarztes, besser noch eines Professors, finden. Eine Berufsgruppe bei der Großmutter Geld und Ansehen vermuten durfte.

Norbert war kein Arzt, aber ein reicher Mann und das reichte Tochter wie Mutter. Schon wenige Tage nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus saßen sie in seinem schicken weißen Cabrio, sahen dem Sonnenuntergang an der Ostsee zu und waren sich bald herzlichst zugetan. Es war ein warmer Sommerabend, langsam zog die Dämmerung am Nachthimmel empor und genauso langsam zog Hildegard aus dem Krankenhaus mitgebrachte Plastikhandschuhe über ihre schlanken Hände. Norbert öffnete seine Hose und Hildegard ging ans Werk. Meine Großmutter war ihr eine gute Lehrmeisterin gewesen und Hildegard war mit der Funktionsweise gewisser Teile der männlichen Anatomie durchaus vertraut. Den Rest besorgte Hildegards weibliche Intuition. So brauchte Norbert kaum eingreifen und seine zukünftige, die er von nun an zärtlich „Hildi“ nannte, vollbrachte ihr Werk angesichts eines sehenswerten Ausblicks auf die ruhige See. Idyllisch wie sich die Möwen sanft im Takt der Wellen schaukelten, synchron im Takt zu Hildis Handarbeit.

Bei ihrer Kündigung im Krankenhaus nahm Hildi noch einen größeren Vorrat an Plastikhandschuhen mit, eingedenk der Tatsache, dass es noch viele Abende an der Ostsee geben könnte.

Die Wohnung, die das junge Paar nach ihrer schnell anberaumten Hochzeit bezogen, war dem damaligen Geschmack entsprechend, vor allem aber teuer, eingerichtet.

Hildegards Mutter vergoss ein paar Freudentränen, Norberts Eltern waren ihre mangelnde Begeisterungsfähigkeit an der Nasenspitze anzusehen. Schließlich brachte Hildi ja kein Geld ins Haus. Beim späteren obligatorischen Hochzeitsbesäufnis kamen sich die Schwiegereltern jedoch rasch näher, als gemeinsame Interessen und Vorstellungen zu Tage kamen. Norberts Vater, ebenso dick und umfangreich wie sein Sohn, griff der mittlerweile nicht mehr ganz so blonden Ursula an den Hintern, was diese lächelnd hinnahm da sie ja wusste, wie viel Geld hinter diesem Griff steckte. Später leckte er ihre Pumps, ein Anblick, der seine Frau, die das Pärchen im eigenen Auto überraschte, sexuell überhaupt nicht stimulierte.

Woraufhin die Vertiefung jeglicher weiteren Kontakte der Elterngeneration abrupt abgebrochen wurde.

Natürlich gab es einen handfesten Skandal und selbstverständlich wurde die Angelegenheit vertuscht. In Zukunft wurde überhaupt eine Menge vertuscht.

Norbert fand es mit der Zeit weniger prickelnd von einer Plastik beschuhten Hand befriedigt zu werden und wünschte Abwechslung im abendlichen Eheprogramm, worauf Hildi energischen Protest einlegte. Sie waren ja erst wenige Tage verheiratet.

Die plötzlich keusche Hildegard wartete in der Tat einen ganzen Monat lang, ehe sie sich ihrem Mann hingab, ein Ereignis, das wenig erwähnenswert blieb.

Hildegard wurde in jener Nacht geschwängert, was sie zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht wissen konnte. Doch da ihr der Akt als solcher wenig zusagte, entsagte sie der körperlichen Liebe. Da zudem Hildegard die Plastikhandschuhe ausgingen und Norbert keine Lust mehr verspürte für Hand-Sex mit seinem Cabrio an die Ostsee zu fahren, gab es für Hildegard bald überhaupt keinen Grund mehr, mit ihrem Angetrauten sich abendlich im Ehebett einzufinden.

Doch anstatt sich zu trennen, begann Norbert in seiner Arbeitszeit verschiedene Frauen zu besuchen. Da war er nicht wählerisch. Eine Scheidung kam natürlich nicht in Frage, denn die Meinung seiner Nachbarn und Geschäftskunden lag ihm am Herzen. Und redende Nachbarn, von redenden Geschäftskunden ganz abgesehen, sind prinzipiell schlecht, entweder fürs Geschäft oder für das nähere Umfeld oder beides zusammen.

Hildegard, die ebenfalls viel Wert auf die Meinung ihrer Nachbarn legte, bekam im Laufe ihres Ehelebens immer häufiger Schläge. Vor allem, wenn ihr Mann zu tief ins Glas schaute. Mit der Zeit benötigte meine Mutter immer mehr Zeit, ihr lädiertes Äußeres in Form zu bringen. Hauptsache, die Nachbarn bemerkten nichts…

In dieser freundlichen Atmosphäre wuchs ich also auf. Mein Vater nannte mich seinen kleinen, dicken Pummel. Kein Wunder. Denn meine Mutter stopfte mich mit Süßigkeiten voll. Das heißt sie kaufte die Süßigkeiten, vor allem Schokolade und versteckte diese an für mich gut zugänglichen Stellen. Als kleiner, neugieriger und ich darf bei aller Bescheidenheit sagen, intelligenter Junge, stellten ihre Verstecke keine intellektuellen Hindernisse dar. Ich stopfte ganze Berge an Schokolade in mich hinein. In immer kürzeren Abständen war Hildi nunmehr gezwungen Nachschub zu organisieren.

