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Hinterm Deich ist die Welt in Ordnung. Dort steht der Portugeser, das erste Freudenhaus hinterm Deich, indem Liebchen Luisa mit eiserner Hand, viel Umsicht und Likör regiert. Und da der Prof aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause kommt, hat er nur ein Ziel: Seinen Hormonhaushalt im Portugeser in Ordnung zu bringen. Doch Liebchen Luisa findet es sei an der Zeit, dass er sozialen Rang erklimmen und ein ehrbarer Bürger werden möge. Und was sich Liebchen Luisa in den Kopf gesetzt, dass setzt sie auch um... So darf der Prof widerstrebend Wein, Weib und Gesang Adieu sagen...
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Seitenzahl: 628
Veröffentlichungsjahr: 2018
Carsten Steiner
Eine ziemlich unanständige Geschichte
© 2018 Carsten Steiner
Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7469-4095-3
Hardcover:
978-3-7469-4096-0
e-Book:
978-3-7469-4097-7
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„Ich bekenne, ich liebe es deftig!“ (Liebchen Luisa beim Betrachten einer männlichen Jungfrau)
Wie der Prof aus dem Krieg nach Hause kam, als erstes seinen Hormonhaushalt in Ordnung bringen wollte, aber durch äußeren Druck eine ganz andere Richtung einschlug
Da der Prof aus der Gefangenschaft nach Hause kam, führte ihn sein erster Weg schnurstracks in den Portugeser. Niemand, der den Prof kannte, und es kannten ihn viele, wunderte sich darüber, wie sich überhaupt niemand über den Prof wunderte, galt er doch den normalen Sterblichen als eine unerreichbare, wenn auch unberechenbare Geistesgröße. Der eine oder andere seiner in klassischer Bildung unerfahrenen Bekannten und Bewunderer rechnete ihn gar zu den sieben Weltwundern. Selbstredend gab es dafür einen Grund. Der Prof und so wollen wir ihn weiterhin nennen, beliebt bei Jung und Alt, dies vor allem bei den Damen im engeren wie auch im weiteren Umkreis, besaß Eigenschaften, die ihn von Normalsterblichen wohl unterschieden. Gern gab er den Charmeur und heimlichen Herzensbrecher, nebenbei, das soll nicht verschwiegen werden, war er aber auch ein ausgesprochen guter allgemein praktizierender Landarzt. Er kurierte so manches Wehwechen und brachte viele kranke Menschen auf den Weg der Besserung. Trunkene nahm er ins Gebet und brachte Läuterung über sie. Mit freundlicher Stimme wies er auf die unkalkulierbaren Risiken des Alkoholgenusses hin, so dass die reuigen Sünder ihm freiwillig die halb gefüllten Wein-, Bier- und Schnapsflaschen aushändigten. Aus der Sicht des Profs war das folgerichtig, da er mit dem alkoholischen Inhalt viel besser vertraut und ihn wesentlich nutzbringender anwenden konnte. Geschwätzigen klopfte er sanft auf die Finger, auf dass sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern mögen und wirklich Kranken verschrieb er eine Kur, auf dass ihre Arbeitskraft dem Allgemeinwohl erhalten bliebe. Für all seine guten Taten liebten ihn die Menschen und verziehen ihm daher manch hochmütige Attitüde. Daher machten sie aus dem einfachen Landarzt einen Professor, wenngleich sie ihn stets ein wenig despektierlich mit Prof anredeten.
Dann und wann haderte der Prof mit dem Schicksal, er der viel Geld und ein schönes Haus mit ein wenig Land erbte, da ihm ein eigenes Hurenhaus mehr zu sagen wollte. Überlegungen dieser Art überfielen ihn dann und wann, meist wenn er zu viel des hochprozentigen, aus einer konfiszierten Flasche zu sich nahm und das allgemeine Jammern seinen Sinn überkam.
Erschöpft fuhr er sich dann durch sein damals noch volles Haupthaar, sah vor seinem geistigen Auge ein paar schwindsüchtige Nymphen auf der Deichkrone lasziv dahinsinken und überließ sich samt seligen Lächeln jener Dunkelheit die unweigerlich auf überhöhten Alkoholgenuss folgt.
Doch an diesem Abend, da die Geschichte beginnt, waren ihm jegliche Gedanken an Ruhm und Besitz fremd und fern. Ein paar Freunde aus alten Tagen, die ihn in der Kreisstadt vom Bahnhof abholten, begierig zu wissen wie es ihm in den letzten Jahren ergangen, teilte er kurz und brüsk mit, am heutigen Abend gäbe es wichtigeres als ein Umtrunk mit seinen Freunden aus früheren, glückseligen Zeiten.
„Er war in der Fremde und denkt er ist etwas Besseres“, raunte der eine dem anderen zu.
„Nicht einmal eine volle Flasche konnte ihn umstimmen“, ergänzte ein anderer.
„Nicht einmal zwei!“, stellte ein dritter entsetzt fest.
Der Prof war empört. Ging es weder ums trinken gar ums liederliche Lieder singen, heute Abend ging es nur um seine Hormone. Wütend sprach er daher die Freunde an:
„Ich bin wütend und jeder der mir den Weg versperrt, wird meine geballte Faust in seinem Gesicht wiederfinden!“
Damit er sein Heimatdorf erreicht, stapfte er düsteren Blickes über verschlungene Pfade Richtung Deich. Dies in der stillen Hoffnung, Benno dem Dorfpolizisten aus dem Weg gehen zu können, da sonst ein Unheil geschehen mochte. Sorgte er an seinem letzten Abend vor dem Kriegseinsatz und der anschließenden Gefangenschaft in dem kleinen Ort hinterm Deich für reichlich Ärger. So war er voller Furcht, die Staatsmacht würde ihn seiner früheren Verfehlungen womöglich ins Dorfgefängnis bringen. Dort würde er über vergangene und womöglich zukünftige Missetaten unter Alkoholeinfluss nachdenken. Und da er eine leidliche Achtung dem uniformierten Vertreter des Gesetzes gegenüber verspürte, wäre er am Ende des Tages friedlich in die Zelle eingekehrt. Doch was wäre dann mit seinen Hormonen geschehen?
Weiß Gott, wenn ihn nicht einmal zwei Flaschen voller Alkohol umstimmen konnten, der gemütliche Schaukelstuhl in seiner Wohnung, der knisternde Ofen an dem er sich mit seinen frierenden Freunden einfand, die teilnahmsvoll seinen Erzählungen lauschten und seine Gastfreundschaft zu genossen.
Was dann?
Verzichten wir auf die überflüssigen Grübeleien. Es gab nur eines.
Heute Abend ging es in den Portugeser.
Da sah man ihn, die leicht untersetzte Silhouette gegen den Wind gepresst, auf geraden Weg in den Sündenpfuhl hinterm Deich eilend. Es ist für einen anständigen Menschen nicht der geradeste Weg ins Himmelreich, doch der Prof und das hielten ihm selbst die allerchristlichsten Kritiker unter seinen Mitmenschen zugute, hatte vier Jahre lang gedarbt. Denn mochte die Welt im Großen und Ganzen ein grausamer Ort sein, es gab da ein irdisches, himmlisches Reich, das Reich der Portugeserinnen. Genau dieser Ort war sein Ziel.
Doch bevor wir dem Prof auf seinem Weg in die Abgründe der menschlichen Leidenschaften folgen, sei ein Blick in die Umgebung gestattet, in welcher er lebte. Jedenfalls bevor der große Krieg erst in die Welt hinausgetragen wurde und dann von dort in die kleine Welt hinterm Deich zurückkam und über sie hinweg schlug.
Der Prof war wie erwähnt, Arzt. Arzt für allgemeine Medizin, sprich er kümmerte sich um kleinere, mittlere und gelegentlich auch um größere Gebrechen. Von seiner Praxis, die in einem Reetdach gedeckten Häuschen unmittelbar hinter dem Deich lag, hörte er von morgens bis abends das Rauschen des Meeres, allerdings nur dann, wenn das Meer sich mit voller Wucht in Form einer schweren Brandung gegen den Deich warf. Das tat es jeden Tag in Abständen rund sechs Stunden lang, ehe es die vorläufige Sinnlosigkeit desselben einsah und sich erschöpft für die nächsten rund sechs Stunden zurückzog um neue Kräfte zu sammeln. Dann kam es zuerst langsam, dann immer schneller, fast heimtückisch zurück, wand sich über den Grund, den die Einheimischen und überhaupt alle Menschen das Watt nennen, um mit neuer Wucht die von Menschenhand erbauten Hindernisse anzugreifen.
Wenn das Meer sich ruhig zeigte, waren es die Seevögel, die oberhalb der Brandung kreischend nach Nahrung Ausschau hielten oder der stete Westwind der um die Ecken pfiff und von seinen Ausflügen in die weite Welt erzählte. Erwähnt sei, der Prof war der einzige Mensch weit und breit, der die verschiedenen Möwenarten voneinander unterscheiden konnte, der Enten und Seeschwalben ihren Flugeigenschaften zuordnete und einer der wenigen Küstenbewohner, der sich an dem ausgeprägten Balzverhalten der auffälligen Kampfläufer erfreute.