Und ich wurde dicker.

Zuerst nur an den Oberschenkeln.

Dann am Bauch.

Zuletzt im Gesicht.

Ich wurde in der Tat zu einem Pummelchen, mit Verstopfung und einer langsam zunehmenden Abneigung gegen Schokolade. Schokolade in jeder Form.

Einmal, das schwor ich mir im Alter von zwölf Jahren, würde ich mich rächen.

Sie zu mir einladen, die Tür abschließen, die Jalousien herunterlassen und meine Mutter an einen Tisch gedeckt mit drei riesigen Schokoladenkuchen setzen. Jedes einzelne Stück in sie hineinstopfen.

„Komm schon Mutter, iss“, würde ich sagen. „Iss.“ In ihren glasigen Augen wäre die Abscheu ihrem Sohn gegenüber zu sehen und wenn alle drei Schokoladentorten gegessen und geschluckt, dann würde ich sie töten.

Phantasien eines Zwölfjährigen.

Regelmäßig erschauerte ich bei diesem Gedanken.

Ich träumte davon.

Solange bis ich zwischen Realität und Traum nicht mehr unterscheiden konnte und meine Mutter röchelnd und aufgedunsen vor mir auf dem Fußboden liegen sah. Krepierend.

Dann stand sie vor mir, fuchtelte mit den Händen, schrie mich an und schneller als mir lieber war, wurde mir bewusst, dass ich mich zu lange meinen Tagträumen hingab.

So mehr ich mit meiner Mutter die Tage verbrachte, so weniger sah ich meinen Vater. Er verbrachte einen Großteil seiner Zeit mit Geld verdienen und die restliche Zeit es mit Frauen wieder auszugeben, die sich mit Männern amüsierten, die viel Geld, wenig Verantwortungsbewusstsein, aber die Fleisch gewordene Überzeugung propagierten, dass Geld sexy mache.

Seiner Ehefrau gab er Haushaltsgeld und einmal im Monat eine kleine Summe Taschengeld, galt es den äußeren Schein zu wahren. Manchmal, wenn er sich mit seinen Kumpeln sinnlos in irgendeiner Kneipe betrank, durfte sie ihn in seinem schnieken Cabrio abholen. Und natürlich auch seine betrunkenen Kumpane, die die Ledersitze dann mit erheblicher Ausdauer vollkotzten. Aber zum Saubermachen gab es ja Hildi und Hildi erhielt für diese Sauarbeit immer ein Extrataschengeld.

Allerdings weigerte sich Hildi ihn von seinen zahllosen außerehelichen Abenteuern abzuholen.

„Wenn du dich bei deinen Nutten betrinkst, sieh allein zu wie du heimkommst. Übrigens, komm ja nicht auf den Gedanken, dass sich soeine unserem Haus auch nur nähern darf. Ich töte sie. Alle. Dessen sei sicher.“

Das waren die Momente in dem mein Vater Norbert Angst vor seiner Frau bekam. Mit der Zeit wurde diese Angst gegenständlich. Berechtigterweise.

Bei dieser regelmäßig wiederkehrenden Warnung begann ihre schrille Stimme in den höchsten Tönen zu beben. Immerhin konnten wir uns so eine eigene Sirene auf dem Hausdach ersparen.

Manchmal nahm sie das Cabrio und fuhr an die See hinaus. Sie zog ihre neuen Plastikhandschuhe an, verwöhnte den Steuerknüppel stundenlang, von oben nach unten, reibend. Dazu dröhnte aus dem Radio Puccinis Turandot. Wenn die Sonne unterging fuhr sie nach Hause, mir mein Abendessen mit verschiedenen Schokoladentafeln zu bereiten.

Als ich älter wurde, begann ich mich für Mädchen zu interessieren. Mutter meinte, ich sei noch zu jung dafür, mein Vater fand mein erwachendes Interesse erheblich spaßiger.

Zwar war mein Schokoladenbabyspeck mittlerweile verwachsen, doch nun war Mutter Hildi auf eine neue kulinarische Spezialität gestoßen. Sie begann Kuchen zu backen. Torten, helle Kuchen, Mandelsplitter, Kopenhagener und nicht zu vergessen Erdbeerkuchen.

Ich begann wieder zu wachsen, in die Höhe wie in die Breite.

Genauso begann ich zu hassen. Die Streitereien zwischen meinen Eltern, die, wenn sie sich trafen, sofort verbal übereinander herfielen, das Essen meiner Mutter, das mir überhaupt nicht schmeckte und überhaupt hasste ich das ganze Leben. So wie das Pubertierende gern machen.