Der Prof, den die respektlose Abkürzung seines Spitznamens keinesfalls störte, war sich seiner Sonderstellung durchaus bewusst. Er war intelligenter und wie er mit einer gewissen Würde in der Stimme feststellte auch vorausschauender als die Menschen die seinen Mikrokosmos mit ihm teilten. Der Prof warnte Jahre zuvor, dass von diesen trist in braun gekleideten, ständig herumschreienden und ebenso ständig den rechten Arm hebenden Männern kaum Gutes ausgehen konnte. Sie erinnerten ihn an Marionetten, die Arme wurden von unsichtbar bleibenden Puppenspielern gehoben und wieder gesenkt und das konnte, so der Prof, keinesfalls gut gehen. Da der Krieg verloren, gingen die Menschen in Sack und Asche und niemand wollte auf die Puppenspieler hereingefallen sein. Schließlich ist dem Menschen im Allgemeinen und den Deutschen im Besonderen eine Eigenschaft bis heute eigen. Die unüberbrückbare Kluft zwischen der Wirklichkeit und der eigenen geschönten Wahrnehmung.
Doch klären wir eine andere Frage.
Warum wird diese Geschichte erzählt?
Ganz einfach:
Künftige Generationen sollen daraus lernen. Nein, keinesfalls wie es unsereins im Geschichtsunterricht beigebracht wurde. Mit Jahreszahlen, die wie Jongleurbälle durch die Luft geschleudert wurden, mit den Fragen nach dem warum, wieso und woher oder womöglich wohin. Lauschen wir der Geschichte eines Mannes, der sich zu dem was ihm passierte ursprünglich nicht berufen fühlte, seine Einstellung aber rasch änderte. Dabei war der Prof nur ein einfacher Mensch. Wein, Weib und Gesang, das war sein Credo. Brauchte er mehr zum Leben? Sicher, er war anders als seine Nachbarn, es erfreute ihn, hochnäsig über seine unbelehrbaren Patienten zu Gericht zu sitzen, genauso wie er einsame Spaziergänge an die Küste unternahm, um über bedeutungsschwere Sachverhalte nachzudenken. Zum Beispiel über die ägyptische Reichskrise unter dem Ketzerpharao Echnaton und seine Verstrickungen in innersyrische Ränkespiele. Ja, das waren Gedanken so ganz nach dem Geschmack des Profs und genauso soll ihn die Geschichte in Erinnerung behalten. Kein Mensch mit einem ständigen Wenn und Aber, nein, einfach ein Mann, der aus der Not anderer keinen Vorteil zog, sondern selbst mit Anlauf und lautem Hurra mitten in die beschissene Not hineinsprang und trotzdem das Beste erhoffte. Denn mögen auch die alten Helden nur in den Köpfen der Menschen existieren, mögen ihren mythischen Schlachten nur im Gedanken ausgefochten, des Prof Menschlichkeit und sein Leben mit acht Töchtern, allesamt von fremden Lenden gezeugt, das ist schon eine Geschichte wert. Zumal er eine liebevolle, wenngleich zeitweise höchst anstrengende, sprich kapriziöse Ehefrau fand, ihres Zeichen Ex-Agentin des britischen Geheimdienstes, die diese kleine Welt mit ihm teilte.
Soweit die Klärung dieser Frage.
Oder wie der Prof einmal den an den Strand gespülten Quallen gegenüber, einem Julius Cäsar gleich, ausführte:
Denn ich bin die Nummer eins, ihr Wanzen und Kakerlaken, ihr schleimiges und widerwärtiges Volk!
Sprach und drehte sich um.
Der Prof wäre in vergangenen Zeiten, wie dem dunklen Mittelalter, zum Gott erhoben worden. Zumindest zum König. Zumindest von den Menschen, die ihn kannten. Zumindest von den Huren im Portugeser.
Damit sind wir beim Portugeser. Das Portugeser war ein altehrwürdiges Haus oberhalb der mit Kopfsteinen gepflasterten Landstraße. Ein wenig düster, was wohl mehr an den dunklen Winkeln und Erkern als an der roten Beleuchtung lag, die gerade in mondlosen Nächten mehr bedrohlich als einladend wirkten. Aber innen wartete auf den Gast eine behagliche Atmosphäre, es erwartete ihn, wie Eingangs schon erwähnt, ein Stück Himmel auf Erden. Und genau davon träumte der Prof nun schon geschlagene vier Jahre. Viel zu lang. Er galt endlich wieder im Sündenpfuhl Einlass zu finden. Nichts Anderes, genau das.
Doch dann kam ihm die Sache mit Merle dazwischen.
Merle stand hinter der Eingangstür des Portugesers da der Prof sturmgebeutelt, das Haar zerzaust eintrat, und sah ihn ernst aus ihren großen, blauen Augen an. Ihr langes, blondes Haar wurde nach hinten in einem Pferdeschwanz gebändigt. Und mit der ganzen Ernsthaftigkeit, zu der ein dreijähriges Mädchen fähig ist, sah sie dem Fremden tapfer ins Gesicht und begrüßte ihn mit gleichsam tapferen Worten:
„Ich heiße Merle. Schiet-Wetter draußen, nech?“
Der Prof blieb für den Augenblick einer Sekunde zu lange eine Antwort schuldig.
Die Kleine senkte den Kopf. Leise, aber durchaus vernehmlich war ein durchdringendes Schluchzen zu hören. Stammelnde Worte, die der Prof kaum verstand, da in Richtung des blank polierten Bodens gesprochen, weinend herausgepresst, entluden sich dem Mädchen.
Unwillkürlich ging er neben ihr in die Knie und hob mit seinen großen Händen ihr kleines Kinn ein Stückchen an.
Doch bevor wir sehen, wie geschickt sich der Prof im Umgang mit Kindern zeigte, obwohl selbst eher unerfahren im Umgang mit den selbigen, sei ein kleiner Zeitsprung von wenigen Sekunden angebracht.
Warum zögerte der Prof auf eine einfache Frage, wie Schiet-Wetter draußen, nech? zu antworten.
Zuerst sehen wir den moralischen Faktor.
Der Prof, obwohl in der Vorkriegszeit ein regelmäßiger Besucher des Portugesers, quasi ein Eingesessener oder besser gesagt ein Dauerliegender, auch der einen oder anderen holden Maid unter seinen Patientinnen zugetan, war doch, und hier stimmte er mit der Mehrzahl der Bevölkerung überein, ein ganz entschiedener Verfechter der These, dass kleine Kinder in einem Hurenhaus nichts verloren haben. Dort konnten sie ganz schnell auf die schiefe Bahn geraten oder schlimmeres, sie konnten womöglich mit der ihren eigenen kindlichen Neugierde Dinge sehen und hören, die Erwachsenen vorbehalten bleiben sollten.
Doch es gab weitere Denkmuster, die ihm durch den Kopf schossen, übergangslos den vorhergehenden folgend.
Wie in alles in der Welt konnte Luisa Vera Maria Beatriz Patrizia Joana Tavarães, genannt Liebchen Luisa, die reichste Puffmutter hinterm Deich, ein kleines Mädchen von drei Jahren an die Tür zu ihrem Hurenhaus zu stellen? Was machte dieses unschuldige Ding überhaupt im Hurenhaus? Gab es denn keinen moralischen Anstand mehr hinter den rot beleuchteten Fenstern?
Um ein Haar brachte ihn ein alter Rassendünkel zur Raserei. Als Hündische Hündin, Mutter aller Hurensöhne, ja sogar Portugiesische Schlampe wollte er die Puffmutter beschimpfen. Was waren da gar schändliche Ausdrücke in seinem Wortschatz zu finden. Aber Liebchen Luisa würde ob seiner verbalen Auswürfe nur milde lächeln, ihn an ihren voluminösen Mutterbusen drücken und ihm ein hübsches Mädchen für die Nacht empfehlen. Und dazu, da er so wütend war, eine Zigarre und eine Flasche Moselwein, den er so gern mochte, mit auf das Zimmer schicken.
Das alles brachte den Prof fast zum Kochen. Er war empört, entsetzt, außer sich, gnadenlos dem moralisierenden Wahnsinn verfallen.
Zumindest für ein paar Augenblicke.
Kein Wunder, dass er zögerte ehe er der Kleinen antwortete. Was dann zu dem bereits erwähnten Tränenausbruch führte. Der Prof schäumte. Weniger Luisa Vera Maria Beatriz Patrizia Joana Tavarães galt seine Wut, gleichsam ihm selbst. Er, der keine Kinder sein Eigen nannte, Kinder aber liebte, erwies sich als regelrechter Kinderschreck.
Pfui Prof, sagte er im Stillen zu sich selbst. Pfui, schäm dich!Gründlich.
Schäm dich Portugeserin! fügte er zum Ausgleich hinzu.
Dann nahm er das kleine Mädchen in den Arm und drückte das weinende Bündel fest an sich.