Das ich von zu Hause weglief, war eine fast schon logische Konsequenz. Ich schwor mir, in meinem Leben würde es eine Reihe von Dingen nicht geben:

Schokolade, Kuchen in jeder Geschmacksrichtung und eine Ehefrau. Genau in dieser Reihenfolge.

Ich war knapp achtzehn, als ich nach fast zwei Jahren auf der Straße wieder nach Hause zurückkehrte. Brav holte ich meine verpasste Schulzeit nach, brav begann ich eine Ausbildung und brav wollte ich auch in Zukunft sein.

Meine Erlebnisse in diesen zwei Jahren sind nicht weiter erwähnenswert. Sicher aber der Auslöser für meine Anpassung. Ich sehnte mich nach den vergangenen Monaten nach einem langweiligen, angepassten und ruhigen Leben zurück. Eben einem braven Leben.

Nur mein Vater war weg.

Nicht weit.

Er lebte mit irgendeiner blonden Schlampe, wie Hildegard sich auszudrücken pflegte, zusammen. Sie hatte ihn einkassiert, bemerkte sie boshaft. Mit stoischer Genügsamkeit sah sie jedoch darüber hinweg, straffte ihr Kinn, stützte sich auf ihre geballten Fäuste und ließ ihre kalten, blauen Augen über ihren letzten familiären Besitz streifen.

Mich.

Es ist nicht leicht sich im Besitz einer quasi jungfräulichen Mutter zu befinden.

Norbert, seines Zeichens mein Vater, schüttelte seinen Kopf. Wie konnte sich ein junger Mann so von seiner Mutter drangsalieren lassen, fragte er mich zwischen zwei wichtigen Terminen, die er für einen Kurzbesuch bei seinem Sohn unterbrach.

Er kam vom Geldverdienen und wollte zum Geldausgeben. Für seine Freundin. Nicht für mich.

Seine Frau stand am Wohnzimmerfenster, sie trug ein beiges Kostüm, wie immer das stolze Kinn vorgereckt, die Hände am Hals, mit den Perlen ihrer Kette spielend.

„Was hat er dir gesagt?“, fragte sie mich als ich ins Haus zurückkehrte.

Ihre Stimme klang wie üblich beherrscht, wenngleich der aufmerksame Zuhörer einen leicht hysterischen Unterton feststellen konnte. Mich wunderte nur, dass sie keine Gummihandschuhe trug.

„Er meinte, dass du mich bevormundest und ich solle mir das nicht gefallen lassen.“

Ihre Augen verengten sich, die Mundwinkel zogen sich zu einem höhnischen Lächeln nach oben.

„Willst du mir mitteilen, dass du dem Beispiel deines Vaters folgen wirst?“

„Nein.“

„Das wirst du auch nicht. Du bist schließlich der Sohn deiner Mutter.“

In dieser Nacht kletterte ich auf das Dach meines Elternhauses. Es war eine waghalsige Kletterpartie, die ich entlang des alten Efeugestrüpps vollführte. Oben auf dem Dach war es glitschig. Kein Wunder, den ganzen Tag über hatte es immer wieder geregnet.

Mir ging durch den Kopf, dass ich nicht brav sein wollte. Es war ein Fehler ins Nest zurück zu kehren. Das dachte ich auf dem Dach meines Elternhauses, in Gegenwart eines toten Vogels, einer halb angefressenen Ratte und einer jaulenden Katze irgendwo im Gebüsch.

Es war Vollmond und in seinem blassen Schein stellte ich mir vor, ein Vampir zu sein, kurz davor, sich in die Lüfte zu schwingen. Ich stellte mich an die Kante und prüfte mit wippendem Schritt die Festigkeit der Regenrinne. Sie gab nach, als ich mich mit meinem Gewicht nach vorn beugte. Ein Schritt weiter und ich würde fliegen. So oder so.

„Christoph?“

Hildegard. Ich hatte mir angewöhnt meine Mutter insgeheim mit ihrem Vornamen zu nennen.

„Christoph?“

Ich registrierte ohne jede Überraschung, wie schnell Hildegard mir hinterherkam.

„Ja?“

„Was machst du da oben?“

Hildegard. Ihr blieb nichts verborgen. Sie stand auf dem Rasen, eine Taschenlampe in der linken Hand und sah zu mir hoch.

„Hier oben sind tote Tiere.“

„Ist das ein Grund mitten in der Nacht auf das Dach zu steigen? Du hättest fallen können, dir das Genick brechen können! Kind! Denk an mich, einmal in deinem Leben! Glaubst du ich will dich bis an mein Lebensende pflegen, weil du dir das Rückgrat brichst und für immer bettlägerig bist? Warum bist du immer so verantwortungslos?“

„Ich bin nicht gefallen.“ Das klang eher halbherzig. „Komm runter, ehe du dich erkältest.“

Ich warf einen Blick nach unten, die Füße standen jetzt zur Hälfte auf der Regenrinne.

Es war Zeit zu fliegen.

17.Dezember

Vormittags

Da stand ich. Vor meinem Haus.

Es war Teil eines großen, grauen Blocks. Der Wind kam vom Hafen herauf, pfiff die Häuserwände entlang, aber das störte mich nicht. Ich war frei, ich besaß ein eigenes Haus, wenn auch in verschiedene Wohnungen unterteilt, sehr viel Geld auf der Bank, ein großes Erbe in der weiteren Zukunft und in mir wuchs das unbestimmte Gefühl, dass eine aufregende und interessante Zeit auf mich zukommen würde.

Der Architekt schien bewusst das Haus in Anlehnung an alte Zeiten gebaut zu haben. Dass es nach dem Krieg auf Trümmern anderer Häuser errichtet wurde, sah man nicht, es war ein neues Haus im alten Gewand.

Schon von außen waren Figuren, der Mythologie der Mittelmeervölker entlehnt, zu erkennen. Doch mehr faszinierte mich das Treppenhaus. Allein die Haustür war zum Verlieben schön. Sie besaß farbige Glasfenster, fliegende Paradiesvögel, deren Farbenvielfalt in Dezembersonne wie Diamanten schimmerten. Das Treppenhaus zierten ebenso farbenfroh gemusterte Fliesenfußböden, kunstvoll geschnitzte Treppengeländer aus schwarzem Ebenholz. Dorische Säulen standen in jedem Stockwerk und die Wohnungstüren waren die reinsten ornamentalen Meisterwerke, wenn auch hier und da die Farbe abblätterte. Doch die damaligen Bauherren hatten ihren Reichtum und Geschmack deutlich nach außen getragen und diese Ausstrahlung bildeten die Grundlage für eine ertragreiche Vermietung. Das einzige Zugeständnis an die Moderne war der Fahrstuhl. Der nicht weiter auffiel, da seine Außengestaltung sich perfekt in das Gesamtbild integrierte. Doch an diesem ersten Tag in meinem neuen, eigenen Reich, lief ich die Treppen hinauf, staunte ob der allegorischen Darstellungen der vier Jahreszeiten an den Wänden, vergoldeten Putten an den Decken oder bewunderte ein ländliches Idyll neben einer Haustür. Ich fühlte mich mindestens hundert Jahre in der Zeit zurückversetzt und wie soll ich sagen, ich war wirklich von Anfang an in dieses Haus verliebt. Es war fast zu schön, sagte ich mir, einfach zu schön.

Ganz davon zu schweigen wie ich meine Wohnung mit offenen Mund in Augenschein nahm. Sie lag wie beschrieben im fünften Stock, der einzigen Wohnung im obersten Stockwerk, mit einem Ausblick auf die Stadt, auf ihre Türme und den Hafen, den ich um nichts in der Welt mit einem anderen Ausblick tauschen wollte.

Mein neues Reich bestand aus sechs großen Zimmern plus Küche und einem wunderbaren Badezimmer. Riesig für eine Person und doch genau richtig für mein gerade erwachendes Luxusbewußtsein. Ich fühlte mich wie ein reicher Römer, der gerade die lasterhafte Kaiserin Messalina im Arm hielt. Mit geschlossenen Augen hörte ich die Gladiatoren sich vor den kreischenden Massen gegenseitig massakrieren, während Messalina, die Königin der Huren, sich an meinen spährenhaften Körper vergnügte.

Da ich nicht viel besaß, brauchte ich nicht allzu lange Zeit mein neues Domizil einzuräumen. Mein Vater war so freundlich mir die Wohnung möbliert zu hinterlassen. Dennoch, da ich durch die Zimmer ging, steigerte sich meine Verwirrung. Alle Lampen brannten, die ganze Wohnung hell erleuchtet… Dass mein Vater alle Lichter anließ, wo er doch so gerne über das Stromsparen dozierte… Auch das schartige Beil, dass auf dem Wohnzimmertisch lag, irritierte ein wenig. Andererseits war mein Erzeuger mir stets ein wenig extravagant vorgekommen. Nach einer Stunde war ich mit dem Einzug fertig.

Im Anschluss genehmigte ich mir eine Tasse Kaffee. Nicht in der eigenen Küche. Ich nahm mir vor die hiesigen Lokale auszuprobieren. Ein kleines Café, Doreens Café, direkt meinem Prachtbau gegenüber, fiel mir als erstes ins Auge.

Mit Interesse studierte ich die Karte. Hier, mitten in der Stadt, zahlte der Kunde offensichtlich einen kräftigen Zuschlag. Und?

Bei meinem Kontostand erschien mir das nebensächlich und so genehmigte ich mir ein ausführliches und vor allem teures Frühstück, mit allem was dazu gehörte.

Die Bedienung war blond, jung und schien nicht im allergeringsten an mir interessiert.

Dennoch mich reizte sie. Und als Kellnerin meinem Haus gegenüber besaß sie womöglich Informationen über meine Mieter. Ich beschloss mein Glück zu versuchen.