Die Portugeserin würde heute kein Geld von ihm bekommen, soviel stand fest. Aus Prinzip, da sie am Leiden eines kleinen Mädchens schuldig war.
Und als er dem besagten kleinen Mädchen ins Gesicht sah lief ein Lächeln über ihre schmalen Züge.
„Willst du mein Papa sein?“, fragte sie, und zwischen jedem Wort gab es eine schluchzende Pause.
Er hielt sie weiter im Arm und dann lächelten sie einander zu. Doch breiteten sich hinter des Profs Gesicht ernste Sorgenfalten in seinem Sinn aus, galt es seinem bisher sorglosen Leben wie er argwöhnte wohl auf Nimmerwiedersehen Ade zu sagen. Denn auf die Frage des kleinen Mädchens, soviel stand fest, konnte er kaum mit einem Nein antworten. Er machte seine Schultern gerade, überlegte für einen Moment der wohl gestellten Falle zu entfleuchen, um sich einen Augenblick später in sein vorgegebenes Schicksal zu fügen.
Wie dem Prof von seiner Vaterschaft kundgetan und es aus Liebchen Luisas sorgsam gelegter Schlinge kein Entkommen gab
Der Prof wohnte in einem alten Reetdachhaus das Urzeiten zuvor einst seinem Großvater gehörte. Über Umwege und notarielle Umschreibungen, Testamentsverfügungen und Katastereinträge gelangte es in seinen Besitz.
Hier waren seine Praxis und Privaträume untergebracht, hier war er zu Hause. Die Jahre ohne notwendige Reparaturen durchzuführen, das gestand sich der Prof selbstkritisch wiederholt ein, taten weder Haus noch Dach gut. Für eine Renovierung und das war ein gutes Argument für den inneren Schweinehund, besaß der Prof aber weder Zeit, Talent noch Geld.
Nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht war der Prof gleich vielen anderen Soldaten in Kriegsgefangenschaft geraten. Der Prof wanderte in die Britische. Das war für ihn weder erheiternd noch belanglos, dachte er voller Wehmut an sein Häuschen, dessen Dach einer Erneuerung bedurfte, die salzige Luft, die an den Grundfesten seines Hauses nagte und die steten Winde die in seiner Abwesenheit an den Fensterläden klapperten. Vor allem aber sehnte er sich nach den Damen des Portugesers, die allesamt seiner gründlichen ärztlichen Hilfe, körperlichen Nähe und Mitmenschlichkeit bedurften.
Die Briten boten ihm seiner medizinischen Kenntnisse wegen an, im Land des warmen Bieres und des wenig schmackhaften Porridges zu bleiben. Verlockende finanzielle Zuwendungen wurden versprochen, die auch einen heimatverbundenen Mann wie den Prof wankelmütig werden ließen. In schwachen Minuten redete er sich ein, selbst im nassen und klammen England würde es vergleichbare Einrichtungen wie den Portugeser geben, die ihm nach des Tages langer Arbeit, Entspannung und Wohlfühlerlebnisse boten. Doch es blieben schwache Minuten, die Sehnsucht nach dem richtigen Portugeser, dem einzigen auf Erden, waren stärker und bestimmender.
Andererseits gab es die einen oder anderen, die ihm einredeten, wie schlecht doch Frauen und insbesondere die Damen aus dem Portugeser und vergleichbaren Etablissements seien, da sie arme, schwache Männer ausbeuteten, indem sie ihnen den letzten Pfennig für dubiose Dienstleistungen aus der Tasche stahlen. Doch überzeugen oder ihn gar von seinem Plan abbringen einst zum Portugeser zurück zu kehren, konnten jene Einflüsterer ihn am Ende nicht. Einmal fühlte er die Ehre seiner Lieblingsheimstatt so sehr in den Schmutz gezogen, dass er gar eine kräftige Prügelei begann. Von einem blauen Auge und einem wenig verletzten Stolz abgesehen, kam es beim Prof aber zu keinem grundlegenden Sinneswandel. So blieben die angesprochenen schwachen Minuten in denen der Prof wankelmütig wurde eher selten.
Am Ende blieb er standhaft, lehnte mannhaft alle Angebote ab, um im Sommer 1948 auf heimatlichen Boden einzutreffen. Kaum in Hamburg angekommen, telegrafierte er Liebchen, um sein baldiges kommen zu avisieren.
Sein erster Weg führte ihn folgerichtig, wie wir wissen, direkt ins erste und einzige Bordell am Platze, mit dem besagten Kennenlernen eines kleinen Mädchens namens Merle, die ihn in einer Hauruckaktion gleichsam adoptierte. Ja ganz richtig, der Prof wurde als Vater adoptiert.
Da saß er nun mit Liebchen Luisa und den anderen Mädchen, denen es nach getaner Währungsreform wieder besserging, da die zahlende Kundschaft zurückkehrte. Anfangs eher zurückhaltend, kleinere Dienstleistungen verlangend, doch mit der Zeit kamen die alten Sauereien wieder auf den Tisch und Liebchen sah mit Freuden die fette, stetig wachsende schwarze Zahl auf ihrem Bankkonto.
Liebchen, ihre Haushofmeisterin Gabrielle, die angestellten Fachkräfte, sie alle sahen erwartungsvoll zum Prof und der kleinen Merle hinüber, die ihre kleinen Händchen fürsorglich auf die großen Pranken ihres selbst erwählten Vaters legte.
„Später komme ich einmal in den Himmel“, vertraute die Kleine im verschwörerischen Flüsterton dem Prof an.
„Wirklich?“, flüsterte der zurück.
„Ja, weil ich so brav bin!“
„Ah ja. Und dann?“
„Dann habe ich es immer schön!“
„Du willst also in den Himmel?“ Der Skeptizismus in Vaters Stimme war unüberhörbar.
„Ja“, gab die Tochter mit energischer Stimme zurück. „Wieso fragst du?“
„Das mit dem schönen Himmel wird allgemein völlig überschätzt“, raunte der Prof selbstsicher zurück.
Dieser Aussage konnte Merle nicht richtig folgen, aber sie spürte die unübersehbaren Differenzen zwischen ihrem neuen Vater und den Himmelsgewaltigen. Da Merle, wie wir später erfahren werden, eine politische Ader zu eigen war, beließ sie es vorläufig dabei und stellte keine weiteren Fragen. Dafür sollte die Zeit anderweitig kommen.
Stattdessen hörten sie sich gemeinsam die traurige Geschichte von Merles Mutter an. Einem gefallenen Mädchen, wie Liebchen Luisa berichtete, das Spitzentaschentuch immer dicht an der Nase, unterstützt von Haushofmeisterin Gabrielle, die jedes Wort ihrer Chefin pflichtschuldig mit einem Kopfnicken und einem tiefen Seufzer kommentierte.
Zusammengefasst wurde dem Prof erzählt, Merles Mutter war eine unschuldige Seele, die von ihrem treulosen Freund geschwängert, keinen anderen Weg wusste als sich in den Portugeser zu begeben, um dort ihr Kind zu bekommen. Aus dem sie dann unerkannt nach wenigen Wochen ohne Dank und auf Wiedersehen verschwand.
„Das ist ungewöhnlich“, bemerkte der Prof, „schließlich ist dies ein Hurenhaus und kein Kreißsaal.“
Gabrielle seufzte erneut aus tiefster Seele und wies auf die schwierigen familiären Verhältnisse hin. Da gab es einen rachsüchtigen Vater, eine hysterische Mutter und eine schwachsinnige Großmutter. Ganz zu schweigen von dem grenzdebilen Cousin zweiten Grades. Konnte es der werdenden Mutter jemand verdenken, dass sie voller Verzweiflung, angesichts dieser Tatsachen, ihr Kind lieber in der Anonymität eines stark frequentierten Bordells zur Welt brachte?
Überzeugt war der Prof keinesfalls, er hakte hier nach, ging jener Sache auf den Grund, zeigte sich einem Bürokraten nicht unähnlich, bis Gabrielle der Kragen platzte.
„Der Papst ist übrigens katholisch“, sprach sie mit deutlicher Stimme, um damit anzudeuten, dass Realitäten, wie geschildert, Realitäten blieben.
Der neuakquirierte Vater fügte sich der weiblichen Logik und sah auf seine Tochter hinunter, die mittlerweile angesichts der komplizierten und allem Anschein nach höchst unerfreulichen Familienverhältnisse es vorzog, auf seinem Schoß einzuschlafen. Traudl, die der Prof in der Vergangenheit mehrfach so ganz ohne Kleidung vernaschte, brachte der Kleinen eine Decke und zog sie ihr bis zum Kinn hinauf.
Keine Frage, der koketten Traudl waren die mütterlichen Gefühle ins Herz gedrungen.
Keine Frage, der Prof wollte Merles Vater sein. Er liebte das Mädchen bereits nach wenigen Augenblicken heiß und inniglich und in seinem innersten wurde dem Prof klar, warum ihm der Heldentod an der Front versagt geblieben war.