„Haben sie eventuell ein paar Minuten Zeit? Ich würde sie gern einige Dinge fragen.“

Sie blinzelte, da die Strahlen der tiefliegenden Sonne ihr Gesicht trafen.

„Ich denke nicht, dass wir zusammen ein gutes Paar abgeben, aber ein paar Minuten hätte ich Zeit.“

„Ich wollte nicht…“

„Sie sind der einzige Gast“, unterbrach sie mich schulterzuckend.

Ich trank meinen Kaffee.

„Nehmen sie doch bitte Platz“, versuchte ich mit Charme bei ihr zu punkten.

Sie setzte sich.

„Nett, dass ein Gast mir einen Platz in meinem eigenen Café anbietet.“

„Das ist ihr Laden?“

Sie nickte.

„Dann sind sie Doreen?“

Ich pfiff leise und anerkennend vor mich hin.

„In voller Lebensgröße.“

Ich überhörte die Ironie in ihrer Stimme.

„Darf ich sie fragen, wie lange es ihnen schon gehört?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Seit einem Jahr. Und warum fragen sie?“

Ich zeigte durchs Fenster auf mein Haus gegenüber.

„Mir gehört das Haus gegenüber. Ich kenne meine Mieter nicht, da dachte ich…“

Ich biss mir auf die Lippen. Jetzt da ich die Frage gestellt, kam ich mir irgendwie idiotisch vor.

Ihr Blick ruhte auf mir. Die Augenpartie dezent geschminkt, ein wenig Rouge auf ihren Wangen, der volle rote Mund leicht geöffnet.

„Sie sollten ihre Mieter aus eigener Anschauung kennen lernen“, wies sie mich sanft zurück.

„Entschuldigung, das war dumm von mir.“ Ich fühlte mich wie ein kleiner Junge. Zurechtgewiesen und mit einem Tadel belegt. Ich nahm mir ein Brötchen und bestrich es mit Butter.

„Alles gut“, antwortete sie mir.

Eine Gruppe von Geschäftsleuten kam herein. Doreen erhob sich. Sie nickte mir geschäftsmäßig zu und ich beschäftigte mich weiter ausgiebig mit meinem Frühstück.

„Fertig?“, fragte sie später.

„Ja und es war wirklich ausgezeichnet.“

„Wir haben auch einen Mittagstisch“, kam es mit ausdrucksloser Stimme. Anscheinend bedeutete ihr meine Lobeshymne nicht besonders viel.

„Ich werde mit Sicherheit häufiger bei ihnen essen. Wahrscheinlich ist es das beste Restaurant hier am Platz.“

„Damit könnten sie durchaus Recht haben.“

Sie trug die Sachen davon, weigerte sich mein Trinkgeld anzunehmen und händigte mir eine Speisekarte aus.

„Viel Spaß beim Lesen. Liefern tue ich aber nicht.“

Ich lächelte. „Das wäre wohl auch übertrieben.“

Sie blies Luft durch die Lippen und ihre Augen verengten sich zu zwei schmalen Schlitzen.

Die Geschäftsleute zwei Tische weiter verlangten lautstark Kaffee-Nachschub.

Ich weiß nicht warum, trotz der Wärme im Restaurant fröstelte ich. Ich warf einen Blick auf meine neue Armbanduhr. Sie lief ruhig und friedvoll rückwärts. Schneller als Vortag wie mir schien. Die Sekunden schienen schneller zu laufen.

Oben in meiner Wohnung kamen mir andere Gedanken. Das hing mit dem Brief meines Vaters zusammen. Geschrieben in sachlichen, kurzen Sätzen. Er ging auf die Einnahmen und Kosten ein, den Hausmeisterservice, die Steuern und Versicherungen. Brieflich setzte er mich ins Vernehmen, wie dieses Schmuckstück zu verwalten sein.

Und verwies mich bei Rückfragen an seinen Notar. Mein Vater schien richtig investiert zu haben. Die Einnahmen überwogen die Ausgaben bei weitem.

Bevor ich mich aber voller Entzücken über mein Schmuckstück verliere, komme ich auf einen anderen Aspekt zu sprechen.

Einen weiteren Brief meines Vaters.

Ich fand ihn in einem separaten, braunen Briefumschlag.

Für meinen Sohn, stand auf der Vorderseite. Mehr nicht. Da ich ein ungeduldiger Mensch bin, riss ich das Kuvert auf und holte mehrere eng beschriebene Seiten hervor.

Mein Vater galt allgemein nicht als großer Briefeschreiber. Ich selber konnte mich an keinen einzigen erinnern. Und nun erhielt ich zwei Stück innerhalb von drei Tagen. Das war bemerkenswert.

Es war ein Brief von dem er behauptete, ihn im vollen Besitz seiner geistigen Fähigkeiten geschrieben zu haben.

Nein, ich gedenke nicht die Intimitäten wieder zu geben, die mein Vater in dieser, seiner heimlichen Liebesoase erlebte und mir en Detail beschrieb…

Doch mein Vater war auch Kavalier. Er nannte keine Namen, hingegen geizte er weniger mit den intimen Beschreibungen der Körper jener Frauen mit denen er sich im Bett, auf dem Fußboden, an der Wand, auf einem Tisch, im Fahrstuhl, im Treppenhaus und wer weiß wo vergnügte… Nein, ich werde mich auf jenen Teil konzentrieren, in dem mein Vater detailliert sein kleines Geheimnis beschrieb.

Denn ich las:

„…nimm bitte den Schlüssel aus der obersten Schublade der Flurkommode.Es ist ein goldener, ein wenig altmodischer wirkender Schlüssel, aber du kennst ja meine Vorliebe für Skurrilitäten. Wenn du ihn gefunden hast, begebe dich bitte ins Schlafzimmer. Direkt neben der Anrichte wirst du auf einer Höhe von etwa einem Meter das passende Schlüsselloch finden. Wenn du die Tür öffnest, mein Sohn, wirst du verstehen, warum ich so gerne in dieser Wohnung war. Nicht nur weil ich hier den besten Sex meines Lebens mit den leidenschaftlichsten Frauen erlebte, nein, weil ich hier auch die beste Unterhaltung meines Lebens genoss. Wenn ich jetzt in sonnigere Gefilde umziehe, dann nur, weil mein Arzt sicher ist, dass mich ein weiteres Jahr in dieser feuchten, nebligen Stadt über kurz oder lang ins Grab bringen wird. Dochdieses Zimmer, mein Sohn, das werde ich wirklich vermissen. Bevor du also weiterliest, bitte ich dich auf Entdeckungsreise zu gehen.“

Ich war viel zu neugierig, um weiter zu lesen, beachtete also seine Anleitung, suchte den Schlüssel und fand ihn wie angegeben. Länger brauchte ich das Schloss zu finden. Die Tür war perfekt getarnt, wie angegossen in die Wand integriert. Ohne Beschreibung wäre es mir schwergefallen, doch dann war sie geöffnet und es ging ein paar knarrende Holzstufen hinauf. Ich öffnete eine weitere Tür, vermutlich eine Bodentür, dann stand ich in einem Zimmer, dessen Inventar mir die Sprache verschlug.

„… nun, ich kann mir vorstellen, dass du auf diesen Anblick nicht gefasst warst!“, las ich weiter.

Oh nein, wirklich, damit hatte ich nicht gerechnet.

„…und wenn du deine Überraschung gebührend verarbeitet hast, nimm dir das blaue Heft, das auf dem Tisch liegt. Es ist eine Gebrauchsanweisung. Eine Gebrauchsanweisung für dieses Zimmer und damit für das ganze Haus. Jede Wohnung ist von mir gekennzeichnet. Im Erdgeschoß hast du die Kanäle E1 und E2. Die Wohnungen des ersten Stockes haben die Kanäle 11 und 12. Der zweite Stock 21 und 22 und so weiter…“

Ich sah mich um. Es war ein Zimmer, mit nur einem kleinen Fenster nach außen, aber dafür mit einem umso größeren Fenster in das Haus hinein.

Ich holte mir eine Flasche Wasser und ein paar Schreiben Brot, Butter und Aufschnitt aus der Küche (meines Vaters Fürsorge war wirklich rührend!) und begann zwischen den Wohnungen hin und her zu schalten. Was soll ich sagen, es war faszinierend! Ich las in dem blauen Heft meines Vaters. Seite für Seite, bis ich die komplette Inhaltsanweisung in mich aufgesogen, bereit, für ein Abenteuer, ein ganz besonderes Abenteuer.

„… es war eine Heidenarbeit, mein Sohn, all die Leitungen, all die Verstecke einzurichten. Aber es hat sich gelohnt. Wie viele Abende verbrachte ich hier, mein Junge, bereit in fremde Welten abzutauchen. Und ob du es glaubst oder nicht, hinter den zugezogenen Gardinen, findet jeden Tag, jede Nacht, der ganz alltägliche Wahnsinn statt.“

Zum Schluss folgte eine Auflistung der Kanäle:

Erdgeschoß 1(E1) Danielle Aubé

Erdgeschoß 2(E2) Ulrike Schmidt

1.Stock 1(11) derzeit nicht vermietet

1. Stock 2(12) Margarethe Herrmann

2.Stock 1(21) Ortrun Gideon

2.Stock 2(22) Emma Swetlana Dimitrjewa

3.Stock 1(31) Ruth Ehrenberg

3.Stock 2(32) Doreen Richard

4.Stock 1(41) Erica Bernhardt

4.Stock 2(42) Riccarda Weller

Ich war aufgeregt, so aufgeregt wie ein kleiner Junge der auf den Weihnachtsmann wartet.

Nun war es Zeit für eine gründliche Analyse meiner Mieterschaft. Sicher, ich würde mich allen meinen Mietern persönlich vorzustellen, doch ich käme mit einem Wissensvorsprung… Ich saß vor dem Bildschirm, einen Bildschirm von nicht gekannten Ausmaßen, der die halbe Wand verdeckte. Gespannt und außerordentlich neugierig.