Allerdings stand der Prof vor einem inneren Zwiespalt. Er liebte auch die Damen des Portugesers. Er hegte warme, gar heiße Gefühle für die Belegschaft des ersten und einzigen Bordells hinterm Deich. Wann war er zuletzt in den Lotterbetten, auf den Teppichen und an jedem zugänglichen möglichen oder unmöglichen Platz in diesem Haus von hehren Glücksgefühlen überströmt worden? Solange lagen diese Feuerwerke orgiastischer Lust zurück, fast versunken im Dunkel der Sage.
Damit stellte sich ihm eine existentielle Frage. Konnte er als alleinerziehender Vater das Portugeser regelmäßig aufsuchen? Er sah zum Fenster hinaus. Im Westen begann die untergehende Sonne ein farbenfrohes Spektakel, von zartrosa bis dunkelstem Rot an den Himmel zu zaubern und er, der Prof, saß mit einem Adoptivkind im Arm da. Die Schlinge zog sich um seinen Hals zusammen. Die Frage nach weiteren Bordellbesuchen war zumindest vorläufig, eindeutig mit „Nein“ zu beantworten.
Daher reckte er das Kinn in die Höhe und zeigte eine gewisse Renitenz.
„Ich habe meine Patienten“, tat der Prof kund.
Keine Frau heute Abend dachte er traurig, gerade aus dem Krieg und der Gefangenschaft zurück, ein einsames Häuschen, sogar keine angenehme weibliche Gesellschaft, war das ein glückliches Leben? Zusätzlich verlangten sie von mir, die Verantwortung für ein kleines Waisenkind zu übernehmen. Gab es niemand anderen?
Ausreden, lieber Prof, letzte verzweifelte Ausflüchte.
Denn das Fundament voller Mitgefühl war errichtet, selbst des Profs Hormonproblem konnte es nicht mehr zum Einsturz bringen. Die Gegenwehr des Profs erlosch nach all den Jahren an der Front schneller als ihm lieb war.
„Das ist kein Hinderungsgrund. Merle kann ohne Probleme auch in deinem Behandlungszimmer spiele, klein und süß wie sie ist“, wies ihn Haushofmeisterin Gabrielle zurecht. „Und denk doch nur“, fuhr sie mit einem mit seligem Lächeln auf den Lippen fort,
„wie schön es ist, ein kleines Menschenkind um dich herum zu haben. „Wir“, so zeigte sie es mit einer Krokodilsträne in den Augen an, „würden das auch gern erleben!“
„Das jedoch“, fuhr Traudl fort und Liebchen Luisa warf ihr für diese Worte einen wohlgefälligen Blick zu, „wäre in einem Hurenhaus kaum schicklich.“
„Sie müsste in ein Heim“, entgegnete der Prof traurig und hörte auf die ruhigen Atemzüge seiner kleinen Schutzbefohlenen.
„Das süße Ding in ein Heim?“, entgegnete Liebchen Luisa, deren Frage in einem spitzen Schrei endete.
Der Prof blickte in eine Reihe entrüsteter Gesichter.
„Aber wenn das der Pastor mitbekommt oder die Polizei?“
„Die sind informiert“, kam es triumphierend im Chor zurück.
„Informiert?“, fragte er mit entsetzter Stimme.
„Ja“, entgegnete Liebchen Luisa. „Nach Erhalt deines Telegramms haben wir allen wichtigen Personen im Umkreis mitgeteilt, dass Merle, nun, die Frucht…“. Hier stockte die Puffmutter, hüstelte leicht und gab ihrer Adjutantin mittels Blickkontakt den Befehl zu übernehmen.
„Es ist so“, fuhr Gabrielle stockend fort, „wir haben gesagt, die Kleine wäre ein Ergebnis … einer Vereinigung, zwischen dir und … einer…nun ja.“
Nun war es raus. Der Moment vor dem das ganze Bordell tagelang zitterte. Wie würde der Prof, einer der besten Kunden überhaupt, der Liebling von Liebchen und allen angestellten Damen auf diese faustdicke Lüge, diesen Vertrauensbruch reagieren? Wie würde der Prof diese Geschichte annehmen? Eine Geschichte, sorgsam und listig bei mehreren Flaschen Likör ausgedacht, damit es die Verantwortlichen hinterm Deich glauben würden! Nun da der Prof Farbe bekennen sollte, würde er dem enormen moralischen Druck seines eigenen zarten Gemüts standhalten?
Der Prof dachte nach. Er war kein Phantast, auch wenn er unter anderen Umständen vielleicht Philosoph, Mystiker, gar epischer Dichter geworden wäre. Er spürte wie sich die Schlinge immer enger um seinen Hals zusammenzog.
Dennoch wagte er einen letzten Rest von Widerstand.
„Aber das ist eine Lüge“, begehrte er auf.
Liebchen Luisa stand von ihrem Stuhl auf, um in der Mitte des Raumes stehen zu bleiben. Scharf blickte sie ihm ins Gesicht, dann schmetterte sie ihm ihre Anklage brutal ins Gesicht.
„Nur weil du dich in deinem Leben oft gewaschen hast, bist du noch lange kein sauberer Mann!“
Das saß. Dagegen gab es keine sachliche Widerrede.
„Im Übrigen“, fuhr Liebchen in der Pose des selbst ernannten Moralapostels fort: „Es wissen eh alle von deinen Untaten!“
Das war der Todesstoß.
Denn alle wussten es.
Der Pastor wusste es.
Oh Gott!
Der Bürgermeister wusste es.
Unangenehm.
Der Dorfpolizist wusste es.
Extrem unangenehm.
Wie war das mit dem ruhestörenden Lärm, den Anzeigen wegen ungesetzlicher Schlägereien im volltrunkenen Zustand, der Verwarnung wegen gotteslästerlichen Fluchens auf dem Gehsteig? Diese drei geschwätzigen Elstern würden die Geschichte natürlich auch zu Hause erzählen. Der Prof ist Vater eines Kindes. Irgendwo weit entfernt gezeugt, wohl kurz bevor er in die Kriegsgefangenschaft ging und das arme Mädchen war wer weiß vorher gekommen, um ihm das Ergebnis ihrer körperlichen Vereinigung zu zeigen und dabei vor Gram, da ihr Geliebter in der Gefangenschaft darbte, gestorben!
Noch schlimmeres ging ihm durch den Sinn. Er dachte an all die betörenden Jungfrauen, zumindest an jene, die aussahen, als wären sie Jungfrauen. Wie konnte er einer selbigen ruhig ins Gesicht sehen und dabei ernsthaft unschickliche Gedanken hegen. Nun, da er Vater einer Tochter war.
Wollte er weiter fragen? Ernsthaft mit Luisa über seinen Fehltritt sprechen?
Liebchen Luisa beantwortete ihm die Frage, ohne sie gehört zu haben. Das zeichnet eine gute Puffmutter aus. Eine wahre Menschenkennerin.
„Sie kam vor dreieinhalb Jahren, war schon schwanger mit der Kleinen. Ich habe sie aufgenommen, durchgefüttert und sie hat solange es ging, mir den Haushalt geführt.“
„Und dann?“, fragte der Vater in spe.
„Kurz nach der Geburt ist sie abgehauen, verduftet, ab durch die Mitte, das undankbare Gör“, antwortete Jenny, der Neuzugang aus Schlesien, bekannt für ihre klaren Worte.
Der Prof atmete tief durch und strich seiner neu erworbenen Tochter zärtlich übers Haar.
Aber dann kam es in ihm hoch.
„Das habt ihr allen erzählt? Ich schwängerte dieses arme Mädchen?“
Die angestellten Huren, die Haushofmeisterin und die Puffmutter nickten synchron zu seiner Frage. Der Herr im Himmel, der Gottvater persönlich konnte kaum seliger lächeln, wie die angetretene Hurenschar.
Der Prof bedachte die Grundzüge der Zivilisation. Gewiss, er selbst sah sich als achtbaren, ehrenwerten Menschen, doch gedachte er der Worte, dass unter der dünnen Kruste der wohlgefälligen Erziehung in uns allen die Bestie lauert. Die zu jeder Grausamkeit fähig ist. Wäre er, von seiner besten Freundin gelinkt, so schamlos hintergangen, zu jeder Grausamkeit fähig? Er, der sein Leben dem Vaterland darbrachte. Als Dank nun ohne eine weiche, warme Frau, dafür aber mit einem Kind bedacht.
Er, der doch nur den bescheidenen Wunsch hegte, sich einen Abend lang in einem Lotterbett unkeuschen Tätigkeiten hinzugeben.
Liebchen unterbrach sein hemmungsloses Selbstmitleid.
„Ja, sie ist deine Tochter, Prof. Ist dir übrigens gut gelungen“, und mit diesen Worten beendete Liebchen die Diskussion, indem sie ihrem Gast einen Likör einschenkte. Da wurde dem Prof schlagartig klar, jegliche Gegenrede war ab diesem Moment völlig sinnlos. Es war besser sich in sein Schicksal zu ergeben, zumal die Kleine mit ihren zarten Händchen seine großen Hände auch im Schlaf weiterhin festhielt.
So kam der Prof zur ersten seiner acht Töchter. Ein liebenswerter Mensch, dem das Gute doch so nah wie das Böse fern, in diesem Moment hilflos berührt und völlig überfordert. Feinfühlig wie die Damen nun mal waren, entfernten sie sich zwecks Befriedigung ihrer zahlreichen, zahlenden Kundschaft in die dafür bereitstehenden Räumlichkeiten. Nur Liebchen Luisa gedachte ihrem langjährigen Freund Gesellschaft zu leisten. Selbstverständlich blieb sie dem Prof als gute Freundin erhalten, schon allein um seinen angegriffenen Seelenzustand zu kontrollieren. Sie war auf die Idee gekommen, des Profs Seele zu läutern, ihm eine Aufgabe zu verschaffen, fern zu halten von den einstigen Saufkumpanen, von der schlechten Gesellschaft ringsumher. Vor ihren geistigen, in bestimmten Momenten höchst katholischen Augen, erschien er ihr einem zukünftigen Heiligen gleich. Das war, sagen wir es ehrlich, maßlos übertrieben, aber der gute Wille zählt. Doch Liebchen traf mit ihrer Entscheidung voll ins Schwarze. Mit Beginn seiner Vaterschaft sollte der Prof zu einem Vorbild an Vernunft, Würde und Empfindsamkeit werden.
„Du bist eine Stütze der Gesellschaft“, pries sie ihn mit lauter Stimme, zwischen zwei Schlückchen Likör.
Der Prof enthielt sich jeglicher Aussage.
„Ich hingegen“, seufzte sie unverhohlen und rollte dabei theatralisch die Augen, „frage mich jeden Tag, warum habe ich bloß angefangen meine Kleider gegen Geld auszuziehen?“
„Weil es dir immer ums Geld ging“, entgegnete der frisch gebackene Vater mit gehässigem Unterton in der Stimme. Daraufhin verfiel er ins brütende Schweigen.
Liebchen überhörte seine freudlose Attacke, fuhr stattdessen fort, die Diskussion in eine andere Richtung zu lenken. „Wir haben“, so sprach sie in die Stille „natürlich für Kleider, Unterwäsche und dergleichen gesorgt. Nebenan stehen zwei Koffer, die kannst du mitnehmen. In dem einen wirst du einen Umschlag mit genügend Bargeld finden, auf dass du die Kleine angemessen aufziehen kannst. Wir wollen selbstredend, dass du dir keine Sorgen machst und dich mit Nebensächlichkeiten beschäftigst. Konzentriere dich nur ganz auf Merles Aufzucht und Hege.“
Ein schwaches Lächeln lief über das Gesicht des frischgebackenen Vaters, der seinen Kopf hinunter beugte um der frischgebackenen Tochter ihren widerspenstigen Haarschopf zu küssen. Es wurde ein langer Abend im Portugeser, weniger weil der Prof hemmungslos und radikal seine Hormone unter Liebchen Luisas Personal brachte. Das war ihm, im Gegensatz zu längst vergangenen Zeiten, von jetzt ab verboten. Ihm als einzigen Mann hinterm Deich. Was für ein Jammer, was für eine Ungerechtigkeit! Früher einmal sprach der Prof bei seinen häufigen Exkursionen in den Portugeser eine Dame etwa mit folgenden Worten an:
„Verehrte Dame, verzeihen sie mir mein Ansinnen, aber würden sie bitte ihre Schenkel für mich öffnen? Möglichst schnell?“ Aufforderungen dieser Art gehörten einer anderen, vergangenen Zeit an. In der Gegenwart galt es, andere Dinge zu besprechen. Der Prof begehrte, da die Würfel gefallen, die Geschichte ganz genau zu erfahren. Liebchen Luisa erzählte alles über Merles Mutter, dabei trank der Prof einen Likör nach dem anderen und vergewisserte sich erneut, dass auch wirklich alle Nachbarn über seine Vaterschaft im Bilde waren. Zwischenzeitlich saß er still und im Gedanken versunken, schenkte seiner Tochter einen zärtlichen Blick, streichelte über ihre Wangen. Bis seine Welt in Müdigkeit versank und ihm die Augen zu fielen.
Ein feines Lächeln lief über Liebchen Luisas rote Lippen als sie eine weitere Decke holte, den schlafenden Prof zudeckte, das kleine Mädchen fest im Arm.
Gabrielle kam ins Zimmer, leise wie üblich und blickte vor Wonne seufzend auf das Tochter-Vater Paar.
„Hast du ihm eigentlich erzählt, wie er Merles Mutter vor dem heranfahrenden Zug rettete und ihr seinen Wintermantel umlegte, da sie kurz vor dem erfrieren war? Ich erinnere mich, bei dieser Stelle liefen bei der Frau Pastor hemmungslos die Tränen.“
„Das gilt es zu lernen, Kindchen“, erwiderte Liebchen Luisa mit lehrhaften Unterton, „nie alles auf einmal. Er ist für den Anfang geschockt genug, sollte er gar einem Samariter gleich sein?“
So wandelte auf Erden eine weitere geläuterte Seele, ganz so wie Liebchen Luisas Plan es vorsah. Sie war der Meinung, dass dem Prof ein wenig Verantwortung und Regelmäßigkeit in jeder Hinsicht guttun würde. Womit sie ehrlich gesagt auch Recht behielt.
Das Liebchen der Erde allerdings allemal näher war als dem Himmel, bewies sie am späten Abend, als ein junger, knackiger Matrose schüchternen Herzens das Portugeser betrat, da er gedachte seine Unschuld zu verlieren.
„Darf ich dich von deiner Angst befreien?“, fragte sie den Jüngling mit gewinnendem Lächeln. Selbiger nickte und lächelte kaum sichtbar zurück. Liebchen besaß unüberhörbar ein Händchen im Umgang mit männlichen Jungfrauen. Der Matrose schluckte hörbar.
Liebchen fühlte der guten Taten war es am heutigen Abend lange nicht genug. Ihr eigenes Seelenheil bedurfte der Läuterung und so nahm sie sich höchst persönlich des Jünglings an.
Während sie nach seiner Hand griff, um mit ihm den Weg in ihren eigenen Sündenpfuhl zu nehmen, flüsterte sie ihm zu: „Dann werden wir zwei jetzt Unkeuschheit treiben!“
Über die Herkunft einer Südländerin und wie sie im Norden heimisch wurde. Über den Ursprung des Wortes Portugeser. Wir erfahren wie der Prof von den braunen Schergen in die Armee gepresst wurde
Luisa Vera Maria Beatriz Patrizia Joana Tavarães lebte als junge Frau irgendwo tief in der portugiesischen Provinz, da wo die Portugiesen ihre berühmten Korkeichen stehen haben mit denen sie ihren weltweit berühmten Portwein verkorken. Womit wir direkt bei ihrem Vater wären.
Ihr Vater war eine Korkeichen-Koryphäe. Ihm war die Liebe der besagten Bäume zur Wärme genauso bekannt wie Ihre Abneigung gegen das Gruppendasein, denn Korkeichen gedeihen wirklich am besten, wenn sie mit einem gewissen Abstand zum nächsten Artgenossen stehen. Eigenbrötler gab ihr Vater immer wieder gern zum Besten, gäbe es unter den Menschen, aber auch unter Bäumen.
Doch war Liebchens Vater bei weitem mehr als nur ein Korkeichen-Experte. Er war ein Mann der den Mittelpunkt liebte, stets war er dort zu finden, wo die lauteste Diskussion, die schlimmste Prügelei und die schönsten Frauen zugegen waren. Ein Aufstieg auf der sozialen Rangleiter wäre ihm bei seinen Fachkenntnissen gewiss gewesen. Doch leider war Luisas Vater auch ein absoluter Experte im unkontrollierten Trinken alkoholischer Getränke, womit er sich jeglichen sozialen Aufstieg verdarb. Ganz zu schweigen davon, dass ihm die Damen bewundernde Blicke ob seines federnden Ganges hinterherwarfen und dabei schlimme, unzüchtige Gedanken hegten.
Da er sein Fachwissen um der portugiesischen Korkeiche mit dem Verführen fremder Damen, gepaart mit einem guten Schluck Wein kombinierte, kam es immer wieder zu unschönen Szenen. Denn in einem katholischen Land wie Portugal gab es nur zwei Sorten von Frauen, verheiratete und unverheiratete. Auf die verheirateten passten die Ehemänner auf, um die unverheirateten kümmerten sich Väter und Brüder. Mit List und Tücke gelang es ihm trotzdem den Damen höchst erfolgreich an die Wäsche zu gehen. Fürsorglich war das von Luisas Vater gedacht, wenn er still und heimlich einer schönen Frau den Hof machte, sah er sich doch weniger als Don Juan, viel mehr als einen höflichen, gottesfürchtigen Mann, der seine überbordende Liebe anderen Menschen, bevorzugter weise schönen, jungen Frauen, auf ihrem beschwerlichen und steinigen Lebensweg mitgab.
So manches Mal führte diese seine so menschenfreundliche Einstellung zur allgemeiner Empörung und häufig genug kam er mit blutender Nase oder womöglich einem Zahn weniger nach Hause.