Als erstes wurde ich in der Wohnung 11 fündig. Im ersten Stock lebte eine ältere, unscheinbare Dame, Frau Herrmann, deren interessanteste Eigenschaft wohl ihr stundenlanges Fernsehen war.

Nein, von dieser Mieterin erwartete ich keinerlei Spannung. Dennoch beschloss ich methodisch vorzugehen und ihr zumindest eine Chance zu geben, mich doch zu unterhalten.

Frau Herrmann zeigte minutenlang keinerlei Ambitionen.

Aber in dem Augenblick, da mein Finger die nächsten Ziffern eintippen wollten, stand sie unvermittelt auf.

Ich wartete.

Sie zeigte eine beachtliche Leibesfülle, das Kinn nach vorne gestreckt, was soweit ich informiert bin, für großes Durchsetzungsvermögen steht. Ihre Haare waren hochgesteckt, das sah ein wenig altertümlich aus, aber irgendwie passte es zu ihr.

Mit schnellen Schritten durchquerte sie die Wohnung und verschwand im Badezimmer. Dorthin konnte ich sie nicht verfolgen, die zweite Kamera befand sich im Schlafzimmer, damit blieb sie vorläufig außer Sichtweite. Aber sie tat mir den Gefallen kurze Zeit später wieder ins Kamerafeld zu treten. Völlig verändert. Die Haare geöffnet, statt des strengen Kostüms ließ sie ihren Körper von einem weißen Morgenmantel umfließen, wenn ich das einmal so ausdrücken darf. Ich war überrascht.

Ihre Bewegungen hatte nun etwas Zielstrebiges, energisches, so als wollte sie eine Sache sofort in die Wege leiten. Für einen Moment hielt meine Mieterin inne, dann breitete sich auf ihrem Gesicht ein Schimmer tiefster Befriedigung aus. Nein, das war nicht die Frau von der ich womöglich sittenstrenge Vorträge erwartete.

Sie nahm ein Handy aus ihrer Handtasche, schien eine Kurzwahl einzugeben, lauschte einen Moment lang angestrengt.

„Hallo“, sagte sie, in einem fordernden, harten Tonfall, der nicht zu ihr zu passen schien, „ja ganz recht, ich bin es. Hast du mich noch nicht erwartet? Nein?“ Sie lauschte. Dann fuhr sie deutlich strenger fort. „Das ist mir egal. Du hast zu gehorchen. Oder willst du bestraft werden?“

Ja, manche Menschen täuschen ihre Umwelt perfekt. Ich jedenfalls kam zu dem Schluss, dass mein erster Anfangseindruck täuschte.

Denn es war weder ein Gespräch mit ihrem Beichtvater, noch mit ihrer besten Freundin. Welches Geheimnis verbarg diese Frau?

Frau Herrmann wechselte erneut ins Badezimmer, womit mir auch ihre weitere Konversation entging. Ich versuchte das System über die Fernbedienung besser einzustellen, selbst ein Blick in das blaue Heft, mit all den Anweisungen meines Vaters, brachte keinen Hinweis wie ich den Lautstärkeempfang verbessern konnte.

„…bis später und kein weiteres Versagen, wenn ich bitten darf“, hörte ich noch, da sie ins Wohnzimmer zurückkehrte. Damit beendete sie das Gespräch. Auf ihrem Gesicht lag ein Strahlen und sie leckte genießerisch und intensiv an ihren Fingern.

Ich konnte meinem Vater wahrlich keine Übertreibung vorwerfen. Es schienen sich Abgründe aufzumachen. Was erwartete mich noch? Mittlerweile wurde es Mittag und eine Reihe Besorgungen standen auf dem Zettel, aber spätestens am Nachmittag würde meine Entdeckerreise eine Fortsetzung nehmen. Auf meinem Gesicht breitete sich über das verfrühte Weihnachtsgeschenk, wie ich es sah, ein zufriedenes Lächeln aus. Nein, kein schlechtes Gewissen trübte meinen Sinn. Ich kam mir vor wie ein Forschungsreisender, ich fühlte mich gut. Nein, ich war kein Voyeur, ich probierte einfach ein wunderbares Weihnachtsgeschenk aus.

Bester Laune ging ich die Treppen hinunter, zurück in meine Wohnung.

Ich stand vor der Tapetentür, drückte die Klinke und unterdrückte einen Fluch. Das Schloss klemmte. Mit sanfter Gewalt drückte ich gegen die Tür. Sie bewegte sich nicht, stattdessen spürte ich einen Gegendruck. Ich erhöhte die Kraftanstrengung, doch von der anderen Seite erhöhte sich gleichsam der Druck. Umso intensiver ich die Tür zu öffnen versuchte, umso intensiver wurde auf der anderen Seite dagegengehalten. Einen Moment lang spürte ich es gegenständlich, das andere, das gegen die Tür drückte. Ein leichtes Schnaufen war zu hören, oder ein tiefes Atmen? Ein Kratzen an der Wand, ein paar Schritte. Dann war es vorbei, die Tür öffnete sich und ich stürzte unvorbereitet mit voller Wucht auf den Fußboden.