Doch stets war er, wie die Angelsachsen sagen, ein Gentleman, ein Kämpfer, der seinem Gegner auf dem Schlachtfeld wie weiland einem Kreuzritter entgegenkam, statt bösen Flüchen und Johlen lieber selbstrezitiertes entgegen schleuderte:
Niemand liebte dein Weib mehr als ich
Kam meine Liebe doch von Gott!
Und der liebe Gott hat einen Plan!
Für alle?
Nein, nicht für dich, du Wicht.
Denn wer ist schon ohne Sünde?
Du, du elender Wurm? Wohl kaum!
Doch ich werde dich binnen von Minuten erwürgen!
Mit dem Erwürgen klappte das um einiges schlechter als mit dem Reimen, daher das Blut an seiner Nase, und weiteren unübersehbaren physischen Veränderungen. Wie gut, dass wenigstens seine ihm angetraute Ehefrau all diese Verdächtigungen ins Reich der Sage abtat, treu und brav stand sie unentwegt selbst im stärksten Sturm an der Seite ihres Mannes. Doch Pedro, denn dies war sein Name, fand die Unterstützung seiner Frau unbillig, litt er selbst unter Gewissensbissen wegen der vielen anderen Frauen, die in seiner Umarmung dahin schmelzten. Warum macht sie mir auch immer ein schlechtes Gewissen? fragte er sich voller Bitterkeit. Würde sie nur einmal den Stab über mich brechen, sofort würde ich fremde Röcke keines Blickes mehr würdigen. Sie übersehen, sie als billig und meiner nicht würdig verachten. Aber so? Ich werde weiter gramgebeugt meine Männlichkeit in die Welt und über die Frauen bringen, in der Hoffnung, dass sie mich eines Tages erlöst und ich ein frommer, treuer Ehemann werden kann!
Das waren Pedros hehre und keusche Gedanken.
Doch nicht nur sein Charme, auch seine bereits erwähnte Neigung zum Alkohol bereitete ihm Sorgen. War Alkohol doch teuer und Pedro verdiente weitaus weniger, als ihm nach eigenem Bekunden zustand.
Mangelhaft hingegen zeigte sich sein Wissen bezüglich des menschlichen Körpers und der darin enthaltenen Organe. Der schadhafte Einfluss von Alkohol auf die Leber war ihm vage geläufig, dem einen oder anderen seiner Saufkumpane war es in der Vergangenheit schlecht ergangen. Für sich selbst schob er betreffende Ängste weit fort, doch ereilte ihn das Schicksal, da er eines Abends, keinen Tag älter als Anfang Vierzig, mit rasenden Leibschmerzen ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Da war es bereits zu spät. Stunden zuvor hielt er eine gewisse Maria in seinen Armen und erzählte ihr im schwärmerischen Ton von den rund 200 Kilogramm Kork die eine Korkeiche im Laufe ihres Lebens produzierte.
Maria war entzückt ob des Wissens ihres feurigen Liebhabers, der ganz nebenbei ihren Rock über die Knie hochschob. Armes Mädchen, dachte Pedro bei sich, da er sie im Arm hielt. Dein Mann vernachlässigt dich, du blühende Knospe, da schickt mich der liebe Gott dir seine unendliche Liebe und Güte zu überbringen. Stell dir vor mein süßer Schmetterling, morgen läuft dir eine rossige Stute über den Weg, sie sieht dich zu spät, galoppiert über dich hinweg und du stirbst! Ach Gott, dachte er bei sich und die Tränen der Rührung flossen. Was bin ich für ein Samariter, ein edler Gesell! Ich werde dich wärmen, dir meine Zärtlichkeit schenken, werde womöglich der letzte dir freundlich gesinnte Mensch auf Gottes weiter Erde sein! Sogleich begann er seine tiefen Gefühle für die zarte Dame in Form heftiger Küsse und ebensolcher Körperbewegungen zu zeigen, da begannendie Schmerzen. Der Rock fiel zurück über die Knie, seine Hände klammerten sich an ihrem Leib fest, doch die besagte Dame entwand sich ihm und lief schnellstens davon. Man wisse ja nie, gab sie später zu Protokoll, womöglich war ein Dämon in den Mann gefahren, berührte er sie doch unsittlich! Natürlich gegen ihren erklärten Willen!
Die Geschichte machte bereits, ehe Pedro seinen letzten Atemhauch auf dem Totenbett im Krankenhaus ausstieß, die Runde. Sein absolutes Wissen geriet unter dem Druck der Ereignisse zu wanken. Seine Erfolge bei Korkeichen und Frauen schienen auf einen Geheimpakt mit dem Höllenfürsten zu beruhen, unterschrieben mit stinkendem Schwefel.
Niemand sah wie der Herr der Finsternis zum Totenbett Pedros kam, seine ledrige Hand nach dem Korkeichen-Experten ausstreckte und dieser keine Gegenwehr zeigte, keinen Widerstand. Pedros letzte Worte: „Ich fühle mich zu elend um auf zu begehren!“, verhallten, dann verschwand der Teufel triumphierend grinsend, mit Pedros Seele im Gepäck, im Tartaros, dem Reich der Hölle.
Fortan war Luisa Vera Maria Beatriz Patrizia Joana Tavarães eine Halbwaise, die flugs zur Vollwaise wurde, nachdem ihre Mutter sich aus Kummer über das Ableben ihres geliebten Ehemannes und vor allem der üblen Nachrede der sich der verblichene Ehemann ausgesetzt sah, dem Alkohol ergab. Sie konsumierte an einem einzigen Abend so viel Wein, dass sie, beim Versuch selbigen vermengt mit Magensäure wieder loszuwerden, erstickte. Da war ihre bedauernswerte Tochter gerade siebzehn Jahre alt.
Völlig auf sich allein gestellt. Aber Luisa war ein patentes Kind, besser gesagt eine patente junge Frau. Sie, die nun nach allgemeinem verwandtschaftlichen Beschluss in einem Kloster unterkommen sollte, stahl sich mit allem Geld dessen sie im elterlichen Haus habhaft wurde, auf und davon. Da sie älter als siebzehn wirkte und genauso vorlaut wie ihr Vater und doppelt so hübsch wie ihre Mutter war, kam Luisa ohne größere Probleme bis nach Lissabon. Am Hafen begegnete sie einem gutaussehenden Matrosen, der ihr von fremden Ländern und Nächten unterm Sternenhimmel vorschwärmte. In der darauffolgenden Nacht war sie glücklicher als je zuvor in ihrem Leben und überlegte ernsthaft vorübergehend das Atmen einzustellen in der Hoffnung so die Zeit anzuhalten. Das löste einen gewaltigen Hustenanfall aus, den ihr Liebhaber teilnahmslos mit einem leichten Schnarchen quittierte, während die Zeit mitleidlos weitertickte.
Am Morgen nach den Sternenhimmelgeschichten lag Luisa entjungfert ohne einen Escudo, da bestohlen, in einem billigen Hafenhotel, in doppelter Hinsicht ernüchtert und frei jeglicher Illusion. Doch sie war die Tochter ihres Vaters und nachdem sie die spartanische und billige Einrichtung ihres Hotelzimmers in einem Aufflammen von südländischer Wut fachgerecht zertrümmert und den besagten Matrosen, dessen Name ihr unbekannt blieb, bis in alle Ewigkeit verfluchte, ihm buchstäblich die Pest an den Leib wünschte, wurde Luisa schnell wieder ruhig.
Es galt zu überlegen. Und zu handeln.
Stellen sie sich Liebchen Luisa als eine Märtyrerin oder womöglich tragische antike Heldin vor, abrupt wäre ihr Lebensweg womöglich in einem Kloster oder auf dem Grunde des Hafenbeckens geendet.
Unvorstellbar.
Die Meisterin der körperlichen Liebe, wie sie der Prof später kennen lernen sollte, in tristes Schwarz gewandelt?
Welch eine grauenvolle Vorstellung!
Für Luisa galt es einen neuen Weg einzuschlagen. Ihrer Jungfräulichkeit und ihres Barvermögens beraubt sah sie für sich nur eine Möglichkeit. Auf dem nächst besten Schiff anheuern und ab übers Meer, wohin auch immer. Tatsächlich gelang es Luisa sofort eine Heuer auf einem Schiff nach Kopenhagen zu ergattern, als Küchenhilfe für ein paar schäbige Escudos pro Woche. Doch das war für den Anfang besser als gar nichts. Anfangs wusste nur der Kapitän von ihrer Existenz, genauer er und sein Bruder, der Koch an Bord.
„Oh, wie wird es schön sein mit uns dreien“, säuselte der Kapitän und streichelte über ihre linke Brust.
„Oh, wie wirst du uns verwöhnen“, säuselte der andere und fasste Luisa zwischen die Beine.
„Ja, wir werden es schön haben“, antwortete Luisa und ließ die beiden älteren Herren vorläufig gewähren, zumindest so lange bis das Schiff die offene See erreichte. „Merkwürdig“, sagte sie zu sich selbst, „erst lief ein Mann vor mir davon und jetzt umarmen mich einer Klette gleich zwei.“ Das focht die Brüder weniger an. Sie bedienten sich und langten kräftig zu.
„Aber ihr werdet dafür bezahlen“, äußerte Luisa nach der ersten Nacht bestimmend, um anzuzeigen welch gute Geschäftsfrau sie doch war.
„Aber du erhältst doch schon deine Heuer“, antwortete der Kapitän mehr erstaunt als ärgerlich und griff nach der rechten Brust.
„Du darfst umsonst essen“, wandte der Bruder und Koch ein und griff mit der anderen Hand nach Luisas wohlgeformten Hintern. Doch Luisa zeigte sich als Dickkopf, die zudem gute Argumente in Form einer gewissen Schlagfertigkeit besaß, worin sie sich ganz und gar als Tochter ihres Vaters erwies. Murrend willigten Kapitän und Koch ein, nach langem Feilschen bekam Luisa das Doppelte vom üblichen. Für ihre körperlichen Einsätze gab es einen Bonus obendrauf.
Mit einem sonderbaren Hochgefühl ging Luisa an diesem Abend, während draußen ein laues Lüftchen übers Meer zog und das Schiff sich auf den weiten Weg in den Norden machte, in ihre Kajüte. Soviel stand für Luisa fest, schneller und einfacher konnte sie kein Geld verdienen.
Als sie Wochen später, das Schiff machte zwischendurch ein paar Umwege, in Hamburg von Bord ging, hatte sie die Gene zahlreicher Matrosen konsumiert und zusätzlich einen ganz erklecklichen Vorrat an Bargeld beisammen.
Luisa Vera Maria Beatriz Patrizia Joana Tavarães, die bis dahin von einem Ehemann und vielen braven, katholisch erzogenen Kindern träumte, war nun mehr Expertin im Umgang mit Männern, Kartenspielen und wie sich in einer ruhigen Nacht in der Biskaya so nebenbei ergab, in der hohen Kunst der Selbstverteidigung. Denn Luisa war fähig für ihr Leben und ihre körperliche Unversehrtheit notfalls mit Gewalt einzustehen. Beweis dafür war ein allzu aufdringlicher Matrose auf dem Grund des Meeres. Luisa sah keinen Grund sich sonderlich darüber aufzuregen, denn der betrunkene Maat gedachte mit Gewalt aber ohne Geld
(das entsetzte sie am meisten) an Luisas wertvollsten Besitz, ihrer Weiblichkeit, anzudocken.
In Hamburg ging Luisa, die junge Portugiesin, vorzeitig von Bord. Sie war zu dem Entschluss gekommen, auf dem Schiff gab es nichts mehr für sie zu holen. Luisa hatte die Männer beim Kartenspielen ausgezogen und dafür Geld erhalten und wenn die Männer sie danach in ihrer Kajüte auszogen, erhielt Luisa gleichfalls Geld. Das war eine Lebenseinstellung die ihr gefiel. Das wichtigste im Leben, diese Lektion blieb an ihr haften, war Geld, der schnöde Mammon. Geld, so Luisas Einstellung, verdirbt Menschen, vor allem Männer. Daher war es gut, dass es Frauen wie Luisa gab, die das Geld an sich nahmen, in dem sie es den verderbten Männern abnahmen, ehe diese damit allerlei Unfug anstellten. Zum Beispiel es für eine andere als Luisa auszugeben.
Am ersten Abend an Land nach langer Zeit auf See, atmete sie einmal tief durch um sich sogleich auf die Suche nach neuen Einnahmequellen zu begeben. Doch zuerst machte Luisa Bekanntschaft mit einer speziellen Eigenschaft der nordischen Länder. Dem Regen. Es regnete viel in diesem Land und keine zehn Minuten später stand Luisa durchnässt aber dennoch guter Hoffnung vor einer Hafenkneipe. Wie es die Vorsehung so einfädelte, suchte der reiche Reeder Hans-Martin zur selben Zeit am selben Ort Unterschlupf vor dem Regen, da er seinen Regenschirm im Kontor vergaß.
Hans-Martin war nach seinen Erlebnissen im vergangenen Krieg und den folgenden Jahren der Wirtschaftskrise zu der Überzeugung gelangt, dass es ihm oblag Gutes zu tun. Vorzugsweise gelobte er die Schwachen und Hilflosen zu schützen, ihnen Nahrung und Obdach zu geben, wobei hinzuzufügen sei, und das ist keine Kritik, dass es ihm ganz besonders die schwachen, vorzugsweise gut gebauten jungen Frauen antaten. Nach getaner Arbeit im Kontor marschierte er los und suchte wachsamen Blickes die Straßen nach gefallenen Frauen ab, in der festen Absicht ihnen sein Bestes zu geben. Er brachte sie in sein großes Haus mit Elbblick und Butler. Dort wurden sie verköstigt, erhielten am nächsten Tage neue Kleider, nachdem er ihnen, wir wollen das nicht verschweigen, abends die alten ausgezogen. Da stellt sich die Frage warum er den jungen Frauen ihre Kleider auszog. Weil sich die Mode geändert, war der Stoff verschlissen und fadenscheinig? Ich fürchte lieber Leser, ihr übler Verdacht, dass er die Damen gegen ihren Willen in seine Gewalt zwang, läuft ins Leere. Nein, dieser wirkliche Gentleman entledigte die Einsamen, die Hungrigen und Durstenden einzig aus einem vornehmen Grund heraus ihrer Kleidung: Sie zu wärmen. Und geschlagene Sahne von ihrer Haut zu naschen. Oder, abhängig von der Jahreszeit frische Erdbeeren. Manchmal auch beides zusammen. Oder Sekt aus ihrem Bauchnabel zu trinken. Bei besonders hübschen Damen durfte es auch Champagner sein. Dagegen ist vom moralischen Standpunkt aus kein Fehlverhalten zu erkennen.
Zumal die Damen kicherten und selbstredend ihren Anteil an frischer Sahne, frischen Erdbeeren und teurem Sprudelwasser erhielten. Mit einem entsprechenden Entgelt, und damit zeigt sich Hans-Martins wahre Größe, schickte er die Damen dann wieder auf die Straße. Der einen oder anderen gab er für ihr weiteres Leben erbauliche Weisheiten mit auf den Weg oder bei entsprechender Eignung, die Adresse eines guten Freundes. Dessen Sinn nach Nächstenliebe hatte extremere Formen angenommen. Er ließ in seinem Etablissement viele junge Frauen jeden Abend ihre Kleider ausziehen, damit sich vermögende Männer aller Altersgruppen an ihnen erfreuen konnten. Solche Häuser haben viele Namen, sind in praktisch jeder Hafenstadt anzutreffen und werden von vielen Männern verschiedener Nationalitäten, solange sie über genügend Bares verfügen, frequentiert.
Es ist wohl wenig erstaunlich, dass Hans-Martin in Luisa einen Rohdiamanten erblickte und ihre portugiesische Schönheit nach einigen gemeinsamen erfreulichen Stunden zu zweit im Spitzenetablissement seines besten Freundes unterbringen konnte. Doch erstmals keimte in dem reichen Manne die Saat der Eifersucht. Es betrübte Hans-Martin, dass er nur einer unter vielen war der sich an Luisas Körper labte. Sie glich einem Magneten, sie zog ihn an und hinterher aus, verlangte frech und dreist den doppelten Tarif und Hans-Martin zahlte den dreifachen. Der Reeder mit denen dunklen Haaren und den blauen Augen verfiel Luisa. Manchmal, wenn er zu viel vom roten Wein genossen, standen ihm Tränen in den Augen, dann lamentierte er vor Freunden über die Ruchlosigkeit der Frauen im Allgemeinen und über Luisas im speziellen, doch noch in derselben Nacht lief er wie ein geprügelter Hund zu ihr hin, küsste ihre spitzen Schuhe und zahlte brav ein Mehrfaches.
Bei Luisa war das Empfinden weniger exzessiv ausgeprägt. Ihr war klar, dass für Frauen Liebe viel mit Scheckbüchern und einer begrenzten Zeit der körperlichen Blüte zusammenhing und es galt in dieser begrenzten Zeit viele, sehr viele Schecks einzusammeln und einzulösen, ehe der Geldstrom sich anderen Empfängerinnen zuwandte.
Als sie spät in der Nacht, nach ausgiebigem Zuspruch gewisser alkoholischer Getränke, den schon schlafenden Hans-Martin seiner Hose entledigte, tat ihr der Goldfisch den sie an der Angel hielt, fast leid.
„Du gehörst mit“, flüsterte sie, sardonisch lächelnd, „mein exquisiter Kadaver. Dein Geld und du. Genau in dieser Reihenfolge.“
Jahre später war Luisa eine reiche Frau mit einem eigenen Bordell, zwar hinterm Deich, aber es war ihr Eigentum. Hans-Martin war ob seiner jüdischen Abstammung aus Deutschland geflohen, Dank tätiger Mithilfe seines besten Freundes Harald, der sich diese Hilfe mit einer Stange Geld, einer Nacht mit Luisa, sowie der Übernahme von Hans-Martins Reederei bezahlen ließ. Wie Harald das bewerkstelligte?