Mir war nicht wohl. Aber ein rascher Gang durch die Wohnung bewies mir, ich war allein. Das war wohl einfach das Ergebnis überspannter Phantasie. Doch an dem Schloss, ja es lag am Schloss, musste ich etwas ändern. Die Aussicht hier oben eingesperrt zu sein, erfüllte mich mit einem gewissen Grauen.

Dennoch. Ich war mir nicht sicher. Erneut kontrollierte ich die Wohnung. Zimmer für Zimmer, einen schweren Kerzenhalter in der einen Hand und aus der Küche ein dolchartiges Messer in der anderen, so durchsuchte ich mein neues Zuhause.

Sicher ist sicher.

Es war ruhig, ich war allein. Ganz allein.

Oder?

Ich stand in meinem Schlafzimmer. Mein Blick fiel aufs Bett. Eine aufgeschlagene Zeitung lag auf dem Kissen. Langsam trat ich näher.

Kleiner Junge (4 Jahre) vermisst

Ein Bild, verschwommen, ein schwarzer Haarschopf, leuchtende Augen und ein gewinnendes Lächeln. Darunter ein reißerischer Bericht und ein Interview mit einem Polizisten.

Warum lass mein Vater solche Zeitungen?

Ich sah aufs Datum.

17.Dezember. Das war heute. War er heute noch hier gewesen? Unmöglich, laut seinem Notar war er vor Tagen bereits abgereist. Dann lächelte ich. Natürlich, nicht nur der Kühlschrank war gut gefüllt, die ganze Wohnung war aufgeräumt. Er hatte jemanden geschickt, damit ich nicht gleich einkaufen musste, damit ich nicht erst aufräumen musste. Er kannte seinen Sohn. Deshalb verzögerte sich der Einzug um einen Tag.

Ich sollte mir Personal einstellen. Geld genug besaß ich ja nun. Und schließlich war ich der Sohn meines Vaters. Aus dem gleichen Holz geschnitzt. Ich würde leben, das Leben in vollen Zügen genießen.

Jedenfalls hatte dieser Jemand heute Morgen seine Zeitung vergessen. Ich nahm sie und legte sie in der Küche in den Altpapiereimer

Wo war der Wohnungsschlüssel, den das Aufräumpersonal benutzten? Ich atmete tief durch. Keine Frage, wahrscheinlich lag der Schlüssel unten im Briefkasten, sicher.

Sicher?

Da ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, fiel mein Blick auf den großen, polierten Tisch. Ich erinnerte mich an das Beil. Es fehlte. An seiner Stelle entdeckte ich jetzt einen handbeschriebenen Zettel.

Ich las ein Wort:

Willkommen

17.Dezember

Nachmittags

Ich beschloss mich persönlich bei meinen Mietern vorzustellen. Im vierten Stock lebte Riccarda Weller, hier wollte ich beginnen. Sie war zu Hause.

Kennen Sie das Gefühl einem Menschen gegenüber zu sitzen, der sich in seiner Haut nicht wohl fühlt? Riccarda Weller sah beständig auf ihre Hände, sie schlug die Beine in kurzen Abständen von links nach rechts und dann in der umgekehrten Reihenfolge übereinander.

Mit ihren Fingern strich sie durch ihre langen, roten Haare und zwischendurch zupfte sie an ihrem Dekolleté. Vielleicht war es genau das, was mich an ihr störte. Weniger, dass ihr Mietvertrag mit Richard Weller unterschrieben war.

Und ausgestellt, sprich von meinem Vater entsprechend bestätigt. Frau Weller besaß leicht maskuline Züge, die sie allerdings mit geschickten Schminken übertünchte. Auch ihre eher tiefe Stimme, die muskulösen Arme erinnerten mich an einen Mann. Doch ich blieb höflich. Ich starrte Riccarda weder an, noch lenkte ich das Gespräch auf peinliche Klippen hin. Nein, ich wollte meine Mieterin nicht in Verlegenheit bringen. Nach der logischen Abfolge saß Richard vor mir, der sich wie eine Raupe in einen Schmetterling, in Riccarda verwandelte. Ein in der Tat faszinierender Vorgang.

Wir tranken unseren Kaffee fast schweigend, bis mich Riccarda, mit kokettem Augenaufschlag auf die morbide, mir bisher unbekannte Geschichte meines Hauses aufmerksam machte.

„Sie wissen doch, wie viele Verbrechen hier geschehen sind?“ „Bitte?“

„Verbrechen.“

Riccarda besaß so eine bestimmte Art scheußliche Worte wie Verbrechen akzentuiert einzusetzen.

Ich schüttelte den Kopf.

„Nein.“

„Vierzehn Morde in den letzten zehn Jahren.“

Bei diesen Worten hob Riccarda ihre falschen Wimpern bis zur Schmerzgrenze empor.

Ich schluckte.