Ganz einfach.
Er machte gemeinsame Sache mit den Rechtsarmigen.
Hans-Martins letzter Wunsch vor seinem Aufbruch ins Exil galt Luisa und dass es ihr an nichts mangeln möge. Harald versprach es ihm und als Gegenleistung ließ er sich nebenbei zusätzlich ein paar Immobilien und weitere Wertsachen überschreiben. Gleichsam als Vermögensverwalter, als Treuhänder, wie er es Hans-Martin schulterklopfend mitteilte.
Während Hans-Martin halbwegs unruhig sich auf den Weg zu neuen Gestaden machte (wir werden später von ihm hören), kümmerte sich Harald aufopferungsvoll um Luisa.
In der Tat, Harald hielt Wort. Luisa mangelte es an nichts. In Anbetracht ihrer phänomenalen Liebeskünste war sie zu einem Fixstern für politischer Führer gleich welcher sexuellen Abartigkeit geworden, doch betrachtete Luisa diesen Umstand als weniger aufregend solange die Herren nur über genügend Geldwerte verfügten. Die neuen Machthaber besaßen allen selbst auferlegten moralischen Thesen zum Trotz genügend Bargeld, Gold und andere Vermögensbestandteile und bald war Liebchen Luisa, wie sie Hans-Martin zu nennen pflegte, das braune Liebchen Luisa.
Erfolg, so heißt es, macht erfolgreicher. In Luisas Fall hieß es, Erfolg macht voluminös. Mittlerweile arbeiteten mehr als zwanzig Mädchen für sie, Luisa zählte das Geld und aß. Nur für besondere Kunden zog sie das enge schwarze an, aber so richtig wohl fühlte sie sich in selbigem nicht. Doch die tiefe Leidenschaft die in ihren Augen schlummerte, die rauchige Stimme, die gutturale Worte zur Aussprache brachte, ihre schläfrige Art sich zu bewegen, die an eine Löwin erinnerte, die binnen Sekunden sich von einer Schmusekatze in ein Monster mit spitzen Zähnen verwandelte, all das zog Männer an. Männer, die das fleischliche an einer Frau als besonders aufreizend begriffen.
Und Liebchen Luisa gab eine unschlagbare Parole zum Besten: Seien wir unanständig! gab sie gerne und immerfort kund.
Wer mochte da die Moral zu seinen Tugenden zählen?
Wie kam Luisa aber zu ihrem Besitz?
Das Hurenhaus hinterm Deich wurde Luisa von einem ihrer Gönner zugewiesen. Selbiger agierte an der Nordseeküste in der Partei in herausragender Position. Damit schlug er zwei Klappen auf einmal. Liebchen Luisa war in seiner unmittelbaren Einflusszone und die Gefahr, dass andere Parteibonzen womöglich auf sie aufmerksam werden konnten, eher marginal.
Luisas Gönner hieß Hermann mit Namen und war mit einem kurzen Raspel-Haarschnitt versehen, der seine großen Segelohren besonders hervorhob.
Dieses sagen wir, Arrangement, hielt längere Zeit zum gegenseitigen Nutzen. Eines Tages jedoch belastete den guten Hermann ein persönlich schweres Problem. Es begann mit einem Jucken an einer eher delikaten Stelle, dem folgte ein unsympathischer weißer Ausfluss und überhaupt war Hermanns Allgemeinzustand geschwächt.
Keine Frage. Luisa war schuld. Doch mit der Überzeugungskraft eines Panzers wies sie jegliche Verantwortung brüsk zur Seite und verdächtigte nun ihrerseits Hermann fremd gegangen zu sein.
Selbst in der Tiefe seiner braunen Seele erinnerte sich Hermann keines weiteren sündhaften Ausrutschers, doch konnte es sein, dass die holde Hausfrau Hilda womöglich…?
Nach einer überaus peinlichen Befragung, in jeglicher Hinsicht peinlich, gab Hilda zu, einen Geliebten ihr Eigen zu nennen. Damit war Hermann rehabilitiert und von da an ging er offen und für alle sichtbar, selbst tagsüber ins Portugeser. Das Schicksal des Geliebten der holden Hilda, eines Parteigenossen im rangniederen Bereich sei nur am Rande erwähnt, er verschwand später in den Weiten der russischen Steppe, bei jenem legendären Fehlschlag deutscher Militärstrategie, der als „Unternehmen Barbarossa“ in die Geschichte eingehen sollte.
Damit bleibt zu guter Letzt die Frage zu klären, wie das Freudenhaus hinterm Deich seinen Namen erhielt. Nun, die Menschen hinterm Deich neigen zu einer gewissen Schwerfälligkeit im Sprachgebrauch ebenso wie in ihrer Entscheidungsfähigkeit. Temperament ist weniger ihr Ding und es gibt Außenstehende, die diesem Menschenschlag gar eine angeborene intellektuelle Trägheit unterstellen. Kaum zu glauben, wäre das Wort angeborene Sturheit eher angebracht, denn wer würde sein Leben hinterm Deich verbringen, die nächste Sturmflut schon in Rot auf dem Kalender eingekreist und dann immer dieser Wind von der See her, der alles schräg einschließlich der Menschen die da leben, wachsen lässt.
Da nun eine Südländerin, aus Portugal, für alle sichtbar ein Bordell eröffnete, war die Aufregung groß. Schon nach einem Monat bemerkten die ersten Anwohner, das rege Kommen und Gehen von Männern, die teilweise von weit herkamen. Da der Küstenbewohner an sich selten zu übereilten Entschlüssen neigt, wurde bedächtig das Ja und Nein, das Jetzt und Später und nicht zu vergessen das Für und Wider erörtert, ohne am Ende auf den Punkt zu kommen.
Doch die Inhaberin des Kolonialwarenladens, ihr Geschäft lag in zentraler Lage am Bullenmarkt, zeigte sich als erste informiert. Wie sie an diese elementare Information gelangte?
Sie erfuhr es von einem Cousin dritten Grades, der es von einem Schwager unbekannter Herkunft direkt von der Gauleitung vernahm.
Die Inhaberin, Gertrude Mayer mit Namen, war eine Zugezogene. Ihre Familie lebte erst in vierter Generation hinterm Deich. Damit galt sie allgemein als wenig gesellschaftsfähig.
Aber sie war die Überbringerin der spannenden Nachricht. Womit sie zweifelsfrei einen gewichtigen Schritt in Richtung allgemeiner Anerkennung machte.
„Ne Portugeserin, die hier einen Puff aufgemacht hat“, vertraute sie unter dem Mantel der tiefsten Verschwiegenheit bei einer Teestunde ihrer besten Freundin, der Schneiderin an. (Überflüssig zu erwähnen, dass auch Maria Schrader, die Schneiderin, eine Zugezogene, allerdings schon in sechster Generationwar). Die Schneiderin beschloss in bemerkenswerter Geschwindigkeit der Bordellbesitzerin einen Besuch abzustatten da sie ein neues Geschäftsfeld witterte, in dem sie schmucke Kleider für die im Portugeser tätigen Damen schneidern würde. Denn der Name Portugeser, wie das Bordell jetzt genannt wurde, gehörte ab dieser Zeit zum Lokalkolorit und sollte es auch bleiben.
Schon einen Monat später stand Frau Schrader vor dem Hurenhaus an der Haustür und begehrte um Einlass. Wer sie denn sei, fragte mit einem unüberhörbaren Akzent eine leicht dickliche, aber dennoch aparte Frau, die Puffmutter Luisa Vera Maria Beatriz Patrizia Joana Tavarães, genannt Liebchen Luisa, höchstpersönlich. Ein paar Tassen Tee mit Rum später konnten die beiden Damen sich schon ganz gut leiden. So wurde aus dem „Sie“, das „Du“ und nachdem vierten Becher Tee mit Rum kannte Luisa die komplette, wenn gleich überschaubare Sexualgeschichte ihrer Besucherin.
Anfangs genierte sich die Schneiderin ins Detail zu gehen, blieb quasi an der Oberfläche, bis Liebchen Luisa auf dem Sofa ein wenig näher rückte und mit rauchiger Stimme fragte:
„Versuchst du mir etwas zu verschweigen? Öffne dich einfach, bei mir sind alle Geheimnisse gut aufgehoben!“
Die Schneiderin öffnete sich, zuerst mit gedämpfter Stimme, doch als der Damm gebrochen, gab es kein Halten mehr.
Dabei erzählte Luisa anfangs von Korkeichen, Schneiderin Schrader von Saumnähten, aber wie gesagt, nach der vierten mittlerweile mit mehr Alkohol als Tee gefüllten Tasse, war Luisa über ihre Besucherin in jeder Hinsicht voll im Bilde und bei der fünften Tasse wechselte ihr Besuch den Gesprächsstoff, diskutierte in aller Form lang und breit mit ihrer Gastgeberin über das Gewerbe.